10. Kapitel

Überhaupt kann man sagen, daß die Ereignisse des gestrigen Tages Herrn Goljadkin bis auf den tiefsten Grund seiner Seele erschüttert hatten. Unser Held schlief sehr schlecht, d. h. er konnte nicht einmal auf fünf Minuten richtig einschlafen, gerade wie wenn ein Spaßvogel ihm kleingeschnittene Borsten ins Bett gestreut gehabt hätte. Die ganze Nacht verbrachte er in einem Zwischenzustande zwischen Schlafen und Wachen, indem er sich von einer Seite auf die andere wälzte, stöhnte, sich räusperte, für einen Augenblick einschlief und im nächsten Augenblick wieder erwachte; und all das wurde von einem seltsamen Gefühl des Kummers, von unklaren Erinnerungen und häßlichen Träumen begleitet, mit einem Worte von allem, was es nur Unangenehmes geben kann... Bald erschien vor ihm in einem sonderbaren, rätselhaften Dämmerlichte Andrei Filippowitschs Gesicht, dieses harte, ärgerliche Gesicht, mit dem harten, strengen Blicke und dem trocken-höflichen Herumräsonieren... Und kaum fing Herr Goljadkin an, zu Andrei Filippowitsch heranzutreten, um sich vor ihm irgendwie, auf die eine oder die andere Weise, zu rechtfertigen und ihm zu beweisen, daß er ganz und gar nicht ein solcher Mensch sei, wie ihn seine Feinde darstellten, sondern vielmehr ein so und so beschaffener, und daß er sogar außer seinen gewöhnlichen, angeborenen guten Eigenschaften noch diese und jene besonderen besitze: da erschien die durch ihre unlautere Denkweise bekannte Person und zerstörte durch irgendein ganz empörendes Mittel mit einem Schlage Herrn Goljadkins gesamte Bemühungen, verdarb beinahe vor dessen Augen seinen guten Ruf gründlich, trat sein Ehrgefühl in den Schmutz und nahm dann unverzüglich den Platz desselben im Dienste und in der Gesellschaft ein. Bald wieder juckte es Herrn Goljadkin im Gesichte von einem unlängst wohlerworbenen und demütig hingenommenen Nasenstüber, einem Nasenstüber, den er entweder im gewöhnlichen Leben oder auch im Dienste erhalten hatte, und gegen den er nicht leicht Protest einlegen konnte... Und während Herr Goljadkin anfing, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum es eigentlich so schwer sei, gegen einen solchen Nasenstüber zu protestieren, ging dieser Gedanke an den Nasenstüber unmerklich in eine andere Form über, in die Form einer gewissen kleinen oder auch recht beträchtlichen Gemeinheit, die er gesehen, gehört oder auch unlängst selbst begangen hatte, wie er denn dergleichen häufig beging, nicht aus gemeinem Charakter, auch nicht aus irgendwelcher gemeinen Absicht, sondern nur so ohne besonderen Grund, manchmal z. B. rein zufällig, aus Zartgefühl, ein andermal aus dem Gefühle seiner völligen Hilflosigkeit, na, schließlich auch weil... weil, kurz gesagt, Herr Goljadkin wußte recht gut, weswegen! Hier errötete Herr Goljadkin im Traume, und indem er sein Erröten zu unterdrücken versuchte, murmelte er vor sich hin, hier könne man z. B. Charakterstärke zeigen, man könne im vorliegenden Falle bedeutende Charakterstärke zeigen... und dann schloß er: »Was ist denn Charakterstärke? Was hat es für Zweck, ihr Wesen jetzt zu begreifen?...« Aber am meisten trug dazu, Herrn Goljadkin zu reizen und in Wut zu versetzen, der Umstand bei, daß unfehlbar in solchen Augenblicken, gerufen oder ungerufen, die ihm durch ihre Schändlichkeit und ihr spöttisches Benehmen bekannte Person erschien und, obgleich die Sache doch wohl schon hinreichend bekannt war, ebenfalls mit einem unpassenden Lächeln murmelte: »Was soll denn hier Charakterstärke? Und was besitzen wir beide, ich und du, Jakow Petrowitsch, denn für Charakterstärke?...« Dann wieder hatte Herr Goljadkin einen andern Traum: er befand sich in einer schönen, durch das geistreiche Wesen und den vornehmen Ton aller anwesenden Personen ausgezeichneten Gesellschaft und zeichnete sich seinerseits durch Geist und Liebenswürdigkeit aus; alle gewannen ihn lieb, sogar, was ihm besonders angenehm war, einige seiner Feinde, die ebenfalls anwesend waren, und alle räumten ihm den Vorrang ein, und er hörte endlich selbst mit Vergnügen, wie der Hausherr dort einen der Gäste beiseite führte und ihn, Herrn Goljadkin, lobte... und dann auf einmal erschien mir nichts dir nichts wieder die durch ihre Bosheit und brutalen Instinkte bekannte Person in Gestalt Herrn Goljadkins des jüngeren und zerstörte mit einem Schlage, in einem Augenblicke, durch ihr bloßes Erscheinen den ganzen Ruhm und Triumph Herrn Goljadkins des älteren, stellte Goljadkin den älteren völlig in den Schatten, trat ihn in den Schmutz und bewies zuletzt klar, Goljadkin der ältere, also der richtige, sei überhaupt nicht der richtige, sondern eine Fälschung, und sie sei vielmehr der richtige; Goljadkin der ältere sei überhaupt nicht das, was er zu sein scheine, sondern ein so und so beschaffener Mensch und mithin nicht befugt und berechtigt, sich in der Gesellschaft von Leuten mit anständiger Denkweise und seinen Umgangsformen zu bewegen. Und all dies geschah so schnell, daß Herr Goljadkin noch nicht Zeit gehabt hatte, den Mund aufzutun, als sich bereits alle mit Leib und Seele dem widerwärtigen, gefälschten Herrn Goljadkin hingegeben hatten und mit der tiefsten Verachtung ihn, den echten, unschuldigen Herrn Goljadkin, von sich stießen. Es blieb keine Person übrig, deren Gesinnung der widerwärtige Herr Goljadkin nicht in einem Augenblicke auf seine Weise umgestimmt hätte. Es blieb keine Person übrig, auch nicht die unbedeutendste der ganzen Gesellschaft, an die sich der nichtswürdige, unechte Herr Goljadkin nicht in seiner Weise auf die süßeste Manier herangeschlängelt, der er sich nicht in seiner Weise aufgedrängt, vor der er nicht nach seiner Gewohnheit mit etwas sehr Angenehmem, Süßem geräuchert hätte, was der Umräucherte nur zu riechen brauchte, um zum Zeichen des höchsten Vergnügens bis zu Tränen zu niesen. Und was die Hauptsache war: das alles geschah in einem Momente; die Schnelligkeit, mit der der verdächtige, nichtswürdige Herr Goljadkin verfuhr, war erstaunlich! Kaum war er damit fertig geworden, sich mit dem einen zu befreunden und sich dessen Wohlwollen zu erwerben, als er auch schon, ehe man auch nur mit den Augen blinzeln konnte, einen zweiten in Angriff nahm. Nun befreundete er sich still und sachte mit dem zweiten und entlockte ihm ein Lächeln der Geneigtheit, machte mit seinem kurzen, drallen, dabei aber recht stämmigen Beinchen einen Kratzfuß und war bereits beim dritten und machte auch dem dritten schon den Hof und gewann ihn sich zum Freunde; und ehe man noch hatte den Mund öffnen und in Erstaunen geraten können, war er schon beim vierten und war mit dem vierten ebensoweit gelangt, – es war ordentlich ängstlich, geradezu Zauberei! Und alle freuten sich über ihn, alle hatten ihn gern, alle lobten ihn, und alle sprachen sich einstimmig dahin aus, daß seine Liebenswürdigkeit und seine satirische Veranlagung unvergleichlich viel höher standen als die Liebenswürdigkeit und satirische Veranlagung des wirklichen Herrn Goljadkin, und demütigten damit den wirklichen, unschuldigen Herrn Goljadkin und wandten sich von dem wahren Herrn Goljadkin ab und verjagten sogar den wohlgesinnten Herrn Goljadkin mit Püffen und Stößen und überschütteten den durch seine Nächstenliebe bekannten wirklichen Herrn Goljadkin mit Nasenstübern!... Voll Kummer, Angst und Wut rannte der vielgeprüfte Herr Goljadkin auf die Straße und wollte sich eine Droschke holen, um geradeswegs zu Seiner Exzellenz zu fahren, und wenn das nicht, so doch wenigstens zu Andrei Filippowitsch; aber welch ein Schrecken! die Droschkenkutscher weigerten sich, Herrn Goljadkin zu fahren; »nein, Herr,« sagten sie, »zwei ganz gleiche Personen zu fahren, das ist nicht erlaubt, Euer Wohlgeboren; ein guter Mensch ist darauf bedacht, ehrbar zu leben, und ist nie doppelt.« Fassungslos vor Scham blickte der durchaus ehrbare Herr Goljadkin um sich und überzeugte sich tatsächlich selbst mit seinen eigenen Augen, daß die Droschkenkutscher und der mit ihnen im Einverständnis befindliche Petruschka recht hatten; denn der verworfene Herr Goljadkin war in der Tat auch dort, neben ihm, nicht weit von ihm entfernt, und schickte sich seiner gemeinen Gewohnheit gemäß auch jetzt in diesem Augenblicke zweifellos an, etwas sehr Unanständiges zu tun, etwas, was ganz und gar keine besondere Vornehmheit des Charakters bekundete, eine Vornehmheit, die man gewöhnlich durch die Erziehung erhält, und deren der widerwärtige Herr Goljadkin der zweite sich bei jeder geeigneten Gelegenheit zu rühmen pflegte. Ganz vernichtet und vor Scham und Verzweiflung von sich selbst nicht wissend, stürzte der durchaus wahre Herr Goljadkin blindlings davon, wohin der Wille des Schicksals ihn führte; aber bei jedem Schritte, den er tat, bei jedem Aufschlagen seines Fußes auf den Granit des Trottoirs sprang aus der Erde ein Herr Goljadkin heraus, der jenem verworfenen, widerwärtigen Menschen vollkommen ähnlich war. Und alle diese vollkommen ähnlichen Gestalten begannen sofort nach ihrem Erscheinen einer hinter dem andern her zu laufen und wackelten in langer Kette wie eine Reihe von Gänsen hinter Herrn Goljadkin dem älteren her, so daß dieser ihnen nirgendhin entfliehen konnte und dem in jeder Hinsicht bedauernswerten Herrn Goljadkin vor Angst der Atem stockte und zuletzt eine furchtbare Menge solcher vollkommenen Ebenbilder entstanden war und die ganze Residenz zuletzt von ihnen wimmelte und ein Polizist angesichts einer solchen Störung der Ordnung sich genötigt sah, sie alle beim Kragen zu nehmen und in sein zufällig in der Nähe befindliches Schilderhaus zu sperren... Starr und eiskalt vor Angst erwachte unser Held und hatte die Empfindung, daß er auch im Wachen die Zeit kaum heiterer verbringen werde... Er fühlte sich bedrückt und gequält... Es befiel ihn eine Traurigkeit, als ob ihm jemand das Herz in der Brust mit den Zähnen zerfleischte...

Schließlich konnte Herr Goljadkin es nicht länger ertragen. »Das darf nicht sein!« rief er aus, richtete sich entschlossen im Bette auf und wurde nun nach diesem Ausrufe völlig wach.

Es war anscheinend schon lange Tag geworden. Im Zimmer war es auffällig hell; die Sonnenstrahlen drangen kräftig durch die vom Froste mit Reif überzogenen Fensterscheiben und breiteten sich in Fülle im Zimmer aus, was Herrn Goljadkin in nicht geringe Verwunderung versetzte; denn die Sonne pflegte nur um Mittag zu ihm hereinzublicken, und früher waren solche Ausnahmen im Laufe des himmlischen Gestirnes, soviel sich wenigstens Herr Goljadkin selbst erinnern konnte, niemals vorgekommen. Kaum war unser Held sich dessen mit Verwunderung bewußt geworden, als hinter der Scheidewand die Wanduhr zu summen anfing und sich auf diese Weise zum Schlagen fertig machte. »Nun also!« dachte Herr Goljadkin und schickte sich in ängstlicher Erwartung an zu hören... Aber zu seinem größten Erstaunen tat die Uhr nach ihrer großen Anstrengung nur einen einzigen Schlag. »Was stellt das vor?« rief unser Held und sprang völlig aus dem Bette. Seinen Ohren nicht trauend, lief er so, wie er war, hinter die Scheidewand. Die Uhr zeigte tatsächlich eins. Herr Goljadkin warf einen Blick nach Petruschkas Bett; aber im Zimmer war von Petruschka nicht die Spur zu sehen: sein Bett war anscheinend schon längst verlassen und in Ordnung gebracht; auch seine Stiefel waren nirgends vorhanden, ein unzweifelhaftes Anzeichen dafür, daß Petruschka wirklich nicht zu Hause war. Herr Goljadkin stürzte zur Tür hin: die Tür war verschlossen. »Aber wo mag nur Petruschka sein?« fuhr er flüsternd fort; er befand sich in furchtbarer Aufregung und fühlte ein starkes Zittern in allen Gliedern... Auf einmal fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf... Herr Goljadkin lief zu seinem Tische, überblickte ihn, suchte rings umher – richtig: sein gestriger Brief an Wachramejew war nicht da... Petruschka war ebenfalls nicht hinter der Scheidewand; die Wanduhr zeigte eins, und in Wachramejews gestrigem Briefe waren einige neue Punkte angeführt gewesen, die zwar auf den ersten Blick sehr unklar erschienen waren, aber jetzt ihre vollständige Aufklärung gefunden hatten. Also auch Petruschka, auch Petruschka war augenscheinlich erkauft! Ja, ja, so war es!

»Also so haben sie den wichtigsten Knoten geschürzt!« rief Herr Goljadkin, indem er sich vor die Stirn schlug und die Augen immer weiter öffnete; »also im Hause dieses greulichen deutschen Frauenzimmers laufen jetzt alle Fäden dieses höllischen Komplotts zusammen! Also hat sie nur eine strategische Diversion gemacht, indem sie mich nach der Ismailowski-Brücke hinwies; sie hat mir Sand in die Augen gestreut, mich wirr gemacht, die nichtswürdige Hexe, und auf diese Art ihre unterirdischen Minen gelegt!!! Ja, so ist es! Wenn man die Sache von dieser Seite betrachtet, dann sieht man, daß sich alles genau so verhält! Auch das Erscheinen jenes Schurken erklärt sich jetzt vollkommen: da hängt eins mit dem andern zusammen. Sie hatten ihn schon lange beschafft, ihn zurechtgemacht und hielten ihn für den Unglückstag in Bereitschaft. So also hat sich jetzt alles herausgestellt! Wie hat nur alles diese Wendung nehmen können? Nun, es macht nichts! Noch ist das Spiel nicht verloren!...« Hier erinnerte sich Herr Goljadkin mit Schrecken daran, daß es bereits zwischen ein und zwei Uhr nachmittags war. »Aber wenn es ihnen nun inzwischen gelungen ist...« Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust... »Aber nein, sie lügen, es ist ihnen noch nicht gelungen, – wir wollen sehen...« Er kleidete sich notdürftig an, ergriff Papier und Feder und schrieb den folgenden Brief:


»Geehrter Herr,

Jakow Petrowitsch!

»Entweder Sie oder ich; aber nebeneinander haben wir nicht Platz! Und darum erkläre ich Ihnen, daß Ihr sonderbares, lächerliches und zugleich ganz unglaubliches Bemühen, als mein Zwillingsbruder zu erscheinen und sich für einen solchen auszugeben, zu nichts anderem führen kann als zu Ihrer vollständigen Beschämung und Niederlage. Deshalb ersuche ich Sie in Ihrem eigenen Interesse, den Weg freizugeben und wahrhaft anständigen Leuten, welche moralisch gute Ziele verfolgen, den Platz zu räumen. Andernfalls bin ich entschlossen, auch vor den äußersten Maßregeln nicht zurückzuschrecken. Ich lege die Feder hin und werde warten... Im übrigen verbleibe ich zu Ihren Diensten... auch mit der Pistole.

J. Goljadkin.«


Als unser Held dieses Schreiben beendet hatte, rieb er sich energisch die Hände. Dann zog er sich den Mantel an, setzte sich den Hut auf, schloß mit seinem Reserveschlüssel die Entreetür auf und machte sich auf den Weg nach der Kanzlei. Er gelangte auch bis zum Amtsgebäude; aber hineinzugehen konnte er sich nicht entschließen; es war in der Tat schon zu spät; Herrn Goljadkins Uhr zeigte halb drei. Plötzlich löste ein anscheinend geringfügiger Umstand einige Zweifel des Herrn Goljadkin: um eine Ecke des Amtsgebäudes herum kam auf einmal schwer atmend und mit gerötetem Gesicht eine Gestalt, huschte heimlich wie eine Ratte die Stufen vor der Haustür hinan und verschwand im Flur. Dies war der Schreiber Ostafjew, ein Mensch, der Herrn Goljadkin sehr wohlbekannt war, ein Mensch, den man mitunter brauchen konnte, und der sich für ein Zehnkopekenstück zu allem bereit finden ließ. Da er Ostafjews schwache Seite kannte und wußte, daß dieser nach einer kurzen Abwesenheit »wegen eines dringenden Bedürfnisses« wahrscheinlich noch größeres Verlangen nach Zehnkopekenstücken tragen werde als sonst, so entschloß sich unser Held, das Geld nicht zu sparen, und lief sofort hinter Ostafjew her die Stufen hinan und dann auf den Flur, rief ihn an und forderte ihn mit geheimnisvoller Miene auf, mit ihm zur Seite zu treten, in ein stilles Winkelchen hinter einem gewaltigen eisernen Ofen. Nachdem er ihn dorthin geführt hatte, begann unser Held ihn auszufragen:

»Nun, mein Freund, wie steht es dort damit?... Du verstehst mich doch?«

»Ich stehe zu Ihren Diensten, Euer Wohlgeboren, und wünsche Euer Wohlgeboren eine gute Gesundheit.«

»Gut, mein Freund, gut; ich danke dir, lieber Freund. Nun also, siehst du, wie steht es denn, mein Freund?«

»Was wünschen Sie zu wissen?« Hier hielt sich Ostafjew ein wenig die Hand vor den Mund, den er beim Reden öffnen mußte.

»Ich... siehst du, mein Freund, ich wollte... hm... denke nur nichts Schlimmes... Also, ist Andrei Filippowitsch da?«

»Jawohl, er ist da.«

»Sind auch die Beamten da?«

»Ja, auch die Beamten sind da, wie es in der Ordnung ist.«

»Und Seine Exzellenz auch?«

»Ja, Seine Exzellenz auch.« Hier verdeckte der Schreiber zum zweitenmal den geöffneten Mund mit der Hand und richtete einen eigentümlichen, neugierigen Blick auf Herrn Goljadkin. Wenigstens kam es unserem Helden so vor.

»Und gibt es da nichts Besonderes, mein Freund?«

»Nein, gar nichts.«

»Ich meine, etwas, was mich betrifft, lieber Freund; wird da etwas geredet? Ich meine nur so, lieber Freund; verstehst du?«

»Nein, bis jetzt ist nichts zu hören gewesen.« Der Schreiber hielt wieder die Hand vor den Mund und blickte Herrn Goljadkin wieder seltsam an. Unser Held bemühte sich nämlich jetzt, Ostafjews Miene zu durchschauen, auf seinem Gesichte zu lesen, ob sich da auch nicht etwas verberge. Und es machte wirklich den Eindruck, als ob sich da etwas verbarg: Ostafjew wurde nämlich immer weniger höflich, redete in immer trockenerem Tone und ging nicht mehr mit solchem Interesse wie bei Beginn des Gespräches auf Herrn Goljadkins Fragen ein. »Er hat ja bis zu einem gewissen Grade recht,« dachte Herr Goljadkin; »was gehe ich ihn an? Vielleicht hat er auch schon von der Gegenseite etwas bekommen und hat sich darum wegen eines dringenden Bedürfnisses entfernt. Aber ich will ihm doch auch etwas...« Herr Goljadkin sagte sich, daß der richtige Zeitpunkt für die Zehnkopekenstücke gekommen sei.

»Hier ist etwas für dich, lieber Freund...«

»Ich danke Euer Wohlgeboren von ganzem Herzen.«

»Ich werde dir noch mehr geben.«

»Zu Diensten, Euer Wohlgeboren.«

»Jetzt gleich werde ich dir noch mehr geben, und wenn die Sache erledigt ist, noch einmal die gleiche Summe. Verstehst du?«

Der Schreiber schwieg, nahm eine militärisch stramme Haltung an und hielt seinen Blick unbeweglich auf Herrn Goljadkin gerichtet.

»Nun, dann rede jetzt: hat über mich nichts verlautet?«

»Es scheint, daß bis jetzt, vorläufig... hm... daß vorläufig noch nichts verlautet hat.« Ostafjew antwortete in einzelnen Absätzen, machte ebenso wie Herr Goljadkin eine etwas geheimnisvolle Miene, zuckte ein wenig mit den Augenbrauen, blickte zu Boden, bemühte sich, den richtigen Ton zu treffen, kurz, er war mit aller Kraft bestrebt, die versprochene Belohnung zu verdienen; denn das, was ihm bereits gegeben war, hielt er schon für sein wohlerworbenes Eigentum.

»Und es ist nichts bekannt?«

»Bis jetzt noch nicht.«

»Aber höre... hm... es wird vielleicht etwas bekannt werden?«

»Später natürlich wird vielleicht etwas bekannt werden.«

»Schlimm!« dachte unser Held. »Hör mal: hier hast du noch etwas, mein Lieber.«

»Ich danke Euer Wohlgeboren von ganzem Herzen.«

»War Wachramejew gestern hier?«

»Jawohl.«

»Sonst aber war niemand hier? Besinne dich einmal, Brüderchen!«

Der Schreiber wühlte ein Weilchen in seinem Gedächtnisse herum, konnte sich aber auf nichts hierher Gehöriges besinnen.

»Nein, sonst war niemand da.«

»Hm!« Es trat Stillschweigen ein.

»Hör mal, Brüderchen, hier hast du noch etwas; sag mir alles, das ganze Geheimnis!«

»Zu Diensten.« Ostafjew war jetzt wie um den Finger zu wickeln; das hatte Herr Goljadkin bezweckt.

»Nun sage mir, Brüderchen: wie steht er sich mit den andern?«

»Es geht, ganz gut,« antwortete der Schreiber und blickte Herrn Goljadkin mit großen Augen an.

»Was meinst du mit ›ganz gut‹?«

»Ich meine nur so!« Hier zuckte Ostafjew bedeutsam mit den Brauen. Übrigens war er vollkommen verblüfft und wußte nicht, was er sagen sollte. »Schlimm!« dachte Herr Goljadkin.

»Hat sich mit Wachramejew noch etwas Weiteres begeben?«

»Es ist alles wie bisher.«

»Besinn dich mal!«

»Ja, man sagt so etwas.«

»Also was denn nun?«

Ostafjew hielt die Hand vor den Mund.

»Ist nicht ein Brief von ihm an mich da?«

»Heute ist der Kanzleidiener Michejew zu Wachramejew in dessen Wohnung gegangen, zu der deutschen Dame; ich kann ja hingehen und mich erkundigen, wenn Sie es wünschen.«

»Tu mir den Gefallen, Brüderchen, um Gottes willen!... Ich habe keine besondere Absicht dabei... Denke nichts Übles, Bruder; ich habe dabei keine besondere Absicht. Und erkundige dich doch, Brüderchen, bring doch in Erfahrung, ob da etwas gegen mich im Werke ist. Und er, was wird er unternehmen? Das ist es, was ich gern wissen möchte; das bring in Erfahrung, lieber Freund; ich werde es dir dann danken, lieber Freund...«

»Zu Diensten, Euer Wohlgeboren. Und auf Ihren Platz hat sich heute Iwan Semjonowitsch gesetzt.«

»Iwan Semjonowitsch? Ah! So! Wirk-lich?«

»Andrei Filippowitsch wies ihn an, sich dahin zu setzen.«

»Wirk-lich? Wie ist das zugegangen? Das bring heraus, Brüderchen! um Gottes willen bring das heraus, Brüderchen; bring das alles heraus, – ich werde mich dir dankbar zeigen, mein Lieber; das ist es, was ich wissen möchte... Denke aber nichts Übles, Brüderchen...«

»Zu Diensten, zu Diensten, ich werde gleich hingehen. Aber Sie, Euer Wohlgeboren, kommen heute nicht herein?«

»Nein, mein Freund, ich bin nur für ein Augenblickchen gekommen, nur für ein Augenblickchen; ich wollte nur einmal sehen, wie es steht, lieber Freund. Und nachher werde ich dir erkenntlich sein, mein Lieber.«

»Zu Diensten.« Der Schreiber lief schnell und eifrig die Treppe hinauf, und Herr Goljadkin blieb allein zurück.

»Schlimm!« dachte er. »Ach, schlimm, schlimm! Ach, wie schlimm steht jetzt meine Sache! Was hatte das alles nur zu bedeuten? Was bedeuteten z. B. namentlich einige Andeutungen dieses Trunkenboldes, und von wem rührt dieser Streich her? Ah, ich weiß jetzt, von wem dieser Streich herrührt! Ein netter Streich! Sie haben es gewiß erfahren und ihn darum hingesetzt... Übrigens, was sage ich? Sie haben ihn da hingesetzt? Andrei Filippowitsch ist es gewesen, der ihn da hingesetzt hat, diesen Iwan Semjonowitsch. Ja, übrigens, warum hat er ihn denn da hingesetzt, und mit welcher Absicht hat er ihn eigentlich da hingesetzt? Wahrscheinlich haben sie erfahren... Da arbeitet Wachramejew gegen mich, d. h. nicht Wachramejew; der ist dumm wie ein einfacher espener Balken, dieser Wachramejew; sondern all diese Menschen stehen hinter ihm und arbeiten gegen mich, und auch jenen Halunken haben sie zu diesem selben Zwecke hierher geholt, und die einäugige Deutsche hat sich über mich beschwert! Ich habe immer geargwöhnt, daß diese ganze Intrige nicht von so einfacher Art ist, und daß hinter diesem ganzen Weiberklatsch unbedingt etwas stecken muß; eben dasselbe habe ich auch zu Krestjan Iwanowitsch gesagt, daß sie sich nämlich verschworen haben, einen Menschen zu morden, im geistigen Sinne gesprochen, und sich zu diesem Zwecke an Karolina Iwanowna gehängt haben. Ja, das ist klar, daß hier geschickte Meister gegen mich arbeiten! Hier, mein Herr, sind Meisterhände an der Arbeit, und nicht Wachramejew. Ich habe schon gesagt, daß Wachramejew dumm ist; aber dies... Ich weiß jetzt, wer hier für sie alle gegen mich arbeitet: das tut dieser Halunke, der sich meinen Namen angeeignet hat! Dadurch allein behauptet er seine Stellung, was auch seine Erfolge bei hochgestellten Personen beweisen. Aber es wäre wirklich wünschenswert, zu erfahren, wie er sich jetzt mit den andern steht, was er dort bei ihnen zu bedeuten hat. Aber warum haben sie eigentlich dort gerade diesen Iwan Semjonowitsch genommen? Wozu in aller Welt hatten sie Iwan Semjonowitsch nötig? Als ob sie nicht hätten irgendeinen andern nehmen können! Übrigens, sie mochten da hinsetzen, wen sie wollten, es kam doch immer auf dasselbe hinaus; ich weiß nur, daß er, dieser Iwan Semjonowitsch, mir längst verdächtig war; ich habe es schon lange gemerkt: er ist ein widerwärtiger alter Kerl, ein ekelhaftes Subjekt; man sagt, er leiht Geld aus und nimmt Prozente wie ein Jude. Aber diese ganze Geschichte dirigiert der Bär. Bei alledem hat der Bär seine Hand im Spiel. Angefangen hat die Sache jedenfalls in dieser Weise. Bei der Ismailowski-Brücke hat sie angefangen; ja, so hat sie angefangen!...« Hier verzog Herr Goljadkin das Gesicht, wie wenn er in eine Zitrone gebissen hätte, wahrscheinlich in Erinnerung an etwas sehr Unangenehmes. »Na, übrigens macht es nichts!« dachte er. »Es ist nur dies: ich muß alles allein schaffen. Warum kommt nur Ostafjew nicht wieder? Wahrscheinlich ist er irgendwo hängen geblieben oder aufgehalten worden. Das ist gut, daß ich so intrigiere und auch meinerseits Minen lege. Diesem Ostafjew brauche ich nur ein Zehnkopekenstück zu geben, dann... hm... dann habe ich ihn auf meiner Seite. Die Frage ist nur: ist er auch wirklich ganz auf meiner Seite? Vielleicht haben sie ihrerseits ihm ebenfalls etwas gegeben und intrigieren nun ihrerseits mit ihm unter einer Decke. Er sieht ja aus wie ein Gauner, der Halunke, wie ein reiner Gauner! Er verstellt sich, der Racker! ›Es ist nichts zu hören‹ sagt er und ›Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Euer Wohlgeboren!‹ So ein Gauner!«

Es wurde Geräusch hörbar... Herr Goljadkin krümmte sich zusammen und sprang hinter den Ofen. Jemand kam die Treppe herunter und ging auf die Straße hinaus. »Wer kann denn da jetzt weggehen?« dachte unser Held im stillen. Einen Augenblick darauf wurden wieder Schritte vernehmbar... Jetzt konnte Herr Goljadkin sich nicht beherrschen und steckte die Nasenspitze ein ganz klein wenig aus seinem Versteck heraus, – aber sofort zuckte er auch wieder zurück, als ob ihn jemand mit einer Nadel hineingestochen hätte. Diesmal war es ein Bekannter, der vorbeiging, nämlich der Halunke, der Intrigant, der verworfene Mensch; er ging wie gewöhnlich mit seinen nichtswürdigen, kleinen Schrittchen, trippelnd und mit den Beinen ausschlagend, als ob er jemandem damit einen Schlag versetzen wollte. »Schurke!« sagte unser Held vor sich hin. Übrigens konnte Herr Goljadkin nicht umhin zu bemerken, daß der Schurke unter dem Arm ein großes grünes Portefeuille trug, das Seiner Exzellenz gehörte. »Er hat wieder einen besonderen Auftrag,« dachte Herr Goljadkin; er errötete und krümmte sich vor Ärger noch mehr zusammen als vorher. Kaum war Herr Goljadkin der jüngere an Herrn Goljadkin dem älteren, ohne diesen überhaupt zu bemerken, vorbeigehuscht, als sich zum dritten Male Schritte hören ließen, und diesmal erriet Herr Goljadkin, daß es die Schritte eines Schreibers waren. Wirklich blickte der pomadisierte Kopf eines Schreibers zu ihm hinter den Ofen; es war indes nicht Ostafjew, sondern ein anderer Schreiber, namens Pisarenko. Das setzte Herrn Goljadkin in Erstaunen. »Warum hat er denn andere in das Geheimnis eingeweiht?« dachte unser Held. »Diese Heiden! Nichts ist ihnen heilig!« –

»Nun, was gibt es, mein Freund,« sagte er, sich zu Pisarenko wendend. »Von wem kommst du, mein Freund?«

»Ich komme in Ihrer Angelegenheit. Bis jetzt ist noch nichts zu erfahren gewesen. Aber sobald wir etwas erfahren, werden wir es Ihnen mitteilen.«

»Und Ostafjew?«

»Der kann jetzt absolut nicht abkommen, Euer Wohlgeboren. Seine Exzellenz ist schon zweimal durch unser Bureau hindurchgegangen, und auch ich habe jetzt keine Zeit.«

»Ich danke dir, mein Lieber, ich danke dir... Sage mir nur noch...« »Wahrhaftig, ich habe keine Zeit... Alle Augenblicke werden wir gerufen... Bitte, bleiben Sie hier noch ein Weilchen stehen; wenn sich dann in betreff Ihrer Angelegenheit etwas begibt, wollen wir Sie benachrichtigen...«

»Nein, mein Freund, sage mir...«

»Verzeihen Sie, ich habe keine Zeit,« sagte Pisarenko, indem er sich von Herrn Goljadkin, der ihn am Rockschoß gefaßt hatte, loszureißen suchte; »ich habe wirklich keine Zeit. Bleiben Sie hier noch ein Weilchen stehen; dann wollen wir Sie benachrichtigen.«

»Gleich, gleich lasse ich dich weg, mein Freund! Gleich, gleich, lieber Freund! Aber jetzt... Hier ist ein Brief, mein Freund; ich werde mich dir dankbar zeigen, mein Lieber.«

»Zu Diensten.«

»Gib ihn an Herrn Goljadkin ab, mein Lieber; sei damit recht sorgsam!«

»An Herrn Goljadkin?«

»Ja, mein Freund, an Herrn Goljadkin.«

»Schön; sowie ich fertig bin, will ich ihn bestellen. Bleiben Sie hier nur solange stehen! Hier sieht Sie niemand...«

»Nein, ich... denke nur nichts Übles, mein Freund... ich stehe hier nicht, um von niemand gesehen zu werden. Aber ich werde jetzt nicht länger hierbleiben, mein Freund... ich werde hier in die Seitengasse gehen. Da ist ein Kaffeehaus; da werde ich warten; und wenn sich etwas zuträgt, so benachrichtige mich von allem, verstehst du?«

»Schön, lassen Sie mich jetzt nur weg; ich verstehe...«

»Ich werde dir dankbar sein, mein Lieber!« rief Herr Goljadkin dem Schreiber Pisarenko nach, dem es nun endlich gelungen war, sich frei zu machen. »Der Halunke wurde, wie es scheint, zuletzt gröber,« dachte unser Held, während er verstohlen hinter dem Ofen hervorkam. »Da hat die Sache noch einen Haken. Das ist klar... Zuerst war er anders... Übrigens mochte er es wirklich eilig haben; vielleicht ist bei ihnen viel zu tun. Und Seine Exzellenz ist zweimal durch das Bureau gegangen... Was mag dazu für Anlaß gewesen sein?... Ach was, das tut nichts! Das hat vielleicht nichts zu bedeuten; nun, jetzt wollen wir sehen...«

Hier war Herr Goljadkin schon im Begriff, die Haustür zu öffnen und auf die Straße hinauszugehen, als plötzlich gerade in diesem Augenblicke die Equipage Seiner Exzellenz mit donnerähnlichem Lärm vorfuhr. Herr Goljadkin war noch nicht zur Besinnung gekommen, als der Wagenschlag von innen geöffnet wurde und der darin sitzende Herr auf die Stufen vor der Haustür hinaussprang. Der Ankömmling war kein anderer als eben jener Herr Goljadkin der jüngere, der zehn Minuten vorher weggegangen war. Herr Goljadkin der ältere erinnerte sich, daß die Wohnung des Direktors nur einige Schritte entfernt lag. »Er hat einen besonderen Auftrag,« dachte unser Held bei sich. Unterdessen hatte Herr Goljadkin der jüngere aus dem Wagen das dicke grüne Portefeuille und noch einige andere Papiere herausgenommen, dem Kutscher eine Weisung gegeben und öffnete nun die Haustür; dabei versetzte er Herrn Goljadkin dem älteren mit ihr beinah einen Stoß, bemerkte ihn aber vorsätzlich nicht, so daß seine Absicht, ihn zu ärgern, deutlich war; dann lief er schnell die Treppe zur Kanzlei hinauf. »Schlimm!« dachte Herr Goljadkin; »meine Sache geht jetzt schief! Nun sehe mal einer den an, Herr du mein Gott!« Etwa eine halbe Minute lang stand unser Held noch da, ohne sich zu rühren; endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt. Ohne sich lange zu bedenken, aber mit starkem Herzklopfen und an allen Gliedern zitternd, lief er seinem Freunde die Treppe hinauf nach. »Ach was! In Gottes Namen! Was geht es mich an? Ich kann nichts dafür,« dachte er, während er den Hut, den Mantel und die Überschuhe im Vorzimmer ablegte.

Als Herr Goljadkin in sein Bureau trat, war schon völlige Dämmerung eingetreten. Weder Andrei Filippowitsch noch Anton Antonowitsch waren im Zimmer. Sie befanden sich beide zum Zwecke der Berichterstattung im Arbeitszimmer des Direktors; der Direktor aber hatte sich, wie man hörte, seinerseits eilig zu Seiner Hohen Exzellenz begeben. Infolge dieser Umstände und auch weil es bereits Dämmerung war und die Bureauzeit zu Ende ging, trieben manche Beamten, namentlich die jüngeren, in dem Augenblicke, als unser Held eintrat, allerlei Allotria: sie gingen umher, führten Gespräche, plauderten, lachten, und einige der jüngsten, d. h. der im Range am niedrigsten stehenden, spielten sogar in einer Ecke am Fenster still und heimlich Schrift und Adler. Da Herr Goljadkin die Gebote des Anstandes kannte und gerade jetzt besonders wünschte, sie sich gegenüber beobachtet zu sehen, so trat er schnell zu einigen heran, mit denen er noch am ehesten harmonierte, um ihnen Guten Tag zu sagen usw. Aber die Kollegen erwiderten Herrn Goljadkins Gruß in ganz seltsamer Weise. Er war unangenehm überrascht durch die kalte, trockene, ja man kann sagen schroffe Art, in der sie ihn alle empfingen. Keiner reichte ihm die Hand. Manche sagten einfach: »Guten Tag« und gingen von ihm weg; andere nickten nur mit dem Kopfe; dieser und jener wandte sich einfach ab und tat, als ob er nichts bemerkt hätte; einige endlich (und das war für Herrn Goljadkin am allerverletzendsten), einige junge Leute von der untersten Rangstufe, Burschen, die, wie Herr Goljadkin sich ganz richtig im stillen über sie ausdrückte, weiter nichts verstanden als gelegentlich Schrift und Adler zu spielen und sich irgendwo umher zutreiben, diese umringten Herrn Goljadkin allmählich und umdrängten ihn so, daß sie ihm beinah den Ausweg versperrten. Alle blickten sie ihn mit einer Art von beleidigender Neugier an.

Das war ein übles Zeichen. Herr Goljadkin fühlte das und entschied sich seinerseits verständigerweise dafür, nichts zu bemerken. Plötzlich trat ein ganz unerwartetes Ereignis ein, das Herrn Goljadkin, wie man zu sagen pflegt, den Rest gab und den Garaus machte.

In dem Haufen der jungen Kollegen, die ihn umgaben, erschien plötzlich, und zwar gerade in dem für Herrn Goljadkin peinlichsten Augenblicke, Herr Goljadkin der jüngere, heiter wie immer, mit einem Lächeln auf dem Gesicht wie immer, beweglich, zungengewandt und leichtfüßig wie immer, kurz, als derselbe Schalk, Springinsfeld, Schäker und Spaßmacher wie immer, wie früher, wie z. B. gestern, wo er in einem für Herrn Goljadkin den älteren so unangenehmen Augenblicke aufgetaucht war. Schmunzelnd, sich hin und her drehend, trippelnd, mit einem Lächeln, das allen Anwesenden Guten Abend zu sagen schien, drängte er sich in den Haufen der Beamten hinein, drückte diesem die Hand, klopfte jenem auf die Schulter, umarmte flüchtig einen dritten, erklärte einem vierten, in welcher Angelegenheit Seine Exzellenz seine Dienste in Anspruch genommen habe, wohin er gefahren sei, was er getan und was er mitgebracht habe; einen fünften, wahrscheinlich seinen besten Freund, küßte er auf den Mund, – mit einem Worte: alles ging genau so vor sich wie in Herrn Goljadkins des älteren Traume. Nachdem er genugsam herumgehüpft, einen jeden auf seine Weise begrüßt, um die Gunst aller mit oder ohne Anlaß gebuhlt und sich bei allen gehörig lieb Kind gemacht hatte, streckte Herr Goljadkin der jüngere auch seinem älteren Freunde, Herrn Goljadkin dem älteren, den er bis dahin noch nicht bemerkt hatte, plötzlich und wahrscheinlich aus Versehen die Hand hin. Wahrscheinlich ebenfalls aus Versehen, obwohl er den unedlen Herrn Goljadkin den jüngeren schon längst sehr wohl bemerkt hatte, ergriff unser Held sofort eifrig die ihm so unerwartet hingestreckte Hand und drückte sie kräftig und in der freundschaftlichsten Art, ja mit einer seltsamen, ganz unerwarteten, innerlichen Bewegung, mit einer weinerlichen Empfindung. Ob unser Held sich durch die von seinem unwürdigen Feinde ergriffene Initiative täuschen ließ oder einfach der Geistesgegenwart ermangelte, oder in tiefster Seele seine Hilflosigkeit in ihrem ganzen Umfange erkannte und empfand, das ist schwer zu sagen. Tatsache ist, daß Herr Goljadkin der ältere bei vollem Verstande, aus freiem Willen und vor Zeugen feierlich die Hand desjenigen drückte, den er seinen Todfeind nannte. Aber wie groß war die Verwunderung, das Erstaunen, die Wut, der Schrecken und die Beschämung Herrn Goljadkins des älteren, als sein Todfeind, der unedle Herr Goljadkin der jüngere, sowie er das Versehen des unschuldigen, von ihm verfolgten und treulos betrogenen Menschen bemerkte, schamlos und gefühllos, erbarmungslos und gewissenlos auf einmal mit unerhörter Frechheit und Roheit seine Hand aus der Hand Herrn Goljadkins des älteren herausriß, ja seine Hand schlenkerte, als ob er sie mit etwas Unsauberem beschmutzt hätte, ja seitwärts ausspie und dies alles mit einer höchst beleidigenden Gebärde begleitete, ja sein Taschentuch herauszog und sich damit auf der Stelle in der unanständigsten Weise alle Finger abrieb, die sich einen Augenblick in der Hand des älteren Herrn Goljadkin befunden hatten. Während er dies tat, blickte Herr Goljadkin der jüngere nach seiner nichtswürdigen Gewohnheit absichtlich rings um sich, damit alle auf sein Benehmen aufmerksam würden, sah allen in die Augen und bemühte sich offenbar, allen eine recht üble Meinung von Herrn Goljadkin beizubringen. Es schien, daß das Verhalten des widerwärtigen Herrn Goljadkin des jüngeren bei den herumstehenden Beamten allgemeine Entrüstung hervorrief; sogar die leichtfertigen jungen Leute bekundeten ihr Mißvergnügen. Murren und tadelnde Worte wurden ringsum laut. Diese allgemeine Bewegung konnte den Ohren des älteren Herrn Goljadkin nicht entgehen; aber ein rechtzeitiges Scherzwort, das von den Lippen des jüngeren Herrn Goljadkin sprang, zerstörte und vernichtete die letzten Hoffnungen unseres Helden und bewirkte, daß die Wage sich wieder zugunsten seines schändlichen Todfeindes neigte.

»Das ist unser russischer Faublas, [Der Held von Louvet de Couvrays (1760–1797) schlüpfrigem Romane Lez aventures du chevalier Faudlas. Anmerkung des Übersetzers] meine Herren; gestatten Sie, daß ich Ihnen den jungen Faublas vorstelle,« quiekte Herr Goljadkin der jüngere, während er mit der ihm eigenen Frechheit zwischen den Beamten geschäftig umhertrippelte und auf den ganz starr gewordenen echten Herrn Goljadkin hinwies. »Küssen wir uns, mein Herzchen,« fuhr er mit unerträglicher Familiarität fort, indem er sich dem so verräterisch von ihm Beleidigten näherte. Das Späßchen des schändlichen Herrn Goljadkin des jüngeren schien da, wo es wirken sollte, Anklang zu finden, um so mehr, da darin eine tückische Anspielung auf einen Umstand lag, der anscheinend allen bereits bekannt war. Unser Held fühlte, daß die Hand seiner Feinde schwer auf seinen Schultern lastete. Übrigens hatte er seinen Entschluß bereits gefaßt. Mit flammendem Blicke, mit bleichem Gesichte und mit einem starren Lächeln arbeitete er sich mühsam aus dem Haufen heraus und schlug mit schnellen, ungleichmäßigen Schritten geradeswegs die Richtung nach dem Arbeitszimmer Seiner Exzellenz ein. In dem vorletzten Zimmer traf er mit Andrei Filippowitsch zusammen, der soeben von Seiner Exzellenz kam, und obgleich sich in diesem Zimmer eine Menge verschiedenartiger Personen befanden, die zu Herrn Goljadkin im gegenwärtigen Augenblicke gar keine Beziehungen hatten, so beachtete unser Held doch diesen Umstand nicht im geringsten. Ohne Umschweife, entschlossen und kühn, beinahe über sich selbst verwundert und sich innerlich wegen seiner Kühnheit lobend, fiel er ohne Zeitverlust über Andrei Filippowitsch her, der über diesen plötzlichen Anfall nicht wenig erstaunt war.

»Ah!... Was wünschen Sie?... Was ist Ihnen gefällig?« fragte der Abteilungschef, ohne auf Herrn Goljadkins stockend vorgebrachte Anrede zu hören.

»Andrei Filippowitsch, ich... könnte ich wohl jetzt gleich mit Seiner Exzellenz ein Gespräch unter vier Augen haben, Andrei Filippowitsch?« sagte unser Held nunmehr klar und deutlich und richtete einen sehr entschlossenen Blick auf Andrei Filippowitsch.

»Was? Das geht natürlich nicht.« Andrei Filippowitsch maß mit seinem Blicke Herrn Goljadkin vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ich sage nämlich das alles deswegen, Andrei Filippowitsch, weil ich mich darüber wundere, daß hier niemand diesen Usurpator eines fremden Namens, diesen Schurken entlarvt.«

»Wa–a–as?«

»Diesen Schurken, Andrei Filippowitsch.«

»Wen belieben Sie denn mit diesem Titel zu bezeichnen?«

»Ich meine eine gewisse Person, Andrei Filippowitsch. Ich ziele damit auf eine gewisse Person, Andrei Filippowitsch; ich bin im Rechte... Ich meine, Andrei Filippowitsch, die vorgesetzte Behörde sollte derartige Bestrebungen ermuntern,« fügte Herr Goljadkin, der offenbar von sich selbst nichts mehr wußte, hinzu. »Andrei Filippowitsch... aber Sie sehen wahrscheinlich selbst, Andrei Filippowitsch, daß dies eine wohlanständige Bestrebung ist, und daß sich darin meine in verschiedener Hinsicht löbliche Absicht bekundet, den Chef als meinen Vater zu betrachten, Andrei Filippowitsch... ich betrachte die edeldenkende vorgesetzte Behörde als meinen Vater und vertraue ihr blind mein Schicksal an. So und so... Sie sehen, wie...« Hier begann Herrn Goljadkins Stimme zu zittern, sein Gesicht rötete sich, und zwei Tränen traten auf seine Wimpern.

Als Andrei Filippowitsch Herrn Goljadkin so reden hörte, erstaunte er dermaßen, daß er unwillkürlich ein paar Schritte zurücktrat. Dann blickte er unruhig um sich... Es ist schwer zu sagen, wie die Sache geendet hätte... Aber plötzlich öffnete sich die Tür, die zum Arbeitszimmer des Chefs führte, und dieser selbst kam in Begleitung mehrerer Beamten heraus. Alle, die im Zimmer waren, schlossen sich an und gingen hinter ihm her. Seine Exzellenz rief Andrei Filippowitsch heran, ließ ihn neben sich gehen und unterredete sich mit ihm über irgendwelche Gegenstände. Als sich alle in Bewegung gesetzt und das Zimmer verlassen hatten, kam auch Herr Goljadkin wieder zur Besinnung. Demütig suchte er Schutz unter den Fittichen seines Tischvorstehers Anton Antonowitsch Sjetotschkin, der hinter allen herschlich und, wie es Herrn Goljadkin schien, eine sehr ernste, sorgenvolle Miene machte. »Auch hier habe ich töricht geredet; auch hier habe ich meiner Sache geschadet,« dachte er bei sich; »nun aber, es macht nichts.« Dann sagte er zu dem Tischvorsteher leise mit einer Stimme, die vor Aufregung noch ein wenig zitterte: »Ich hoffe, daß wenigstens Sie, Anton Antonowitsch, sich werden bereitfinden lassen, mir Gehör zu schenken und von meiner Lage Kenntnis zu nehmen. Von allen zurückgewiesen, wende ich mich an Sie. Ich bin bis jetzt noch im unklaren darüber, was Andrei Filippowitschs Worte bedeuteten, Anton Antonowitsch. Erklären Sie sie mir, wenn es möglich ist...«

»Es wird alles zur rechten Zeit klar werden,« erwiderte Anton Antonowitsch nach einer Pause in ernstem Tone und, wie es Herrn Goljadkin schien, mit einer Miene, die deutlich zu verstehen gab, daß Anton Antonowitsch überhaupt nicht wünschte, das Gespräch fortzusetzen. »Sie werden in kurzer Zeit alles erfahren. Noch heute werden Sie formell von allem unterrichtet werden.«

»Was meinen Sie denn mit 'formell', Anton Antonowitsch? Warum denn gerade formell?« fragte unser Held schüchtern.

»Es steht uns beiden nicht zu, über das zu urteilen, Jakow Petrowitsch, was die Behörde für gut findet.«

»Warum denn die Behörde, Anton Antonowitsch?« fragte Herr Goljadkin, der noch zaghafter geworden war, »warum denn die Behörde? Ich sehe keine Ursache, weshalb die Behörde damit belästigt werden sollte, Anton Antonowitsch... Sie wollen mir vielleicht etwas über das gestrige Vorkommnis sagen, Anton Antonowitsch?«

»Nein, um das gestrige Vorkommnis handelt es sich nicht; aber es ist sonst noch dies und das bei Ihnen nicht in Ordnung.« »Was ist denn bei mir nicht in Ordnung, Anton Antonowitsch? Mir scheint, Anton Antonowitsch, daß bei mir alles in Ordnung ist.«

»Aber warum wollten Sie denn schlaue Pfiffe und Kniffe zur Anwendung bringen?« unterbrach Anton Antonowitsch scharf den ganz bestürzten Herrn Goljadkin. Dieser fuhr zusammen und wurde bleich wie Leinewand.

»Freilich, Anton Antonowitsch,« sagte er mit kaum vernehmbarer Stimme, »wenn man die Stimme der Verleumdung beachtet und auf unsere Feinde hört, ohne eine Rechtfertigung von der anderen Seite anzunehmen, dann muß unsereiner leiden, Anton Antonowitsch, schuldlos, und ohne etwas begangen zu haben, leiden.«

»Hm, hm; und Ihr unwürdiges Benehmen, durch das Sie dem Rufe eines anständigen Mädchens, der Tochter jener wohlbekannten, humanen, hochgeachteten Familie, geschadet haben, einer Familie, die Ihnen so viel Gutes erwiesen hatte?«

»Was meinen Sie denn für ein Benehmen, Anton Antonowitsch?«

»Hm, hm. Und da ist dann noch ein anderes Mädchen, das zwar arm, aber von ehrenhafter, ausländischer Herkunft ist; an Ihr löbliches Verhalten diesem Mädchen gegenüber erinnern Sie sich wohl auch nicht?«

»Gestatten Sie, Anton Antonowitsch... haben Sie die Güte, mich anzuhören, Anton Antonowitsch...«

»Und Ihr treuloses Benehmen einer andern Person gegenüber, die Sie verleumdet und eines Vergehens bezichtigt haben, das Sie sich selbst haben zuschulden kommen lassen? Nun, wie nennt man das?«

»Anton Antonowitsch, ich habe ihn nicht aus dem Hause getrieben,« erwiderte unser Held zitternd, »und habe auch Petruschka, meinem Diener, keine derartige Instruktion gegeben... Er hat von meinem Tische gegessen, Anton Antonowitsch; er hat meine Gastfreundschaft genossen,« fügte unser Held ausdrucksvoll und mit tiefem Gefühl hinzu, so daß sein Kinn ein wenig zu hüpfen begann und ihm die Tränen wieder in die Augen kamen.

»Das reden Sie nur so hin, Jakow Petrowitsch, daß er von Ihrem Tische gegessen habe,« antwortete Anton Antonowitsch, den Mund zum Lächeln verziehend, und seinem Tone war eine gewisse Verschmitztheit anzuhören, so daß es Herrn Goljadkin war, als würde ihm ein Stich ins Herz versetzt.

»Gestatten Sie mir, Sie noch ganz bescheiden zu fragen, Anton Antonowitsch: ist denn all dies Seiner Exzellenz bekannt?«

»Aber natürlich! Lassen Sie mich aber jetzt in Ruhe; ich habe jetzt für Sie keine Zeit mehr... Noch heute werden Sie alles erfahren, was Sie zu wissen brauchen.«

»Erlauben Sie noch einen Augenblick, um Gottes willen, Anton Antonowitsch...«

»Sie können es mir ein andermal erzählen...«

»Nein, Anton Antonowitsch: ich bin, sehen Sie, hören Sie nur, Anton Antonowitsch... Ich bin durchaus nicht für die Freigeisterei, Anton Antonowitsch; ich lehne die Freigeisterei ab; ich bin meinerseits völlig bereit... und es ist mir sogar der Gedanke gekommen...«

»Schon gut, schon gut. Ich habe das schon einmal gehört...«

»Nein, das haben Sie noch nicht gehört, Anton Antonowitsch. Das ist etwas anderes, Anton Antonowitsch; das ist etwas Gutes, wirklich etwas Gutes und angenehm zu hören... Es ist mir, wie ich schon gesagt habe, der Gedanke gekommen, Anton Antonowitsch, daß da die göttliche Vorsehung zwei ganz ähnliche Menschen geschaffen und die edeldenkende Behörde im Hinblick auf diese Tat der göttlichen Vorsehung den beiden Zwillingen Obdach gewährt hat. Das ist ein guter Gedanke, Anton Antonowitsch. Sie sehen, daß das ein sehr guter Gedanke ist, Anton Antonowitsch, und daß ich fern von aller Freigeisterei bin. Ich betrachte die edeldenkende Behörde als meinen Vater. Jawohl, die edeldenkende Behörde und Sie, hm... Ein junger Mensch muß ein Amt haben... Unterstützen Sie mich, Anton Antonowitsch... treten Sie für mich ein, Anton Antonowitsch... Ich will weiter nichts... Anton Antonowitsch, um Gottes willen, nur noch ein Wörtchen... Anton Antonowitsch...«

Aber Anton Antonowitsch war schon weit von Herrn Goljadkin entfernt... Unser Held wußte nicht, wo er stand, was er hörte, was er tat, was mit ihm geschah, und was mit ihm noch geschehen werde, so hatte ihn alles, was er gehört und erlebt hatte, verwirrt und erschüttert.

Mit stehenden Blicken suchte er unter der Schar der Beamten nach Anton Antonowitsch, um sich noch weiter vor ihm zu rechtfertigen und ihm etwas sehr Schönes von sich selbst zu sagen: was für ein wohlgesinnter und anständiger Mensch er sei... Indessen begann allmählich ein neues Licht durch Herrn Goljadkins Verwirrung hindurchzudringen, ein neues, schreckliches Licht, das ihm plötzlich mit einem Schlage eine ganze lange Reihe völlig unbekannter und sogar nicht einmal geahnter Umstände erhellte... In diesem Augenblicke stieß jemand unseren ganz fassungslosen Helden in die Seite. Er blickte sich um. Vor ihm stand Pisarenko.

»Ein Brief, Euer Wohlgeboren!«

»Ah!... Du bist schon dagewesen, mein Lieber?«

»Nein, dieser ist schon heute morgen um zehn hergebracht. Der Kanzleidiener Sergej Michejew hat ihn von der Wohnung des Gouvernementssekretärs Wachramejew hergebracht.«

»Schön, mein Freund, schön; ich danke dir, mein Lieber.«

Nachdem Herr Goljadkin dies gesagt hatte, steckte er den Brief in die Seitentasche seines Uniformrocks und knöpfte diesen bis oben hinauf zu; dann blickte er um sich und bemerkte zu seinem Erstaunen, daß er sich schon im Hausflur des Amtsgebäudes befand, mitten in einem Schwarm von Beamten, die sich zum Ausgang drängten, da die Bureaustunden zu Ende waren. Herr Goljadkin hatte diesen letzteren Umstand bisher nicht bemerkt, ja er hatte nicht einmal bemerkt und erinnerte sich nicht, auf welche Weise er sich auf einmal in Mantel und Überschuhen befand und seinen Hut in der Hand hielt. Alle Beamten standen regungslos und in respektvoller Erwartung. Die Sache war die, daß Seine Exzellenz am Fuße der Treppe stehen geblieben war, auf seinen Wagen wartete, der sich aus irgendwelcher Ursache verspätete, und ein sehr interessantes Gespräch mit zwei Räten und mit Andrei Filippowitsch führte. Ein wenig entfernt von den beiden Räten und Andrei Filippowitsch stand Anton Antonowitsch Sjetotschkin und einige andere Beamten, die sehr beflissen lächelten, da sie sahen, daß Seine Exzellenz zu scherzen und zu lachen beliebte. Diejenigen Beamten, die sich am oberen Ende der Treppe zusammendrängten, lächelten ebenfalls und warteten darauf, daß Seine Exzellenz von neuem lachen werde. Nur der dickbäuchige Portier Fedosjeitsch lächelte nicht; er hatte den Türgriff gefaßt, stand hochaufgerichtet da und wartete ungeduldig auf seine tägliche Portion Vergnügen, die darin bestand, daß er auf einmal, mit einem einzigen Schwünge des Arms, den einen Türflügel weit zurückschlug und dann, zu einem Bogen zusammengekrümmt, respektvoll Seine Exzellenz an sich vorbeipassieren ließ. Aber die größte Freude und das größte Vergnügen von allen schien Herrn Goljadkins unwürdiger und unedler Feind zu empfinden. Er vergaß in diesem Augenblicke sogar alle Beamten und unterließ es, nach seiner nichtswürdigen Gewohnheit geschäftig unter ihnen umherzutrippeln und, die Gelegenheit benutzend, sich bei diesem und jenem beliebt zu machen. Er war ganz Auge und Ohr, krümmte sich in einer eigentümlichen Weise zusammen, wahrscheinlich um besser zu hören, und verwandte kein Auge von Seiner Exzellenz; nur bisweilen bewegten sich seine Hände, seine Füße und sein Kopf in leisen, kaum bemerkbaren Zuckungen, die die innerliche, verborgene Aufregung seiner Seele verrieten.

»Er ist ordentlich wie berauscht!« dachte unser Held; »er sieht aus wie ein Günstling, der Schurke! Ich möchte nur wissen, wodurch er eigentlich so viele hochgestellte Personen für sich einnimmt. Er besitzt weder Verstand, noch Charakter, noch Bildung, noch Gefühl; er hat eben Glück, der Racker! Herr du mein Gott! Wenn man das so bedenkt, wie schnell kann ein Mensch vorwärts kommen und sich mit allen Leuten befreunden! Und er wird vorwärts kommen, dieser Mensch; ich möchte darauf schwören, daß er es weit bringen wird, der Racker, daß er viel erreichen wird; er hat Glück, der Racker! Auch das möchte ich gern wissen, was er ihnen allen eigentlich zuzuflüstern pflegt. Was hat er nur mit all diesem Volke für Geheimnisse, und von was für geheimen Dingen reden sie miteinander? Herr du mein Gott! Ich sollte auch so, hm... und mit ihnen auch ein bißchen... so und so... ich sollte ihn vielleicht bitten... ›So und so, und ich werde es nicht wieder tun. Ich trage die Schuld, und ein junger Mensch muß in unserer Zeit ein Amt haben, Exzellenz; über meine unklare Lage rege ich mich durchaus nicht auf‹, so müßte ich reden! Irgendwie dort Einspruch erheben, das werde ich auch nicht tun; alles werde ich mit Geduld und Demut ertragen; so müßte ich es machen! Soll ich so vorgehen? Ja, übrigens kommt man mit Worten dem Racker nicht bei und kriegt ihn nicht unter; Vernunft kann man ihm in seinen leichtfertigen Kopf nicht hineinhämmern... Aber ich will es versuchen. Wenn ich eine günstige Stunde abpassen kann, will ich es versuchen...«

In seiner Unruhe, seiner Angst und Verwirrung fühlte unser Held, daß es so nicht bleiben könne, daß der entscheidende Augenblick herannahe, daß er sich mit irgend jemand aussprechen müsse, und so begann er denn sich allmählich nach der Stelle hin zu bewegen, wo sein unwürdiger, rätselhafter Freund stand. Aber gerade in diesem Augenblicke fuhr die langerwartete Equipage Seiner Exzellenz am Portal vor. Fedofjeitsch riß die Tür auf und ließ, sich bogenförmig zusammenkrümmend, Seine Exzellenz an sich vorbei. Alle Wartenden strömten mit einem Male zum Ausgang hin und drängten für einen Augenblick Herrn Goljadkin den älteren von Herrn Goljadkin dem jüngeren ab. »Du entgehst mir nicht!« sagte unser Held, sich durch die Menge schiebend und den Betreffenden nicht aus den Augen lassend. Endlich zerstreute sich die Menge. Unser Held fühlte sich wieder im Freien und machte sich schleunigst an die Verfolgung seines Feindes.


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