11. Kapitel

Keuchend flog Herr Goljadkin hinter seinem sich schnell entfernenden Feinde her. Er fühlte in sich eine gewaltige Energie. Übrigens konnte Herr Goljadkin trotz des Vorhandenseins dieser gewaltigen Energie ganz sicher sein, daß in diesem Augenblicke sogar eine gewöhnliche Mücke, wenn eine solche in dieser Jahreszeit in Petersburg hätte leben können, durchaus imstande sein würde, ihn mit ihren Flügeln niederzuschlagen. Er fühlte, daß er ganz matt und kraftlos wurde, daß die Beine unter ihm einknickten und den Dienst versagten; es kam ihm vor, als ob er überhaupt nicht selbst gehe, sondern von einer besonderen, fremden Kraft vorwärtsgetragen werde. Indessen konnte sich das alles noch gut gestalten. »Ob es sich nun gut gestaltet oder nicht,« dachte Herr Goljadkin, atemlos von dem schnellen Laufen, »daran, daß die Sache verloren ist, besteht jetzt auch nicht der leiseste Zweifel; daß ich völlig verloren bin, das ist sicher, bestimmt, unterschrieben und besiegelt.« Aber trotzdem war unserm Helden zumute, wie wenn er von den Toten erstanden wäre oder eine Schlacht durchgekämpft und den Sieg errungen hätte, als es ihm gelang, seinen Feind am Mantel festzuhalten in dem Augenblicke, wo dieser schon den einen Fuß auf eine Droschke setzte, die er soeben genommen hatte. »Mein Herr, mein Herr!« rief er dem endlich eingeholten unedlen Herrn Goljadkin dem jüngeren zu. »Mein Herr, ich hoffe, daß Sie...«

»Nein, bitte, hoffen Sie nichts!« antwortete Herrn Goljadkins gefühlloser Feind ablehnend; er stand mit dem einen Beine auf einer Trittstufe der Droschke und strebte aus Leibeskräften danach, mit dem andern Beine auf die zweite Stufe zu gelangen, wobei er mit ihm vergeblich in der Luft herumarbeitete und sich aus aller Kraft bemühte, Herrn Goljadkin dem älteren seinen Mantel aus den Händen zu reißen, den dieser seinerseits mit aller Kraft, die ihm die Natur verliehen hatte, festhielt.

»Jakow Petrowitsch! Nur zehn Minuten...«

»Verzeihen Sie, ich habe keine Zeit.«

»Sie müssen selbst zugeben, Jakow Petrowitsch... bitte, Jakow Petrowitsch... um Gottes willen, Jakow Petrowitsch... ich muß mich notwendigerweise mit Ihnen aussprechen... offen und ehrlich... Nur eine Sekunde, Jakow Petrowitsch!«

»Mein Täubchen, ich habe keine Zeit,« versetzte Herrn Goljadkins heuchlerischer Feind mit unhöflicher Vertraulichkeit, aber mit scheinbarer Gutherzigkeit; »ein andermal will ich mich gern mit Ihnen aus tiefster Seele offen und ehrlich aussprechen, glauben Sie mir; aber jetzt ist es mir wirklich unmöglich.«

»Du Schurke!« dachte unser Held. »Jakow Petrowitsch!« rief er voll Kummer, »ich bin nie Ihr Feind gewesen. Böse Menschen haben eine falsche Schilderung von mir gemacht... Meinerseits bin ich bereit... Jakow Petrowitsch, wenn es Ihnen gefällig ist, so könnten wir beide sogleich hier hineingehen... Und da könnten wir offen und ehrlich, wie Sie soeben so schön sagten, und in einfacher, edler Sprache... hier in dieses Kaffeehaus; dann wird sich alles von selbst aufklären; sehen Sie wohl, Jakow Petrowitsch! Dann wird sich unfehlbar alles von selbst aufklären...«

»In das Kaffeehaus? Nun schön! Ich habe nichts dagegen; gehen wir in das Kaffeehaus; aber nur unter der Bedingung, mein Teuerster, unter der einzigen Bedingung, daß sich dort alles von selbst aufklärt. Na ja, mein Herzchen,« sagte Herr Goljadkin der jüngere, während er von der Droschke wieder herunterstieg und unserm Helden in unverschämter Manier auf die Schulter klopfte, »Sie sind mir ein so lieber Freund; für Sie, Jakow Petrowitsch, bin ich bereit, auch in eine Seitengasse zu gehen (wie Sie einmal sehr richtig bemerkten, Jakow Petrowitsch). Sie sind doch wirklich ein schlauer Mensch; was er will, dazu bringt er einen auch!« fuhr Herrn Goljadkins lügnerischer Freund fort, indem er, leise lächelnd, sich um ihn herumdrehte und um ihn herumscherwenzelte. Das von den großen Straßen entfernt gelegene Kaffeehaus, in welches die beiden Herren Goljadkin eintraten, war in diesem Augenblicke ganz leer. Eine ziemlich dicke Deutsche erschien am Büfett, sobald der Ton der Türklingel sich vernehmen ließ. Herr Goljadkin und sein unwürdiger Feind gingen hindurch in ein zweites Zimmer, wo ein aufgedunsener, über den Kamm geschorener Junge sich am Ofen mit einem Bündel Späne abmühte, das ausgegangene Feuer wieder anzuzünden. Auf Herrn Goljadkins des jüngeren Verlangen wurde Schokolade gebracht.

»Ein schön fleischiges Frauchen!« sagte Herr Goljadkin der jüngere und blinzelte Herrn Goljadkin dem älteren schlau zu.

Unser Held errötete und schwieg.

»Ach ja, ich hatte vergessen; entschuldigen Sie! Ich kenne ja Ihren Geschmack. Wir haben eine Vorliebe für schlanke deutsche Damen, mein Herr; ja, ja, Sie redliche Seele, Jakow Petrowitsch, wir haben eine Vorliebe für schlanke deutsche Damen, wenn sie nur sonst nicht der Reize bar sind; wir mieten uns bei ihnen ein, verderben ihre Moralität, weihen ihnen zum Dank für ihre Bier- und Milchsuppen unser Herz und geben ihnen allerlei Unterschriften – so machen wir's, Sie Faublas, Sie Verräter!« Mit diesen Reden machte Herr Goljadkin der jüngere eine ganz unnötige, aber boshaft schlaue Anspielung auf eine gewisse Person weiblichen Geschlechts; dabei benahm er sich sehr betulich gegen Herrn Goljadkin, lächelte ihm mit anscheinender Liebenswürdigkeit zu und kehrte heuchlerisch eine schöne Treuherzigkeit und eine lebhafte Freude über das Zusammensein mit ihm heraus. Als er jedoch merkte, daß Herr Goljadkin der ältere durchaus nicht so dumm und ungebildet und guter Manieren unkundig war, daß er ihm ohne weiteres getraut hätte, da beschloß der unedle Mensch seine Taktik zu ändern und sich eines offenen Verfahrens zu bedienen. Sogleich nachdem er jene abscheulichen Reden geführt hatte, schloß der falsche Herr Goljadkin damit, daß er mit empörender Schamlosigkeit und Familiarität dem gesetzten Herrn Goljadkin auf die Schulter klopfte und, damit nicht zufrieden, in einer Weise, die in guter Gesellschaft als ganz unanständig gilt, mit ihm sein Spiel zu treiben begann. Er beabsichtigte nämlich, seine frühere Ungezogenheit zu wiederholen, d. h. er kniff trotz des Widerstandes und leichten Aufschreiens des empörten älteren Herrn Goljadkin diesen in die Backe. Bei diesem abscheulichen Benehmen kochte unser Held innerlich; aber er schwieg... wenigstens zunächst.

»So reden meine Feinde,« antwortete er endlich, sich verständigerweise beherrschend, mit zitternder Stimme. Gleichzeitig sah sich unser Held unruhig nach der Tür um. Denn Herr Goljadkin der jüngere war anscheinend vorzüglicher Laune und zu allerlei Späßchen aufgelegt, die an einem öffentlichen Orte unerlaubt und überhaupt nach den Gesetzen des Umgangs, namentlich in den Kreisen der besseren Gesellschaft, nicht gestattet sind.

»Nun, dann also, wie Sie wollen,« erwiderte Herr Goljadkin der jüngere ernsthaft auf die Bemerkung des älteren Herrn Goljadkin und stellte seine geleerte Tasse, die er mit unanständiger Gier ausgetrunken hatte, auf den Tisch. »Nun, wir beide sind schon lange nicht mehr zusammen gewesen. Also wie geht es Ihnen denn jetzt, Jakow Petrowitsch?«

»Ich kann Ihnen nur eins sagen, Jakow Petrowitsch,« erwiderte unser Held kaltblütig und mit Würde, »ich bin niemals Ihr Feind gewesen.«

»Hm... Nun, und Petruschka? Wie hieß er doch? Doch wohl Petruschka? Ja, ja! Also wie geht es ihm? Gut? Wie früher?«

»Auch dem geht es wie früher, Jakow Petrowitsch,« antwortete Herr Goljadkin der ältere etwas befremdet. »Ich weiß nicht, Jakow Petrowitsch... von meiner Seite... ich als anständig denkender, aufrichtiger Mensch, Jakow Petrowitsch... Sie müssen selbst zugeben, Jakow Petrowitsch...«

»Ja. Aber Sie wissen selbst, Jakow Petrowitsch,« versetzte Herr Goljadkin der jüngere leise und in wehmütigem Tone, indem er sich dadurch lügnerischerweise als einen betrübten, von Reue und Bedauern erfüllten würdigen Menschen darstellte, »Sie wissen selbst, die Zeit, in der wir leben, ist eine schwere Zeit... Ich berufe mich auf Sie selbst, Jakow Petrowitsch; Sie sind ein verständiger Mensch und haben ein gerechtes Urteil,« schloß Herr Goljadkin der jüngere mit einer gemeinen Schmeichelei gegen Herrn Goljadkin den älteren. »Das Leben ist kein Spiel; das wissen Sie selbst, Jakow Petrowitsch,« fügte Herr Goljadkin der jüngere noch vielsagend hinzu und stellte sich auf diese Weise als einen klugen, gebildeten Menschen hin, der über hohe Gegenstände philosophieren könne.

»Ich meinerseits, Jakow Petrowitsch,« antwortete unser Held begeistert, »ich meinerseits verachte Schleichwege und spreche kühn und offen; ich bediene mich einer ungeschminkten, wohlanständigen Redeweise und nehme in jeder Sache einen hohen Standpunkt ein; und ich sage Ihnen und kann es Ihnen offen und ehrlich versichern, Jakow Petrowitsch, daß mein Gewissen völlig rein ist, und daß, wie Sie selbst wissen, Jakow Petrowitsch, nur eine beiderseitige Verirrung (es ist ja alles möglich), das Urteil der Welt, die Meinung der sklavischen Menge... Ich spreche offen, Jakow Petrowitsch; es ist ja alles möglich. Und ich möchte auch noch dies sagen, Jakow Petrowitsch: wenn man in dieser Weise urteilt, wenn man die Sache von einem edlen, hohen Gesichtspunkte aus betrachtet, dann sage ich kühn, ohne falsche Scham sage ich es, Jakow Petrowitsch, es wird mir sogar angenehm sein zu bekennen, daß ich auf Irrwege geraten bin; es wird mir sogar angenehm sein, dies einzugestehen. Sie werden das selbst wissen; Sie sind ein kluger und überdies ein edeldenkender Mensch. Ohne Scham, ohne falsche Scham bin ich bereit, dies einzugestehen... in würdiger, edler Gesinnung,« schloß unser Held.

»Das ist nun einmal so Schicksal, Verhängnis, Jakow Petrowitsch... aber lassen wir das alles beiseite,« versetzte Herr Goljadkin der jüngere mit einem Seufzer. »Lassen Sie uns die wenigen Minuten unseres Zusammenseins lieber zu einem nützlicheren und angenehmeren Gespräche gebrauchen, wie sich das unter zwei Kollegen schickt... Es ist mir sonderbarerweise diese ganze Zeit über nicht gelungen, ein paar Worte mit Ihnen zu reden... Ich bin daran nicht schuld, Jakow Petrowitsch...«

»Ich auch nicht,« unterbrach ihn unser Held mit Wärme, »ich auch nicht! Mein Herz sagt mir, Jakow Petrowitsch, daß ich an alledem nicht schuld bin. Lassen Sie uns die ganze Schuld daran dem Schicksal beimessen, Jakow Petrowitsch!« fügte Herr Goljadkin der ältere in ganz versöhnlichem Tone hinzu. Seine Stimme begann allmählich matt zu werden und zu zittern.

»Nun also, wie steht es denn überhaupt mit Ihrer Gesundheit?« fragte der auf Irrwegen befindlich Gewesene in freundlichem Tone.

»Ich huste ein wenig,« antwortete unser Held noch freundlicher.

»Nehmen Sie sich in acht! Es ist jetzt immer eine solche Witterung, daß man sich nicht wundern kann, wenn man sich eine Halsentzündung holt; ich muß Ihnen bekennen, daß auch ich schon angefangen habe, flanellne Unterkleidung zu tragen.«

»In der Tat, Jakow Petrowitsch, man kann sich nicht wundern, wenn man sich eine Halsentzündung holt... Jakow Petrowitsch!« sagte unser Held nach einem kurzen Stillschweigen. »Ich sehe, Jakow Petrowitsch, daß ich mich geirrt habe... Ich gedenke mit Vergnügen jener glücklichen Stunden, die wir unter meinem armen, aber, wie ich zu sagen wage, gastfreundlichen Dache zusammen verleben durften...«

»In Ihrem Briefe haben Sie übrigens etwas anderes geschrieben,« bemerkte einigermaßen vorwurfsvoll der völlig wahrheitsliebende (allerdings nur in diesem einen Punkte völlig wahrheitsliebende) Herr Goljadkin der jüngere.

»Jakow Petrowitsch! Ich habe mich geirrt... Ich erkenne jetzt klar, daß ich mich auch in diesem meinem unglücklichen Briefe geirrt habe. Jakow Petrowitsch, ich schäme mich, Sie anzusehen, Jakow Petrowitsch, Sie glauben es gar nicht... Geben Sie mir diesen Brief zurück, damit ich ihn vor Ihren Augen zerreiße, Jakow Petrowitsch; oder wenn das nicht mehr möglich ist, bitte ich Sie inständigst, ihn umgekehrt aufzufassen, ganz umgekehrt, d. h. absichtlich in freundschaftlicher Weise, indem Sie allen Worten meines Briefes den entgegengesetzten Sinn beilegen. Ich habe mich geirrt. Verzeihen Sie mir, Jakow Petrowitsch; ich habe mich völlig... ich habe mich traurig geirrt, Jakow Petrowitsch.«

»Was sagten Sie?« fragte ziemlich zerstreut und gleichgültig Herrn Goljadkins des älteren treuloser Freund.

»Ich sagte, daß ich mich völlig geirrt habe, Jakow Petrowitsch, und daß ich meinerseits ganz ohne falsche Scham...«

»Ach, nun schön! Das ist ja sehr schön, daß Sie sich geirrt haben,« antwortete Herr Goljadkin der jüngere in grobem Tone.

»Ich habe sogar schon gedacht, Jakow Petrowitsch,« fügte edelmütig unser offenherziger Held hinzu, der die schreckliche Treulosigkeit seines falschen Freundes gar nicht bemerkte, »ich habe schon gedacht, daß zwei ganz ähnliche Wesen erschaffen worden sind...«

»Ah, das haben Sie gedacht!...«

Hier stand der durch seine Nichtswürdigkeit bekannte Herr Goljadkin der jüngere auf und griff nach seinem Hute. Auch Herr Goljadkin der ältere, der die Tücke immer noch nicht merkte, erhob sich, lächelte seinem falschen Freunde gutherzig und edelmütig zu und bemühte sich in seiner Unschuld, freundlich gegen ihn zu sein, ihn zu ermutigen und auf diese Weise von neuem mit ihm Freundschaft zu schließen...

»Leben Sie wohl, Exzellenz!« rief auf einmal Herr Goljadkin der jüngere. Unser Held fuhr zusammen, bemerkte in dem Gesichte seines Feindes den spöttischen Zug und schob, lediglich um von ihm loszukommen, in die ihm hingestreckte Hand des Verworfenen zwei Finger der seinigen hinein; aber nun... nun überstieg die Unverschämtheit Herrn Goljadkins des jüngeren alles Maß. Nachdem er die beiden Finger des älteren Herrn Goljadkin ergriffen und zunächst gedrückt hatte, erlaubte sich der Unwürdige, unmittelbar vor den Augen des älteren Herrn Goljadkin seinen schamlosen Scherz vom Vormittag zu wiederholen. Das Maß der menschlichen Geduld war erschöpft...

Er hatte das Taschentuch, mit dem er sich die Finger abgewischt hatte, bereits wieder in die Tasche gesteckt, als Herr Goljadkin der ältere endlich zur Besinnung kam und ihm in das anstoßende Zimmer nachstürzte, wohin sein unversöhnlicher Feind nach seiner häßlichen Gewohnheit schleunigst geflüchtet war. Als ob nicht das geringste geschehen wäre, stand er am Büfett, aß Pastetchen und sagte wie der tugendhafteste Mensch der deutschen Konditorfrau Liebenswürdigkeiten. »In Gegenwart von Damen geht es nicht,« dachte unser Held und trat, außer sich vor Erregung, ebenfalls an das Büfett heran. »Aber wirklich, das Frauchen ist nicht übel! Wie denken Sie darüber?« begann Herr Goljadkin der jüngere von neuem seine unpassenden Späße; er rechnete wahrscheinlich auf Herrn Goljadkins unendliche Geduld. Die dicke Deutsche ihrerseits blickte ihre beiden Kunden mit ihren zinnernen, geistlosen Augen an; sie verstand offenbar kein Russisch und lächelte höflich. Bei den Worten des schamlosen jüngeren Herrn Goljadkin flammte unser Held auf wie Feuer, und außerstande sich länger zu beherrschen, stürzte er endlich auf ihn los in der offensichtlichen Absicht, ihn zu zerreißen und auf diese Art ein für allemal mit ihm fertig zu werden; aber Herr Goljadkin der jüngere war nach seiner unwürdigen Gewohnheit schon weit weg: er hatte Reißaus genommen und befand sich schon vor der Haustür. Als Herr Goljadkin der altere nach der ersten momentanen Erstarrung, die ihn natürlicherweise überkommen hatte, wieder zur Besinnung kam, lief er selbstverständlich spornstreichs hinter seinem Beleidiger her, der bereits in die Droschke gestiegen war, die auf ihn gewartet hatte, und deren Kutscher augenscheinlich mit ihm unter einer Decke steckte. Aber in diesem selben Augenblicke kreischte die dicke Deutsche, die ihre beiden Kunden davonrennen sah, laut auf und klingelte aus Leibeskräften mit ihrer Glocke. Fast im schärfsten Laufe wandte sich unser Held um, warf ihr das Geld für sich und für den schamlosen Menschen, der nicht bezahlt hatte, hin, ohne etwas heraus zu verlangen, und ermöglichte es trotz dieses Aufenthaltes doch, obgleich wieder nur mit größter Eile, seinen Feind zu erreichen. Indem er sich mit aller Kraft, die ihm die Natur gegeben hatte, an den Schmutzflügel der Droschke anklammerte, lief unser Held eine Weile auf der Straße mit und suchte dabei auf den Wagen heraufzuklettern, den der jüngere Herr Goljadkin aus aller Kraft wie eine Festung verteidigte. Unterdes trieb der Kutscher mit der Peitsche, den Zügeln, dem Fuße und mit Zurufen seinen steifbeinigen Klepper an, der ganz unerwartet in Galopp fiel, wobei er auf das Mundstück biß und nach seiner schlechten Gewohnheit bei jedem dritten Schritte mit den Hinterbeinen ausschlug. Endlich gelang es unserem Helden, sich auf die Droschke hinaufzuschwingen, das Gesicht seinem Feinde zugewandt, mit dem Rücken gegen den Kutscher gestemmt, Knie an Knie mit dem Schamlosen; mit der rechten Hand hielt er den schäbigen Pelzkragen an dem Mantel seines verworfenen, erbitterten Feindes fest gepackt.

So fuhren die beiden Feinde eine Weile schweigend dahin. Unser Held konnte kaum Luft bekommen; der Weg war sehr schlecht, und er hüpfte bei jedem Schritte in die Höhe, in Gefahr, den Hals zu brechen. Überdies wollte sein erbitterter Feind sich immer noch nicht überwunden geben, sondern bemühte sich, seinen Gegner in den Schmutz hinunterzustoßen. Um das Maß der Unannehmlichkeiten voll zu machen, war ein greuliches Wetter. Der Schnee fiel in dichten Flocken und versuchte auf jede Weise unter den offenstehenden Mantel des wirklichen Herrn Goljadkin zu dringen. Ringsherum war es so dunkel, daß man nicht die Hand vor den Augen sehen konnte. Es war schwer zu erkennen, wohin und durch welche Straßen sie fuhren. Herr Goljadkin hatte dabei die Empfindung, als widerfahre ihm etwas, was ihm schon bekannt sei. Einen Augenblick lang versuchte er sich zu erinnern, ob er nicht schon gestern so etwas geahnt habe, z.B. im Traume... Endlich war sein peinliches Gefühl bis auf den höchsten Grad der Agonie gestiegen. Sich an seinen erbarmungslosen Gegner drückend, wollte er aufschreien. Aber der Schrei erstarb ihm auf den Lippen... Es war ein Augenblick, in welchem Herr Goljadkin alles vergaß und sich sagte, all dies mache gar nichts; es vollziehe sich auf irgendwelche unerklärliche Weise, und sich dagegen zu sträuben, sei unter solchen Umständen unnütz und ganz verlorene Mühe... Aber plötzlich und beinahe in demselben Augenblicke, als unser Held zu diesem Resultate gelangt war, änderte ein unvorhergesehener Stoß die ganze Lage der Dinge. Herr Goljadkin fiel wie ein Mehlsack aus der Droschke und rollte ein Stückchen davon, wobei er sich im Augenblick des Falles ganz mit Recht bewußt war, daß er wirklich sehr zur Unzeit hitzig geworden sei. Nachdem er endlich aufgesprungen war, sah er, daß sie irgendwo angelangt waren: die Droschke stand mitten auf einem Hofe, und unser Held erkannte auf den ersten Blick, daß sie sich bei der Tür eben des Hauses befanden, in welchem Olsufi Iwanowitsch wohnte. Gleichzeitig bemerkte er, daß sein Feind schon die Stufen zur Haustür hinanstieg und wahrscheinlich zu Olsufi Iwanowitsch wollte. In seinem unbeschreiblichen Seelenschmerze wollte er schon hineilen, um seinen Feind einzuholen, besann sich aber zu seinem Glücke verständigerweise noch rechtzeitig eines andern. Ohne daß er vergessen hätte, den Kutscher zu bezahlen, rannte Herr Goljadkin auf die Straße und lief, so schnell er konnte, blindlings davon. Der Schnee fiel wie vorher in dichten Flocken; wie vorher war es feucht und dunkel. Unser Held ging nicht, sondern stürmte dahin, stieß dabei alle Leute auf dem Wege um, Männer, Frauen und Kinder, und prallte seinerseits selbst von Frauen, Männern und Kindern zurück. Um ihn herum und hinter ihm erschollen erschrockene Worte, Kreischen und Schreien... Aber Herr Goljadkin war, wie es schien, ohne Besinnung und mochte auf nichts achten... Er kam erst wieder zu sich, als er sich schon bei der Semjonowski-Brücke befand, und zwar nur deshalb, weil er ungeschickterweise zwei alte Hökerfrauen mit ihren landläufigen Waren angestoßen und umgeworfen hatte und mit ihnen zusammen zu Fall gekommen war. »Das hat nichts zu sagen,« dachte Herr Goljadkin; »das kann sich alles noch ganz gut gestalten,« und griff sogleich in die Tasche, um sich wegen der umhergestreuten Pfefferkuchen, Äpfel, Erbsen und mannigfachen anderen Dinge mit einem Rubel loszukaufen. Plötzlich ging Herrn Goljadkin ein neues Licht auf; er fühlte in der Tasche den Brief, den ihm am Vormittag der Schreiber eingehändigt hatte. Da ihm unter anderm einfiel, daß sich in der Nähe ein ihm bekanntes Restaurant befinde, so lief er, ohne einen Augenblick zu zaudern, dorthin und nahm an einem Tischchen Platz, auf dem zur Beleuchtung ein Talglicht brannte; ohne sich dann um irgend etwas zu kümmern und ohne auf den Kellner zu hören, der herantrat, um seine Bestellung entgegenzunehmen, erbrach er das Siegel und begann den untenstehenden Brief zu lesen, der ihn in das allerhöchste Erstaunen versetzte:


»Edler, für mich leidender, meinem Herzen lebenslänglich teurer Mann!

»Ich leide, ich gehe zugrunde, – rette mich! Jener verleumderische, intrigante und durch seine nichtswürdige Denkweise bekannte Mensch hat mich mit seinen Netzen umstrickt und zugrunde gerichtet! Ich bin gefallen! Aber er ist mir zuwider, während Du... Man hat uns getrennt, meine Briefe an Dich abgefangen, – und all das hat der sittenlose Mensch getan, indem er seine einzige gute Eigenschaft ausnutzte, die Ähnlichkeit mit Dir. Jedenfalls kann man ein häßliches Äußeres besitzen und doch durch Geist, starke Empfindung und angenehme Manieren fesseln... Ich gehe zugrunde! Man wird mich gewaltsam verheiraten, und am allermeisten intrigiert hier mein Vater und Wohltäter, der Staatsrat Olsufi Iwanowitsch, wahrscheinlich in der Absicht, meinen Platz in der vornehmen Gesellschaft einzunehmen und sich meiner Konnexionen zu bedienen... Aber ich habe meinen Entschluß gefaßt und sträube mich mit allen Mitteln, die mir die Natur verliehen hat. Erwarte mich mit Deinem Wagen heute Punkt neun Uhr vor den Fenstern von Olsufi Iwanowitschs Wohnung. Bei uns ist heute Ball, und der schöne Leutnant wird da sein. Ich werde herauskommen, und wir werden fliehen. Es gibt ja auch noch andere Stellen im Staatsdienst, wo man dem Vaterlande Nutzen bringen kann. In jedem Falle denke daran, mein Freund, daß die Unschuld schon durch ihre Unschuld stark ist. Lebewohl! Erwarte mich mit dem Wagen vor der Haustür! Pünktlich um zwei Uhr nachts werde ich mich in den Schutz Deiner Umarmung flüchten.

»Dein bis zum Grabe!

Klara Olsufjewna.«


Nachdem unser Held den Brief gelesen hatte, war er einige Minuten lang wie betäubt. In furchtbarer Pein, in schrecklicher Aufregung, bleich wie Leinewand, ging er mit dem Briefe in der Hand mehrmals im Zimmer auf und ab; um die Mißlichkeit seiner Lage voll zu machen, bemerkte unser Held nicht, daß er in diesem Augenblicke der Gegenstand ausschließlicher Aufmerksamkeit aller im Zimmer Anwesenden war. Seine unordentliche Kleidung, die Aufregung, die er nicht zu unterdrücken vermochte, die Art, wie er im Zimmer hin und her ging oder, richtiger gesagt, lief, die Gestikulationen, die er mit beiden Händen ausführte, vielleicht auch einige rätselhafte Worte, die er selbstvergessen vor sich hin sprach, alles diente wahrscheinlich sehr wenig zu Herrn Goljadkins Empfehlung bei den Besuchern des Lokals, und sogar der Kellner begann ihn mißtrauisch zu betrachten. Als unser Held wieder zur Besinnung gekommen war, bemerkte er, daß er mitten im Zimmer stand und in beinah unanständiger, unhöflicher Art einen ältlichen Herrn von sehr achtbarem Äußern anstarrte, der sein Mittagessen verzehrt, sein Gebet vor dem Heiligenbilde verrichtet, sich dann wieder hingesetzt hatte und seinerseits ebenfalls seine Blicke nicht von Herrn Goljadkin abwandte. Verwirrt sah unser Held um sich und bemerkte, daß alle, geradezu alle, ihn mit mißtrauischer Miene, die nichts Gutes erwarten ließ, anblickten. Auf einmal verlangte ein pensionierter Militär die »Polizei-Nachrichten«. Herr Goljadkin zuckte zusammen und errötete: unwillkürlich schlug er dabei die Augen zu Boden und sah dabei, daß sein Kostüm sich in einem unanständigen Zustande befand, der nicht einmal innerhalb seiner vier Wände erträglich gewesen wäre, geschweige denn an einem öffentlichen Orte. Seine Stiefel, seine Beinkleider und die ganze linke Seite waren über und über voll Schmutz; der Steg am rechten Bein war abgerissen, und der Frack wies sogar an vielen Stellen Löcher auf. In tiefstem Seelenschmerze trat unser Held an den Tisch heran, an dem er den Brief gelesen hatte, und sah, daß der Kellner sich ihm näherte und ihn mit einem sonderbaren, dreisten Gesichtsausdruck beharrlich anblickte. Fassungslos und ganz niedergeschlagen begann unser Held den Tisch zu mustern, neben dem er jetzt stand. Auf dem Tische standen die noch nicht weggeräumten Teller von dem Mittagessen, das jemand dort eingenommen hatte; ebendort lag eine beschmutzte Serviette, sowie ein Messer, eine Gabel und ein Löffel, die soeben benutzt worden waren. »Wer mag hier zu Mittag gegessen haben?« dachte unser Held. »Bin ich es wirklich selbst gewesen? Sehr wohl möglich! Ich habe zu Mittag gegessen und selbst nichts davon gemerkt; was soll ich nur anfangen?« Aufblickend gewahrte er neben sich den Kellner, der ihm etwas sagen wollte.

»Wieviel bin ich schuldig, lieber Freund?« fragte unser Held mit zitternder Stimme.

Ein lautes Gelächter erscholl rings um Herrn Goljadkin; sogar der Kellner lächelte. Herr Goljadkin merkte, daß er sich auch hiermit blamiert und eine furchtbare Dummheit gemacht hatte. Infolge dieser Erkenntnis wurde er so verlegen, daß er genötigt war, nach seinem Taschentuche in die Tasche zu greifen, wahrscheinlich um nur irgend etwas zu tun und nicht so zwecklos dazustehen; aber zu seinem und aller Anwesenden Erstaunen zog er statt des Taschentuches ein Fläschchen mit der Arznei heraus, die ihm Krestjan Iwanowitsch vor vier Tagen verschrieben hatte. »Medizin aus derselben Apotheke,« ging es Herrn Goljadkin durch den Kopf... Plötzlich fuhr er zusammen und schrie beinah auf vor Schreck. Ein neues Licht ergoß sich vor seinem geistigen Blicke... Die dunkelrote, widerliche Flüssigkeit schimmerte in unheilverkündendem Glänze vor Herrn Goljadkins Augen... Das Fläschchen fiel ihm aus den Händen und zerbrach. Unser Held schrie auf und sprang vor der umherspritzenden Flüssigkeit ein paar Schritte zurück... er zitterte an allen Gliedern, und der Schweiß brach ihm an den Schläfen und auf der Stirn aus. »Also ist mein Leben in Gefahr!« Unterdessen war im Zimmer eine Bewegung und Verwirrung entstanden; alle umringten Herrn Goljadkin, alle redeten zu ihm, einige faßten ihn sogar an. Aber unser Held stand stumm und regungslos; er sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts... Endlich riß er sich von dem Flecke, wo er stand, los, stürzte aus dem Restaurant hinaus, stieß alle, die sich bemühten, ihn festzuhalten, zurück, warf sich beinah besinnungslos in die erste beste Droschke und fuhr eilig nach Hause.

Im Flur seiner Wohnung traf er den Kanzleidiener Michejew mit einem amtlichen Schreiben in der Hand. »Ich weiß, mein Freund, ich weiß alles,« antwortete unser Held, der völlig erschöpft war, mit matter, trauriger Stimme; »das ist etwas Amtliches...« Das Schreiben enthielt in der Tat die von Andrei Filippowitsch unterzeichnete Anweisung für Herrn Goljadkin, die in seinen Händen befindlichen Akten an Iwan Semjonowitsch abzuliefern. Nachdem er den Brief in Empfang genommen und dem Kanzleidiener ein Zehnkopekenstück gegeben hatte, ging Herr Goljadkin in seine Wohnung hinein und sah, daß Petruschka in seinem Verschlage dabei war, all seine Sachen auf einen Haufen zusammenzulegen, offenbar in der Absicht, Herrn Goljadkin zu verlassen und als Jewstafis Nachfolger in Karolina Iwanownas Dienst zu treten, die ihn seinem Herrn abwendig gemacht hatte.


Загрузка...