10


Angst war auch das erste Gefühl, das sich in ihrem Bewußtsein manifestierte, als sie wieder erwachte. Dann verspürte sie Kälte und fast augenblicklich das genaue Gegenteil: Ein Gefühl intensiver Hitze, das noch kein wirklicher Schmerz war, die Grenze zum Schmerz aber bereits berührte. Sie bekam keine Luft mehr, und sie hatte ein Empfinden, als würden Millionen winziger spitzer Nadeln überall zugleich in ihren Körper stechen.

»Bleib ganz ruhig liegen. Das Schlimmste ist gleich vorbei.«

Die Stimme drang wie durch Watte in Charitys Bewußtsein. Sie hatte Mühe, die Worte zu verstehen, und noch größere Mühe, den Sprecher zu identifizieren. Ihr Erwachen verlief irgendwie in zwei Phasen: Ihr Körper erwachte immer schneller, so daß sie jedes noch so winzige unangenehme Detail in vollen Zügen genießen konnte, aber ihr Bewußtsein kämpfte sich nur mühsam und wie durch einen zähen, klebrigen Sumpf in die Wirklichkeit zurück. Mittlerweile wußte sie immerhin wieder, wer sie war, und sie begriff auch, daß es Skudders Stimme war, die ihr immer noch zuredete, die Zähne zusammenzubeißen und ganz ruhig liegenzubleiben - als ob sie in der Lage gewesen wäre, auch nur einen Finger zu rühren!

Ein neuerlicher, brennender Schmerz tobte sich für einen qualvollen Augenblick in ihrem rechten Oberarm aus, aber kurz darauf wurde es besser: Eine Welle wohliger, schwerer Wärme pulsierte durch ihre Adern, und die schwarzen Wirbel vor ihren Augen gerannen zu halbwegs vertrauten Umrissen und Konturen.

Skudders Gesicht schwamm in einer schlierigweißen Unendlichkeit über ihr, bleich und wie von einer schweren Krankheit gezeichnet. Trotzdem lächelte er.

»Besser?«

»Frag mich, wenn dieser Alptraum vorbei ist«, murmelte sie. »Ich sehe nur Monster.«

»Aha, es geht dir besser«, stellte Skudder fest. »Du bist fast schon wieder die Alte. Bleib einfach noch fünf Minuten ganz ruhig liegen. Ich mache inzwischen das Frühstück.«

Skudders Gesicht verschwand aus Charitys Blickfeld, doch sie hörte ihn irgendwo unmittelbar in ihrer Nähe hantieren. Vermutlich vergingen tatsächlich nur die fünf Minuten, von denen Skudder gesprochen hatte, doch Charity kamen sie vor wie Stunden.

Sie kämpfte abwechselnd gegen Übelkeit, Fieberschübe und Schüttelfrost, doch damit hatte sie gerechnet. Sieben Wochen Tiefschlaf bekam man nun mal nicht geschenkt. Sie machte einen Blitzentzug durch, um mit dem Medikamentencocktail in ihrem Körper fertig zu werden.

Als das Schlimmste vorüber war, ließ sie noch einmal zehn oder fünfzehn Sekunden verstreichen, in denen sie einfach mit geschlossenen Augen dalag und langsam und tief ein- und ausatmete. Erst dann richtete sie sich behutsam auf.

Skudder stand mit dem Rücken zu ihr und hämmerte auf den Tastaturen von gleich zwei Computern zugleich herum. Auf den dazugehörigen Monitoren rasten Buchstaben und Zahlenkolonnen so schnell vorüber, daß Charity schon vom bloßen Hinsehen Kopfschmerzen bekam. Eine Atmosphäre unangenehmer Nervosität lag in der Luft. Charity begriff sofort, daß irgend etwas nicht stimmte.

Skudder hatte ihre Bewegung wohl gehört, denn er drehte sich zu ihr herum und streckte den Arm aus.

Auf seiner Handfläche lagen drei winzige, verschiedenfarbige Tabletten.

»Frühstück«, sagte er. »Wie versprochen. Kaffee, Rühreier mit Speck und frisch gepreßter Orangensaft. Aber schling nicht so.«

Charity betrachtete die Tabletten mißmutig. Skudders Worte waren nur halb scherzhaft gemeint. Die drei Konzentratpillen enthielten tatsächlich alles, was ihr Körper brauchte, und wahrscheinlich würden sie sogar so schmecken, wie Skudder sie angepriesen hatte. Trotzdem hätte Charity in diesem Moment ihre linke Hand für eine Tasse richtigen Kaffee gegeben. Leider war die nächste Kaffeemaschine etliche Millionen Meilen entfernt.

»Was ist schiefgegangen?« fragte sie, während sie die drei Konzentratpillen mühsam herunterwürgte.

»Direkt schiefgegangen ist nichts«, antwortete Skudder. »Aber irgend etwas stimmt nicht. Wir sind fast vierundzwanzig Stunden zu früh aufgewacht.«

»Vielleicht hat jemand den Wecker falsch gestellt.« Charity stemmte sich auf den Rändern des Schlaftanks in die Höhe, aber sie war noch so wackelig auf den Beinen, daß sie sich von Skudder dabei helfen lassen mußte, ganz aus dem Chromsarg herauszuklettern.

»Danke«, sagte sie. »Wieso besitzt du eigentlich die Unverschämtheit, schon so fit zu sein?«

»Weil ich meinen Tank so eingestellt hatte, daß ich sechs Stunden vor dir wach wurde«, gestand Skudder unumwunden. »Und das war auch gut so. Ich habe nämlich eine Menge interessanter Dinge herausgefunden, während du noch deinen Schönheitsschlaf gehalten hast.«

»War er wenigstens erfolgreich?«

»Was willst du von mir hören? Daß er nicht nötig war?« Skudder machte mit der linken Hand eine flatternde Geste auf das Sammelsurium von Computern und Anzeigeinstrumenten hinter sich. »Wenigstens habe ich eine ungefähre Vorstellung davon, warum wir zu früh aufgewacht sind. Die zentrale Energieversorgung der HOME RUN hat sich eingeschaltet.«

»Erklär es mir.« Charity fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich kann noch nicht richtig denken.«

»Hartmann hat ein bißchen geschwindelt, als er die Schlaftanks für die Besatzung einbauen ließ«, sagte Skudder. »Die Geräte benötigen sechsunddreißig Stunden, um ihre Insassen zu wecken. Unsere schaffen es in zwölf Stunden. Das bringt uns den zeitlichen Vorsprung, den wir brauchen.«

»So weit denken kann ich schon noch«, murmelte Charity. »Du mußt nicht mit den Bienen und den Blumen anfangen.«

»Die HOME RUN besitzt einen Gravitationsgenerator«, fuhr Skudder unbeeindruckt fort. »Wir dachten, er würde sich automatisch einschalten, sobald wir die Hunderttausend-Meilen-Grenze erreichen, wie bei der Erde.«

»Und das hat er nicht«, vermutete Charity. »Sind wir schon auf dem Mars gelandet?«

»Ganz im Gegenteil«, antwortete Skudder. »Der Generator hat sich viel zu früh eingeschaltet. Wir sind fast eine halbe Million Kilometer vom Mars entfernt. Trotzdem liefert das Ding volle Energie.«

»Wir gewinnen etwas Zeit«, sagte Charity. »Was ist so schlimm daran?«

»Vielleicht nichts, vielleicht alles.« Skudder hob die Schultern. »Die HOME RUN hat vor zwölf Stunden damit begonnen, Friedensbotschaften auf allen bekannten Frequenzen und in drei Dutzend Sprachen zu senden, so wie es vorgesehen war. Wenn unsere Freunde zu früh darauf reagieren, bekommen wir Schwierigkeiten. Der Treibstoff der Stingray reicht nicht, um den Mars von hier aus zu erreichen.«

»Haben sie denn schon auf die Botschaften reagiert?« fragte Charity.

Skudder verneinte. Dann sagte er: »Es gibt noch ein Problem.« Mit ein paar Handgriffen aktivierte er ein halbes Dutzend Computermonitore, auf denen verschiedene Räume im Inneren der HOME RUN zu sehen waren. Diesen Anblick hatte Charity erwartet: Das Schiff war wieder zu lautlosem elektronischem Leben erwacht. In den meisten Räumen brannte Licht, obwohl noch niemand da war, der es gebraucht hätte, und der Anblick der Zentrale erinnerte Charity auf frappierende Weise an die zahllosen Science-Fiction-Filme, die sie während ihres ersten Lebens gesehen hatte: Verwaiste Stühle vor blinkenden Kontrollpulten, Monitore, auf denen endlose Zahlenkolonnen und verwirrende Grafiken vorüberzogen, Ausrüstungsgegenstände, die einen lautlosen Tanz in der Schwerelosigkeit aufführten.

Das Schiff war für eine Besatzung von zwölf Mann konzipiert, konnte aber auch ohne die geringste menschliche Hilfe fliegen. Es ist nichts weiter als eine Maschine, dachte Charity. Kaum mehr als ein zu groß geratener, äußerst komplizierter Taschenrechner. Trotzdem war es ein unheimlicher Anblick. Und er paßte zu den Gedanken, die Charity auf dem Weg hier herein gehabt hatte. Nicht einmal dieses Schiff brauchte sie, Skudder oder sonst jemanden wirklich - wie also kam sie auf die Idee, daß das Universum etwas so Überflüssiges wie die Menschen brauchte?

»Da.« Skudder deutete auf einen Monitor, auf dem die Schlaftanks der Besatzung zu erkennen waren, und Charity sah sofort, was er meinte: Die Besatzung der HOME RUN bestand aus zwölf Freiwilligen - aber es waren dreizehn Tanks.

»Einer zuviel«, sagte sie. »Hartmann wird doch nicht etwa so verrückt gewesen sein...?«

»Das dachte ich im ersten Moment auch«, sagte Skudder. »Aber dann habe ich ein bißchen Radio gehört.«

Er legte einen Schalter um, und Charity hörte unvermittelt einen Teil der Botschaft, die die HOME RUN ununterbrochen ausstrahlte, seit sie sich dem Mars näherten: »... friedlicher Absicht. Ich wiederhole: Hier spricht Gouverneur Jan Drasko von Bord der HOME RUN. Das Schiff ist unbewaffnet und nähert sich dem Mars in friedlicher Absicht. Wir kommen, um Verhandlungen mit Ihnen aufzunehmen...«

Die Nachricht ging offensichtlich noch weiter, aber Charity hatte genug gehört und schaltete ab. »Drasko! Mut hat er ja, das muß man ihm lassen.«

Skudder schnaubte. »Der Kerl ist karrieregeil, das ist alles! Hartmann hat vollkommen recht, weißt du? Wenn er damit durchkommt, hat er die nächste Wahl so gut wie gewonnen.«

»Wenn er damit durchkommt«, zitierte Charity ihn betont, »haben wir Frieden, Skudder. Aber er wird nicht damit durchkommen.« Erst als Charity die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr klar, wie sie sich vielleicht anhören mochten. Dabei hoffte sie nichts mehr, als daß Draskos Alleingang erfolgreich verlaufen möge.

Aber sie wußte, das würde nicht geschehen. Die Fremden wollen keinen Frieden. Zumindest nicht zu Bedingungen, die sie akzeptieren würden.

Skudder zoomte den Bildausschnitt heran, bis das Namensschildchen auf dem zusätzlich aufgestellten Cryogentank zu lesen war. Jan Drasko, stand darauf.

Charity wiederholte in Gedanken, was sie gerade laut gesagt hatte: Man konnte über Draskos Beweggründe streiten, aber Mut hatte er.

»Du weißt, was sein Hiersein bedeutet?« fragte sie. Skudder zuckte die Achseln, und Charity fuhr in nachdenklichem Tonfall fort: »Hartmann wußte nichts davon, sonst hätte er es uns gesagt. Drasko hat ihm nicht getraut. Ich frage mich, was für Überraschungen wir noch an Bord haben.«

»Vielleicht wußte er ja auch von uns«, pflichtete Skudder ihr bei. »Ich sollte besser nachsehen, ob unser Schiff noch da ist.« Seine Finger flogen über die Tastatur. Das Bild wechselte hektisch, bis er eine der Außenkameras gefunden hatte. Die Stingray hing unverändert am Rumpf der HOME RUN, wie ein bizarr geformter Parasit, der sich an der Flanke eines gepanzerten Riesenfisches festgesaugt hatte.

»Wenigstens ist es noch da«, sagte Charity. »Trotzdem. Mir wäre wohler, wenn du hinausgehst und die Maschine überprüfst.«

Skudder schüttelte den Kopf. »Nicht genug Sauerstoff«, sagte er. »Wir können die Schleuse nur einmal öffnen. Ich fürchte...«

Er brach ab. Ein konzentrierter, zum Teil aber auch erschrockener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

»Was ist?« fragte Charity knapp.

»Wir bekommen Besuch«, antwortete Skudder. »Es geht los.«

Es vergingen noch ein paar Augenblicke, aber dann sah auch Charity, was er meinte: Auf einem der Monitore war ein halbes Dutzend grün leuchtender Punkte erschienen, die sich der HOME RUN mit täuschender Langsamkeit näherten. Charity wußte es jedoch besser: Daß man die Bewegung auf dem Radarschirm überhaupt sehen konnte, bedeutete, daß die Geschwindigkeit der Objekte riesig war.

»Eine halbe Stunde«, schätzte sie.

»Eher zwanzig Minuten«, sagte Skudder. »Aber das reicht. Es wird ernst.«

Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, und Charity hatte das sichere Gefühl, daß er noch etwas Bestimmtes sagen wollte. Aber dann hob er nur die Schultern, drehte sich rasch um und öffnete einen Gepäckcontainer aus grauem Kunststoff, der direkt an der Wand neben der Schleusentür angebracht war. Charity verspürte ein rasches, unangenehmes Frösteln, als sie die beiden eng zusammengerollten Bündel identifizierte, die Skudder herausnahm. Sie zögerte länger als nötig, als Skudder ihr einen der beiden Anzüge hinhielt.

»Es ist sicher«, sagte Skudder. »Ich habe den Selbstzerstörungsmechanismus höchstpersönlich ausgebaut.«

Charity ersparte sich den Hinweis, daß dies nicht der Grund für ihr Zögern war. Wie die Stingray selbst waren auch die beiden Anzüge Beutestücke, die sie aus verschiedenen Teilen und nach ihren Bedürfnissen zusammengebaut hatten. Doch umgebaut oder nicht - in diesen Anzügen waren Menschen gestorben. Charity erinnerte sich noch zu gut an den Anblick, der sich ihr geboten hatte, als sie den ersten dieser Anzüge öffnete. Sie war gewiß nicht zimperlich, doch es gab Grenzen.

In der Zeit, die sie brauchte, um den Anzug überzustreifen, kamen die sechs leuchtenden Blips auf dem Radarschirm ein gutes Stück näher. Sie hatten sich verschätzt - oder die Maschinen hatten noch weiter beschleunigt. So oder so: Ihre Zeit war knapper bemessen, als sie geglaubt hatten.

Charitys Unbehagen steigerte sich für einen Moment zu einem Gefühl, das verdächtig nahe an Panik grenzte, als sie den Helm überstreifte. Das einseitig verspiegelte Visier war kaum so breit wie ein Bleistift, so daß sie unter dem Helm nichts als Dunkelheit erwartet hatte, doch sie erlebte eine Überraschung: Ihr Gesichtsfeld war kaum eingeschränkt, und sie sah sogar besser als ohne den Helm. Eine weitere technische Überraschung, die die Fremden für sie bereit gehalten hatten. Charity fragte sich, wie viele noch kamen.

Und welche vielleicht die letzte sein würde.

»Bereit?« Skudders Stimme drang aus keiner erkennbaren Richtung an Charitys Ohr. Sie hatte bisher nicht einmal gewußt, daß die Anzüge über eine interne Kommunikationsanlage verfügten, geschweige denn, wie sie funktionierte. Sie nickte. Dann fiel ihr ein, daß Skudder die Bewegung im Inneren des Helms nicht sehen konnte. Anscheinend deutete er ihr Schweigen aber als Zustimmung, denn er wandte sich ohne ein weiteres Wort um, trat in die Schleusenkammer und winkte ihr, nachzukommen.

Zwei Minuten später traten sie nebeneinander auf die Hülle der HOME RUN hinaus. Charitys erster Blick galt der Stingray, aber das Schiff lag unverändert da, genau so, wie sie es verlassen hatten, als wären tatsächlich nur die wenigen Stunden verstrichen, die ihre Landung - subjektiv - zurücklag.

Etwas anderes jedoch hatte sich grundlegend geändert: Als Charity angekommen war, war die HOME RUN kaum mehr als ein schwarzer Metallbrocken gewesen. Jetzt brannten in und auf dem Schiff zahllose Lichter, so daß es schon über große Entfernung hinweg zu sehen sein mußte. Drasko nahm seine Friedensmission offenbar sehr ernst. Die HOME RUN funkelte wie ein zu groß geratener Weihnachtsbaum. Man konnte ihnen wahrhaftig nicht vorwerfen, daß sie versuchten, sich anzuschleichen.

Charitys Blick löste sich von den sanft geschwungenen Umrissen des Jägers und glitt über den Himmel.

Sie waren noch immer fast eine halbe Million Kilometer vom Mars entfernt, trotzdem schien der rote Planet fast zum Greifen nahe - eine riesige, rostfarbene Kugel, öde im Vergleich zum Anblick der Erde, wie er sich aus dem Weltraum heraus bot, und trotzdem auf eine schwer in Worte zu fassende Art majestätisch. Und er war mehr als eine tote Steinkugel. Immerhin reichte die bloße Nähe des Planeten, um die Gravitationsgeneratoren der HOME RUN wieder zu vollem Leben zu erwecken.

»Mars bringt verbrauchte Energie sofort zurück«, murmelte sie.

»Was?« fragte Skudder.

»Nichts«, sagte Charity rasch. »Ein... altes Sprichwort aus meiner Zeit.«

»Ihr wußtet damals schon von den Gravitationsgeneratoren?« wiederholte sich Skudder.

Charity seufzte. »Vergiß es einfach«, sagte sie. »Komm.«

Sie beeilten sich, die letzten Meter zur Stingray zurückzulegen. Nach der unendlichen Leere, die sie gerade noch umgeben hatte, kam Charity die Enge an Bord des Jägers doppelt schlimm und bedrückend vor. Als sie die Stingray das erste Mal betreten hatte, war ihr das Cockpit winzig erschienen; nach den Umbauten, die sie daran vorgenommen hatten, war der vorhandene Platz auf weniger als die Hälfte zusammengeschrumpft. Man brauchte schon ein kräftiges Nervenkostüm, um keinen Anfall von Klaustrophobie zu erleiden.

Mit einiger Mühe quetschte sie sich in den Pilotensitz und verrenkte sich fast den Hals, um Skudder dabei zu beobachten, wie er in den zweiten Sessel kletterte. Er hatte noch weniger Platz als Charity. Der Sitz war ein gutes Stück höher, und um das Maß voll zu machen, war Skudder fast zwanzig Zentimeter größer als sie, so daß er stark nach vorne gebeugt dasaß und trotzdem noch mit dem Kopf gegen das durchsichtige Material des Kanzeldaches stieß.

»Bitte schnallen Sie sich an, stellen Sie die Rückenlehne Ihres Sitzes senkrecht und stellen Sie das Rauchen ein«, sagte Charity. »Und vielen Dank, daß Sie mit Alien-Airlines fliegen.«

Sie schaltete nacheinander und schnell die Systeme des Jägers ein, aber mit keinem guten Gefühl. Vor der Energiesignatur der HOME RUN stellte die der Stingray vermutlich nicht mehr als einen Funken in einem Meer von Licht dar. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie auf irgendeinem Ortungsschirm auftauchten, tendierte gegen null.

Aber sie konnte eben nicht sicher sein, und das gefiel ihr nicht.

»War das eben noch ein altes Sprichwort aus deiner Zeit?« nörgelte Skudder.

»Sozusagen«, antwortete Charity. »Halt dich irgendwo fest.«

Sie beschleunigte, noch bevor Skudder auch nur Gelegenheit fand, sich festzuklammern, und grinste schadenfroh in ihren Helm hinein, als sie spürte, wie er zuerst gegen die Rücklehne ihres Sitzes und dann in die entgegengesetzte Richtung geworfen wurde. Die Stingray machte einen regelrechten Satz von der HOME RUN weg, drehte sich zwei-, dreimal um ihre Längsachse und schwenkte schließlich auf einen Parallelkurs ein.

»Verdammt!« maulte Skudder. »Willst du mich umbringen?«

»Gar keine schlechte Idee«, sinnierte Charity. »Niemand würde es merken. Es gibt weit und breit keinen Zeugen. Und ich könnte alles den Fremden in die Schuhe schieben.«

»Ha, ha, ha. Sehr witzig«, maulte Skudder. »Achte lieber auf deine Instrumente, während ich versuche, mich wieder auseinanderzufalten.«

Natürlich hatte er recht. Jetzt war wirklich nicht der richtige Moment für Albernheiten. Und ein einziger Blick auf den Radarschirm zeigte Charity auch, wie recht Skudder hatte. Die Fremden hatten sich bereits bis auf weniger als zwanzigtausend Kilometer genähert; ein Katzensprung für die Stingrays.

Hastig steuerte Charity den Jäger noch einmal um zwei-, dreitausend Meter weiter fort von der HOME RUN, paßte Geschwindigkeit und Kurs pedantisch genau an und schaltete dann sämtliche Systeme ab. Das Instrumentenpult vor ihr wurde schwarz, und das sanfte Vibrieren des Triebwerks erlosch. Sie warteten.

Das feindliche Geschwader näherte sich schnell, verringerte seine Geschwindigkeit auf dem letzten Stück aber wieder rapide, so daß sehr viel mehr Zeit verging, als Charity und Skudder angenommen hatten. Schließlich ging die kleine Flotte in einem Abstand von gut fünftausend Metern zur HOME RUN auf Parallelkurs und beschleunigte wieder, um ihre Geschwindigkeit der des größeren Schiffes anzupassen. Charity hatte mit genau diesem Manöver gerechnet, aber sie fühlte trotzdem eine immer stärkere Anspannung. Ihr eigener Abstand zur HOME RUN betrug kaum mehr, und auch wenn sie sich auf der anderen Seite des Schiffes befanden, bedeutete das nicht, daß sie in Sicherheit waren. Sie hatte schon zu viele unangenehme Überraschungen mit diesen namenlosen Fremden erlebt, um sie auch nur eine Sekunde lang zu unterschätzen.

»Drei Stingrays, zwei Transporter und ein Schiff, das wir noch nicht kennen.«

Skudder hatte aufmerksam die passiven Ortungsinstrumente beobachtet. Er gab einen schwer zu deutenden Laut von sich. »Nur drei Kampfmaschinen. Sollte ich jetzt beleidigt sein?«

»Halt die Klappe«, murmelte Charity.

»Andererseits wissen sie natürlich nicht, daß wir auf sie warten«, fuhr Skudder unbeeindruckt fort.

»Eines der Schiffe schwenkt aus der Formation aus.«

»Ich sehe es.« Einer der zusätzlichen Sterne, die zwischen der HOME RUN und dem funkelnden Band der Galaxis erschienen waren, leuchtete für einen Moment heller und kam gleichzeitig und sehr schnell näher. Offenbar trauten die Fremden Draskos Friedensbeteuerungen nicht unbedingt. Charity hätte es an ihrer Stelle wohl ebensowenig getan.

Das einzelne Schiff umkreiste die HOME RUN in respektvollem Abstand zwei-, dreimal, setzte sich schließlich vor ihren Bug und bremste allmählich ab. Das viel größere Schiff hielt stur Kurs und Geschwindigkeit bei. Offensichtlich stufte der Computer den Jäger nicht als ernstzunehmende Gefahr ein.

Der Pilot der Stingray wartete, bis die HOME RUN auf weniger als einen Kilometer heran war, dann gab er einen einzelnen, gezielten Schuß ab. Ohne ein Medium war der Laserblitz selbst fast unsichtbar, aber Charity sah, wie ein Teil des zerklüfteten Bugs der HOME RUN plötzlich dunkelrot aufloderte. Dann sprühte eine Fontäne aus geschmolzenem Metall ins All hinaus, weniger als eine Sekunde später gefolgt von einer Wolke aus brodelnden weißen Eiskristallen - Sauerstoff, der durch ein Leck im Rumpf entwich und in der Weltraumkälte augenblicklich gefror.

»Hoffentlich hat Gouverneur Drasko einen Helm eingepackt«, sagte Skudder. »Sonst erlebt er eine böse Überraschung, wenn er aus seinem Tank steigt.«

Charity sagte nichts dazu. Sie hoffte, daß Drasko und die zwölf anderen Besatzungsmitglieder der HOME RUN überhaupt noch einmal erwachen würden. Gleichzeitig sagte sie sich, daß eine sofortige Zerstörung der HOME RUN vollkommen sinnlos wäre. Hätten die Fremden das gewollt, hätten sie es bereits getan.

Die HOME RUN hielt mit computergesteuerter Beharrlichkeit weiter auf die Stingray zu. Im buchstäblich allerletzten Moment wich der Jäger dem heranrasenden Schiff aus, so schnell und mit einem Manöver, daß Charity ungläubig die Augen aufriß und Skudder hinter ihr erschrocken die Luft einsog.

»Großer Gott!« murmelte er. »Hast du das gesehen?«

»Ja«, antwortete Charity. »Aber ich glaube es trotzdem nicht.«

Ihre Gedanken rasten. Was sie gerade beobachtet hatten, war praktisch unmöglich.

»Das muß ein anderes Modell sein als die, gegen die wir gekämpft haben«, sagte Skudder.

Es klang nicht sehr überzeugend. Viel mehr wie etwas, das er sich beinahe verzweifelt einredete, weil er es glauben wollte. Charity verstand das Entsetzen in Skudders Stimme nur zu gut. Hätten sie vor drei Monaten gegen Maschinen wie diese dort gekämpft, wäre die Schlacht anders ausgegangen.

Sie verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Geschehen drüben bei der HOME RUN. Auch der Rest der kleinen Flotte kam jetzt näher. Wie Skudder gesagt hatte, identifizierte sie zwei weitere Stingrays, zwei klobige, plump erscheinende Shuttles sowie ein Schiff, das ein gutes Stück größer als die anderen war und nur aus Antennen, Sonnenkollektoren und Waffen zu bestehen schien.

»Ich nehme alles zurück«, sagte Skudder. »Sie haben doch Respekt vor uns.«

»Verdammt, Skudder, tu mir einen Gefallen, und sei ein paar Augenblicke still! Ich muß nachdenken!«

Skudder war natürlich nicht still. »Verratet Ihr mir auch, worüber Ihr nachzudenken wünscht, große Herrin?«

»Zum Beispiel darüber, was wir jetzt tun sollen, Rothaut«, sagte Charity. »Du kannst alle unsere Pläne vergessen, ist dir das schon aufgefallen?«

Skudders Schweigen war Antwort genug. Sie hatten verschiedene alternative Vorgehensweisen erwogen, die aber im Endeffekt fast alle auf das Gleiche hinausliefen: Sie hatten vorgehabt, einen der feindlichen Jäger abzuschießen und seine Stelle einzunehmen, um auf diese Weise direkt in die gegnerische Basis zu gelangen.

»Ihre Instrumente haben keine sehr viel größere Reichweite als unsere«, sagte Skudder. »Wahrscheinlich können wir ihnen folgen, ohne daß sie es merken.«

Eine halbe Million Kilometer weit?

Charity machte sich nicht einmal die Mühe, auf Skudders Vorschlag zu antworten. Sie blickte schweigend weiter aus dem Cockpit und beobachtete, wie die beiden Shuttles nebeneinander an der HOME RUN andockten. Mehr konnte sie nicht erkennen, dazu war die Entfernung zu groß.

Aber es war nicht besonders schwierig, sich den Rest zusammenzureimen: Die Fremden schickten ein Enterkommando an Bord der HOME RUN.

Drasko und seine Leute würden eine Überraschung erleben, wenn sie aus dem Kälteschlaf erwachten. Allerdings keine sonderlich angenehme.

»Hoffentlich kommen sie nicht auf die Idee, das Schiff zu gründlich zu durchsuchen«, sagte sie. »Wenn sie unser Versteck entdecken, sitzen wir in der Tinte.«

»Noch tiefer?«

»Noch tiefer«, bestätigte Charity.

»Hör zu«, sagte Skudder. »Ich habe vielleicht eine Idee, wie wir hier wegkommen. Es ist riskant, aber -«

Charity erfuhr nie, auf welche Idee Skudder gekommen war.

Etwas geschah. Charity spürte es den Bruchteil einer Sekunde, bevor es passierte, ohne sagen zu können, was es war: Plötzlich und schlagartig erfüllte sie ein Gefühl von Fremdartigkeit, die Präsenz von etwas unsagbar Anderem, Lebendigem.

Im nächsten Sekundenbruchteil geschah alles gleichzeitig.

Das Instrumentenpult vor ihr flammte in nie gesehener Farbenpracht und Helligkeit auf. Die Triebwerke der Stingray sprangen an. Das Schiff begann zu beben. Ein unheimliches, immer lauter werdendes Heulen und Kreischen marterte ihr Gehör.

»Charity!« stieß Skudder hervor. »Was tust du da? Bist du wahnsinnig?«

»Ich bin das gar nicht! Wir werden gesteuert!« schrie Charity zurück.

Die Stingray setzte sich in Bewegung, zehnmal schneller, als sie es vor einer Minute auch nur für möglich gehalten hätten. Der Mars, die HOME RUN und die feindlichen Schiffe begannen einen wirbelnden Tanz vor dem Bug des Schiffes aufzuführen. Die Rückholautomatik! Diese verdammte Rückholautomatik! Hartmann hatte ihnen versichert, daß sie nicht ansprechen würde, bevor sie einen ganz bestimmten Schalter auf dem Kontrollpult umgelegt hatte, aber anscheinend hatten seine Techniker irgendeines der zahllosen Kabel übersehen.

»Tu etwas!« schrie Skudder. »Sie werden uns sehen!«

Doch selbst wenn Charity es gewollt hätte - sie hätte gar nichts mehr tun können. Die Stingray beschleunigte mittlerweile mit solcher Gewalt, daß sie wie von der Hand eines unsichtbaren Riesen in den Pilotensitz gepreßt wurde. Sie bekam keine Luft mehr. Rote Schlieren begannen vor ihren Augen zu tanzen und eine zweite, noch stärkere Faust schien nach ihrem Herz zu greifen und es unerbittlich zusammenzuquetschen.

Und es war noch nicht vorbei.

Die Beschleunigung würde sie beide umbringen, wenn sie auch nur noch wenige Augenblicke anhielt, aber das Schiff wurde immer noch schneller und schneller, und dann... faltete sich der Weltraum unmittelbar vor dem Bug des Jägers auseinander und machte etwas anderem Platz, einer Richtung und Dimension, die es in einem Universum euklidischer Gesetzmäßigkeiten nicht gab und nicht geben durfte, und die Stingray beschleunigte noch einmal und sprang mit einem gewaltigen Satz in dieses verstandverdrehende Nichts hinein.

Und Charity verlor endlich das Bewußtsein.

Das erste, was sie sah, als sie die Augen wieder öffnete, war Schwärze. Nicht die Dunkelheit eines vollkommen geschlossenen Raumes oder einer mondlosen Nacht, sondern eine so völlige Schwärze, daß ihr sofort klar wurde, daß sie blind war. Außerdem war sie sich ihres Körpers bewußt, aber nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu rühren.

Noch bevor sie diese Erkenntnis weit genug verinnerlichen konnte, um in Panik zu geraten, erschien eine Anzahl winziger, blasser Pünktchen in der Dunkelheit, die sowohl an Anzahl wie auch an Leuchtkraft zunahmen. Sterne. Ihr Sehvermögen kehrte zurück. Sie konnte den Panik-Knopf wieder loslassen. Offenbar war ihr Bewußtsein ihrem Körper und ihren Sinnen einfach nur wieder ein Stück vorausgeeilt.

Nicht allzu lange Zeit darauf wünschte Charity sich beinahe, es wäre umgekehrt gewesen. Sie erinnerte sich nur vage an die letzten Augenblicke, bevor das Schiff in das Loch im Weltraum hinein gesprungen war, doch die Beschleunigung mußte wohl noch einmal zugenommen haben. Sie fühlte sich, als wäre jeder einzelne Knochen in ihrem Leib mindestens ein Dutzend mal gebrochen und nicht besonders professionell wieder zusammengesetzt worden. Außerdem hatte sie den schlimmsten Muskelkater ihres Lebens. Ihr Kopf war auf die linke Seite gerollt, so daß sie auch nur diesen Teil des Weltalls neben dem Schiff sehen konnte. Wahrscheinlich wäre sie in der Lage gewesen, den Kopf zu drehen, um sich auch in den anderen Richtung umzublicken, aber sie wagte es nicht; sie befürchtete, die Muskeln in ihrem Nacken könnten zerbrechen wie Glas, wenn sie sie anspannte. Eine schmale, rot-orange Linie erschien am unteren Rand ihres Gesichtsfeldes. Sie begann langsam breiter zu werden, und es dauerte nur noch ein paar Augenblicke, bis Charity sie identifizierte.

Der Mars.

Sie befanden sich im Orbit um den Mars. Einem sehr niedrigen Orbit, der kaum wahrnehmbaren Krümmung des Marsglobus nach zu schließen.

Obwohl es Charity gewaltige Anstrengung kostete und sie um ein Haar vor Schmerz aufgestöhnt hätte, hob sie die linke Hand weit genug, um auf die Uhr schauen zu können.

Sie blinzelte. Was sie sah, war praktisch unmöglich.

»Glaub es ruhig«, erklang Skudders Stimme in ihrem Helm. »Fünftausend Kilometer in knapp drei Sekunden. Nicht schlecht, was?«

»Wird das jetzt zu einer schlechten Angewohnheit?« fragte Charity. »Immer vor mir aufzuwachen, meine ich.«

»Ich bin nicht vor dir wach geworden«, erwiderte Skudder. »Ich war gar nicht bewußtlos. Aber ich hätte mir gewünscht, ich wäre es. Schau mal nach rechts.«

Charity gehorchte mit einiger Mühe - und erstarrte.

Der Anblick des Mars aus dieser unerwarteten Nähe hatte sie überrascht, aber er war nichts gegen das, was sich ihr auf anderen Seite des Schiffes bot.

»Das ist -«

»Das Zonenschiff«, sagte Skudder. »Jedenfalls hat Gurk es so genannt. Allerdings fällt es mir immer schwerer, dieses Ding Schiff zu nennen. Es kommt näher. Oder wir nähern uns ihm - das kommt ganz auf den Standpunkt an.«

Charity hörte gar nicht mehr hin. Skudder brachte es fertig, drei Tage ohne Unterbrechung zu schweigen, konnte aber auch mit seinem Geplapper zu einer kolossalen Nervensäge werden. Ihr stand jetzt nicht der Sinn nach seinem fadenscheinigen Humor. Strenggenommen war in ihren Gedanken für nichts anderes Platz als für das... Ding.

Zumindest in diesem Punkt stimmte sie Skudder zu: Auch ihr gelang es einfach nicht, dieses gigantische Gebilde dort draußen als Schiff zu bezeichnen. Genaugenommen fiel ihr überhaupt kein Wort ein, um dieses Etwas, das das halbe Firmament über ihnen ausfüllte, zu beschreiben. Es gab keine Vergleichsmöglichkeiten, keine Maßstäbe. Etwas Ähnliches hatte Charity nie zuvor gesehen. Das Ding war groß, und es war bizarr. Das waren auch schon alle Attribute, die ihr dazu einfielen.

Es war das gleiche Gebilde, dessen Aufnahmen das Weltraumteleskop geliefert hatte. Sie alle hatten Dutzende von Bildern davon gesehen, und trotzdem war es... anders. Der Unterschied war nicht in Worte zu fassen, und doch gab es ihn - und er war so deutlich, so gravierend, daß es Charity auch nach endlosen Sekunden noch immer schwer fiel zu glauben, daß es sich tatsächlich um das gleiche Objekt handelte.

Das Zonenschiff hatte sich nicht wirklich verändert: Es war noch immer eine riesige, mißgestalte Kugel mit zahllosen Auswüchsen, Rissen, Beulen, Anhängseln, Schrunden und Tentakeln, aber da war plötzlich noch mehr, als wäre im Anblick dieses Gebildes irgendeine Information enthalten, die sich weder fotografieren noch auf irgendeine andere Weise festhalten ließ.

Plötzlich mußte Charity wieder daran denken, was sie gespürt hatte, kurz bevor die Stingray aus dem Universum herausgefallen war: Die Präsenz von irgend etwas Gewaltigem, Lebendigen.

Das war es.

»Es lebt«, murmelte sie.

»Was?« machte Skudder.

»Das ist kein Raumschiff«, sagte Charity. »Ich weiß nicht, warum Gurk es so genannt hat, aber es ist kein Schiff. Dieses Ding ist lebendig.«

Skudder antwortete nicht, doch Charity konnte seinen Zweifel regelrecht spüren. Trotzdem war sie hundertprozentig sicher, sich nicht zu täuschen. So bizarr ihr der Gedanke selbst vorkommen mochte: Diese zwanzig Meilen durchmessende, häßliche Kugel dort draußen war kein künstliches Gebilde, sondern ein lebendiges, fühlendes Wesen.

Möglicherweise sogar ein denkendes Wesen.

»Bist du... sicher?« fragte Skudder nach einer Weile. Er klang noch immer zweifelnd, aber beinahe auch erschüttert.

»Fühlst du es denn nicht?«

»Fühlen? Was?«

Charity antwortete nicht. Es war nicht das erste Mal, daß sie diese Art von Gespräch führten. Während der Besatzung durch die Moroni hatte Charity die Nähe der Außerirdischen stets gefühlt, noch bevor sie die Aliens wirklich zu Gesicht bekommen hatte, ganz anders als Skudder.

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Skudder nach einer Weile. »Ich wäre dankbar für konstruktive Vorschläge.«

»Vorschläge?«

»Wie wir hier wegkommen«, sagte Skudder nervös.

Charity hatte nicht vor, hier wegzukommen. Der Stingray-Jäger näherte sich dem Giganten so schnell, daß ihnen vermutlich nur noch wenige Minuten blieben, doch Charity war sicher, daß jeder Fluchtversuch zwecklos gewesen wäre. Und sie hätte wahrscheinlich auch dann keinen dahingehenden Versuch unternommen, wenn er Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.

»Moment mal«, sagte Skudder. Offensichtlich hatte er ihr Schweigen richtig gedeutet. »Du willst doch nicht etwa auf diesem Ding landen?«

»Ich dachte, wir wären hier, um ein paar Geheimnisse zu lüften«, entgegnete Charity. »Wenn ich mich richtig erinnere, hast du darauf bestanden, mich zu begleiten.«

»Zum Mars, ja!« antwortete Skudder heftig. »Nicht zu diesem... Etwas! Ich bin mitgekommen, um dich genau von dieser Art Wahnsinn abzuhalten!«

»Dann hast du versagt«, antwortete Charity ruhig.

Bevor Skudder erneut und wahrscheinlich noch lauter widersprechen konnte, streckte sie den Arm aus und berührte eine x-beliebige Taste auf dem Kontrollpult. Das Ergebnis entsprach genau ihren Erwartungen: nichts. Die Instrumente des Schiffes waren tot.

»Verdammt«, fluchte Skudder.

»Du sagst es«, entgegnete Charity fröhlich. »Aber mach dir keine Sorgen. Sollten wir Schwierigkeiten bekommen, verwickelst du unsere Freunde einfach in eine Diskussion. Selbst wenn du sie nicht zu Tode quasselst, verlassen sie wahrscheinlich nach spätestens einer Stunde fluchtartig diesen Teil der Galaxis.«

»Sehr witzig«, sagte Skudder. »Dazu kann ich nur sagen -«

»Skudder!«

Die nächsten drei oder vier Minuten verbrachten sie in völligem Schweigen.

Charity hatte das Gefühl, daß die Stingray langsamer wurde, während sie sich dem Giganten näherte, und ihre Aufmerksamkeit wurde voll und ganz von dem Anblick in Anspruch genommen, der sich ihr bot. Je näher sie dem Giganten kamen, desto mehr bizarre Einzelheiten konnten sie erkennen. Seine Oberfläche war nicht glatt, sondern so zerrissen und zerfurcht, daß sie nicht einmal mehr sicher waren, es tatsächlich mit einer einzigen, kompakten Masse zu tun zu haben.

»Dort!«

»Ich sehe es.« Charity nickte nervös. Einer der riesigen Schlünde unter ihnen begann sich zu verändern. Seine Ränder zuckten und warfen für eine oder zwei Sekunden Falten, in denen man die Stingray bequem hätte verbergen können. Dann tat sich plötzlich eine riesige, von dunkelroter Düsternis erfüllte Öffnung unter ihnen auf. Charity wäre kein bißchen überrascht gewesen, hätte plötzlich ein gigantischer Tentakel oder eine Zunge aus diesem Riesenmaul heraus nach ihnen gegriffen, doch die restlichen Sekunden ihrer Reise verliefen viel undramatischer: Die Stingray schwenkte wie von Geisterhand bewegt herum und glitt lautlos in die Öffnung im Rumpf des Zonenschiffes hinein.

»Jetzt weiß ich endlich, wie Cinderella sich gefühlt haben muß«, sagte Skudder.

»Wer?«

»Der Zwerg mit der langen Nase, der von einem Haifisch gefressen wurde.«

»Sein Name war Pinocchio, und es war ein Wal«, seufzte Charity.

Doch Skudder hatte durchaus recht. Der Vorgang hatte etwas von Gefressenwerden an sich.

Die Halle, in der sie schwebten, war gigantisch, gute fünfzig Meter hoch und mindestens fünf-, sechsmal so lang. Wände und Decke bestanden aus riesigen, vielfach untergliederten Rippenbögen, die einer sonderbar eleganten Architektur folgten. Selbst das Licht wirkte lebendig: warm, rot und auf eine schwer zu beschreibende Weise beschützend.

Die Stingray glitt etwa zur Hälfte in den Hangar hinein, wurde dabei immer langsamer und sank gleichzeitig weiter zu Boden. Es war nicht das einzige Schiff hier drinnen. Charity entdeckte mindestens ein halbes Dutzend der rochenförmigen Jäger, die alle eines gemein hatten: Sie alle waren mehr oder weniger stark beschädigt. Die meisten mehr. Zwei der Maschinen waren kaum mehr als Schrotthaufen.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte Skudder.

»Was hast du erwartet?« fragte Charity. »Wahrscheinlich kommen alle Schiffe hierher, die die Rücksturzautomatik aktivieren.«

»Dann sollten wir vielleicht froh sein, daß wir nicht gleich in einer riesigen Schrottpresse gelandet sind«, murmelte Skudder. Noch leiser fügte er hinzu: »Sofern es nicht tatsächlich der Fall ist, heißt das.«

Charity plagte eine ganz andere Sorge. Beschädigte Schiffe bedeuteten zumeist auch verwundete Piloten. Sie fragte sich, was sie tun sollten, wenn sie sich plötzlich dem hiesigen Äquivalent einer Erste-Hilfe-Mannschaft gegenübersahen.

Die Stingray setzte zwischen zwei stark beschädigten Raumjägern auf. Das Schiff war zwar ohne Hilfe der Triebwerke an Bord geholt worden, doch Charity konnte regelrecht spüren, wie die unsichtbare Macht erlosch, die sie bisher bewegt hatte. Zurück blieb trotzdem etwas. Charity hatte nach wie vor das Gefühl, von etwas Gigantischem, Lebendigem umgeben zu sein, doch mit diesem Gefühl war es plötzlich wie mit dem roten Licht, das sie umgab: Es war fremdartig, bizarr und durch und durch unheimlich, aber kein bißchen feindselig.

Sie warteten. Eine Minute. Zwei. Als sich auch nach Ablauf der dritten Minute nichts rührte, begann Charity allmählich wieder Mut zu schöpfen. Sie waren eben nicht auf einem irdischen Schiff. Die Versorgung verwundeter Piloten schien hier nicht unbedingt Priorität zu genießen.

»Wartest du auf ein Begrüßungskommitee?« fragte Skudder.

Charity blieb ernst. »Check die beiden Schiffe«, sagte sie knapp. »Ich habe... noch eine Kleinigkeit zu erledigen.«

Sie fluchte innerlich, als sie das Stocken in ihrer eigenen Stimme registrierte. Skudder war nicht dumm. Sie konnte ihm genau so gut sagen, um welche Kleinigkeit es sich handelte. Zu ihrer Erleichterung stellte er jedoch keine weiteren Fragen mehr, sondern stemmte sich ächzend aus dem Sitz und lief geduckt den kurzen Gang zum Schott hinab. Charity fragte sich, ob er wohl wußte, warum der Sitz, in dem er die letzten Stunden zugebracht hatte, so eng geworden war. Vermutlich ja. Auf jeden Fall mußte er es ahnen. Schließlich hatte er gewußt, worauf er sich einließ.

Charity wartete trotzdem, bis Skudder das Schiff verlassen hatte und in einem der beiden Wracks draußen verschwunden war. Erst dann drehte sie sich um, griff mit einiger Mühe nach der linken Armlehne des Sitzes und drückte den darin verborgenen Schalter. Die Sitzfläche klappte mit einem schnappenden Laut nach oben und gewährte Charity einen Blick auf das Innenleben des auf fast doppelte Größe anwachsenden Copilotensitzes.

Sie zögerte. Im Moment lag vor ihr nichts als ein Haufen Drähte und vier Pfund schwach radioaktiv strahlendes Metall, aber die Eingabe eines simplen achtstelligen Codes und ein Druck auf einen harmlosen Schalter konnten etwas grundlegend anderes daraus machen.

Charity gab die ersten fünf Ziffern ein, zog die Hand dann wieder zurück und zögerte wieder. Sie konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, warum. Es gab keinen logischen Grund. Und trotzdem hatte sie plötzlich das an festes Wissen grenzende Gefühl, etwas Falsches zu tun.

Charity verscheuchte den Gedanken, hämmerte die letzten drei Ziffern in die Tastatur und drückte schon fast übertrieben heftig die darüber angebrachte Taste. Ein leises Summen erscholl, das war alles.

Charity beugte sich noch weiter vor, nahm die winzige Fernbedienung aus dem Fach und schloß den Sitz wieder. Nicht hatte sich verändert. Nichts, außer der Tatsache, daß aus der erbeuteten Stingray nun eine fünfundsiebzig-Megatonnen-Kobaltbombe geworden war.

Sie verließ das Schiff und wandte sich in die Richtung, in die Skudder gegangen war, blieb nach zwei Schritten jedoch wieder stehen, um sich ein zweites Mal und aufmerksam umzuschauen.

Das Gefühl war nicht weniger unheimlich als beim erstenmal, ja, vielleicht sogar noch intensiver. Das rote Licht, das die Halle erfüllte, ließ alles verschwimmen, was weiter als zwanzig oder dreißig Meter entfernt war, als wäre die Luft nicht nur von Helligkeit, sondern auch noch von etwas anderem, Substanziellem erfüllt. Die Schiffswracks, die sie umgaben, wirkten sonderbar deplaciert, nicht nur wie Fremdkörper, sondern wie Eindringlinge, die hier nichts zu suchen hatten.

Charity drehte sich einmal im Kreis, dann ließ sie sich in die Hocke sinken und tastete mit den Fingerspitzen über den Boden.

Sie erlebte eine Überraschung. Die Sensoren in ihren Handschuhen vermittelten ihr das Gefühl, mit bloßen Händen über den Boden zu tasten. Farbe und Aussehen hatten sie erwarten lassen, etwas Weiches, Nachgiebiges und Warmes zu berühren, aber das genaue Gegenteil war der Fall: Der Boden war hart wie Stahl und so kalt, als hätte sie Eis berührt. Und er fühlte sich eindeutig nicht lebendig an.

Charity registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, hob den Kopf und fuhr erschrocken zusammen, als sie sich unvermittelt einem zwei Meter großen, ganz in lichtschluckendes Schwarz gekleideten Riesen gegenübersah. Ihre Hand war bereits auf halbem Wege zur Waffe, bevor sie Skudder erkannte.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte Skudder. »Hast du sie scharf gemacht?«

»Was?«

»Die Bombe.« Skudder machte eine wedelnde Geste. »Oder warum hast du mich sonst rausgeschickt?«

»Spiel nicht den Überraschten«, sagte Charity. »Dir war doch wohl klar, daß wir eine Radikallösung in Betracht ziehen müssen.«

»Natürlich«, antwortete Skudder. »Es wäre nur nett gewesen, wenn du es mir gesagt hättest.«

Charity zog es vor, die Diskussion nicht fortzuführen. Es war weder der passende Moment noch die passende Umgebung. Außerdem hatte sie nicht wirklich vor, die Bombe zu zünden. Es sei denn, mit ihrem letzten Atemzug.

»Was hast du gefunden?« fragte sie.

»Drei tote Piloten«, antwortete Skudder.

Charity bedauerte es sehr, in diesem Moment nicht sein Gesicht sehen zu können. »Und ich bin ziemlich sicher, daß mindestens einer vor ihnen erst nach der Landung gestorben ist. Eine ganze Weile danach. Und noch etwas.« Skudder drehte sich halb herum und deutete auf den Jäger, aus dem er gerade herausgekommen war. »Sieh ihn dir genau an.«

Charity gehorchte. Es vergingen noch einige Sekunden, aber dann begriff sie, was Skudder meinte. Sie kannte diese Stingray. Es war einer der Jäger, die sie beim Kampf um die EXCALIBUR höchstpersönlich abgeschossen hatte.

»Aber das ist...«

»Gute drei Monate her«, führte Skudder den Satz zu Ende. »Anscheinend habe ich gar nicht so falsch gelegen. Es ist ein Schrottplatz.«

Charity versuchte erst gar nicht, eine andere Erklärung zu finden. Nach der offensichtlichen Mühe, die sich die Fremden gaben, um ihre Schiffe zurückzuholen, kam es ihr vollkommen sinnlos vor, daß sie sie jetzt einfach hier ablegten und vergaßen; noch dazu mitsamt den Piloten. Doch anscheinend ergab nichts, was die Fremden taten oder planten, wirklich Sinn.

Sie deutete nach links, aus dem einzigen Grund, weil dies die Richtung war, in der die Schiffe gelandet waren. »Komm.«

Nebeneinander marschierten sie los. Das halbe Dutzend Schiffe, das sie nach ihrer Landung vorgefunden hatten, war längst nicht alles. Während sie die riesige Halle durchquerten, stießen sie auf eine ganze Anzahl weitere Wracks, größtenteils Stingrays, aber auch einige Shuttles und zwei Schiffe von vollkommen unbekannter Bauart.

Natürlich waren sie nur auf Mutmaßungen angewiesen, doch es kam Charity immer unwahrscheinlicher vor, daß alle diese Maschinen Opfer irdischer Geschütze geworden waren. Sie hatte an den meisten Gefechten gegen die Fremden teilgenommen. Mit Ausnahme der vernichtenden Niederlage, die die Angreifer bei der Schlacht um die EXCALIBUR erlitten hatten, mußten sie kaum Verluste hinnehmen.

Jedenfalls nicht so viele.

Plötzlich blieb Skudder stehen und deutete nach vorn. Aus der roten Dämmerung war ein regungsloser, ausgestreckter Körper aufgetaucht. Zwei, drei Sekunden lang verharrten sie, dann zogen sie beide ihre Waffen und näherten sich der Gestalt respektvoll und aus verschiedenen Richtungen.

Ihre Vorsicht erwies sich als überflüssig. Der Mann war tot. Wie Charity vermutete, schon eine ganze Weile.

Skudder kniete neben der Gestalt im schwarzen Kampfanzug nieder, legte seine Waffe auf den Boden und drehte den Mann auf den Rücken. Er bewegte sich, wie er es sollte - wie ein toter Körper, nicht wie ein leerer Anzug, in dem eine breiige Masse schwappte, die von einem Killer-Enzym erzeugt worden war.

»Das wäre die Gelegenheit«, murmelte Skudder. »Oder willst du nicht wissen, wie sie aussehen?«

Charity nickte nur. Plötzlich war sie wieder nervös. Sie fragte sich seit drei Monaten, was sich unter den schwarzen Kampfanzügen verbarg, und trotzdem hatte Charity mit einem Male fast Angst davor, es zu erfahren.

Skudder steckte seine Waffe wieder ein, beugte sich über den Toten und machte sich an seinem Helm zu schaffen. Behutsam löste er die Verschlüsse, hob den Kopf des Toten mit der linken Hand an und streifte mit der anderen den Helm ab.

Das Geheimnis blieb ein Geheimnis. Die Selbstzerstörungsautomatik des Anzuges funktionierte zwar nicht mehr, aber das Gesicht, in das Charity und Skudder blickten, gehörte einem Mann, der seit Jahren tot sein mußte. Charity starrte in einen grinsenden Totenschädel, über den sich mumifizierte, pergamenttrockene Haut spannte.

»Du hattest recht«, murmelte sie. »Das ist ein Schrottplatz. Und er ist schon ziemlich lange in Betrieb.« Sie blickte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Dreißig oder vierzig Meter hinter ihnen lag das ausgebrannte Wrack einer Stingray. Wenn sie den Weg, den dieser Mann genommen hatte, in Gedanken zurückverfolgte, führte er genau zu diesem Wrack.

»Er muß sich bis hierher geschleppt haben«, sagte sie nachdenklich. »Ich begreife das nicht. Wieso holen sie ihre Schiffe zurück und lassen die Piloten sterben?«

»Keine Ahnung«, antwortete Skudder in einem Tonfall, der kaum Zweifel daran aufkommen ließ, daß ihn diese Frage nicht im geringsten interessierte. »Immerhin wissen wir eins: Sie sind Menschen.«

Charity fand nicht, daß das eine sehr beruhigende Erkenntnis war. Ganz im Gegenteil. Ihr wäre eine zwei Meter große Ameise beinahe lieber gewesen als ein menschlicher Gegner, der Laserschüsse ebenso verkraftete wie großkalibrige MG-Geschosse. Auf jeden Fall wäre die Ameise ihr weit weniger unheimlich gewesen.

»Das ist... seltsam«, murmelte sie.

»Was?«

Charity deutete auf das mumifizierte Gesicht.

»Irgend etwas daran kommt mir bekannt vor«, sagte sie.

»Ich wußte gar nicht, daß du mit Zombies verkehrst.«

»Ich meine es ernst«, sagte Charity. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich...« Sie versuchte sich vorzustellen, wie dieses Gesicht, dieser Mann zu Lebzeiten ausgesehen haben mußte. Sehr groß, vermutlich sehr kräftig, gutaussehend. Wie...

»Nein«, sagte sie. »Das ist unmöglich.«

»Was?« fragte Skudder.

Um ein Haar hätte Charity ihren Verdacht laut ausgesprochen, dann aber schüttelte sie nur den Kopf und sagte mit veränderter Stimme: »Ach, nichts. Mach ein paar Aufnahmen. Wir jagen sie zuhause durch den Computer. Vielleicht kann er das Gesicht rekonstruieren.«

»Und wir haben etwas, um alle unsere Freunde zu vergraulen«, pflichtete Skudder ihr bei. »Falls einer auf die Idee kommt, einen lustigen Diaabend zu machen.« Trotzdem zog er den Fotoapparat hervor und machte in rascher Folge ein halbes Dutzend Aufnahmen, bevor er sich wieder aufrichtete und weiterging. Charity folgte ihm, sah aber nach einigen Schritten noch einmal zu dem Toten zurück.

Es war unmöglich. Es durfte nicht sein. Wenn der verrückte Gedanke, der ihr für einen Moment durch den Kopf geschossen war, Wahrheit wäre, dann wäre alles umsonst gewesen. Sie härten nicht einmal die Spur einer Chance.

Charity und Skudder brauchten noch gute zwanzig Minuten, um die Halle zur Gänze zu durchqueren. Sie sprachen während dieser Zeit sehr wenig. Eine sonderbare, schwer in Worte zu fassende Stimmung hatte von Charity Besitz ergriffen; irgend etwas zwischen Melancholie, Resignation und Trotz. Jeder Schritt, den sie taten, schien Charity deutlicher als der vorherige klar zu machen, wie aussichtslos ihr Unternehmen war. Schon die reine Größe dieses unheimlichen Gebildes ließ jeden Gedanken daran, es zerstören oder auch nur erforschen zu wollen, schlichtweg lächerlich erscheinen. Sie waren weniger als Ameisen, die in den Eingeweiden eines Dinosauriers herumkrochen.

Endlich erreichten sie die Wand des gewaltigen Hangars. Sie hatten gute hundert oder mehr Schiffswracks passiert, und die Anzahl fremdartiger, zum Teil bizarrer Konstruktionen war im gleichen Maße gestiegen, in dem sie vorankamen. Skudders Kamera war fast ununterbrochen im Einsatz gewesen, aber sie hatten darauf verzichtet, die Wracks eingehender zu untersuchen. Sämtliche Wissenschaftler der Erde würden sie für dieses Versäumnis massakrieren, aber sie waren schließlich nicht auf einer Forschungsreise. Sie waren hier, um das Rätsel dieses Schiffes zu lösen. Und es möglicherweise zu zerstören.

Dieser Gedanke stimmte Charity traurig. Vermutlich blieb ihnen keine andere Wahl, wenn sie die Erde vor einer neuerlichen Versklavung oder auch der völligen Zerstörung bewahren wollten, aber das machte es nicht besser.

Was immer dieses Schiff wirklich war, es war etwas Erhabenes, fast Heiliges, vielleicht die großartigste Schöpfung, die das Leben im Universum jemals hervorgebracht hatte. Niemand hatte das Recht, es zu töten.

»Hast du vielleicht eine Idee, wie diese verdammte Tür aufgeht?« drang Skudders Stimme in ihre Gedanken. »Ich meine, falls es eine Tür ist.«

Sie waren vor einer sonderbaren Struktur stehengeblieben, die mit einiger Fantasie tatsächlich ein Durchgang sein konnte. Oder aber auch nicht. Gleichwie: Es gab nichts, was auch nur entfernt an einen Öffnungsmechanismus erinnerte. Oder das entsprechende Organ.

Charity musterte die drei Meter hohe Hautfalte nachdenklich - und ohne allzu großes Interesse. Sie begriff die Gefahr, in der sie schwebte: Die seltsame Stimmung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, machte es ihr immer schwerer, sich auf den eigentlichen Grund ihres Hierseins zu konzentrieren.

»Keine Ahnung«, sagte sie achselzuckend. »Versuch es doch einmal mit: Sesam öffne dich. Oder gutem Zureden.«

»Prima Idee.« Skudder versetzte der Wand einen ärgerlichen Fußtritt. »Geh endlich auf, du blödes Ding!«

Die Wand vor ihnen zitterte, faltete sich auseinander und gab den Durchgang frei. Skudder sog ungläubig die Luft ein.

»Hoppla«, sagte er. »Wenn das ein Zufall war...«

»Versuch es noch einmal«, sagte Charity. »Aber diesmal ohne Fußtritt.«

»Schließen!« sagte Skudder.

Die Wand schloß sich. Zwei Sekunden später öffnete sich der Durchgang wieder.

»Unglaublich«, murmelte Skudder. »Diesmal habe ich es nur gedacht. Dieses Ding muß irgendwie telepathisch sein.«

»Vielleicht«, sagte Charity. Sie war nicht sicher, ob ihr diese Erkenntnis gefiel. Wenn ihre Umgebung auf ihre bloßen Gedanken reagierte, machte dies zwar einiges leichter - aber letztendlich galt das natürlich auch für ihre Gegner. Sie würden keine besonderen Schwierigkeiten haben, sie aufzuspüren.

Sie traten hintereinander durch die Öffnung.

Charity senkte die Hand auf ihre Waffe und schaute sich aufmerksam um. Ihre Umgebung war unheimlich, jedenfalls auf den ersten Blick, aber offenbar nicht gefährlich. Vor ihnen lag ein unregelmäßig geformter, leicht nach oben geneigter Stollen, der von dem gleichen, düster-roten Licht erfüllt war wie der Hangar.

Hier und da zweigten andere, unterschiedlich große Tunnel ab, einige aus den Wänden, andere aber auch aus der Decke und dem Boden. Hätte Charity noch irgendwelche Zweifel gehabt, wo sie sich wirklich befanden, hätte allein der Anblick dieses Stollens sie beseitigt. Kein vernunftbegabtes Wesen, dem das Wort Logik etwas sagte, würde so etwas konstruieren.

Langsam bewegten sie sich weiter. Charity blieb dann und wann stehen, um einen Blick in einen der anderen Tunnel zu werfen, ohne jedoch irgend etwas Interessantes zu entdecken: Die Wände bestanden aus dem gleichen, braun-roten Material wie die des Hangars, das sich über eine gerippte Struktur von wahrhaft zyklopischen Dimensionen spannte. Sie sahen nicht das geringste Anzeichen von Leben. Nirgends rührte sich etwas. Manchmal glaubte Charity so etwas wie ein sachtes Beben zu spüren, das durch den Boden unter ihren Füßen lief; wie das Echo eines gigantischen, unendlich langsam schlagenden Herzens. Aber nicht einmal dessen war sie sich ganz sicher.

Sie marschierten eine viertel Stunde, dann weitere zehn Minuten, und schließlich sagte Skudder: »Bist du immer noch der Ansicht, daß wir auf so einer Art Schrotthaufen gelandet sind?«

»Das war deine Idee«, erinnerte Charity.

»Ich überlege nur«, fuhr Skudder fort. »Wenn du dich entschließen solltest, in so einem Ding zu wohnen - wo würdest du deinen Müll lagern? Direkt vor deiner Haustür, oder möglichst weit weg davon?«

»Hör auf damit«, sagte Charity düster. »Oder ich rechne dir den Rauminhalt einer zwanzig Meilen durchmessenden Kugel aus.«

»Das kannst du nicht im Kopf«, behauptete Skudder.

Damit hatte er sogar recht. Aber Charity schätzte, daß sie den Rest ihres Lebens durch diese unheimlichen Stollen marschieren konnten, ohne ihrem Ziel auch nur nahe zu kommen.

Sie schaute auf die Uhr.

Alles in allem waren sie jetzt seit zwei Stunden in ihren Anzügen. Ein Viertel ihres Sauerstoffvorrates war verbraucht. Sie mußten irgend etwas unternehmen. Es hatte keinen Sinn, ziellos dieser sonderbaren Aorta zu folgen, die das bizarre Gebilde möglicherweise von einem Ende zum anderen durchzog.

Sie waren bereits an etlichen der organischen Türen vorübergekommen, ohne sie zu beachten. Jetzt steuerte Charity gezielt die nächste Abzweigung an, blieb davor stehen und konzentrierte sich eine Sekunde lang darauf, sie zu öffnen.

Es funktionierte. Die Wand faltete sich lautlos vor ihnen auseinander, und Charity und Skudder traten hintereinander durch die Öffnung. Vor ihnen lag kein weiterer, endloser Gang, wie Charity schon halbwegs befürchtet hatte, sondern eine vielleicht zehn Meter durchmessende, runde Kammer mit einer weiteren Tür. Während sich der Durchgang hinter ihnen schloß, trat Charity darauf zu und befahl ihr in Gedanken, sich zu öffnen.

Nichts geschah.

Charity versuchte es noch einmal, hatte auch beim zweiten Mal keinen Erfolg und bat Skudder mit einer Geste, ihr zu helfen. Das Ergebnis war das gleiche.

Skudder starrte die geschlossene Tür einige Sekunden lang wortlos an, dann drehte er sich um und versuchte es an der Tür, durch die sie die Kammer betreten hatten. Charity war nicht einmal besonders überrascht, als auch sie sich nicht rührte.

»Hervorragende Idee«, knurrte Skudder. »Wir sitzen in der Falle.« Er zog seine Waffe, richtete sie auf die Wand neben der Tür und trat zwei Schritte zurück.

»Was hast du vor?« fragte Charity.

»Diese Wände sind nicht besonders dick«, antwortete Skudder. »Irgendwie müssen wir hier ja raus, oder?«

»Und du hältst es für klug, diesem... Ding weh zu tun?« fragte Charity.

»Besser wir ihm, als es uns«, antwortete Skudder. Trotzdem feuerte er nicht, sondern senkte seine Waffe wieder. Dann gab er einen überraschten Laut von sich.

»Sieh auf deine Anzeigen!«

Charity hob das Armbandgerät vor die Augen und sah sofort, was Skudder meinte. Einer der winzigen Zeiger begann sich zu bewegen. Die Kammer wurde mit Sauerstoff geflutet. Deshalb hatte sich die Tür nicht sofort geöffnet.

Die Kammer war nichts anderes als das hiesige Äquivalent einer Luftschleuse!

Sie mußten nicht mehr lange warten. Der Luftdruck erreichte den auf der Erde üblichen Wert, stieg noch einmal um gute zehn Prozent und blieb dann konstant. Die Zusammensetzung entsprach nicht genau der irdischer Luft, war aber durchaus atembar.

Charity hob die Hände an den Helm, entriegelte ihn und zögerte dann noch einmal.

Skudder hatte offensichtlich weniger Hemmungen. Er steckte seine Waffe ein, nahm mit einer fließenden Bewegung den Helm ab und atmete hörbar durch die Nase ein. Fast sofort zog er eine Grimasse. Aber er lief weder blau an, noch bekam er Krämpfe oder fiel einfach um, so daß Charity nach einigen Sekunden ebenfalls den Helm abnahm.

Die Luft, die sie einatmete, schmeckte auf schwer zu definierende Weise unangenehm. Sie war viel kälter, als Charity erwartet hatte, und sie spürte ein ganz leises Schwindelgefühl, das aber nach ein paar Augenblicken wieder verging.

»Puh«, sagte Skudder. »So ungefähr muß es in Hartmanns Stiefel riechen. Alles in Ordnung?«

Charity nickte. Skudder sah sie noch einen Herzschlag lang zweifelnd an, dann zuckte er die Achseln und wandte sich dem Ausgang zu.

»Sesam öffne dich!«

Die organische Tür faltete sich gehorsam auseinander, und Skudder grinste über das ganze Gesicht. »Dieses Ding muß weiblich sein«, sagte er.

Charity zog es vor, gar nicht darauf zu antworten. Auf der anderen Seite der Tür bewegte sich irgend etwas, aber sie konnte nicht genau erkennen, was es war. Vorsichtig trat sie durch die Tür, senkte die Hand auf die Waffe und winkte Skudder, ihr zu folgen.

Vor ihnen lag eine weitläufige, von dem allgegenwärtigen roten Licht erfüllte Halle, die von einem Gewirr bizarrer, organisch wirkender... Dinge erfüllt war, die ein regelrechtes Labyrinth bildeten: haushohe, turmartige Gebilde, zwischen denen sich spinnennetzartige Fäden spannten, ineinander verflochtene Massen, wie Bäume, oder große, fleischige Büsche, drei Meter hohe, gerippte Wände, die ein Durcheinander aus Gräben und Wegen bildeten, unregelmäßige Seen und Pfützen, in denen zähe, ölig schimmernde Flüssigkeiten schwappten, aber auch Gebilde, die so fremdartig und bizarr geformt waren, daß Charity beim besten Willen keine Entsprechung dazu einfiel.

»Da hinten.«

Skudder hob die Hand und deutete in das rote Licht hinein. Es dauerte einige Sekunden, bis auch Charity sah, was er entdeckt hatte: Weit entfernt, fast am Rande des Sichtbereichs erhob sich eine Struktur, die beinahe genau so fremdartig und bizarr wirkte wie alles andere hier, aber eindeutig künstlicher Natur war. Ein Fremdkörper, der nicht hierher gehörte.

So wenig, wie Skudder und sie.

»Es muß mindestens eine Meile bis dorthin sein«, sagte Skudder. »Ich dachte, ich hätte mich zur Space-Force gemeldet, nicht zur Infanterie.« Trotzdem setzte er sich mit schnellen Schritten in Bewegung. Charity folgte ihm, wenn auch mit einem unguten Gefühl.

Sie sollten nicht hier sein. Alles in dieser auf so unheimliche Weise lebendigen Umgebung schrie ihr diese Botschaft zu. Sie hatte noch immer nicht das leiseste Gefühl von Feindseligkeit verspürt, aber das Leben, das dieses sonderbare Schiff erfüllte - falls es Leben war - war so fremdartig, so vollkommen anders, daß sie hier einfach nicht existieren konnten.

»Da vorn bewegt sich etwas«, sagte Skudder plötzlich.

Auch Charity hatte die Bewegung bemerkt; ein schwerfälliges, helles Gleiten im Augenwinkel, das schneller wieder verschwand, als sie es mit Blicken fixieren konnten.

Sie nickte knapp. Diesmal erhob sie keine Einwände, als Skudder seine Waffe zog. Dicht nebeneinander drangen sie in einen von haushohen, fleischigen Wänden gebildeten Graben ein. Es wurde allmählich wärmer. Die Luft schmeckte so lebendig, daß Charity das Atmen immer schwerer fiel.

Skudder machte plötzlich eine Geste, vorsichtig zu sein. Wieder bewegte sich etwas vor ihnen, und diesmal konnte Charity es deutlicher sehen. Am Ende des Ganges war eine bizarre Kreatur erschienen. Sie war gut doppelt so groß wie ein Schäferhund und schien keine festen Umrisse zu besitzen, sondern befand sich in einer Art ununterbrochen fließender Veränderung, während sie langsam auf Charity und Skudder zuglitt. Ihr Körper bestand aus einer weißen, halb transparenten Masse, in der sich schemenhafte Organe abzeichneten. Dutzende von fadendünnen, peitschenden Tentakeln tasteten die Wände des Grabens zu beiden Seiten ab.

Skudder blieb stehen.

»Was... ist das?« Seine Stimme klang leicht angeekelt.

»Keine Ahnung«, antwortete Charity leise.

Die sonderbare Kreatur, die sie jetzt mehr an eine Mischung aus einer Amöbe und einem zu groß geratenen Pantoffeltierchen erinnerte, kam ihr nicht wirklich gefährlich vor. Trotzdem hatte das beharrliche Näherkommen des Wesens etwas Beunruhigendes.

»Gehen wir ihm lieber aus dem Weg«, sagte sie.

»Gute Idee.« Skudder drehte sich herum, machte einen halben Schritt und blieb wieder stehen. »Mist!«

Hinter ihnen war eine zweite, gleichartige Kreatur aufgetaucht.

Sie war ein gutes Stück weiter entfernt als die erste und schien es ebenso wie diese nicht besonders eilig zu haben, näherzukommen. Doch ob eilig oder nicht - sie kam näher. Ihre peitschenden Tentakel füllten den Graben nahezu vollkommen aus.

Es gab keine Möglichkeit, an der Kreatur vorbeizukommen.

»Das gefällt mir immer weniger«, sagte Skudder. »Denkst du auch, was ich denke?«

»Ich denke, daß ich es gar nicht wissen will«, antwortete Charity. Das unangenehme Gefühl, das der Anblick der beiden Kreaturen in ihr auslöste, wurde immer stärker.

Als sie sich der Riesenamöbe bis auf zehn Schritte genähert hatten, wurde es zur Gewißheit. Der Boden des Grabens, in dem sie sich befanden, war nicht leer, sondern mit allen möglichen organischen Abfällen und Unrat übersät. Als sie näher kamen, konnten sie erkennen, wie die peitschenden Tentakel des Geschöpfes sich um die Abfälle wickelten und sie in den halbtransparenten Körper hineinzogen. Charity hatte etwas in dieser Art erwartet - und Skudder offenbar auch.

»Die Putzkolonne«, sagte er düster. »Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut.«

Bevor Charity etwas dagegen tun konnte, hob er seine Waffe, zielte kurz und gab einen einzelnen Schuß ab. Der Energieblitz fuhr in den kriechenden Gallertkörper, brannte einen fast meterlangen, glühenden Kanal hinein und erlosch. Die Amöbe kroch unbeeindruckt weiter.

»Das hat keinen Zweck«, sagte Charity. »Das Ding hat wahrscheinlich nicht einmal ein Nervensystem. Du kannst ihm nicht weh tun. Hilf mir!« Sie zog ihre eigene Waffe, zielte auf die gegenüberliegende Wand und feuerte. Der Strahl brannte ein faustgroßes Loch in die braun-rote Haut. Charity zielte ein Stück höher, feuerte noch einmal, und Skudder verstand endlich und schoß seinerseits.

Binnen weniger Augenblicke brannten sie eine Anzahl Löcher in die Wand, an denen sie mit einiger Mühe hinaufklettern konnten.

»Ladies first.«

Skudder machte eine einladende Geste. Charity verschwendete keine Zeit mit Diskussionen, sondern steckte ihre Waffe ein und kletterte an der Wand in die Höhe, so schnell sie konnte. Was nicht besonders schnell war. Ihre Schüsse hatten die Wand so sehr erhitzt, daß sie trotz der isolierenden Handschuhe vor Schmerz die Zähne zusammenbeißen mußte; überdies begann die ganze Wand unter ihrem Gewicht zu zittern und sich zu winden, je höher sie kam. Zwei-, dreimal drohte sie abzurutschen und konnte sich nur mit Mühe festklammern.

Skudder folgte ihr, so dicht er konnte, aber auch die unheimliche Kreatur kam immer näher. Ihre zuckenden Tentakel tasteten über jeden Quadratzentimeter des Bodens, entfernten jeden noch so winzigen Fremdkörper und suchten mit fast maschinenhafter Beharrlichkeit weiter.

Und dann geschah das, was geschehen mußte: Einer der dünnen, peitschenden Fäden berührte Skudders Fuß und wickelte sich blitzartig darum. Skudder grunzte erschrocken, versuchte sein Bein loszureißen und stieß einen zweiten, überraschten Laut aus, als es ihm nicht gelang. Der Tentakel war kaum dicker als sein kleiner Finger, und Skudder war einer der stärksten Männer, die Charity jemals getroffen hatte. Trotzdem gelang es ihm nicht, sich loszureißen.

Kurz entschlossen zog er die Waffe, zielte kurz und durchtrennte den Tentakel mit einem Schuß. Das Wesen zeigte auch diesmal keinerlei Schmerz, aber es reagierte: Mindestens ein halbes Dutzend weitere Tentakel schossen in die Höhe und wickelten sich um Skudders Bein.

Skudder schrie auf, ließ seine Waffe fallen und stürzte hilflos in die Tiefe.

Charity fluchte lautlos in sich hinein. Sie hatte die Krone der lebenden Mauer fast erreicht, aber von dort oben konnte sie es nicht wagen, auf die Kreatur zu schießen. Die Gefahr, Skudder zu treffen, war zu groß.

Sie sprang. Auf dem stahlharten Boden war der Aufprall härter, als sie erwartet hatte. Statt sich abzurollen und mit dem Schwung ihrer eigenen Bewegung wieder auf die Füße zu kommen, schlitterte sie meterweit davon und prallte mit einer solchen Wucht gegen die Wand, daß sie für eine Sekunde nur tanzende Sterne und Nebel sah.

Sie richtete sich auf, keuchte vor Schmerz, als ein rotglühender Pfeil ihren Rücken zu durchbohren schien, und versuchte die blutigen Schleier wegzublinzeln, die vor ihren Augen wogten. Sie betete, daß sie sich nicht ernsthaft verletzt hatte. Ein gebrochenes Bein konnte in ihrer Situation tödlich sein.

Nach ein paar Sekunden gelang es ihr immerhin, ihre Waffe zu ziehen und wieder halbwegs deutlich zu sehen. Die zweite Amöbe war näher gekommen, befand sich aber noch dreißig oder vierzig Meter entfernt. Sie schien es immer noch nicht besonders eilig zu haben.

»Verdammt noch mal, tu endlich was!« brüllte Skudder.

Seine Stimme klang eher wütend als angsterfüllt - und was Charity sah, als sie in seine Richtung blickte, war auch beinahe komisch. Aber auch nur beinahe, und auch nur auf den allerersten Blick: Skudder war halbwegs über die Riesenamöbe gestürzt und versuchte vergebens, sich aus dem Gewirr von Tentakeln und Nesselfäden zu befreien, in das er sich verstrickt hatte. Das Monster war offensichtlich nicht auf eine Beute seiner Größe vorbereitet, denn es versuchte seinerseits vergeblich, den sich heftig wehrenden Körper zu verschlingen.

Aber so komisch war die Situation nicht. Das Gewirr aus Fäden und Tentakeln, das Skudder hielt, wurde immer dichter, als wäre die Kreatur in der Lage, sie in beliebiger Menge zu produzieren. Vielleicht konnte sie es tatsächlich.

»Halt still!«

Charity zielte sorgfältig mit beiden Händen, schoß und drückte gleich darauf noch einmal ab. Die nadeldünnen, gleißenden Strahlen zerschnitten ein Dutzend Tentakeln und hinterließen eine qualmende Spur auf dem Körper der Amöbe.

Aber diesmal sah Charity, was sie bisher nur befürchtet hatte: Die abgetrennten Fangarme fielen zu Boden, blieben aber nicht liegen, sondern schienen plötzlich zu eigenem Leben zu erwachen, denn sie krochen blitzschnell auf die Kreatur zu und verschmolzen wieder mit ihr. Gleichzeitig wuchsen aus dem zuckenden Leib neue, peitschende Fangarme, die sich schneller um Skudders Glieder wickelten, als er sich loszureißen vermochte.

Charity fluchte, schaltete die Waffe auf Maximalleistung und schoß erneut. Diesmal durchbohrte der Blitz die Kreatur zur Gänze und hinterließ auch noch ein kopfgroßes Loch in der Wand hinter ihr. Gut ein Viertel des gallertartigen Körpers zerfiel zu rauchender schwarzer Schlacke. Der Rest machte ungerührt damit weiter, Skudder einzuwickeln.

Charity feuerte erneut.

Diesmal schrie Skudder vor Schmerz auf, als eine Woge intensiver Hitze über sein ungeschütztes Gesicht strich, und Charity richtete nicht annähernd so viel Schaden an wie beim erstenmal. Hastig reduzierte sie den Energieausstoß der Waffe wieder, zielte sorgfältig und schoß, zwei-, drei-, vier-, fünfmal hintereinander, bis es ihr endlich gelungen war, Skudder so weit loszuschneiden, daß er sich aus eigener Kraft befreien konnte. Was von der Amöbe übrig war, bewegte sich weiter, jetzt aber deutlich langsamer als zuvor.

Skudder kroch auf Händen und Knien auf Charity zu.

Er wollte etwas sagen, brachte aber nur ein qualvolles Würgen hervor.

Erst jetzt entdeckte Charity die beiden dünnen, blutigen Linien, dies sich um Skudders Hals zogen. Sein Körper war durch den Anzug geschützt gewesen, doch auf der bloßen Haut richteten die Nesselfäden der Kreatur offenbar verheerende Schäden an.

Erneut versuchte Skudder, irgend etwas hervorzubringen, hob dann statt dessen die Hand und gestikulierte heftig auf einen Punkt hinter ihr. Das Entsetzen in seinen Augen sagte genug.

Charity ließ sich blitzschnell zur Seite fallen, schwenkte ihre Waffe herum und schob noch während der Bewegung den Energieregler bis zum Anschlag hoch. Als der Laser sich entlud, pumpte er im Bruchteil einer Millisekunde so viel Energie in den Körper der zweiten Amöbe, daß Charity ihr Apartment auf der Erde ein halbes Jahr lang hätte beleuchten können. Das bizarre Geschöpf flammte auf und zerfiel zu Schlacke, und Charity hatte gerade noch Zeit, die Arme schützend vor das Gesicht zu reißen, bevor die reflektierte Hitze über ihr zusammenschlug.

Ohne den erbeuteten Anzug hätte sie wahrscheinlich nicht überlebt. Die Hitze strich über ihr Gesicht wie eine unsichtbare, weißglühende Hand, versengte ihre Haut und ließ ihre Augenbrauen zu Asche zerfallen. Es dauerte fast zehn Sekunden, bevor die Schmerzen so weit abgeklungen waren, daß Charity es wagte, die Augen wieder zu öffnen und sich aufzusetzen.

Die Amöbe, auf die sie geschossen hatte, war vollkommen verbrannt, und Skudder hatte die letzten Sekunden dazu benutzt, seine eigene Waffe wieder aufzuheben und auch das zweite Monster zu erledigen.

»Das war reichlich knapp«, sagte er. »Bist du verletzt?«

Charity tastete mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht. Ihre Haut fühlte sich heiß und trocken an. Sie würde wahrscheinlich ein paar hübsche Brandblasen bekommen, schien aber nicht ernsthaft verletzt zu sein. Sie schüttelte den Kopf.

»Dann laß uns verschwinden«, sagte Skudder. »Bevor noch mehr von diesen Viechern kommen.«

Charity versuchte es. Als sie ihr rechtes Bein belastete, explodierte ein grausamer Schmerz in ihrem Knie. Sie wäre gestürzt, hätte Skudder sie nicht blitzschnell aufgefangen.

»Verdammter Mist!« fluchte Skudder. »Das hat gerade noch gefehlt! Was ist mit deinem Bein? Gebrochen?«

»Ich weiß nicht«, stöhnte Charity. »Es tut höllisch weh.«

Von Skudder gestützt, ließ sie sich an der Wand herab wieder zu Boden sinken und streckte das Bein aus. Der Schmerz in ihrem Knie pochte beinahe unerträglich.

Skudder ließ sich vor Charity in die Hocke sinken und tastete schnell - und alles andere als vorsichtig - ihr Bein ab.

»Gebrochen scheint es nicht zu sein«, sagte er. »Wahrscheinlich gezerrt. Oder verstaucht. Wußtest du, daß das schlimmer weh tut als ein glatter Bruch?« Bildete sie es sich ein, oder war da tatsächlich ein leiser Unterton von Schadenfreude in seiner Stimme?

»Hilf mir auf!« befahl sie.

»Du bist verrückt!« sagte Skudder. »Du -«

»Hilf mir, verdammt!«

Skudder starrte sie eine Sekunde lang an, dann zuckte er mit den Schultern und zog sie reichlich unsanft in die Höhe. Der Schmerz trieb Charity die Tränen in die Augen, aber sie schluckte jeden Laut hinunter, biß die Zähne zusammen und stützte sich schwer auf Skudders Arm.

Die ersten Schritte waren die Hölle, doch nach einigen Augenblicken wurde es besser. Skudders flüchtige Diagnose schien richtig zu sein. Ihr Bein war nicht gebrochen. Aber es tat höllisch weh.

»Okay«, sagte Skudder nach einer Weile. »Wir spielen also die eiserne Lady, was? Meinetwegen. Hast du auch eine Idee, wohin du humpeln möchtest?«

»Du hast das Ding doch selbst entdeckt.«

Skudder lachte.

»Es ist mindestens eine Meile weit! Das schaffst du nie!«

»Dann laß mich hier«, erwiderte Charity. »Jemand muß herausfinden, was hier vor sich geht.«

»Abgelehnt«, sagte Skudder.

»Ich könnte es dir befehlen.«

»Das könntest du«, sagte Skudder. »Aber es würde nichts nutzen.«

»Skudder, sei vernünftig!« sagte Charity. »Wir wissen nicht einmal genau - paß auf!«

Die letzten beiden Worte hatte sie geschrien. Trotzdem kam die Warnung beinahe zu spät...

Sie hatten eine Biegung des Grabens erreicht. Dahinter wartete eine weitere, diesmal viel größere Amöbe. Ihre zuckenden Tentakel verfehlten Skudder buchstäblich um Haaresbreite, doch Charity hatte nicht so viel Glück. Skudder prallte zurück und zerrte sie mit sich, und sofort wickelte sich einer der dünnen Fangarme um Charitys unverletztes Bein und hielt sie mit eiserner Kraft fest.

Der doppelte Ruck brachte sie beide aus dem Gleichgewicht. Skudder fiel und riß Charity mit zu Boden. Sofort rappelte er sich wieder hoch, krallte die Hände in Charitys Gürtel und zerrte mit aller Kraft. Doch die Amöbe ließ nicht los, sondern schlang im Gegenteil zwei weitere Tentakel um Charitys Knöchel und kroch beharrlich näher.

»Schieß!« schrie Charity.

Ihr Herz machte einen entsetzten Sprung, als sie sah, wie groß das bizarre Geschöpf war: Mindestens drei-, wenn nicht viermal größer als die beiden, die sie gerade erledigt hatten. Und es war nicht allein. Hinter ihm krochen mindestens zwei weitere, wenn auch nicht ganz so riesenhafte Mitglieder der Putzkolonne heran.

»Schieß!« schrie Charity noch einmal. »Um Gottes willen, Skudder!«

Skudder zögerte einen scheinbar endlosen Augenblick. Wenn er aus dieser Entfernung auf die Biester schoß, dann würde er auch sie möglicherweise schwer verletzen, vielleicht töten. Aber er hatte keine Wahl. Feuerte er nicht, war Charity mit Sicherheit verloren.

Skudder schien das wohl endlich zu begreifen, denn er ließ ihre Schultern los, um seine Waffe zu ziehen. Sofort wurde Charity mit brutaler Kraft näher auf die Riesenamöbe zugerissen. Sie sah, wie sich das weiße, halb durchsichtige Fleisch teilte und eine Art zahnloses Maul bildete, in das ihre Füße mit unwiderstehlicher Kraft hineingezogen wurden.

Weitere Tentakel schnellten auf sie zu, schlangen sich um ihre Beine und ihre Hüften und krochen an ihrem Körper hinauf. Der Anzug schützte sie vor der ätzenden Berührung, aber die Kraft, die in den fadendünnen Tentakeln wohnte, war grauenerregend.

Skudder! Warum schoß er nicht?

»Skudder!« schrie sie.

Skudder feuerte immer noch nicht, aber plötzlich hörte sie einen überraschten Laut, gefolgt von einem dumpfen Schlag und einem Geräusch, als stürze ein schwerer Körper zu Boden - und in der nächsten Sekunde wurde die Riesenamöbe von einem unsichtbaren Hammerschlag getroffen und im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke gerissen. Der grausame Druck auf Charitys Beine schwand von einem Augenblick auf den anderen. Sie sank mit einem erleichterten Seufzen zurück.

Eine riesige Gestalt in einem schwarzen Kampfanzug trat mit einem Schritt über sie hinweg, richtete eine schwere Waffe auf die zweite Amöbe und erschoß sie ebenso wie die dritte.

Dann drehte sie sich herum und legte auf Charity an.

Aber der Fremde schoß nicht.

Seine Waffe war direkt auf Charitys Gesicht gerichtet, und sie sah, daß sein Finger den Abzug beinahe berührt hatte.

Doch er würde nicht feuern. Wie schon mehrmals zuvor, als Charity auf diese unheimlichen, schwarzgekleideten Riesen getroffen war, reichte ihr bloßer Anblick aus, um den Fremden zum Erstarren zu bringen.

Bisher hatte dieses Zögern immer nur Sekunden gedauert; gerade lange genug, um die Situation zu ihren Gunsten zu entscheiden.

Diesmal war es anders. Charity lag hilflos auf dem Rücken, halb gelähmt vor Schmerzen und noch dazu so unglücklich, daß sie mindestens eine Sekunde brauchen würde, um ihre Waffe zu ziehen und abzudrücken. Selbst gegen einen Gegner, der nicht so übernatürlich schnell war wie die schwarzgekleideten Giganten, ein vollkommen aussichtsloses Vorhaben.

Die Sekunde verstrich, ohne daß etwas geschah. Die Waffe blieb weiterhin auf Charitys Gesicht gerichtet, aber der Fremde rührte sich nicht.

Charity konnte regelrecht spüren, wie sich der Blick der unsichtbaren Augen hinter dem verspiegelten Visier in ihre Augen bohrte. Langsam, unendlich behutsam, um den Fremden nicht durch eine überhastete Bewegung zu einer überhasteten Reaktion zu provozieren, die ihr selbst sehr viel mehr leid tun würde als ihm, drehte Charity sich auf die Seite und versuchte sich in die Höhe zu stemmen, ohne das verletzte Bein übermäßig zu belasten.

Der Blick des Fremden folgte jeder ihrer Bewegungen aufmerksam, doch er rührte sich nicht. Allerdings senkte er auch seine Waffe nicht.

Charity schaute zu Skudder zurück. Er lag zwei Meter hinter ihr regungslos und mit geschlossenen Augen am Boden.

Sein Gesicht war blutüberströmt. Mit klopfendem Herzen beugte Charity sich zu ihm hinunter und fühlte seinen Puls. Skudder lebte. Ob und wie schwer verletzt er war, konnte sie im Moment nicht feststellen.

Sie richtete sich wieder auf, drehte sich zu dem Fremden herum und stützte sich mit der linken Hand an der Wand ab, als ihr Knie mit einer neuerlichen Schmerzwelle auf die grobe Behandlung reagierte.

Der Fremde starrte sie weiter an. Er rührte sich nicht.

»Und jetzt?« fragte Charity.

Der Fremde rührte sich nicht.

»Ich meine, was... tun wir jetzt? Bleiben wir so stehen und starren uns gegenseitig an, bis einer Kopfschmerzen bekommt und aufgibt?«

Sie bekam keine Antwort, und sie hatte auch nicht damit gerechnet. Aber nach einigen Augenblicken hörte sie Schritte hinter sich. Als sie den Kopf drehte und einen Blick über die Schulter warf, erkannte sie zwei, drei, schließlich vier weitere, in mattes Schwarz gekleidete Gestalten, die sich langsam näherten.

»Also gut«, sagte Charity mit einem schiefen Lächeln. »Mein Name ist Charity Laird. Captain Charity Laird, um genau zu sein. Und auch, wenn es im Moment vielleicht nicht so aussieht: Ich bin Oberbefehlshaberin der irdischen Raumstreitkräfte. Und ihr seid alle verhaftet. Ergebt euch, und wir lassen euch am Leben.«

Sie hatte nicht damit gerechnet, daß ihr Gegenüber auf diesen schalen Scherz überhaupt reagieren würde.

Aber er tat es.

Langsam, beinahe so, als führe er die Bewegung gegen seinen Willen aus, ließ er seine Waffe sinken und befestigte sie am Gürtel. Dann hob er die Hände an den Kopf, löste seinen Helm und streifte ihn mit einer fließenden Bewegung ab.

Und Charity erstarrte, als sie in das Gesicht sah, das darunter zum Vorschein kam.


ENDE des 12. Teils

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