Obwohl Charity gerade erst sechsunddreißig Stunden am Stück geschlafen hatte, war sie doch noch so müde, daß sie sich bald in ihr Quartier zurückzog und erst spät am nächsten Vormittag wieder wach wurde; diesmal auf ihre gewohnte, abrupte Weise.
Aber beinahe hätte sie sich gewünscht, daß es anders gewesen wäre, denn diesmal erinnerte sie sich an ihre Träume.
Sie waren nicht besonders angenehm gewesen. Riesige Männer in schwarzen Anzügen hatten darin eine Rolle gespielt, Männer ohne Gesichter, die auch gesichtslos blieben, als Charity im Traum einen dieser Anzüge geöffnet hatte - drinnen war nur Leere gewesen, und ein unheimliches Gefühl der Bedrohung, das aber sonderbarerweise zugleich auch ein beinahe vertrautes Empfinden in ihr auslöste.
Versuchte dieser Traum, ihr etwas zu sagen?
Charity gelangte zu dem Schluß, daß sie die Antwort auf diese Frage nicht finden würde - zumindest nicht jetzt -, öffnete die Augen und schwang die Beine vom Bett. Heute saß niemand neben ihr, der besorgt darauf wartete, daß sie erwachte, aber sie war trotzdem nicht allein: Aus der benachbarten Küche drang ein gedämpftes Klappern und Hantieren herüber, und sie hörte leise Stimmen, die sich unterhielten. Sie konnte die Worte nicht verstehen, aber manchmal vernahm sie so etwas wie ein Lachen.
War es eine Kinderstimme? Aber Hartmann hatte doch gesagt, daß er Net und die Zwillinge fortgebracht hätte.
Charity stand auf, schlurfte mit hängenden Schultern zur Küchentür und blinzelte überrascht, als sie sah, wem die Stimmen gehörten, deren fröhlicher Klang sie wahrscheinlich geweckt hatte. Gurk stand an der Anrichte und briet Eier in einer Pfanne.
Die Kaffeemaschine blubberte hektisch, und auf der anderen Seite der winzigen Küche war ein vielleicht zehnjähriges, hellblondes Mädchen damit beschäftigt, einen kleinen Teil Butter auf zwei Scheiben Toast und einen sehr viel größeren auf sämtliche Möbelstücke in ihrer Nähe zu schmieren.
»Melissa?« murmelte Charity überrascht.
Die Kleine hörte auf, die Küche mit synthetischer Butter zu attackieren, und drehte sich zu ihr herum, und Gurk krähte fröhlich: »Guten Morgen - obwohl es ja eigentlich fast schon Mittag ist.« An Melissa gewandt, fügte er hinzu: »Siehst du? Genau, wie ich es dir gesagt habe.«
»Was hat er dir gesagt?« fragte Charity mißtrauisch.
»Daß du aufwachst, sobald du was zu essen riechst«, antwortete Melissa. »Er sagt, das wäre immer so bei euch. Daß der Magen stärker ist als der -«
»Ich hatte doch recht, oder?« unterbrach Gurk sie hastig - vermutlich, ehe das Mädchen Dinge wiederholen konnte, die nicht unbedingt für Charitys Ohren gedacht waren. »Du bist wach.«
»Ja«, bestätigte Charity. »Was tust du hier, Melissa? Hartmann hat alle Zivilisten evakuieren lassen.«
»Aber ich wollte zu dem kleinen Mann«, antwortete Melissa. »Er hat mir das Leben gerettet. Und deiner Freundin und den beiden anderen Kindern auch.«
»Das stimmt«, erwiderte Charity. »Kannst du dich zufällig auch erinnern, wie er das geschafft hat?«
Melissa runzelte die Stirn, als müsse sie angestrengt über die Frage nachdenken, doch Gurk kam ihr mit einem Kopfschütteln zuvor.
»Aber, aber«, sagte er. »Wer wird denn kleine Kinder aushorchen wollen?«
»Jemand, der von kleinen Männern keine befriedigenden Antworten bekommt«, sagte Charity. Sie wandte sich wieder an Melissa. »Wie kommst du hierher? Die ganze Basis ist abgeriegelt. Wir haben immer noch Alarm.«
»Das war nicht schwer«, antwortete Melissa.
»Niemand kann mich aufhalten, wenn ich irgendwo rein will.«
Charity seufzte. »Allmählich verstehe ich, warum du sie so magst, Gurk«, sagte sie. »Könnt ihr von diesem Frühstück ein bißchen entbehren, oder muß ich in die Kantine gehen?«
»Das hätte wenig Zweck«, erklärte Gurk. »Wo eure Kantine war, ist nur noch ein großes Loch. Die Fremden scheinen nicht besonders viel für eure Kochkunst übrig zu haben.«
Charity registrierte sehr genau, daß Gurk die Angreifer die Fremden nannte. Sie war ziemlich sicher, daß er auch etliche andere Namen für sie gehabt hätte, aber aus irgendeinem Grund zog er es immer noch vor, den Geheimnisvollen zu spielen, und sie wußte aus langer Erfahrung, wie sinnlos es war, von dem außerirdischen Gnom irgend etwas erfahren zu wollen, worüber er nicht reden wollte.
Sie ging nicht weiter auf dieses Thema ein, sondern half Melissa und Gurk, den Tisch zu decken, so daß sie zusammen ein verspätetes Frühstück einnehmen konnten.
Sie sprachen über die verschiedensten Dinge, nur nicht über den zurückliegenden Angriff oder die Fremden, und obwohl Charity innerlich vor Ungeduld brannte, hatte dieses banale Gespräch doch eine sonderbar beruhigende Wirkung auf sie; vielleicht gerade, weil es so banal war.
Das Leben fand für einen Moment in sein gewohntes, tägliches Einerlei zurück, und das war ein ungemein beruhigendes Gefühl. Charity brauchte nur den Blick zu heben und an Gurk vorbei aus dem Fenster zu blicken, um die Spuren des erbitterten Kampfes zu erkennen, der noch vor zwei Tagen hier getobt hatte, und doch hatte die Normalität schon wieder begonnen, Einzug in ihren Tagesablauf zu halten.
Vielleicht war es das gewesen, dachte Charity, was Gurk gestern gemeint hatte, als er behauptete, die Menschen wären ein erstaunliches Volk. Nicht die Städte, die sie aus dem Nichts erschaffen hatte, oder die riesigen Schiffe, mit denen sie eines Tages zu den Sternen fliegen würden. Es gab draußen in der Galaxis Völker, die hundertmal mehr erschaffen hatten, angefangen mit Gurks eigener Rasse. Doch Menschen neigen dazu, sich ihr Leben auf eine ganz bestimmte Art einzurichten, und sie hielten mit großer Beharrlichkeit daran fest.
Möglicherweise, dachte Charity spöttisch, sind wir weder außergewöhnlich klug noch außergewöhnlich tapfer, sondern nur außergewöhnlich stur.
»Wird deine Mutter sich denn keine Sorgen um dich machen?« fragte sie nach einer Weile.
Melissa biß in ihr viertes, turmhoch mit Rührei belegtes Toastbrot und antwortete kopfschüttelnd und mit vollem Mund: »Nein. Ich habe ihr gesagt, wohin ich gehe. Der kleine Mann ist mein Freund. Sie weiß das.«
»Ist er schon lange dein Freund?« erkundigte Charity sich harmlos.
»Sehr lange«, antwortete Melissa. »Seit dem Tag, als Herbert in das große Spinnennetz gelaufen ist.«
»Aha«, sagte Charity.
Gurk grinste. Sie hatte sich schon ein wenig gewundert, daß er sich nicht eingemischt hatte, als sie abermals versuchte, Melissa auszuhorchen, wie er es ausdrückte.
»Ach, übrigens«, sagte Gurk plötzlich. »Ich soll dir von Hartmann ausrichten, daß er dich im Hangar IV erwartet. Zusammen mit Skudder.«
»Und das sagst du mir jetzt erst?« erwiderte Charity.
»Du solltest erst einmal in Ruhe frühstücken«, antwortete Gurk. »Hätte ich es dir vorher gesagt, wärst du wieder einfach losgerannt. Ab und zu braucht auch die Retterin der Menschheit etwas zum Essen. Heldentaten begehen sich schlecht mit leeren Magen, weißt du?«
Charity trank den letzten Schluck Kaffee und stand auf. »Jetzt hörst du dich an wie meine Mutter«, sagte sie.
»Und?« Gurk grinste. »Was spricht dagegen? Sie war eine sehr nette Frau.«
»Woher weißt du das?«
Gurks Grinsen wurde noch breiter. »Wenn ich mir die Tochter so ansehe, dann muß sie eine sehr nette Frau gewesen sein.«
Charity lachte, doch es klang selbst in ihren eigenen Ohren unsicherer, als ihr lieb war. Wieder einmal wurde ihr beinahe schmerzhaft bewußt, wie wenig sie im Grunde über den Zwerg wußte. Streng genommen nur das wenige, was er selbst über sich erzählt hatte, und seinen Namen. Und ganz streng genommen nicht einmal den, denn er lautete in Wirklichkeit ganz bestimmt nicht Haraach Ibn Al Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte - beziehungsweise...
»Der Fünfte«, murmelte sie nachdenklich.
Gurk sah sie schräg an, auf eine Weise, daß Charity sich nicht zum erstenmal, seit sie sich kannten, die Frage stellte, ob Gurk vielleicht ihre Gedanken las... oder sie zumindest auf irgendeine geheimnisvolle Weise erriet.
»Was?«
»Ibn Lot Fuddel der fünfte«, sagte Charity noch einmal betont. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war es noch der Vierte.«
»Da mußt du dich täuschen«, behauptete Gurk.
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Charity. »Ich kann noch bis vier zählen.«
»Nach eurer Mathematik«, sagte Gurk. »Aber sie ist nicht ganz präzise. Es gibt -«
»Gurk!«
»Ja, ja, schon gut«, sagte der Zwerg. »Ich habe meinen Namen geändert. Und? Was bedeutet schon ein Name?«
»Nur den Namen?« fragte Charity ernst. »Wo bist du gewesen, Gurk? Acht Jahre sind eine lange Zeit.«
»Eine Ewigkeit«, bestätigte Gurk und schüttelte den Kopf. »Und zugleich nichts. Es gibt Orte, an denen die Zeit nicht dasselbe bedeutet wie hier. Ich war an einem solchen Ort. Frage mich nicht, wo dieser Ort ist, und was ich dort getan habe. Ich kann nicht darüber reden.«
»Warum nicht?«
»Weil du es nicht verstehen würdest«, antwortete Gurk, und diesmal war in seiner Stimme nicht die kleinste Spur von Spott oder seiner gewohnten Häme. »Niemand kann diesen Ort beschreiben, und niemand kann ihn wirklich begreifen. Es ist kein schöner Ort. Nicht für einen Menschen, und nicht für mich. Für niemanden.«
Charity schwieg. Ihr Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die ihr nicht behagte. Es war nicht einmal das, was Gurk sagte, sondern viel mehr die Art, wie er es sagte. Irgend etwas schwang hörbar in seinen Worten mit, das Charity schaudern ließ.
»Ich gehe zu Hartmann«, sagte sie. »Begleitet ihr mich?«
Melissa nickte begeistert und flitzte los, um ihre Jacke zu holen, doch Gurk zögerte aus unerfindlichen Gründen. Aber dann erhob auch er sich und ging zur Tür, machte aber keine Anstalten, sie zu öffnen. Erst als Charity ihre Jacke übergezogen hatte und auf den Flur hinaustrat, wußte sie warum.
Vor der Tür standen zwei schwerbewaffnete Soldaten. Die beiden salutierten so zackig, daß es schon fast komisch aussah, als sie Charity erblickten, doch als Gurk hinter ihr in der Tür erschien, schüttelte einer der beiden entschieden den Kopf.
»Guten Morgen, Captain Laird«, begann er steif. Er sah Charity an, und sie spürte, wie schwer es ihm fiel, was er dann hinzufügte. »Es tut mir leid, aber der... Außerirdische muß in seinem Quartier bleiben.«
»Der Außerirdische hat einen Namen, Leutnant...« Sie beugte sich vor und tat so, als müsse sie kurzsichtig das Namenschildchen auf der Brust des jungen Leutnants entziffern. »... Hardeck.«
»Selbstverständlich, Captain Laird«, antwortete Hardeck nervös. »Trotzdem. Wir haben eindeutige Befehle, daß der Außer...« Er verbesserte sich hastig. »Daß El Gurk Ihre Unterkunft nicht verlassen darf.«
»Von wem stammen diese Befehle?« fragte Charity.
»Von General Hartmann«, antwortete Hardeck.
»Dummerweise hat General Hartmann mir gar nichts zu befehlen, Leutnant«, sagte Charity freundlich. Sie machte eine Kopfbewegung auf die Rangabzeichen auf ihrer Schulter. »Erkennen Sie diese Uniform? Ich bin Mitglied der Space-Force, nicht der Vereinten Europäischen Streitkräfte.« Strenggenommen war sie die Space-Force, aber über solche Kleinigkeiten mußten sie jetzt nicht diskutieren.
»Das ist richtig, Captain«, antwortete Hardeck gequält. »Es ist nur...«
Er sprach nicht weiter, aber Charity erriet, was er sagen wollte.
Hartmann war zwar nicht ihr, aber sein Vorgesetzter, und wie sie Hartmann kannte, hatte er dem armen Kerl in den schwärzesten Farben ausgemalt, wie seine Zukunft aussehen würde, falls er seine Befehle mißachtete.
»Ich verstehe, Leutnant«, seufzte Charity. »Ich will Sie nicht in Schwierigkeiten bringen.« Sie wandte sich an Gurk. »Würde es dir etwas ausmachen... ?«
»Kein Problem«, antwortete Gurk. »Grüß Hartmann von mir.«
Und damit drehte er sich auf dem Absatz herum und knallte die Tür so heftig hinter sich zu, daß Charity und die beiden Soldaten erschrocken zusammenfuhren. Kaum eine Sekunde später wurde die Tür jedoch schon wieder geöffnet, und Melissa kam heraus.
»Gelten Hartmanns Befehle auch für sie?« fragte Charity spitz.
Hardeck trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Der General sprach nur von dem Außerird... von Gurk«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß er damit auch dieses Kind gemeint hat.«
»Na, wie beruhigend«, sagte Charity ärgerlich. »Dürfen wir denn jetzt gehen, oder brauche ich eine schriftliche Genehmigung meiner Eltern?«
Sie wartete Hardecks Antwort nicht ab, sondern gab Melissa ein Zeichen, ihr zu folgen, und drehte sich wütend auf dem Absatz herum. Ihr Zorn war ungerecht, das wußte sie selbst; zumindest entlud er sich auf das falsche Opfer. Der junge Leutnant tat nur seine Pflicht. Und vermutlich tat auch Hartmann nur, was er für das Richtige hielt. Er mochte Gurk ebenso wie sie, und er hatte ganz bestimmt nicht vergessen, daß der Zwerg seine Familie gerettet hatte.
Weshalb also bestand er weiterhin darauf, Gurk wie einen Gefangenen zu behandeln?
Sie würde es herausfinden, und zwar jetzt.