Rechts und links von Charity kochte der Boden. Die Lasersalven hatten dem gepanzerten Rumpf des Rochenschiffes nichts anhaben können und nur schwarze Rußspuren auf dem kupferfarbenen Metall hinterlassen, doch allein schon die reflektierte Energie hatte den Betonbelag des Platzes wie Butter geschmolzen.
Die Hitze strich wie eine unsichtbare glühende Hand über Charitys Rücken, und wie um das Maß voll zu machen, strampelte die zwergenhafte Gestalt unter ihr ununterbrochen mit den Beinen und trat ihr dabei so heftig in den Leib, daß ihr die Luft wegblieb. Sie schrie Gurk zu, daß er damit aufhören sollte, aber wahrscheinlich verstand er ihre Worte gar nicht. Das Heulen der Sirenen, die Schreie, das Getöse der heranrasenden Jäger und das Donnern ununterbrochener Explosionen verschluckten jeden anderen Laut.
Es war die Hölle.
Und sie hatte gedacht, es wäre vorbei!
Charity hob den Kopf, schaute prompt in den grellgrünen Laserblitz einer weiteren Salve, die den Rumpf des Rochenschiffes über ihr schwärzte, und erkannte instinktiv die Gefahr, in der sie schwebte.
Blitzschnell griff sie zu, krallte die Hände in Gurks dürre Schultern und warf sich zur Seite, wobei sie Gurk mit sich riß. Aneinandergeklammert rollten sie über das geriffelte Metall der Rampe, fielen über deren Rand und stürzten gut anderthalb Meter in die Tiefe, während eine Flut allesverzehrender wabernder Hitze dort entlangstrich, wo sie gerade noch gelegen hatten.
Der Aufprall war dermaßen hart, daß Charity um ein Haar das Bewußtsein verloren hätte. Gurk wog zwar kaum mehr als ein zehnjähriges Kind, landete aber prompt auf ihrer gebrochenen Rippe, die sich wie ein glühender Dolch noch ein Stück tiefer in Charitys Brustkorb bohrte. Und wenngleich sie der Lasersalve entgangen waren, war die Hitze noch immer grauenhaft.
Gurks Kleid begann zu schwelen, und für zwei oder drei Sekunden tobte und kreischte der zwergenwüchsige Außerirdische wie irrsinnig in Charitys Griff. Sie ließ trotzdem nicht los, packte ihn im Gegenteil sogar noch fester und versuchte gleichzeitig, ungeschickt auf die Füße zu kommen.
»Laß mich los, verdammt noch mal!« kreischte Gurk. »Du bringst mich ja um!«
Er versuchte weiter, sich aus ihrem Griff zu befreien, doch seine Kraft reichte nicht einmal annähernd. Aber seine wild strampelnden Füße hämmerten schmerzhaft gegen Charitys Knie, so daß sie beinahe schon wieder gestürzt wäre, als sie losrannte.
Über ihnen schien für einen Moment der gesamte Himmel in Flammen aufzugehen, als das Rochenschiff, das soeben auf sie geschossen hatte, ins Kreuzfeuer der Flugabwehr geriet und explodierte.
Schon der erste Angriff der Fremden hatte die Verteidigungscomputer zerstört, so daß die Männer an den Geschützen manuell zielen mußten, aber sie schossen sich allmählich ein. Charity hatte nicht mitgezählt, schätzte aber, daß die Angreifer mindestens ein Dutzend Schiffe verloren hatten, seit der Überfall begonnen hatte.
Trotzdem gaben sie nicht auf. Die tödlichen Rochenschiffe schienen ganz im Gegenteil in immer rascherer Folge am Himmel über der Basis aufzutauchen, nur um ins Feuer der Flugabwehr zu geraten oder von den Vipern abgeschossen zu werden, die in rascher Folge aus den unterirdischen Hangars aufstiegen.
Ganz abgesehen davon, daß dieser neuerliche Überfall militärisch nicht den geringsten Sinn machte, war es der reine Selbstmord.
Was allerdings nichts daran änderte, daß er eine tödliche Gefahr darstellte. Charity zog den Kopf ein, als rings um sie herum die Trümmer des explodierten Rochenschiffes niederregneten. Aus ihrem Spurt wurde ein groteskes, hakenschlagendes Hüpfen, das keiner bestimmten Richtung folgte. Das Feuer am Himmel erlosch, aber praktisch im gleichen Sekundenbruchteil tauchte bereits ein neues Rochenschiff am Himmel auf.
Charity hatte das verrückte Gefühl, daß es buchstäblich aus dem Nichts materialisierte. Der Pilot visierte das Schiff an, mit dem Gurk gekommen war, aber die Laser feuerten nicht. Statt dessen zwang der Pilot seine Maschine in eine enge, wahnsinnig schnelle Kehre - und hielt genau auf sie zu!
Charity wußte zwar, daß es vollkommen unmöglich war, doch für eine oder zwei Sekunden war sie felsenfest davon überzeugt, daß dieser selbstmörderische Angriff einzig und allein ihr galt.
In der dritten Sekunde wußte sie, daß es so war.
Die Laserkanonen des Rochenschiffes schleuderten zwei grellgrüne, leuchtende Blitze in ihre Richtung, die Gurk und Charity nur um Haaresbreite verfehlten und den Beton hinter ihnen in glutflüssige, brodelnde Lava verwandelten.
Dann raste das Rochenschiff über sie hinweg, kippte über die linke Tragfläche ab und begann ein kompliziertes Dreh- und Wendemanöver, um zu einem neuerlichen Angriff anzusetzen.
Auf dem Scheitelpunkt seiner Bahn wurde das Schiff von einer Lanze aus weißem Licht getroffen und regelrecht aufgespießt. Die linke Tragfläche explodierte in einem grellen Blitz. Der Rest des Schiffes begann sich wie ein gigantischer Kreisel zu drehen, wobei er Flammen, brennenden Treibstoff und weißglühende Trümmerstücke in alle Richtungen schleuderte; dann schlug es in zwei- oder dreihundert Metern Entfernung auf.
Charity erwachte endlich aus ihrer Erstarrung und rannte weiter. Sie mußte ein Gebäude erreichen, irgendein Gebäude. Natürlich war ihr Gedanke von vorhin unsinnig - dieser Angriff galt ganz bestimmt nicht ihr persönlich.
Aber auch ein Laserstrahl oder eine Rakete, die nicht persönlich gemeint waren, würden sie umbringen - ebenso wie ein brennendes Trümmerstück oder ein abstürzender Jäger, und von allem gab es ringsum mehr als genug.
Während Charity, Gurk noch immer wie ein strampelndes Kind auf den Armen haltend, auf die Ruine des Verwaltungsturmes zustürmte, mußte sie sich fast gewaltsam wieder in Erinnerung rufen, daß seit Beginn dieses neuerlichen Angriffs noch nicht einmal zwei Minuten vergangen waren - hundertzwanzig Sekunden, die ausgereicht hatten, die Basis binnen kürzester Zeit zum zweiten Mal in eine Hölle aus Flammen, Explosionen, schreienden Menschen und explodierenden Schiffen und Gebäuden zu verwandeln.
Es war so plötzlich, so völlig ohne Vorwarnung geschehen!
In einer Sekunde hatten sie alle noch dagestanden und Gurk angestarrt, der scheinbar von den Toten wieder auferstanden war, während Hartmann seine ebenfalls totgeglaubte Frau und seine Kinder in die Arme schloß - und im nächsten Augenblick hatte sich buchstäblich der Himmel aufgetan und Dutzende der bizarren Rochenschiffe ausgespien, die sofort und gnadenlos das Feuer eröffnet hatten.
Wieder explodierte eines der Rochenschiffe am Himmel. Charity hatte vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden selbst gegen diese bizarr geformten Raumjäger gekämpft und wußte, daß sie den irdischen Maschinen hoffnungslos überlegen waren. Um so erstaunlicher erschien es ihr, daß sie jetzt wie die Tontauben abgeschossen wurden.
Die Rochenschiffe schienen sich kaum auf Gefechte mit Hartmanns Vipern einzulassen, sondern vertrauten einzig auf ihre phantastische Manövrierfähigkeit, um ihren Gegnern lange genug zu entgehen und um - was zu tun?
Charity verschob die Antwort auf diese Frage auf später, als eine weitere Lasersalve in ihrer unmittelbaren Nähe in den Boden hämmerte und sie zu einem verzweifelten Sprung in die entgegengesetzte Richtung zwang. Um ein Haar wäre sie gestürzt.
Die Hitze hatte die Grenzen des Vorstellbaren längst erreicht und stieg immer noch, und Gurks Körper schien Tonnen in ihren Armen zu wiegen.
Charity war schon total erschöpft hier angekommen, jetzt aber war sie mit ihren Kräften völlig am Ende. Sie war nicht sicher, ob sie die fünfzig oder hundert Schritte bis zum Haus noch schaffen würde.
Das Rochenschiff erlitt das gleiche Schicksal wie seine Vorgänger und verwandelte sich in einen lodernden Feuerball, und wieder regneten Trümmer auf Charity herab.
Diesmal jedoch hatte sie weniger Glück: Irgend etwas traf ihren Rücken mit der Wucht eines Hammerschlags und schleuderte sie zu Boden. Gurk entglitt ihren Armen und schlitterte kreischend davon, und für einen Moment mußte Charity mit aller Gewalt gegen eine Ohnmacht ankämpfen, die sie in ihre dunkle Umarmung hinabzuziehen versuchte.
Alles wurde unwirklich. Der Schmerz in ihrem Rücken verblaßte, und sämtliche Geräusche klangen mit einem Male sonderbar dumpf und wattig.
Sie wollte sich hochstemmen, aber ihre Handgelenke schienen plötzlich aus weichem Gummi zu bestehen und waren nicht mehr in der Lage, das Gewicht ihres Körpers zu tragen.
Sie fiel erneut, versuchte ein zweites Mal, sich hochzustemmen, und fühlte plötzlich eine schmale, aber erstaunlich kräftige Hand, die sie halb in die Höhe zog und sich dann an ihrer Hüfte zu schaffen machte. Ein halblautes Summen erklang, und sie verspürte ein rasches, flüchtiges Kribbeln, als sich ihr Körperschild aufbaute.
Gurk riß mit einer hastigen Bewegung die Hand zurück, um sich nicht an dem elektronischen Schutzschild zu verbrennen, zog eine Grimasse und schüttelte den Kopf.
»Warum benutzt du dieses Spielzeug nicht wenigstens, wenn du es schon mit dir herumschleppst?«
»Stehst du eigentlich auf Schmerzen?« fragte Charity freundlich.
Gurk grinste, war aber trotzdem klug genug, um noch einen weiteren Schritt zurückzuweichen.
»Du hast dich in all den Jahren wirklich kein bißchen verändert«, sagte er grinsend.
Charity sparte es sich auf, darauf zu antworten. Gurk hatte sich ebenfalls nicht verändert - dumme Bemerkungen in den unpassendsten Augenblicken waren schon immer seine Spezialität gewesen.
Stöhnend richtete Charity sich gänzlich auf, fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und hob den Blick in den Himmel.
Diesmal sah sie genau, was geschah.
Unmittelbar über ihr schien eine dünne, leuchtende Linie zu entstehen, als hätte jemand ein Skalpell genommen und den Himmel damit aufgeschnitten, und dann faltete sich das Firmament auseinander und spie ein Dutzend Schiffe aus.
Der Anblick war so bizarr, daß Charity sekundenlang einfach dastand und das unfaßbare Geschehen beobachtete. Es war unmöglich, das, was sie sah, mit Worten zu beschreiben. Der Himmel über der Basis schien mit einem Mal größer geworden zu sein, und im Inneren dieser zusätzlichen Dimension war nicht mehr der Sternenhimmel über der Erde zu sehen, sondern eine rote, sturmgepeitschte Wüste voller bizarrer Felsstrukturen und grotesker Gebäude.
Der unheimliche Anblick war nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen, dann schnappten die Dimensionen der Wirklichkeit mit einem Ruck wieder zusammen.
Die fremden Schiffe blieben am Himmel.
Schon bevor sie sich wieder in Bewegung setzte, begriff Charity, daß die Angreifer ihre Taktik geändert hatten. Es handelte sich um vier oder fünf Rochenschiffe sowie zwei der plumpen Transporter, mit denen sie ebenfalls schon unangenehme Bekanntschaft gemacht hatten. Aber statt wahllos das Feuer auf die Basis zu eröffnen, wie sie es bisher getan hatten, spritzten die Rochenschiffe in alle Richtungen auseinander und begannen die irdischen Raumjäger zu attackieren.
Zwei, drei Vipern explodierten, bevor die Piloten überhaupt begriffen, daß sie es plötzlich nicht mehr mit wehrlosen Zielscheiben zu tun hatten, und dann brach über dem Landfeld ein verbissener Luftkampf los.
Charity blieb keine Zeit, diese Schlacht zu beobachten. Die beiden Transporter begannen sich träge auf der Stelle zu drehen und verloren gleichzeitig schnell an Höhe, steuerten dabei aber auch sichtbar auf Gurk und sie zu. Vielleicht wieder ein Zufall, vielleicht aber auch nicht.
»Oh, Scheiße!« stieß Gurk voller Inbrunst hervor.
Er griff unter sein Gewand, zog etwas sehr Kleines, Silbernes darunter hervor, mit dem er auf einen der beiden Transporter zielte, und sagte laut: »Peng!«
Charity zweifelte eine halbe Sekunde lang an Gurks Verstand. Die andere Hälfte der Sekunde brauchte sie, um sich flach auf den Boden zu werfen und die Hände über das Gesicht zu reißen, als das Landungsschiff in einer gewaltigen Explosion auseinanderbarst.
Flüssiges Feuer und Trümmerstücke regneten auf sie herab. Ohne den Körperschild wäre sie diesmal wahrscheinlich wirklich schwer verletzt worden - oder Schlimmeres. Gurk jedenfalls wurde von der Druckwelle erfaßt und gute zehn Meter davongeschleudert, ehe er sich wild fluchend wieder auf die Beine kämpfte.
Das zweite Landungsschiff hatte den Boden mittlerweile fast erreicht. Es schwankte zwar unter der Druckwelle des explodierenden Transporters, war aber nicht nennenswert beschädigt. Die beiden großen Türen an den Seiten begannen sich zu öffnen, noch bevor das Schiff den Boden ganz erreicht hatte.
»Gurk!« schrie Charity.
»Keine Chance«, antwortete Gurk krächzend.
Er rappelte sich hoch, spuckte einen Mund voll Schmutz aus und versetzte seiner sonderbaren Waffe, die ihm aus der Hand gefallen war, einen Tritt. »Die gute Fee hat mir nur einen Wunsch gewährt! Lauf um dein Leben!«
Charity sprang mit einem Fluch auf und rannte los. Sie war kein bißchen überrascht, als sie sah, wie die Türen des Landungsschiffes endgültig aufflogen und annähernd zwei Dutzend riesige Gestalten in mattschwarzen Kampfanzügen heraussprangen, die sofort das Feuer auf sie eröffneten...
Was sie rettete, war das Wrack eines abgestürzten Schiffes, das zwischen ihnen und dem Verwaltungsgebäude lag. Gurk brachte sich mit einem Satz hinter dem glühenden Wrack in Sicherheit, und die schwarzvermummten Krieger konzentrierten ihr Feuer für einen kurzen Moment auf den Zwerg, vielleicht um sich ihr näheres - sichereres - Opfer für die zweite Salve aufzuheben.
Doch diese kurze Ablenkung reichte Charity. Sie warf sich nach links, schlug einen Haken und rannte geduckt auf das Wrack zu, hinter dem sich Gurk in Deckung gebracht hatte. Nur ein einziger Laserschuß zuckte in Charitys Richtung. Der Strahl streifte ihre Schulter, ließ ihren Körperschild zusammenbrechen und brannte eine schwarze Spur in ihre Jacke, verletzte sie aber nicht wirklich.
Dann hatte sie das Wrack erreicht und war in Sicherheit.
Die Frage war nur: Wie lange?
Die schwarzgepanzerten Gestalten stürmten heran; vielleicht nicht einmal besonders schnell, aber auf jeden Fall schnell genug. Und das rettende Gebäude lag noch gute dreißig oder vierzig Meter hinter ihnen - keine Chance, es zu erreichen. Und der brennende Schmerz in Charitys Oberarm erinnerte sie nachhaltig daran, wie gut die Fremden schossen.
Charitys Gedanken überschlugen sich. Sie hatte ein Funkgerät am Gürtel, aber es war vollkommen sinnlos, um Hilfe zu rufen. Der Funk war voller durcheinanderschreiender Stimmen, Befehle, Hilferufe, Verlust- und Siegesmeldungen.
Charity ersparte es sich, dem Geplärr eine weitere ungehörte Nuance hinzuzufügen, sondern griff nach ihrer Waffe und schoß auf eine der heranstürzenden Gestalten. Für eine knappe Sekunde erstrahlte der Angreifer in einem unwirklichen, grünen Licht, doch es erlosch, ohne daß die Gestalt auch nur ein bißchen langsamer wurde. Die Angreifer verfügten offenbar über Körperschilde, die weitaus leistungsfähiger waren als Charitys Modell. Sie begann sich zu fragen, ob es überhaupt irgend etwas gab, das diese Kerle nicht besser konnten.
»Wir müssen hier weg!« sagte Gurk.
Charity war nicht ganz sicher, aber vielleicht hörte sie nun zum erstenmal wirklich Angst in seiner Stimme.
Natürlich hat er recht, dachte Charity. Die Angreifer würden in ein paar Augenblicken heran sein. Aber wenn sie ihre Deckung verließen, würden diese Kerle ein Wettschießen auf Gurk und sie veranstalten, dessen Verlierer jetzt schon feststanden.
Charity ergriff ihre Waffe mit beiden Händen, zielte sorgfältig und feuerte erneut. Diesmal stach die dünne Nadel aus sonnenheißem Laserlicht präzise durch das verspiegelte Helmvisier eines Angreifers. Der schwarzgepanzerte Riese kam aus dem Tritt, fiel auf beide Knie und kippte dann wie in einer grotesken langsamen Verbeugung nach vorn.
Noch bevor er auf den Boden schlug, eröffneten seine Kameraden das Feuer, und Charity ließ sich hastig wieder hinter ihre Deckung gleiten. Das verbogene Metall über ihr glühte rot und Sekundenbruchteile später weiß auf, bevor es sich in dünnflüssige Schmelze verwandelte, die zischend an der Flanke des abgestürzten Jägers hinabfloß und Charity und Gurk dazu zwang, abermals ein Stück zurückzuweichen.
Auch die Waffen der Angreifer waren weitaus effektiver als die der Verteidiger. Charity machte diese ernüchternde Feststellung ohne Überraschung oder Schrecken, aber beinahe wütend. Es war einfach nicht fair!
»Keine gute Idee«, knurrte Gurk. »Jetzt sind sie erst richtig sauer.«
»Ja«, antwortete Charity. »Ich frage mich allmählich nur, auf wen.«
Hätte sie auch nur eine einzige Sekunde Zeit gehabt, über ihre eigene Frage nachzudenken, wäre die Antwort ganz klar gewesen. Aber sie hatte keine Sekunde. Die Angreifer hatten das Feuer zwar eingestellt, stürmten aber zweifellos weiter heran. Sie hatten gar keine andere Wahl mehr.
»Los!« befahl Charity.
Sie sprang auf, stieß Gurk grob herum und rannte gleichzeitig los.
Über ihnen explodierte ein weiteres Schiff am Himmel, doch Charity vermied es, sich davon zu überzeugen, zu welcher Seite es gehörte. Statt dessen warf sie einen gehetzten Blick über die Schulter, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie drei, vier, dann fünf mehr als zwei Meter große, mattschwarze Gestalten aus dem ausgebrannten Wrack erschienen und ihre Waffen auf Gurk und sie richteten.
Im nächsten Augenblick hämmerte ein doppelter, grellweißer Lichtblitz schräg vom Himmel herab in das Wrack hinein. Zwei oder drei der Angreifer glühten kurz auf und verschwanden, schienen sich in Nichts aufzulösen; die anderen stürzten mit brennenden Schutzanzügen zu Boden und rührten sich nicht mehr.
Nur einen Sekundenbruchteil später explodierte eine zweite Lasersalve auf der anderen Seite des Wracks. Ein Feuerwerk grellgrüner Lichtblitze antwortete darauf.
Charity schaute nach oben, während sie rannte, und erblickte einen pfeilförmigen Viper-Jäger, der mit flammenden Triebwerken über den Platz heranjagte. Die Laserschüsse prallten wirkungslos von seiner Panzerung ab, und dem Jäger blieb noch Zeit für eine dritte Energiesalve, ehe er über das Wrack hinwegjagte und in eine weit geschwungene Kehre einschwenkte, um zu einem neuerlichen Anflug anzusetzen.
Er führte die Flugbewegung nicht zu Ende.
Charity sah weder einen Blitz noch irgendeine andere sichtbare Spur einer Waffe, aber die Viper schien plötzlich von Thors Hammer getroffen und wie ein lebensgroßes Modell aus dünnem Stanniol zusammengeknüllt zu werden. Die Pilotenkanzel zerbarst. Trümmerstücke flogen in sämtlichen Richtungen davon. Dann stürzte die Maschine wie ein Stein zu Boden und explodierte.
Doch das Opfer des Piloten war nicht umsonst gewesen, denn Charity und Gurk hatten das Gebäude nun erreicht. Das ausgebrannte Foyer des Verwaltungsturms bot allerdings keine wirkliche Sicherheit. Sämtliche Scheiben der riesigen Glasfront waren zerborsten, und schon der erste Angriff hatte einen Großteil der Zwischenwände zerschmettert.
Das Gebäude bot zwar keinen echten Schutz, aber sie hatten wenigstens nicht mehr das Gefühl, hilflos und ausgeliefert zu sein.
Außerdem hatten sie hier drinnen vielleicht doch eine Chance.
»Wir müssen uns verstecken«, sagte Charity hastig. »Haben die Kerle irgendeine Möglichkeit, dich aufzuspüren?«
»Mich?« Gurk gab sich redliche Mühe, ein überraschtes Gesicht zu machen. »Wie kommst du darauf, daß sie -«
Charity ergriff ihn mit beiden Händen am Schlafittchen und riß ihn so hoch von den Füßen, daß sich sein Gesicht unmittelbar vor dem ihren befand, und schüttelte ihn wild.
»Dafür ist jetzt keine Zeit!« sagte sie wütend. »Du kannst meine Frage beantworten, oder ich nehme den Kerlen da draußen die Arbeit ab und drehe dir höchstpersönlich den Hals um!«
Gurk ächzte. »Schon gut, schon gut!« keuchte er. »Laß mich runter!«
Charity tat ihm den Gefallen, ließ Gurk aber nicht vollkommen los.
»Also?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Gurk. »Aber es könnte schon sein... ja. Verdammt.«
Wieder explodierte draußen irgend etwas am Himmel. Die Druckwelle fetzte auch die letzten Glasscherben aus dem Rahmen und ließ Charity und Gurk taumeln, riß sie aber nicht von den Füßen.
Charity hielt Gurk weiterhin mit einer Hand am Kragen fest, hob aber die andere schützend vor das Gesicht und blinzelte in die grelle Helligkeit hinaus.
Der Kampf tobte noch immer mit verbissener Wut, und Charity erblickte nach wie vor ein halbes Dutzend riesenhafter schwarzer Gestalten, die in ihre Richtung rannten. Ihre Konturen schienen in der gleißenden Helligkeit zu verschmelzen. Die Hitze dort draußen mußte unvorstellbar sein.
Jeder menschliche Angreifer wäre inmitten dieser höllischen Temperaturen längst gestorben - Körperschild hin oder her.
»Weiter!« befahl Charity.
Sie bewegten sich tiefer in den zerstörten Raum hinein. Zusammen mit dem Großteil der Stromversorgung war auch die gesamte Beleuchtung ausgefallen, so daß sie sich in fast vollkommener Dunkelheit bewegten. Aber das war eher ein Hindernis als ein Vorteil. Nach allem, was Charity bisher erlebt hatte, glaubte sie nicht, daß etwas so Banales wie Dunkelheit die Männer in den schwarzen Kampfanzügen aufhalten würde.
»Wohin?« brüllte Gurk, stolperte im Dunkeln über ein Hindernis und fiel der Länge nach zu Boden.
Charity verlangsamte nicht einen Sekundenbruchteil das Tempo. Sie wußte, daß Gurk sich mindestens genauso schnell bewegen konnte wie sie, wenn nicht schneller. Statt sich auch nur einmal zu dem Außerirdischen herumzudrehen, deutete sie blind nach vorne.
»Nach oben, Gurk! Schnell!«
Ein grellgrüner Blitz erhellte für Bruchteile von Sekunden den Raum. Kaum einen Meter neben Gurk begannen die Bodenfliesen zu kochen. Der Zwerg kreischte vor Angst, warf sich herum und entging nur um Haaresbreite einem zweiten, genauer gezielten Schuß.
Diesmal flammte ein Teil seines Gewands auf, erlosch aber sofort wieder.
Charity fluchte, blieb diesmal stehen und zögerte unentschlossen.
Wenn sie noch einen Beweis für ihre Theorie gebraucht hätte, so hätte sie ihn jetzt gehabt. Die Angreifer waren zu sechst. Sie hätten die Gegner ohne Mühe ausschalten können, schienen aber schlagartig jedes Interesse an Charity und ihrem Begleiter verloren zu haben.
Drei der riesigen, schwarzgekleideten Gestalten näherten sich Gurk im Laufschritt, während die drei anderen damit beschäftigt waren, den Zwerg mit präzise gezielten Schüssen an der Flucht zu hindern. In einem Punkt hatte Charity sich geirrt: Die Fremden waren nicht gekommen, um Gurk zu töten.
Sie wollten ihn lebend.
Charity zog ihre Waffe, visierte einen der Fremden an und schoß. Der Körperschild des Riesen absorbierte den Energiestoß mit Leichtigkeit, und der Fremde machte sich nicht einmal die Mühe, zurückzuschießen oder sonst auf irgendeine Weise zu reagieren.
Charity zielte noch einmal, diesmal genauer. Sie spreizte die Beine, um festeren Stand zu haben - und zögerte. Ihr blieben vielleicht noch zwei Sekunden, ehe die Fremden Gurk erreichten, aber sie wußte einfach nicht, was sie tun sollte.
Skudder und sie hatten die Achillesferse der Fremden schon an Bord der EXCALIBUR entdeckt, aber wenn sie jetzt einen dieser Männer erschoß, würden die anderen zuerst sie ausschalten und dann Gurk überwältigen.
Und sie würden nicht einmal eine Sekunde dazu benötigen.
Ein gewaltiges Krachen erscholl.
Charity schaute erschrocken hoch und erblickte ein riesiges, hundert Tonnen schweres Ungetüm, das auf rasselnden Ketten durch die zerborstene Glasfront hereingewalzt kam: Es war einer der beiden Mark-IV-Panzer, die vor zehn Minuten draußen aufgefahren waren, um das Schiff mit Gurk und Hartmanns Familie in Empfang zu nehmen.
Doch anders als vorhin war das Schott diesmal geschlossen, und die riesige Laserkanone drehte sich wie suchend hin und her. Charity schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß der Panzerkommandant nicht so verrückt sein würde, die Waffe hier drinnen abzufeuern.
Er war so verrückt.
Einer der Fremden beging den Fehler, auf den Mark IV zu schießen, und der Panzer erwiderte das Feuer mit seiner Kanone, deren Kaliber um etliches schwerer war als die der Bordgeschütze, mit denen die Vipern ausgestattet waren. Der Körperschild des Fremden fand nicht einmal mehr die Zeit, aufzuflammen. Die Gestalt löste sich auf, verschwand von einer Sekunde auf die andere, und der Energiestrahl brannte sich ungehindert seinen Weg durch das Gebäude, wobei er Zwischenwände, Treppen, Schächte, Aufzugwände und Mauern pulverisierte und alles in Brand setzte, was nicht aus Stein oder Metall war.
Charity stand gute zehn Meter von der Schußbahn entfernt, aber sie taumelte trotzdem unter der immensen Hitze zurück. Gurk keuchte vor Schrecken und Schmerz.
Die fünf überlebenden Angreifer verloren schlagartig das Interesse an ihrem Opfer und wandten sich gemeinsam dem neu aufgetauchten Gegner zu. Ein wahres Gewitter greller Laserblitze tanzte über die Flanke des Panzers, ohne den Vormarsch des Hundert-Tonnen-Kolosses auch nur verlangsamen zu können.
Das Panzergeschütz feuerte ein zweites Mal. Diesmal verfehlte der Energieblitz sein Ziel, setzte aber einen weiteren Teil der riesigen Halle in Brand. Die Fremden feuerten zurück, ohne mehr als den Lack des Kampfpanzers beschädigen zu können, und begannen sich gleichzeitig in der Halle zu verteilen.
Der Umstand, einer Kampfmaschine gegenüber zu stehen, deren psychologische Wirkung eigentlich verheerend sein sollte, schien sie nicht besonders zu irritieren.
Charity erkannte die Chance, die sie vielleicht doch noch hatte. Die Halle brannte mittlerweile lichterloh, und die Luft füllte sich so schnell mit beißendem Qualm, daß das Atmen wahrscheinlich schon in wenigen Augenblicken unmöglich sein würde. Sie rannte ein paar Schritte zurück, zerrte Gurk grob auf die Füße und stürmte auf die nächstgelegene Treppe zu.
Die kunststoffverkleidete Decke über ihren Köpfen fing schlagartig Feuer, als der Mark IV hinter ihnen einen weiteren Schuß aus seiner Kanone abgab, und plötzlich regnete es Flammen und glühende Tropfen geschmolzenen Kunststoffs. Zäher, beißender Rauch nahm Charity die Sicht. Sie stürmte mit angehaltenem Atem und fast blind hindurch, stolperte prompt über die unterste Stufe und fand im letzten Moment am Treppengeländer Halt.
Plötzlich war es Gurk, der sie hinter sich her zerrte, statt umgekehrt.
Unter ihnen tobte der ungleiche Kampf ungebremst weiter, und als Charity noch einmal in die Tiefe sah, bot sich ihr ein beinahe grotesker Anblick: Der Panzer war bis in die Mitte der Halle gerollt und hatte gehalten. Das riesige Turmgeschütz drehte sich hektisch hin und her, doch die Männer in den schwarzen Kampfanzügen waren einfach zu schnell.
Charity hatte das Gefühl, einem Rudel kleiner, schwarzer Insekten zuzuschauen, die ein viel größeres Beutetier umkreisten. Plötzlich war sie gar nicht mehr sicher, wer der Sieger in diesem vermeintlich ungleichen Kampf sein würde.
Sie und Gurk erreichten die nächste Etage. Gurk blieb stehen, schaute sich einen Moment hilflos um und warf Charity dann einen fragend-gehetzten Blick zu.
Charity deutete nach links, aber im Grunde tat sie es vollkommen wahllos. Sie kannte sich in diesem Gebäude nur unwesentlich besser aus als Gurk. Das einzige, was sie mit Sicherheit wußte war, daß es hier ein wahres Labyrinth von Korridoren und Räumen gab. Vielleicht ihre einzige Chance.
Charity haßte es, davonzulaufen, aber sie war auch realistisch genug zu erkennen, wenn ein Kampf aussichtslos war.
»Findest du nicht, daß du mir ein paar Antworten schuldig bist, Gurk?« keuchte sie, während sie nebeneinander auf das Ende des Korridors zurannten. Der Boden unter ihren Füßen zitterte, und Hitze und Rauch begannen auch hier die Luft zu füllen.
»Genauso geht es mir auch«, antwortete Gurk keuchend. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich freue, dich wiederzusehen. Wie lange ist es her? Sieben Jahre?«
»Gurk!«
»Ja, ja, ich weiß - es sind acht. Ich wollte dich nur auf die Probe stellen.«
Sie hatten das Ende des Ganges erreicht. Charity verschwendete keine Zeit damit, die Tür zu öffnen, sondern sprengte sie einfach mit der Schulter aus dem Rahmen und stürmte hindurch.
»Ich meine es ernst, Gurk«, sagte Charity. »Wer sind diese Kerle? Was wollen sie von dir?«
»Ich schätze, sie sind wütend, weil ich ihr Schiff gestohlen habe«, antwortete Gurk. »Die Burschen sind ziemlich nachtragend, weißt du.«
Vor ihnen lag ein schmales, unverkleidetes Treppenhaus. Die Stufen fielen unter ihnen zwei oder drei Etagen in die Tiefe und führten in der anderen Richtung gute zwanzig Etagen weit in die Höhe. Charity glaubte nicht, daß sie in ihrem momentanen Zustand noch die Kraft hatte, dort hinaufzurennen.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen.
Eine dumpfe, lang nachhallende Explosion erschütterte das Gebäude. Fünfzehn Meter unter ihnen wurde eine massive Metalltür von einer Feuerwoge auf die Treppe hinaufgeschleudert, und das gesamte Gebäude schien sich für einen gräßlichen, alptraumhaften Moment zur Seite zu neigen.
Charity klammerte sich instinktiv am Türrahmen fest, blickte hastig über die Schulter zurück und erkannte auch am anderen Ende des Ganges brodelndes, weißes Feuer. Es war zu weit entfernt, um eine unmittelbare Gefahr darzustellen, aber es nahm ihnen die Entscheidung ab, in welche Richtung sie ihre Flucht fortsetzen mußten. Vielleicht war es einfach nur wichtig, in Bewegung zu bleiben. Die Zeit war auf ihrer Seite.
Ohne ein weiteres Wort packte sie Gurk, stieß ihn vor sich her durch die Tür und die Treppe hinauf. Sie wagte nicht vorauszusagen, wie weit sie es bis nach oben schaffen würde. Vermutlich nicht einmal zur Hälfte. Charity wagte es auch nicht, genauer darüber nachzudenken, was da gerade unter ihnen explodiert war.
»Gurk, was sind das für Kerle?« fragte sie noch einmal. »Was wollen sie von uns?«
Gurk hetzte mit beinahe komisch anmutenden Sprüngen neben ihr her. Wäre die Situation auch nur ein bißchen anders gewesen, hätte Charity eine gehörige Schadenfreude empfunden. Gurk war zwar nicht annähernd so kraftlos, wie seine scheinbar schwächliche Konstitution vermuten ließ, aber mit für menschliche Proportionen gebauten Treppen hatte er schon immer gewisse Probleme gehabt.
Doch Charity war im Moment kein bißchen nach Lachen zumute, und Gurk schien das wohl zu spüren, denn er antwortete ausnahmsweise nicht mit einer dummen Bemerkung, sondern keuchte nur kurzatmig: »Später. Ich sage dir alles, was du wissen willst, aber nicht jetzt. Wir brauchen unsere Kräfte vielleicht noch. Mit diesen Burschen ist nicht zu spaßen, glaub mir.«
Wer hatte gesagt, daß sie das bezweifelte? Trotzdem warf Charity instinktiv einen Blick über die Schulter zurück, und obwohl die Treppe unter ihnen leer blieb, beschleunigte sie ihre Schritte noch einmal.
Sie waren auf dem dritten Treppenabsatz angelangt, als auch die Tür, durch die sie das Treppenhaus betreten hatten, von einer Explosion auf die Stufen hinausgeschleudert wurde und drei schwarzgekleidete Riesen durch die rauchende, schwelende Öffnung drängten. Charity fluchte, gab einen ungezielten Schuß in die Tiefe ab und riß Gurk nahezu von den Füßen, als einer der Verfolger eine bizarre, übergroße Waffe hob und zurückschoß.
Charity hörte nichts, und sie sah auch nichts, aber hundert Meter über ihnen explodierte das Dach wie unter einem Faustschlag, und ein Teil des Treppengeländers neben ihnen war plötzlich einfach verschwunden.
Charity verzichtete darauf, noch einmal auf ihre Verfolger zu schießen, warf aber einen neuerlichen Blick in die Tiefe. Zwei der schwarzen Giganten stürmten mit erschreckendem Tempo die Treppe hinauf. Der dritte - derjenige, der auf sie geschossen hatte - schwang sich ohne zu zögern über das Geländer, stürzte drei, vier Meter in die Tiefe und zündete dann einen Rückentornister, der ihn regelrecht in die Höhe katapultierte.
Es ging so schnell, daß Charity nicht einmal mehr die Zeit fand, ihre Waffe zu heben. Der Fremde jagte zu ihnen hinauf, landete mit einem federnden Satz unmittelbar vor Charity und schlug nach ihrem Gesicht.
Charity hatte den Angriff erwartet, duckte sich unter dem Hieb weg und schmetterte dem Fremden die Handkante gegen die Kehle. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn wirklich auszuschalten, aber der Mann nahm den Hieb hin, ohne im geringsten zu reagieren.
Eine Sekunde später explodierte seine Faust mit solch grausamer Wucht in Charitys Leib, daß sie sich krümmte und nach Luft schnappend auf die Knie fiel. Alles drehte sich um sie. Sie kippte weiter nach vorn, fing ihren Sturz mit einer Hand ab und sah wie durch einen dichten Nebel, wie sich der Angreifer an ihr vorbei bewegte und seine übergroße Waffe auf Gurk richtete.
Charity reagierte, ohne nachzudenken. Sie hatte ihre Waffe fallen lassen, als der Fremde sie niederschlug, doch der Laser lag nur wenige Zentimeter neben ihrer rechten Hand. Sie ergriff ihn, ließ sich zur Seite und auf den Rücken fallen und schoß fast ohne zu zielen.
Der grelle Lichtblitz hämmerte in den Rückentornister des Riesen, verwandelte ihn in glühenden Schrott und durchbohrte auch noch die Schulter des Fremden. Einen Menschen hätte der sonnenheiße Strahl auf der Stelle getötet. Der Fremde dagegen taumelte nur, prallte mit der verletzten Schulter gegen die Wand und ließ seine Waffe fallen.
Aber er war keineswegs ausgeschaltet. Noch während sich Charity herumwälzte und auf die Füße zu kommen versuchte, richtete der Riese sich bereits wieder auf.
Das schwarze Material seines Anzugs zog sich um das brandgeschwärzte Einschußloch zusammen und verschloß die Beschädigung wie eine unheimliche, lebende Haut, die mit hunderttausendfacher Geschwindigkeit heilte.
Charity versuchte aufzuspringen und ihre Waffe zu einem zweiten Schuß auszurichten, doch der Fremde war schneller. Sein Fuß kam in einer blitzschnellen Kreisbewegung hoch, stieß zielsicher nach Charitys Hand und prellte ihr die Waffe aus den Fingern. Aus der Bewegung heraus beugte der Angreifer sich vor, riß Charity ohne die geringste Mühe auf die Füße und wirbelte sie herum, vermutlich, um sie gegen die Wand oder über das Treppengeländer zu schleudern.
Er führte die Bewegung nie zu Ende.
Was Charity schon zweimal mit den unheimlichen Fremden erlebt hatte, wiederholte sich: Der Riese erstarrte mitten in der Bewegung, genau in dem Moment, als er ihr ins Gesicht blickte. Charity konnte die Augen des Fremden hinter dem kaum fingerbreiten, verspiegelten Visier nicht erkennen, aber sie spürte regelrecht den Schock, der durch seine Gestalt lief, als er ihr ins Gesicht schaute. Für einen winzigen Moment erstarrte der Riese, schien einfach nicht zu wissen, was er tun sollte.
Charity wartete nicht ab, wie er sich entschied, sondern griff ihrerseits zu, führte die begonnene Kreisbewegung zu Ende und stieß den Fremden mit aller Kraft von sich.
Der schwarze Riese taumelte, kämpfte einen Moment lang mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht und kippte dann haltlos nach hinten. Sein zerstörter Rückentornister gab einen Funkenschauer von sich, vermochte seinen Sturz aber nicht mehr zu bremsen.
Auch Charity war wieder auf Hände und Knie hinabgefallen. Sie sah dem stürzenden Körper nach; aber nur für eine Sekunde oder weniger.
Unmittelbar neben ihr spritzte glühendes Metall auseinander, als ein Laserstrahl nach ihrem Gesicht züngelte, statt dessen aber nur das Treppengeländer traf. Die Burschen da unten hatten entweder schlechte Augen, oder ihr Respekt vor Charity war nicht annähernd so groß wie der ihrer Kameraden.
Charity warf sich mit einem Fluch zurück und tastete nach ihrer Waffe, ohne sie zu finden. Die Pistole mußte offenbar vom Treppenabsatz gefallen sein, nachdem der Fremde sie ihr aus der Hand getreten hatte.
Dafür lag nun sein eigenes, klobiges Gewehr unmittelbar vor Gurks Füßen. Charity kroch auf Händen und Knien zu ihm, nahm die Waffe auf und versuchte, sich über ihre Funktionsweise klar zu werden.
Viel gab es nicht zu begreifen. Die Waffe war überraschend schwer und bestand im Grunde nur aus einem plumpen, an einem Ende offenen Rohr und einem Abzug. Es gab weder ein Visier noch irgendeine sonstige Einstellung. Die Konstruktion erinnerte stark an eine antiquierte Panzerfaust; allerdings schien es keine Möglichkeit zu geben, die Waffe mit irgendeiner Art von Projektil zu laden.
Charity robbte zum Treppenabsatz, stützte beide Ellbogen auf und visierte die zwei schwarzgekleideten Gestalten an, die hintereinander auf sie zugestürmt kamen.
»Paß bloß mit dem Ding auf«, krächzte Gurk. »Es ist verdammt gefährlich!«
»Das will ich doch hoffen«, knurrte Charity, richtete sich ein wenig auf und drückte ab, ohne länger als einen Sekundenbruchteil zu zögern. Alles, was sie hörte, war ein dumpfes, sonderbar weiches Knacken, dem ein spürbarer Ruck des plumpen Rohres auf ihrer Schulter folgte.
Aber die Wirkung war spektakulär.
Die beiden Gestalten wurden von einer unsichtbaren Gewalt ergriffen und mit unvorstellbarer Wucht die Treppe hinuntergeschleudert. Das Treppengeländer zerbarst bis zur nächsten Biegung hinab, und ein Teil der Stufen löste sich in grauen Staub auf, als wäre eine gigantische, unsichtbare Raspel darüber hinweggefahren. Die Wand, auf welche die beiden Fremden zugeschleudert wurden, zerbarst zu einem Gewirr aus Millionen Sprüngen und übereinanderlaufenden Rissen, als hätte ein Vorschlaghammer von der Größe eines Kleinwagens sie getroffen. Die beiden schwarzgekleideten Gestalten prallten gegen den Beton und rutschten mit Bewegungen daran hinab, die Charity erkennen ließen, daß in ihren Körpern kein einziger Knochen heil geblieben sein konnte.
Trotzdem blieb Charity noch einige Sekunden regungslos liegen und visierte die Fremden mit der erbeuteten Waffe an, ehe sie es wagte, das plumpe Rohr von der Schulter gleiten zu lassen und sich behutsam aufzurichten. Bevor sie die Treppe hinunterstieg, bückte sie sich noch einmal und drehte die »Panzerfaust« so herum, daß ihre Mündung nicht mehr in ihre Richtung wies.
Sie bewegte sich sehr langsam und vorsichtig. Die Treppe bestand aus massivem Stahlbeton, wie das gesamte Gebäude, doch Charity hatte die furchtbare Wirkung der unbekannten Waffe oft genug erlebt, um kein allzu großes Vertrauen mehr in die Festigkeit der Treppe zu haben. Die meterdicke Wand, gegen die die unsichtbare Kraft geprallt war, wies fingerbreite Risse auf, durch die Charity ins Freie hinausschauen konnte.
Schließlich erreichte sie den Treppenabsatz und ließ sich neben den beiden regungslosen Gestalten in die Hocke sinken.
Gurk war Charity gefolgt, blieb aber ein paar Stufen über ihr stehen, als flößten die beiden Gestalten ihm selbst im Tod noch einen höllischen Respekt ein.
Charity musterte die beiden Fremden sekundenlang, ehe sie es wagte, die Hand nach ihnen auszustrecken. Die Anzüge der beiden Riesen schienen aus einem gummiartigen, glatten Material ohne sichtbare Oberflächenstruktur zu bestehen. Es gab keine Taschen, Knöpfe oder Anschlüsse, sondern nur einen handbreiten, offensichtlich magnetischen Gürtel, an dem die Waffen der Männer hingen. Der Helm war ebenso schmucklos. Die einzige Unterbrechung der glatten schwarzen Oberfläche stellten das versilberte Visier und zwei kleine, kaum sichtbare Knöpfe an seinem unteren Rand dar.
»Ich würde mir das überlegen«, sagte Gurk. »Es sei denn...«
»Es sei denn was?« fragte Charity.
Ihre Finger verharrten wenige Millimeter über den beiden Knöpfen.
Gurk zuckte mit den Achseln. »Du mußt sie beide gleichzeitig drücken«, sagte er. »Zweimal hintereinander. Ich hoffe, du hast nicht allzu reichlich gefrühstückt.«
Charity sah den Zwerg stirnrunzelnd an, begriff dann aber, daß sie keine weiteren Erklärungen bekommen würde, und tat, was Gurk ihr gesagt hatte: Sie drückte zweimal rasch hintereinander auf die beiden winzigen Erhebungen. Ein helles Zischen erklang, als herrschte im Inneren des Anzugs ein anderer Luftdruck als draußen, dann verwandelte sich der scheinbar massive Helm in eine dünne Folie, die sich nach hinten zusammenfaltete.
Als Charity ins Innere des Anzuges blickte, begriff sie schlagartig, wie Gurks letzte Bemerkung gemeint war.
Aber da war es zu spät.
Nachdem Charitys Magen sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, trat Gurk mit kleinen, trippelnden Schritten näher und grinste sie so voller unverhohlener Schadenfreude an, daß sie ihm am liebsten die Zähne eingeschlagen hätte, wäre sie nicht viel zu schwach dazu gewesen. »Ich habe dich gewarnt«, sagte er.
Charity starrte ihn böse an, ersparte sich aber jede Antwort, sondern drehte sich herum und zwang sich mit aller Macht, noch einmal in den offenstehenden Kampfanzug des Fremden zu sehen.
Ihr Magen begann sofort wieder zu revoltieren. Sie hatte Schlimmes erwartet, so wie die beiden Fremden zusammengesackt waren, doch in dem Anzug befand sich nichts mehr, was einem menschlichen Körper auch nur annähernd ähnelte.
Genaugenommen war es überhaupt kein Körper, sondern ein rotbrauner, brodelnder Brei, als hätte sich der Träger des Anzugs regelrecht verflüssigt.
Schaudernd trat Charity einen halben Schritt zurück und betrachtete die erbeutete Waffe der Fremden, die sie noch immer in der Hand hielt.
»Großer Gott«, murmelte sie. »Was, um alles in der Welt, ist das?«
Gurk schüttelte den Kopf.
»Dein Gott hat damit relativ wenig zu tun«, sagte er. »Und diese Waffe übrigens auch nicht - auch wenn jemand, der davon getroffen wird, wahrscheinlich auch keinen besonders angenehmen Anblick bietet. Aber das da hat nichts damit zu tun.«
»Wie... meinst du das?« fragte Charity stockend.
Sie mußte immer schlucken, um die bittere Galle loszuwerden, die sich unter ihrer Zunge sammelte. Es war nicht nur der schreckliche Anblick: Aus dem offenstehenden Helmausschnitt des Anzugs drang ein übelkeitserregender Geruch, der immer schlimmer wurde und ihr schier den Magen umdrehte. Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, wich sie zwei, drei Schritte die Treppe hinauf von den beiden Toten zurück. Gurk folgte ihr.
»Es sind die Anzüge«, sagte er.
»Die Anzüge?«
»Ein eingebauter Selbstzerstörungsmechanismus«, erklärte Gurk. »Diese Herrschaften schätzen es nicht besonders, in Gefangenschaft zu geraten. Sobald jemand den Anzug öffnet, der nicht dazu berechtigt ist...«
Es dauerte einen Moment, bis Charity wirklich begriff, was Gurks Worte bedeuteten. Und noch länger, bis sie es glaubte.
»Moment mal«, sagte sie. »Du meinst, das da... passiert, sobald man die Anzüge öffnet?«
»Keine Gefangenen«, antwortete Gurk. Er grinste jetzt nicht mehr, sondern sah Charity auf eine Art und Weise an, die sie schaudern ließ. »Das funktioniert auch anders herum, weißt du?« Gurk schüttelte den Kopf, dann zwang er sich zu einem - allerdings nicht sehr überzeugenden - neuerlichen Grinsen und fuhr fort: »Und jetzt sollten wir deine Freunde warnen, meinst du nicht auch? Am besten, bevor sie den gleichen Fehler begehen wie du und sich gegenseitig auf die Schuhe kotzen.«