Zweites Buch

I




Das Geborgene Land, Gauragar,

6234. Sonnenzyklus, Spätfrühling


»Wirst du die Entscheidung nicht bereuen, Tungdil?« Myr lief neben ihm her und stellte die Frage, ohne ihn anzusehen. Sie hielt einen kleinen Tiegel mit bläulicher Salbe in der Hand und schmierte sich das empfindliche Gesicht ein, um es vor der Sonne zu schützen.

Tungdil kam es so vor, als schämte sie sich, dass er sie in die Welt ihrer Gemeinschaft begleitete, als wäre es ihr unangenehm, als bedrückte sie der Umstand, dass er das Fünfte Zwergenreich verlassen hatte... als machte sie sich deswegen Vorwürfe.

»Nein, ich werde sie sicher nicht bereuen«, antwortete er nach einer Weile, einen Fuß vor den anderen setzend und die Augen auf den Horizont geheftet, wo die Sonne versank und das Geborgene Land in dunkles Rot tauchte. »Du denkst nicht etwa, dass ich sie deinetwegen verlassen habe?«

»Meinst du mit ›sie‹ nun Balyndis oder deine Leute?«

Tungdil musste selbst nachdenken. »Balyndis und ihren Gemahl«, erwiderte er mit fester Stimme. »Nein, ich habe sie nicht deinetwegen verlassen. Ich gestehe, dass ich dich anziehend finde, weil du so völlig anders bist als die Zwerginnen, die ich bislang kennen lernen durfte. Weil du meiner gelehrten Seele neues Leben gegeben hast.« Er wandte sich ihr zu, und ihr Blick begegnete dem seinen; Hoffnung stand in den roten Augen. »Lass mir Zeit, Myr. Mein Herz und mein Verstand sind noch zu verwirrt, als dass ich mir über meine Gefühle im Klaren wäre.« Er lächelte schief. »Der Abstand zu Balyndis wird mir gut tun und mir zeigen, was ich will. Das ist der Grund, weshalb ich gegangen bin. Und die Neugier auf das, was ich bei deinen Leuten zu sehen bekomme.«

Sie nickte, drehte den Kopf und suchte den Weiher, dem sie sich seit Sonnenumläufen näherten. »Ich verstehe, Tungdil. Und ich kann nach wie vor warten.«

Schallendes Gelächter riss Tungdil aus seinen trüben Gedanken. Er blickte hinter sich und sah, dass Boëndal stehen geblieben war, den Oberkörper vorgebeugt und die Arme auf die Oberschenkel gestützt, damit er nicht nach vorn kippte. Er wollte sich nicht mehr beruhigen, die Tränen rannen ihm aus den Augenwinkeln. »Diesen Jux möchte ich auch hören«, grinste er. »Was hast du deinem Bruder erzählt? Etwa wie der Ork den Zwerg nach dem Weg fragt?«

Ingrimmsch hob die Achseln. »Nein, bei Vraccas! Da sagt man die Wahrheit und wird verlacht«, sagte er halb verblüfft, halb beleidigt. »Ich habe ihm lediglich erzählt, dass wir in den Tümpel springen müssen, um...«

Ein neuer, dröhnender Lachanfall unterbrach ihn und machte jede Unterhaltung unmöglich. Boëndal sank von der Heiterkeit bezwungen auf die Knie. »Da, schaut, was er mit mir gemacht hat«, japste er nach Luft. »Eben noch bin ich dem Eistod entronnen, und jetzt sorgt er mit seiner Geschichte dafür, dass ich fast ersticke.« Kichernd stemmte er sich in die Höhe und klopfte den Staub von den Hosenbeinen. »In einen Weiher springen«, gluckste er. »So weit kommt es noch, dass ich freiwillig einen Fuß in tiefes Wasser setze, damit mich Elria ersäufen kann.« Als er sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte und die ernsten Gesichter seiner Begleiter sah, dämmerte ihm, dass es der Wahrheit entsprach. »Was denn? Kein Streich? Wir sollen auf den Grund...?« Er konnte es nicht einmal aussprechen, so entsetzlich fand er die Vorstellung.

Boïndil schlug ihm auf die Schulter. »Es geht recht schnell, Tungdil und ich haben es schon einmal mitgemacht. Du kannst unterwegs Fische betrachten.«

Boëndal sah Myr skeptisch an. »Du wirst mir nicht erzählen wollen, dass es allein diesen Eingang gibt, oder? Ich nehme nicht an, dass die Soldaten, die uns dein König geschickt hat, wie die Frösche vom Steg in den Weiher hopsen, um zurückzukehren?«

Sie grinste und zeigte ihre weißen Zähne, während sie den Tiegel verstaute und auf den Wald zuging, durch den sie zum Weiher gelangten. »Nein, es gibt andere Eingänge. Durch einen haben Tungdil und dein Bruder unser Reich mit verbundenen Augen verlassen. Aber da mir Gemmil es nicht erlaubte, euch diese zu zeigen, werdet ihr zusammen mit mir ein Bad nehmen. So schlimm ist es nun auch wieder nicht, oder?«

»Da hat sie Recht«, grummelte Ingrimmsch. »Es ist nicht schlimm. Es ist scheußlich und übel obendrein. Ich hatte das brackige Wasser noch ewig im Ohr und hörte Elrias Lachen.«

»Aber es beweist, dass unser Volk nicht in allem ertrinkt, nur weil es tief ist«, versuchte Tungdil eine gute Seite des unvermeidlichen Tauchgangs aufzuzeigen.

Boëndal hatte den letzten Rest Fröhlichkeit verloren, auf seiner Stirn zeigten sich unzählige Sorgenfalten, die nicht verschwinden wollten.

Im Wald, der einmal zum Elbenreich Lesinteïl gehört hatte, wollte sich seine Stimmung schon gar nicht mehr bessern, und als sie aufmerksam und kampfbereit durch die Grasebene liefen und die verblichenen Reste der getöteten Zwerge entdeckten, befand sich seine Laune im freien Fall hinunter zum Boden eines endlosen Schachtes.

Sie sammelten die verstümmelten Leichname ein und betteten sie unter einen Steinhügel, damit wenigstens die Überbleibsel Frieden fanden, die Seelen in Vraccasʹ Ewiger Schmiede ihre Ruhe bekämen und sich an den lodernden Essen erfreuen durften.

Bei Einbruch der Nacht gingen sie zu dem Steg. Jeder von ihnen hielt ein kopfgroßes Bruchstück der zerstörten Granitsäulen des Heiligtums in den Händen; die Zwergin hatte es ihnen empfohlen, damit sie schneller auf den Grund sanken und im Reich der Ausgestoßenen ankamen. Schließlich gelangten sie an das Ende des Stegs.

»Ich mache den Anfang«, sagte Myr, lächelte dem argwöhnisch blickenden Boëndal zu und hüpfte in die schwarzen Fluten.

»Weg ist sie«, murmelte er besorgt. »Und ihr seid sicher, dass wir auch...«

»Du hast dich gegen Nôdʹonn und seine Bestien gestellt, Bruder, und nun zögerst du vor einem Sprung?« Boïndil tat so, als wäre es das Leichteste der Welt.

»Darf ich dich daran erinnern, dass du nur gesprungen bist, weil dich ein Stier hineingeschleudert hat?«, meinte Tungdil.

Ingrimmsch winkte ab. »Den brauche ich nicht mehr.« Etwas angewidert trat er an den Rand des Stegs. »Verfluchtes Wasser. Es ist kalt und dunkel«, beschwerte er sich und machte einen Satz. Es plumpste gehörig, und er versank.

»Dann bleibt mir keine andere Wahl«, ergab sich Boëndal in sein Schicksal. Er schöpfte tief Luft, schloss die Augen und hielt sich mit der freien Hand die Nase zu, als er sprang.

Tungdil bildete den Schluss. Die Wellen schlugen über ihm zusammen. Es war unmöglich, etwas zu erkennen. Lediglich am Druck auf den Ohren spürte er, dass ihn das Gewicht seiner Waffen, der Panzerung und des Steins nach unten zog.

Tungdil hörte das Rauschen des Wasserfalls, der sich in das Becken ergoss, stürzte mit der Kaskade zusammen hinab und tauchte ein zweites Mal unter, ehe ihn eine sanfte Strömung nach oben drückte und an das flache Ufer spülte.

Hustend und prustend stand er auf. Die Zwillinge waren bei ihm, gaben die gleichen Geräusche von sich und spuckten Wasser aus. Myr band sich den Gürtel fester um die Hüfte, der sich beim Tauchen gelockert hatte.

»Das war das erste und das letzte Mal, dass ich diesen Weg nahm«, polterte Boëndal und schüttelte sich, dass die Tropfen flogen. Wie bei den anderen auch, rann das Wasser fadendick aus seinen Kleidern und plätscherte zu Boden. »Es wird dauern, bis alles getrocknet ist.« Wütend fuhr er sich über das Kettenhemd. »Ich hoffe, ihr habt gutes Öl«, knurrte er.

Myr fuhr sich durch die nassen Haare und lachte. »Wir finden schon die passenden Kleider für euch«, beruhigte sie den Zwerg, ging auf die massive, eisenbeschlagene Eichentür zu und pochte dagegen. »Und Öl.«

Ein Guckloch öffnete sich, ein rotes Augenpaar musterte sie und den Besuch, und das Guckloch schloss sich wieder. Kurz darauf hörten sie, wie zahlreiche Bolzen entfernt wurden. Der Eingang zum Reich der Freien tat sich für sie auf.

Gemmil erwartete sie in dem Raum dahinter und begrüßte jeden einzelnen von ihnen mit Handschlag, auch wenn ihm die Zwillinge mit Zurückhaltung begegneten. »Meine Hilfe kam rechtzeitig?«, wollte er wissen, und die Chirurga berichtete ihm knapp von der Schlacht am Grauen Gebirge sowie dem Portal am Steinernen Torweg, das seinen Dienst wie vor tausenden von Sonnenzyklen verrichtete.

»Der Sieg freut mich, die Toten machen mein Herz weinen«, sagte Gemmil. »Wir werden auf beide anstoßen.« Er deutete auf die bereitliegenden Tücher. »Legt sie um euch, damit ihr euch nicht erkältet.«

»Trockene Kleidung wäre mir lieber«, verlangte Ingrimmsch.

»Ihr werdet sie bald bekommen. Sie wartet in eurem neuen Heim«, verriet er ihnen und durchquerte den Raum, um zu einer weiteren Tür zu gelangen. Dahinter stand eine fahrbereite Lore. Sie stiegen ein, und das Gefährt trug sie ratternd und holpernd weiter nach unten. Endlich hielt sie an. Als sie ausgestiegen waren, führte sie der König durch die gewaltige Ankunftshalle zu einem zweiflügeligen Tor.

»Kommt. Ihr sollt sehen, worüber ich herrsche.« Er berührte die eingelassenen Runen mit seinem Ring. Die Zeichen leuchteten auf, die Türen schwangen langsam zur Seite, und gedämpftes Licht fiel herein. »Geht vor und seid willkommen bei den Freien.«

Tungdil und die Zwillinge überquerten die Schwelle und gelangten auf ein vorgelagertes Plateau, von dem eine breite Treppe hinabführte. »Bei Vraccas«, hörte er Boëndal hinter sich überwältigt sagen, und auch ihm klappte der Unterkiefer vor Staunen herunter.

Zu ihren Füßen breitete sich eine richtige Stadt mit unterschiedlich großen Häusern, symmetrisch angelegten Straßen, Gassen und Plätzen aus. Tungdil schätzte ihre Ausmaße auf etwa zwei Meilen in der Breite und Länge; der Abstand zur Decke betrug vom Plateau aus gut und gern anderthalb Meilen.

Zwei Wasserfälle ergossen sich am Rand der Stadt aus vierhundert Schritt Höhe in ein Bassin, von dem aus Kanäle gezogen worden waren. Sie führten teils zu angelegten Gärten, teils verschwanden sie im Felsgestein.

Die Bewohner sahen von oben winzig aus, nicht größer als Felsenkäfer. Tungdil vernahm ihre Unterhaltungen als leises Gemurmel, dazu das Klingen von Hämmern auf Ambossen und andere Geräusche, die er aus den Städten der Menschen kannte.

Die zumeist quadratischen Bauten schmiegten sich an eine sanft ansteigende Felswand auf der anderen Seite der Höhle, auf deren Spitze sich eine kleine, aber aufwändig gestaltete Festung erhob. Beleuchtet wurde die Stadt von schimmerndem Moos, das an den Wänden wuchs und sanftes, bräunliches Licht spendete. An bestimmten Punkten erhoben sich Masten, an deren oberen Enden gewaltige Feuerkörbe befestigt waren und in denen helle Flammen loderten; polierte Metallscheiben streuten die Helligkeit.

»Das ist großartig«, gestand Tungdil gegenüber Gemmil, der sich neben ihn gesellt hatte. »Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass ihr so viele seid.«

Der König deutete auf die Stadt. »Das ist Goldhort, eine der fünf Städte...«

»Fünf?«, entschlüpfte es Ingrimmsch.

»... in denen wir leben«, setzte Gemmil seinen Satz fort, und der Stolz darüber stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Hier sind es fünftausend Seelen, die Vraccas mit seinem Segen bedenkt und die in Freiheit leben, ohne Zwang von Seiten der Clans oder Familien, einzig dem Willen des Göttlichen Schmieds folgend.«

Boïndil blies die Backen auf, um etwas zu erwidern, doch Tungdil gab ihm zu verstehen, dass er jetzt nichts sagen sollte.

»Wo sind wir untergebracht?«

Gemmil zeigte auf ein Haus inmitten von Goldhort. »Da werdet ihr wohnen, es gehört Myr. Ihr seid dort, wo das Leben ist und wo ihr einen Eindruck von unserer Gemeinschaft bekommt. Mein Sitz ist in der Festung. Ich besuche euch morgen, wenn es euch recht ist, und zeige euch die Stadt.« Er nickte Myr zu und schlug den Weg zur Burg ein.

»Dann kommt mit«, lud sie die Zwerge ein und schritt die Stufen hinab. »Ihr seid herzlich in meinem Haus willkommen.«

Tungdil, Boëndal und sein Bruder folgten der Chirurga.

Schritt für Schritt wurde die Stadt größer, und was von oben so übersichtlich ausgesehen hatte, wurde bald verworren und zu einem Labyrinth, dem doch eine gewisse Ordnung zu Grunde lag. Tungdil bemerkte den frischen Wind, der den Qualm der Schmieden und Werkstätten davonwehte und dafür sorgte, dass den Bewohnern genügend Luft zum Atmen blieb.

Bald gingen sie durch die Gassen und Straßen Goldhorts, vorbei an den Auslagen der Händler, die Essen, Werkzeuge, Schmuck und viele andere Dinge feilboten, und an zwei Tavernen, aus denen Gesänge schallten. Sie passierten eine zehn Schritt hohe Vraccas-Statue aus Eisen, die mit Edelsteinen und Diamanten besetzt war; vereinzelt leuchteten Gold- und Vraccasium-Intarsien auf.

Niemand behelligte sie, gelegentlich wurde Myr gegrüßt.

»Habt ihr gesehen?«, wisperte Ingrimmsch. »Einige von ihnen tragen ihre Bärte seltsam. Ich glaube, ich habe einen bartlosen alten Zwerg gesehen. Und ich habe Duftwasser gerochen, sie parfümieren sich.« Er rümpfte die Nase. »Bei unseren Ahnen, fehlt nur noch, dass sie Elbisch sprechen und spitze Ohren bekommen.«

»Die wenigsten von ihnen tragen Kettenhemden oder Waffen«, setzte Boëndal leise nach. »Wo sind wir nur hingeraten?«

»Wozu auch?«, hakte ihre Führerin ein und hielt vor der Tür zu ihrem Haus an. »Wir sind sicher, bei uns gibt es keine Orks oder anderen Kreaturen, die es ständig mit uns aufnehmen wollen, und von daher keinen Grund, sich mit schweren Äxten und Eisenhemden zu belasten.«

»Belasten?«, begehrte Boïndil auf. »Hast du eben belasten gesagt? Es ist keine Belastung, es ist unsere Art. Kettenhemd und Waffe gehören bei uns dazu wie Stiefel und Lederwams!«

»Bei den Clanzwergen ja, bei den Freien nicht unbedingt.« Zum ersten Mal klang sie betroffen; das schroffe und unvergleichlich derbe Wesen Ingrimmschs war schwerlich zu überspielen und verletzte beinahe ebenso wie die Klingen seiner Beile.

Sie sperrte die Tür auf und trat ein. »Kommt herein und geht gleich die Treppe hinauf. Ich will nicht, dass ihr meine Teppiche nass macht.« Sie zeigte ihnen ihr Missfallen und verschwand in einem Nebenzimmer.

»Teppiche«, murmelte Ingrimmsch fassungslos. »Was kommt als Nächstes? Blumenwasser zum Händewaschen?«

»Sei friedlich. Wir sind zu Gast.« Tungdil setzte sich an die Spitze und erklomm die Steinstufen nach oben, wo sie eine geräumige Unterkunft erwartete. Wie versprochen fanden sie genügend Wäsche in ihrer Größe.

Nacheinander zogen sie sich um.

Tungdil war als Erster fertig, sah sich um und entdeckte eine weitere, schmale Stiege, die noch ein Stockwerk höher führte. Als er sie erklomm, gelangte er an eine Luke und stand kurz darauf auf dem Flachdach von Myrs Haus.

Die Geräusche der Stadt klangen deutlich an sein Ohr, er hörte sogar einzelne Gesprächsfetzen. Mal ging es um Banales, wie den Preis von Gemüse, mal sprachen die Zwerge über Neuankömmlinge und die Entwicklung des Geborgenen Landes im Allgemeinen.

Offenbar, das hörte Tungdil zumindest heraus, konnten sich einige der Freien nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, wieder in engere Verbindung mit den Zwergen der Stämme zu treten, denen sie entflohen waren.

So gibt es auch hier Vorbehalte, dachte er irgendwie erleichtert und trat näher an den Rand des Dachs, um die Passanten zu betrachten.

Er entdeckte vollständig gebleichte Zwerge und solche wie er selbst, die noch nicht lange zur Gemeinschaft der Ausgestoßenen gehörten. Sie begegneten sich auf der Straße achtungsvoll, grüßten einander und gingen ihrer Wege.

Schließlich entdeckte er den achteckigen Vraccas-Tempel, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Statue erbaut worden war. Aus den fünf Schloten stieg weißer Qualm, und der Geruch von Kräutern und glühendem Eisen hing in der Luft, ehe der Wind ihn mit sich fort trug; offenbar vollführten die Priester eine Zeremonie zu Ehren des Göttlichen Schmieds.

Der helle Rauch erinnerte ihn an den unheimlichen Nebel, durch den er in den Ausläufern des Jenseitigen Landes gelaufen war, und an die Rune in der Felswand. Ob die Untergründigen auch zu Vraccas beten?

»Wenn du bleibst, wirst du das Nachtgebet zu hören bekommen«, sagte Myr unvermittelt hinter ihm.

Er zuckte erschrocken zusammen und wäre um ein Haar über die Kante gerutscht, aber sie erwischte ihn am Hemd und zog ihn zurück. Da er sein ganzes Gewicht nach hinten verlagert hatte, prallte er hart gegen sie und beeilte sich, sie aufzufangen, weil nun sie in Gefahr geriet, umgestoßen zu werden.

So lange, wie ein Tropfen Bier braucht, um aus dem Bart eines Zwerges zu Boden zu fallen, standen sie dicht an dicht. Tungdil spürte ihre Wärme und die weichen Brüste durch ihr Hemd. In diesem Augenblick schätzte er sich glücklich, kein Kettenhemd zu tragen.

Sich räuspernd ließ er sie los. »Das Nachtgebet?«, versuchte er abzulenken und wandte sich zu dem Tempel um, dessen Türen sich soeben öffneten.

Fünf Dutzend Zwerge in der Tracht der Schmiede kamen heraus und stellten sich auf die Stufen; offenbar wusste jeder von ihnen ganz genau, wohin er gehörte. Der Letzte trat an einen Amboss aus reinem Vraccasium, einen Vorschlaghammer aus Stahl haltend.

»Es ist der rituelle Dank für einen weiteren Tag, den uns Vraccas gewährt hat«, erläuterte sie. »Ich habe den Zwillingen Bescheid gesagt, sie werden es sich mit uns ansehen.«

Ingrimmsch zwängte sich durch die Öffnung; auch er musste ohne sein geliebtes Eisenkleid auskommen, lediglich die Beile steckten in seinem Gürtel. »Da seid ihr ja. Die besten Plätze sind wohl schon weg?« Er kniff die Augen zusammen. »Was wird denn das?«, fragte er mit Blick auf die Priester. Myr erklärte es ihm kurz. »Aha«, meinte er daraufhin. »Nun, bei uns betet jeder für sich allein. Nur zu besonderen Gelegenheiten kommen wir zusammen.«

»Es sieht recht ordentlich aus, was sich da vor uns tut«, bescheinigte sein Bruder, der soeben auf das Dach stieg. »Was kommt nun?«

Ein lautes Horn blies einen dunklen, melodischen Ton durch die Gassen und Straßen und rief die Zwerge auf den Platz, auf dem sich die Statue befand.

Immer mehr drängten sich dazu, sodass es bald den Anschein hatte, als bestünde der ganze Platz aus Köpfen mit den unterschiedlichsten Haarfarben. Auch auf den Dächern, die gleichermaßen flach gebaut waren wie Myrs Haus, regte sich etwas. Wo auch immer sich gerade die Gelegenheit bot, kamen die Bewohner Goldhorts zum Vorschein und wandten den Blick auf den Tempel und die Statue. Auch Myr widmete ihre Aufmerksamkeit dem kommenden Gebet.

Der Priester am Amboss wuchtete den Vorschlaghammer in die Höhe und hielt ihn ausgestreckt über dem Kopf, ohne dass seine Arme zitterten. »Vraccas, höre unsere Stimmen und unser Lob an dich«, rief er getragen und ließ den Hammerkopf nach unten sausen.

Ein helles, metallisches Klirren ertönte, gleißende Funken sprühten mehrere Schritt weit davon, einen feurigen Schweif hinter sich herziehend, und trafen die Kohlebecken an den Treppen, aus denen weiße Lohen emporschossen.

Der Priester in der Mitte der Gruppe öffnete die Lippen und hob an zu singen. Kräftig und voll drangen die Töne aus seinem Mund. Nach der ersten Strophe fiel ein zweiter Priester mit ein, nach der zweiten ein dritter und immer so fort, bis die Hälfte der Zwerge sang.

Ein weiterer Hammerschlag folgte, und diejenigen, die eben noch geschwiegen hatten, erhoben die Stimmen und machten aus dem anfangs einfachen Lied eines einzelnen Sängers ein ergreifendes, vielstimmiges Chorwerk, wie es Tungdil noch nie gehört hatte. Er fühlte, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten.

Das gesungene Gebet an Vraccas rührte die Seele eines jeden Zwergs. Auch Boïndil und Boëndal rangen mit der Fassung, die Ergriffenheit hielt ihre Kehlen umklammert, und als die Zwerge um sie herum sowie auf dem Platz das Knie beugten, taten sie es ihnen ohne zu zögern nach, um Vraccas auf diese neue Weise zu huldigen.

Gefesselt von der Stimmung und gefangen von den Tönen, konnte Tungdil nur mehr staunen und schlucken. Sein Wunsch, dass der Chor niemals mehr verstummen möge, ging nicht in Erfüllung.

Eine letzte Zeile, und die Sänger schwiegen; das Lied rollte durch die Höhle, kehrte als leises Echo noch einmal zu den Zwergen zurück und verklang. Der Priester schlug ein drittes Mal auf den Amboss, der Chor zog sich geordnet in den Tempel zurück, und die Bewohner erhoben sich. Der Zauber verfiel.

»Das nenne ich ein Nachtgebet«, raunte Boïndil und beobachtete, wie sich das Portal des Heiligtums schloss. »Wie wird dann erst das Morgengebet?« Deutlich schwang in seiner Frage die Hoffnung mit, so etwas Schönes bald noch einmal erleben zu dürfen.

Myr lächelte ihn an. »Wir haben nur das Abendgebet. Morgens wirst du mit deinen eigenen Worten zu Vraccas sprechen müssen.« Sie deutete nach unten. »Ich habe uns etwas zu essen gemacht, und danach lege zumindest ich mich hin, um mich auszuruhen. Ich empfehle euch das Gleiche, denn Gemmil wird euch morgen durch die kleinsten Winkel von Goldhort schleifen. Er ist sehr stolz auf unsere Stadt.«

Kurz darauf saßen sie am hellbraunen Steintisch und ließen sich schmecken, was die Chirurga für sie zubereitet hatte. Einige der Gerichte kannte Tungdil nicht, auch die Zwillinge blickten misstrauisch auf die eine oder andere Schüssel.

»Moosgemüse, Knollenwurzsalat, ein Braten aus hellem Fleisch mit dunkler Biersoße. Es sind Spezialitäten aus verschiedenen Zwergenreichen«, erklärte sie und nahm ihnen die Zurückhaltung nicht übel. »Wir haben sie verfeinert und Neues daraus gemacht.« Mit diesen Worten lud sie ihnen die Teller voll. Der Hunger überwand schon bald die Vorsicht, und die Zwerge ließen es sich schmecken.

»Das Fleisch«, kaute Ingrimmsch begeistert und hielt ihr den Teller hin, »schmeckt gut. Ziege ist das nicht?«

»Es ist Gugul. Sie sind schwer in Gattern zu halten, also müssen wir sie von Zeit zu Zeit in den Stollen jagen, in denen sie frei umherlaufen.« Sie sah, dass er nichts mit dem Namen anfangen konnte. »Es ist eine Käfersorte. Sie werden so lang wie ein Zwerg groß ist und sind verflucht schnell. Aber sie schmecken hervorragend.« Sie zeigte auf den Käse, von dem er sich genommen hatte. »Den machen wir aus ihren Drüsen. An der frischen Luft stockt er sofort, man muss ihn nur noch in Salzlake legen und durchziehen lassen.« Sie reichte ihm den Teller gefüllt zurück.

Boïndil hielt das Besteck umfasst und schaute wortlos auf das, was er eben noch in den höchsten Tönen gepriesen hatte.

»Ho, scheut mein Bruder die Leckerei plötzlich?«, zog ihn Boëndal auf und aß mit Genuss weiter. »Es hat sie nicht umgebracht, also wird es dich auch nicht klein kriegen.« Er nahm den Humpen mit Bier und leerte ihn; sein Rülpsen fiel etwas leiser aus als sonst. Er benahm sich, weil Myr mit am Tisch saß.

»Schmeckt es dir?«, fragte sie ihn neugierig.

»Vorzüglich«, lobte Boëndal und goss sich nach. »Es hat einen besonderen Beigeschmack, malzig und würzig.«

»Das Bier veredeln wir mit...«

Der Zwilling, der den Humpen gerade an die Lippen setzte, hob abwehrend die Hand. »Nein, sag es nicht, Myr. Ich möchte nicht wissen, ob der Saft einer Raupe, einer Made oder etwas anderes hineingepresst wurde, dazu schmeckt es zu gut.« Er trank, und sie schwieg tatsächlich. Grinsend.

Der Nachtisch bestand aus einer weißen, cremigen Substanz, die einen honigähnlichen Geschmack besaß. Tungdil entdeckte auf seinem Teller den Rest einer zähen Hülle, mit der Maden ihr weiches Inneres schützen, sagte jedoch nichts, sondern löffelte die süße Masse weiter.

Ingrimmsch nahm sich natürlich eine zweite Portion, bewies aber so viel Schläue, nicht mehr zu fragen, was ihm da so mundete. Müde, mit vollen Bäuchen und vom Alkohol benebelt, wankten die drei schließlich die Treppe hinauf und warfen sich in die Betten.

»Ich habe es nicht bereut, dich begleitet zu haben«, ächzte Boïndil und löste den Gürtel; ein tiefes Rülpsen verschaffte ihm Platz im Magen. »Aber ich fürchte, ich werde bald nicht mehr in mein Kettenhemd passen. Myr kocht zu gut.«

Die anderen beiden lachten. »Danke, dass ihr beiden mich nicht allein habt gehen lassen«, sagte Tungdil ernst.

»Wir haben so viel zusammen erlebt! Denkst du, wir würden unseren Gelehrten im Stich lassen?«, meinte Ingrimmsch erstaunt.

»Und schon gar nicht, wenn er sich an einen Ort begibt, an dem sich der Abschaum der Zwerge aufhält. Du kannst deine Augen nicht überall haben.«

»Der Abschaum«, murmelte Tungdil nachdenklich. »Noch habe ich nichts gesehen und erfahren, was mich die Zwerge Goldhorts weniger achten lässt als unsere.«

Boëndal streckte sich aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Du darfst nicht vergessen, dass sie entweder mit gutem Grund ausgestoßen wurden oder ihre Familie denen entspringt, die einmal Unrecht an unserem Volk taten.« Er blickte zu Tungdil. »Das gilt auch für Myr.«

»Die dein Leben gerettet hat«, machte Tungdil ihn gereizt darauf aufmerksam.

Boëndal nickte. »Das habe ich nicht vergessen, und mein Bruder hat einen Eid geleistet, sie zu schützen. Das ändert aber nichts an ihrer Herkunft.«

»Wir haben uns geschworen, zu einer neuen Gemeinschaft im Geborgenen Land zu finden«, erinnerte Tungdil sie an den Eid, den sie auf dem Schwarzjoch nach der Schlacht geleistet hatten. »Zu dieser Gemeinschaft gehören die Freien mit dazu. Sie haben fünf Städte, und die anderen vier werden keinesfalls kleiner sein als Goldhort. Wir brauchen sie, allein schon, um die Sicherheit im Grauen Gebirge zu gewährleisten.« Er hielt dem Blick Boëndals mit zwergischer Entschlossenheit stand. »Wir sind hier, meine Freunde, um mehr über sie und ihre Kultur zu erfahren und zu sehen, ob die Unterschiede zu groß sind.« Kühle sprach aus seinem Blick, als er fortfuhr. »Um ehrlich zu sein, kann ich im Augenblick nur unsere Voreingenommenheit ihnen gegenüber erkennen, die uns voneinander trennt.«

Der Zwilling drehte den Kopf zur Decke. »Wir werden sehen, was Vraccas uns in den kommenden Umläufen noch erkennen lässt«, sagte er ausweichend und schloss die Augen.

Es wird ein hartes Stück Arbeit. Das Biegen von Stahl ist dagegen einfach. Tungdil seufzte, seine Mundwinkel wanderten nach unten. Einerseits freute er sich, nicht ganz allein unter den Freien zu sein, andererseits wünschte er sich etwas mehr Aufgeschlossenheit von seinen Begleitern. Sogar Boëndal, der gemäßigtere der Zwillinge, würde sich nur schwer von einer engeren Zusammenarbeit mit den Geisterzwergen überzeugen lassen. Schon wieder eine Prüfung für mich, Vraccas?, dachte er müde.

»Was unternehmen wir wegen der Feuerklinge?«, fragte Ingrimmsch in das Schweigen hinein. »Soll sie in der Hand der schwarzäugigen Spitzohren bleiben?«

»Wenn Glaïmbar nicht so ein schlechter Kämpfer wäre, müsste ich mir keine Gedanken darüber machen«, gab Tungdil zurück. »Dsôn Balsur wird bald gegen das Heer von Menschen, Elben und Zwergen fallen. Wir werden die Axt zurückbekommen. Jetzt brauchen wir sie nicht, und den Albae bringt sie keinen Vorteil.« Er senkte die Lider. »Aber ich hole mir mein Eigentum wieder.«

»Ho, und schon steht das nächste Abenteuer an. Rate, wer dabei sein wird«, meinte Boïndil fröhlich.




Das Geborgene Land, Dsôn Balsur,

6234. Sonnenzyklus, Frühsommer


Ondori roch das Feuer, das in ihrer Heimat loderte. Es erinnerte sie daran, wie sie selbst in Flammen gestanden hatte. Die Lohen der Feuerklinge hatten Teile ihres Gesichts bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Nun gab es einen zweifachen Grund, eine Maske zu tragen.

Sie befand sich auf der Spitze eines der zahlreichen Wachtürme, in denen einst die Elben der Goldenen Ebene ihre Späher stationiert hatten, und schaute nach Süden, wo dicke, schwarze Wolken in den blauen Himmel stiegen.

Dort lag der Ort der drohenden Niederlage.

Unablässig feuerten die Menschen, Elben und Zwerge mit ihren Schleudern Brandgeschosse in den dichten Wald und verwandelten selbst die toten Bäume mit der Mischung aus Petroleum, Öl, Pech und Schwefel in riesige Fackeln. So brannte eine breite Schneise geradewegs auf den Knochenturm zu, der noch immer in vielen Meilen Abstand zu dem Heer lag. Aber nach dem Waldgürtel folgte eine Ebene, in der sich den Angreifern wenige Hindernisse entgegenstemmen würden.

Die Albin blickte über die Schulter. Auf halber Strecke zwischen der Hauptstadt und dem Wald lag die Festung Arviû; von hier strömten immer neue Albae an die Front, um die Streitmacht des Geborgenen Landes aufzuhalten. Doch auch dieser Strom drohte allmählich zu versiegen.

Ihre Hände strichen an dem metallenen Kampfstab entlang. Wir werden ihnen harte Verluste zufügen. Wir werden uns nicht länger drauf beschränken, sie nur mit unseren Pfeilen zu spicken.

Sie wandte sich zur Treppe, um den 50 Schritt hohen Turm zu verlassen.

Ondori bewegte sich sehr behutsam; die Wunde in ihrem Leib, die ihr Tungdils Dolch zugefügt hatte, war noch nicht ganz verheilt. Sie schmerzte und rief ihr unentwegt die erlittene Schmach am Grauen Gebirge ins Gedächtnis. Es war nicht einmal mehr Zeit geblieben, das Geheimnis des Schwarzen Wassers zu ergründen, das die Orks mit sich geschleppt hatten. Auf ihrer Flucht hatte sie einen umherliegenden Trinkschlauch vom Schlachtfeld mitgenommen, um unterwegs nicht nach Quellen oder Bächen suchen zu müssen. Erst nach einem langen Schluck daraus hatte sie bemerkt, dass es sich um Schwarzes Wasser gehandelt hatte. Sie verstand nicht, weshalb es die Orks mitnahmen. Es schmeckte grauenvoll.

Die Unauslöschlichen hatten ihre unglaublichen Schilderungen vernommen und ihr nach ihrer Rückkehr befohlen, an die Front zu gehen, um dort im Kampf gegen die Feinde zu fallen. Die Feuerklinge hatte sie bei ihnen gelassen. Sie würde die verfluchte Axt nicht mehr anrühren.

Längst wollte sie keine Zeit mehr verlieren, um zu sterben... um ihrem unwürdigen Leben ein rühmliches Ende zu setzen. Sogar der Tod ihrer Eltern blieb ungerächt, was sie am meisten peinigte. Wenigstens gestatteten die Unauslöschlichen ihr, einen eigenen Trupp anzuführen, dessen Mitglieder ebensolche Versager waren, wie sie selbst einer war.

Sie trat am Fuße des Turms ins Freie und schwang sich in den Sattel des Feuerstiers. Ihr Blick wanderte über die wartende Schar von einhundert Albae - Männer und Frauen, die es an Tapferkeit hatten mangeln lassen.

»Hört zu, Feiglinge«, sprach sie laut. »Ich treibe euch geradewegs in die Reihen der Feinde. Ein jeder von euch wird zehn von ihnen erschlagen, ehe er stirbt. Sehe ich nur einen, der versucht, vor einem Kampf zu weichen, erreicht ihn mein Pfeil oder mein getreuer Freund Agrass.« Sie klopfte dem schwarzen Bullen liebevoll auf den breiten Nacken. »Tion wird im Jenseits über jeden einzelnen von euch richten, also strengt euch an, wenn ihr nicht in ewiger Verdammnis und Qual enden wollt. Ich trage noch immer den Segen der Unauslöschlichen, der euch zuteil werden kann. Zeigt mir, dass ihr es wert seid.«

Sie nickte dem vordersten Alb zu, der sich in Richtung Süden in Bewegung setzte. Ondori blieb hinter der Schar und passte sorgfältig auf, dass keiner von ihnen einen Fluchtversuch unternahm.

Innerhalb eines Sonnenumlaufs näherten sie sich der Stelle, wo das Heer seine Brandkugeln in den Wald schleuderte.

Höchstens eine Meile, und sie sind durchgebrochen, schätzte sie voller Schrecken. Vom Turm aus hatte es wesentlich günstiger für Dsôn Balsur ausgesehen, und die Wirklichkeit traf sie hart.

Ein Alb in einer schwarzen Rüstung trat aus dem Dickicht und grüßte sie abfällig. Einer Albin wie ihr musste man keine besondere Achtung entgegenbringen. »Ihr seid uns von den Unauslöschlichen versprochen worden, um die Wurfmaschinen anzugreifen und die Lademannschaften auszuschalten.« Er reichte ihr ein Papyrus mit einer Skizze, von welcher Stelle aus sie den Überraschungsangriff am besten führen sollte. »Wir unternehmen einen Scheinangriff, ihr schlagt euch in dem Durcheinander zu dem Öl- und Petroleumlager durch und zündet es an. Damit ist uns fürs Erste gedient.« Er betrachtete ihre Maske. »Was soll das? Bist du so hässlich wie feige, dass du dich nicht zeigst?« Er streckte die Finger nach dem Seidenstoff aus, um ihn mitsamt der Maske zur Seite zu ziehen.

Der Stier schnaubte warnend und drehte das massige Haupt; das linke Horn schwebte vor der Brust des Albs. Der zögerte und ließ den Arm sinken.

»Wie schade, dass die Feigheit dich verharren ließ«, sagte Ondori kühl. »Du wärst erstaunt gewesen, wie...« Sie schwieg. »Wie hübsch ich bin«, hatte sie sagen wollen, doch es traf nicht mehr zu. Die Feuerklinge hatte ihr die Schönheit geraubt. »Ich bin den Tod wert.«

»Geh und stirb«, zischte er, drehte sich um und verschwand im Unterholz.

Sie rief ihre Anweisungen und leitete die Truppe nach Westen, um sich an einer von den Menschen unbewachten Stelle einen Weg durch den Wald zu suchen. Nach vier Meilen schwenkten sie zwischen die finsteren Stämme und rasteten bis Mitternacht, dann schlichen sie sich näher an das Lager des feindlichen Heeres heran.

Ondori fluchte leise. Sie hatten zwar die richtige Flanke erreicht, doch hier wachten die Zwerge und Elben, welche den Wurfmaschinen ihren Schutz angedeihen ließen.

Unablässig wurden die ächzenden Winden bedient, die hölzernen Arme mit Tauen nach hinten gezogen und die Eisenkörbe mit prallen Lederbeuteln gefüllt, die nach einer kurzen Berührung mit einer Fackel Feuer fingen. Sobald die Fangbolzen entfernt wurden, schnellten sie als glühende Kugel fauchend durch die Nacht und zerschellten zwischen den Bäumen. Das Gemisch haftete an allem und brannte lichterloh.

»Ihr seht, was uns Glorreiches bevorsteht«, sagte sie leise. »Tion liefert uns Feen und Unterirdische. Kann es etwas Besseres geben als deren Tod?« Sie nahm ihren Kampfstab und hielt ihn wie eine Lanze. »Macht euch bereit. Und vergesst nicht, dass ich hinter euch bin. Niemand entkommt mir.«

Es dauerte nicht lange, und sie hörten aufgeregte Schreie von der anderen Seite des Lagers. Mehrere Rufhörner alarmierten die Soldaten und warnten vor dem Angriff. Niemand ahnte, dass es sich um eine Ablenkung handelte.

»Los«, befahl sie mit lauter Stimme, und die Albae hetzten geduckt vorwärts. Im Schatten der Bäume blieben sie für ungeübte Augen nahezu unsichtbar, ihre Sohlen traten auf nichts, was ein verräterisches Geräusch von sich gegeben hätte, und so brachen sie völlig überraschend über die Zwerge und Elben herein, welche die Bedrohung von der anderen Seite erwartet hatten.

Ondori gab genau Acht, dass alle ihre Leute angriffen und sich niemand im Unterholz verbarg, und als sie sich sicher war, preschte sie aus dem Wald und stürzte sich in das Scharmützel.

Die Elben konnten ihre Bogen nicht zum Einsatz bringen und mussten sich auf den Nahkampf mit den Albae einlassen, die Zwerge sprangen herbei, wirbelten mit grimmigen Gesichtern ihre Keulen, Äxte und Beile, um sich gegen die verhassten Widersacher zu werfen.

Tion war nicht auf ihrer Seite. Schneller als Ondori vermutet hatte, organisierten die Feinde die Verteidigung.

Die Zwerge bildeten mit ihren Schilden einen Wall, zwischen dem Axtklingen hervorzuckten, während die Elben dahinter mit Speeren Aufstellung nahmen und ihre Truppe auf Abstand hielten. Der Vormarsch endete 300 Schritt vor dem Öllager.

»Wollt ihr wohl angreifen?«, schrie sie außer sich und durchbohrte einen zurückweichenden Alb mit ihrem Kampfstab.

Plötzlich schrie einer der Zwerge gellend auf, sank um und riss ein Loch in den Schildwall. Ein Elbenspieß steckte in seiner Brust.

»Du heimtückisches Spitzohr!«, hörte man die aufgebrachte Stimme eines anderen Zwerges. »Ich habe genau gesehen, wie du ihn erstochen hast!« Es krachte laut, und ein Elb starb durch den Hieb eines Morgensterns. »Rache für den Verrat an den Kindern des Schmieds!«, verlangte der Rufer voller Hass und Trauer. »Die Spitzohren geben nichts auf die geschworene Freundschaft!«

Ondori hörte einen elbischen Fluch, ein Pfeil sirrte durch die Luft und fuhr einem Zwerg durch den Schädel. Unglaube stand in den gebrochenen Augen, als er stürzte, und nur einen Lidschlag darauf fiel ein Elb über ihn, aus dessen Bauch ein Zwergenbeil ragte.

Zwei Dutzend Zwerge wandten sich geschlossen den Verrätern in den eigenen Reihen zu und griffen die Elben an, die sich ihrerseits zur Wehr setzten. Aus dem anfänglichen Verteidigen und Abwehren der Beile wurde bald ein blutiges, verbissenes Gefecht.

Die Albin traute ihren Augen kaum. Tion sei Dank! Die Feindschaft zwischen den Völkern lässt sich nicht durch einen Eid ihrer Könige beseitigen. Schon peitschte sie ihre Truppe mit frischer Kraft an, und die Albae warfen sich in die sich auftuenden Lücken und attackierten Zwerge und Elben voller Heimtücke.

Ondori überließ ihre Truppe der Sorge Tions und lenkte ihren Bullen auf das ungeschützte Lager zu. Sie ritt an den Geschützen und den entsetzten Bedienungsmannschaften vorbei und entriss einem von ihnen unterwegs eine Fackel.

Dann ließ sie Agrass etliche Fässer mit seinen Hörnern zerschlagen und schleuderte die Brandfackel mitten in die Lachen. Aus den stinkenden Pfützen wurde ein brennender Pfuhl. Weitere Fässer barsten im Feuer und gaben den Flammen neue Nahrung.

Das sah Ondori nicht mehr. Sie wütete unter den Mannschaften an den Katapulten, die ihr und ihrem Stier wenig Widerstand boten. Es waren keine Kämpfer, und so ereilte sie der Tod schnell und schmerzhaft.

Einen von ihnen jedoch übersah sie.

Er hatte sich hinter dem Rad eines Onagers verborgen, und als sie vorbeiritt, schleuderte er einen Speer nach ihr. Die Spitze traf sie von hinten in den Rücken und das Herz. Ondori keuchte, rang nach Luft und zog sich die Waffe aus dem Leib. Sie sank im Sattel zusammen und erwartete den Tod, während der Mann davonrannte.

Die Schmerzen in ihrer Brust ließen rasch nach, bald verschwanden sie ganz. Sie richtete sich auf, fuhr über die Wunde, die sich geschlossen hatte. Ich auch?, dachte sie voller Erstaunen. Tion lässt mir das gleiche Wunder angedeihen wie den Orks in... Mit einem Mal begriff sie: Das Schwarze Wasser, von dem sie irrtümlich getrunken hatte, hatte ihr die Unsterblichkeit geschenkt. Ondori lachte leise. Ich bin... eine Gesegnete! Die Unauslöschlichen müssen von diesem Wundertrunk erfahren.

Doch zuerst galt es, den Auftrag auszuführen. Sie ritt zum Feuer, senkte ihren Stab und zog eine Furche in den Boden, durch welche die brennende Flüssigkeit geradewegs auf die hölzernen Maschinen zufloss.

Stolz blickte sie auf die ersten züngelnden Flammen, die über die Balken und Seile leckten. Noch bin ich nicht gefallen, Tion, freute sie sich und dirigierte Agrass mit sanftem Schenkeldruck zurück zum Gefecht. Und bis es so weit ist, werde ich dir ein paar Elbenseelen schicken, die du foltern kannst.

Ihr Stier pflügte brüllend mitten durch die Reihen, Elben und Zwerge flogen wie Puppen durch die Luft. Seine vom Eisen der Kampfmaske gestärkten Hörner durchbohrten jede Panzerung, jeden Schild und jeden Leib, der in seine Reichweite kam. Die spitzen Zähne schnappten umher und rissen Fleischfetzen samt Leder und Stahl aus den Gegnern.

Auch wenn sie es niemals geglaubt hätte, sie und ihre Schar aus Feiglingen errangen den Sieg über eine Übermacht, die sich den Untergang durch die eigene Zwietracht beschert hatte. Tion und der Segen der Unauslöschlichen sind mit mir! Seine Gnade und der Segen brachten den Triumph.

Erst als der Flammenschein der brennenden Ballistae, Onager und anderen Wurfmaschinen unübersehbar wurde und die Überlebenden den Rest des Heeres darauf aufmerksam machten, was sich in dessen Rücken ereignete, kamen die Menschen zu Hilfe.

Doch da war es zu spät.

Das Kontingent der Elben und Zwerge lag tot oder schwer verwundet auf der Erde, die übrig gebliebenen Albae huschten zurück in den Schutz der schwarzen Stämme und verschmolzen mit der Dunkelheit. Pfeile und Armbrustbolzen verfehlten ihr Ziel.

Die Albin hielt einige Schritte hinter dem Waldrand inne und lachte angesichts des Infernos, das sie hinterließ. Agrass schnaubte und drehte den Kopf nach links. »Versteckt sich da jemand?« Der beschlagene Huf fuhr donnernd in die Erde. »Sehen wir nach, ob wir Tion noch eine Seele schicken können oder ob ich einen Feigling bestrafen muss.«

Raubtiergleich pirschte der Stier vorwärts. Ondori erkannte im spärlichen Mondlicht vier gedrungene Gestalten, die durchs Unterholz rannten. Unterirdische auf der Flucht. So etwas sieht man selten.

Es dauerte nicht lange, und sie hatte das Quartett eingeholt.

Sie hörten das Trommeln von Agrassʹ Hufen und formierten sich zur Gegenwehr.

»Verschwinde, Alb, und wir schenken dir dein Leben«, rief ihr Anführer hinter seinem geschlossenen Helm hervor, ein dreiköpfiger Morgenstern kreiste kampfbereit.

»Warum sollte ich...« Sie sah gerade noch, wie einer von ihnen... einen Kurzbogen spannte und einen Pfeil nach ihr schoss. Sie wich dem langen Geschoss aus, es bohrte sich in den Stamm neben ihr. »Ein Feenpfeil?«, brach es verwundert aus ihr hervor. »Seit wann haben Unterirdische...« Ihre Augen wurden groß. »Der Morgenstern, der Pfeil... Das, was ich vorhin sah, war kein Zufall. Ihr habt den Streit zwischen ihnen angezettelt!«, verstand sie das merkwürdige Verhalten der Zwerge vor sich. »Was seid ihr für Unterirdische?«

»Reite deines Weges, Spitzohr«, empfahl ihr der Zwerg. »Oder greife uns an, und du wirst erkennen, dass wir dir überlegen sind.«

Sie hätte es zu gern auf eine Probe ankommen lassen, doch das Geschrei, das Klappern von Rüstungen und der Fackelschein warnten sie vor der anrückenden Schar von Menschen, denen der Hass den notwendigen Mut verlieh, sich zwischen die Bäume zu wagen.

»Wenn ihr Dritte seid, so sendet einen Gesandten zu meinen Herrschern, um ein Bündnis gegen unsere gemeinsamen Gegner zu schmieden«, unterbreitete sie unvermittelt.

»Reite, Spitzohr. Oder stirb«, erneuerte ihr Anführer seine Drohung.

Fluchend entschied sie, dass dies weder der Ort noch die Stunde sei, um ihr Leben gegen vier Unterirdische zu verlieren. Schließlich hatte sie einen Teil der Schmach von sich gewaschen. Also wendete sie den Bullen und ritt los, um zu ihrem Haufen aufzuschließen. Die vier Zwerge blieben hinter ihr zurück.

Es sind sehr gute Neuigkeiten, die ich Nagsor und Nagsara Inàste überbringen kann, überlegte sie unterwegs. Die Zwergenhasser mischten vollkommen unerwartet mit und brauten sich aus dem, was im Geborgenen Land vor sich ging, ihr eigenes Süppchen, das keineswegs nach Friede und Eintracht schmeckte.

Nun hieß es, den Koch im Auge zu behalten und welche Zutaten er noch beizugeben gedachte. Mit der passenden Beigabe wird es auch uns munden.




Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreichs Lios Nudin, Porista,

6234. Sonnenzyklus, Herbst


»Wir können nicht länger warten, oder, ehrenwerte Maga?« Narmora schaute aus dem Buch auf, in das sie bis eben vertieft gewesen war. »Es ist zu viel Zeit vergangen, seitdem Ihr Djerůn durch das Rote Gebirge ins Jenseitige Land geschickt habt. Sollte er nicht nach achtzig Umläufen in den Palast zurückkehren?«

Die blonde Zauberin nickte. Sie saß ihrer Famula in dem großen Sessel der Bibliothek gegenüber, den Kopf seitlich angelehnt; eine Hand stützte die Stirn, hinter der es seit der Rückkehr aus Weyurn unablässig arbeitete. »132 Umläufe«, erwiderte sie nachdenklich. »Freiwillig käme er niemals zu spät, daher muss ihn etwas gehindert haben, hierher zu kommen. Aber was?« Abrupt schnellte sie in die Höhe, getrieben von Unrast und Sorge. »Djerůn ist nicht irgendein leicht zu überwindender Soldat, er ist ein...« Sie biss sich auf die Lippen.

»Er ist der König aller Kreaturen Tions«, sprach es Narmora aus. »Ich kenne die Legende um ihn, den Sohn Tions, wie er von meinem Volk genannt wird. Er wurde geschaffen, um diejenigen Scheusale zu töten, die nicht stark genug sind.«

»Ich vergesse gelegentlich einen Teil deines Blutes. Dann kannst du dir denken, dass das, was ihn aufhält, über enorme Kräfte verfügen muss.«

»Woher... kennt Ihr ihn? Ein Geschöpf wie ihn wird es nicht häufig geben.«

»Ich habe ihn vor Menschen gerettet, selbst ernannten Helden, die ihn in die Enge getrieben hatten. Ich wollte nicht zulassen, dass eine so herrliche Kreatur einen sinnlosen Tod stirbt. Das war vor mehr als hundert Zyklen. Seitdem...« Andôkai packte den Kerzenständer und schleuderte ihn quer durch den Raum. »Verfluchtes Jenseitiges Land und seine Geheimnisse!«, schrie sie. »So werden wir nie erfahren, was dort geschieht.«

»Hat denn das Heer von Königin Wey nichts entdecken können?«, fragte Narmora, um in Erfahrung zu bringen, was im letzten Brief, den ihre Mentorin erhielt, geschrieben stand.

Die Maga lachte freudlos auf. »Erinnerst du dich, dass ich sagte, wir sähen keinen einzigen von den Unglücklichen je wieder?« Sie nahm das Schriftstück aus einer Falte ihres roten Gewands. »Königin Xamtys ließ mich wissen, dass sie noch keine Spur von dem Heer gesehen hat, nicht einmal verletzte Überlebende oder einen Boten. Dafür grollt es gewaltig; der Feuerschein am nächtlichen Westhimmel wird angeblich intensiver und rückt näher.« Andôkai deutete auf die Bücherrücken. »Sieh dir das immense Wissen an, das hier gesammelt ist. Und doch nützt es uns nichts.« Sie umrundete den Tisch, trat hinter Narmora und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich muss dich loben. Du hast geradezu beängstigende Fortschritte gemacht. Ich bin guten Mutes, die Avatare aufhalten zu können.«

»Falls es das überhaupt ist, was die Zwerge des Ersten Nacht für Nacht sehen.« Ohne Erlaubnis nahm sich die Famula den Brief und las ihn. »Darin steht, dass sich nichts mehr an dem Portal getan hat«, stellte sie fest. »Keine Händler mehr, keine Bestien. Es scheint, als finge etwas jeden Mensch und jede Kreatur ab, die ins Geborgene Land vordringen möchte.«

»Ich sehe es als Beweis, dass die Avatare weit gekommen sind.« Andôkai kehrte an ihren Platz zurück. Erleichtert sank Narmora in ihrem Sessel zurück und war froh, die Hände der Frau, die den Anschlag auf ihren Mann und den Tod ihres Sohnes verschuldete, nicht mehr auf ihren Schultern spüren zu müssen.

Die Maga nahm sich Tinte, Papier und Feder, um Einladungen zu schreiben. »Ich kann es nicht mehr länger hinauszögern und hoffen, dass Djerůn noch am Leben ist«, erklärte sie ihr Handeln. »Das Treffen der Königinnen und Könige muss noch vor Anbruch des Winters stattfinden.«

»Sie werden kommen. Auch ohne die Avatare gibt es genügend zu besprechen«, fand Narmora. Sie dachte vor allem an den brennenden Konflikt zwischen den Elben und Zwergen, der wie aus dem Nichts vor Dsôn Balsur aufgeflammt war und eine ernste Bedrohung für den Zusammenhalt der Völker bedeutete.

Zwerge und Elben weigerten sich seitdem, ein Heer an die Front zu schicken, solange es keine Entschuldigung und ein Zeichen der Reue gab. Da jedoch jeder den anderen bezichtigte, mit dem Kampf begonnen zu haben, würde eine Einigung schwerlich zu erreichen sein. Das und die Zerstörung der Wurfmaschinen brachten den Albae einen willkommenen Aufschub.

»Ihr könntet den neuen Herrscher von Urgon fragen, was es mit den Gerüchten auf sich hat, dass er eine Streitmacht aufstellt, um nach Nordosten zu ziehen. Will er die Trolle oder die Vierten bekämpfen?«, äußerte sie ihre Gedanken laut. »Und das trotz seines zwergischen Leibarztes?«

»Belletain ist ein schwachsinniger Krüppel«, beschied die Maga, während die Feder über das Papier kritzelte, »aber er ist aus einem unglücklichen Zufall heraus der Nachfolger von Lothaire, den die Menschen verehrten. Diese Verehrung übertrug sich bis zu einem gewissen Grad auf den Onkel, und wo die Verehrung nicht ausreicht, kommt das Mitleid ins Spiel. Sehr gefährlich.«

Narmora erhob sich und ging zur Tür. »Verzeiht, ich kehre rechtzeitig zur nächsten Lektion zurück. Ich will nach Dorsa sehen«, erklärte sie ihren Aufbruch und machte sich auf den Weg durch den einsamen Palast.

Ihre Tochter schlief in der Wiege. Wann immer Narmora sie so da liegen sah, fürchtete sie, dass das Gewicht der Daunen ihr die Luft aus der schmächtigen Brust drücken könnte, was natürlich Unfug war. Die Kleine ruhte auf dem Rücken, die Arme neben dem Kopf, und schlief; die Atemzüge gingen gleichmäßig und verrieten, dass alles in bester Ordnung war.

»Wie groß du geworden bist«, flüsterte sie und streichelte den Haarflaum Dorsas.

Das winzige Bündel Leben spendete ihr Trost und gab ihr die Zuversicht, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft alles besser sein würde.

Wenn ihre Tochter lächelte, vergaß sie alles um sich herum und hatte nur Augen für den winzigen Mund und die Grübchen in den Wangen. Zugleich stiegen grauenvolle Bilder eines kleinen, verwesten Leichnams vor ihrem inneren Auge auf, den sie unter einem Haufen Steine im Wald vor Porista begraben hatte.

Sie beugte sich über die Wiege und küsste die linke, spitz zulaufende Ohrmuschel ihrer Tochter. Dorsa lächelte im Schlaf. »Andôkai wird sterben, wenn alles vorbei ist«, versprach sie ihr einmal mehr. »Schlaf, meine Tochter.« Leise stahl sie sich hinaus, um nach Furgas zu sehen, der im Nebenzimmer lag.

Als sie die Tür öffnete, fuhr Rodario sofort von seinem Platz neben ihrem Gefährten in die Höhe, eine Hand am Griff seines Dolches. »Verzeih«, stammelte er verwirrt, und die Abdrücke des Lakens auf seiner Wange verrieten ihr, dass er eingedöst war.

»Beherrsche dich, Unglaublicher«, sagte sie freundlich und trat an das Bett. »Du wirst besser schauspielern müssen, um der Maga nicht zu offenbaren, dass wir ihr Geheimnis um die Anschläge kennen. Dein Aufschrecken eben hätte dich schon in Schwierigkeiten bringen können.« Sie streichelte Furgasʹ Gesicht und gab ihm einen Kuss auf die kalten Lippen. »Es wird bald ein Treffen in Porista geben, danach entscheidet sich, was wir gegen die Avatare unternehmen«, offenbarte sie ihm.

Rodario streckte sich und strich sich über den legendären Kinnbart. »Bist du dir nach wie vor sicher, Andôkai den Tod bringen zu wollen?« Als er ihren eisigen Blick bemerkte, bemühte er sich, den Hintergrund seiner Frage deutlicher zu machen. »Sie ist die letzte Maga des Geborgenen Landes, deshalb habe ich meine Vorbehalte«, sagte er geflissentlich und sehr darauf bedacht, sie nicht zu verärgern. »Man würde dich nicht als Heldin feiern... wenn du verstehst, was ich meine.«

»Es wird niemand erfahren, wer sie getötet hat«, gab Narmora gleichgültig zurück und benetzte Furgasʹ Lippen mit einem feuchten Schwamm. »Ich kann ebenso gut aus dem Hinterhalt angreifen wie sie und meine Taten vertuschen.«

»Sicher, doch...« Er suchte die rechten Worte. »Deine Rachegelüste nehmen den Königreichen die letzte Maga, meine dunkle Schönheit. Wenn es eines Tages irgendwelchen schrecklichen Bestien, nein, noch schrecklicheren Bestien einfallen sollte einzufallen...«

Sie betrachtete ihn und schüttelte traurig den Kopf. »Rodario, hör dich nur mal reden... Du wirst zum Fürsprecher einer Frau, die deinen Tod und den deines besten Freundes herbeiführen wollte. Ich verstehe nicht, was in dich gefahren ist.«

»Sie wollte ihn nicht töten, nur in Starre versetzen.« Er sank auf seinem Stuhl in sich zusammen. »Manches Mal wünschte ich mir, dass ich dir nie von meinen Entdeckungen berichtet hätte, o du von Rache getriebene Kurzsichtige«, klagte er übertrieben. »Ich weiß, dass mein Leben an einem seidenen Faden hing, und dennoch: Andôkai ist die letzte Maga...«

»Und was bin ich?«

»Du?« Beinahe hätte er gelacht. »Narmora, du bist eine Famula, eine angehende Zauberin, die gut, aber nicht die Beste ist und schon gar nicht eine Maga von der Größe der Stürmischen.« Er wackelte mit dem Schopf. »Nimm es mir nicht übel, du wirst erst in einigen Sonnenzyklen so weit sein. Warte wenigstens, bis du das erreicht hast. Vielleicht ist deine Wut bis dahin verraucht.«

»Ach, und du bist neuerdings ein Kenner in Sachen Magie?«, spottete sie. »Ich werde den Tod meines Sohnes und die Leiden meines Mannes nicht ungesühnt lassen.« Sie zeigte auf die Tür. »Du kannst gehen. Danke, dass du auf ihn Acht gegeben hast. Im Schlaf.«

»Spar dir deine Schärfe. Denk an das Schicksal des Geborgenen Landes«, mahnte er sie und wandte sich zum Gehen. »Es leben noch andere Menschen hier als du, die auf die Kunst Andôkais angewiesen sind.« Mit diesen Worten drückte er sich hinaus auf den Gang und zog die Tür hinter sich zu.

Narmora setzte sich aufs Bett neben den Schlafenden. Ihre Linke wanderte unter ihr Gewand und tastete nach dem Schmuckstück, das sie seit der Schlacht am Schwarzjoch trug.

Ich habe also nicht die Größe der Stürmischen, mein lieber Rodario? Ihre Finger schlossen sich um den Stein, den sie verborgen an einer Kette um den Hals trug.

Sie legte die rechte Hand auf die Stelle, an der das Kurzschwert in den Körper ihres Gefährten eingedrungen war, und schloss die Augen. Ein dunkelgrünes Leuchten umspielte die Verbände, sickerte durch sie hindurch und strömte bis zu den entzündeten Wundrändern. Dort verstärkte es sich, bekämpfte die eiternde Stelle und hinterließ rosa Haut, die sich gemächlich schloss und verwuchs, als hätte es die Verletzung niemals gegeben.

Narmora holte tief Luft. Noch konnte sie das Gift, das Furgas in der Starre hielt, nicht bekämpfen, aber wenigstens litt er nicht mehr unter den Folgen der Stichwunde. Die Verbände ließ sie an Ort und Stelle, damit ihre Mentorin nicht sah, dass er sich auf dem Wege der Besserung befand.

Bald. Bald ist es soweit, mein Talisman, dachte sie voller Dankbarkeit und ließ den Stein los. Dann machte sie sich durch die Gänge auf den Weg zu Andôkai, um die nächste Unterrichtsstunde in Sachen Magie zu empfangen.

Das alte Ritual folgte. Mit jedem Schritt auf dem weißen Marmor wurde aus ihr einmal mehr die gehorsame, fleißige Famula.




Das Geborgene Land, irgendwo

unter dem Land Gauragar, Goldhort,

6234. Sonnenzyklus, Herbst


Tungdil saß im Schneidersitz auf dem Dach von Myrs Haus, er hielt die Augen auf die Vraccas-Statue gerichtet und hatte einen Humpen mit Gerstensaft vor sich stehen.

Ein weiterer ereignis- und vor allem lehrreicher Tag bei den Freien neigte sich dem Ende zu. Er hatte Dinge erfahren und gesehen, die es ihm schwer machten, an einen Abschied zu denken. Die Abendstunden nutzte er, um sie bei einem guten Bier zu rekapitulieren.

Gemmil hatte ihn und die Zwillinge wahrlich in den hintersten Winkel von Goldhort geschleppt, um ihnen zu zeigen, wie die verschiedenen Zwerge lebten. Sie hatten die angelegten Gärten, das Bewässerungssystem, das aus dem Becken des Wasserfalls gespeist wurde, die Werkstätten und die Schmieden gesehen.

Dann hatten sie mit etlichen Bewohnern, mit Alteingesessenen und mit Neulingen gesprochen, und alle hatten das Leben fernab von ihrem Clan und Stamm gelobt. Ganz selten hatte Tungdil Wehmut und Trauer in den Augen derer gesehen, die sich mit ihm unterhielten. Auch er fühlte sich wohl bei den Freien, im Gegensatz zu Boëndal und Boïndil. Sie drängten darauf, wieder ins Graue Gebirge zurückzukehren, in die gewohnte Umgebung und die Gemeinschaft der Zwerge, deren Lebensweise sie besser verstanden.

Er hörte schwere Schritte hinter sich. Das Klirren eines Kettenhemds verriet ihm, dass es nur einer seiner beiden Begleiter sein konnte. Er selbst trug schon seit längerem keines mehr und beschränkte sich auf das Ledergewand.

»Du würdest gern hier bleiben«, sagte Boëndal und ließ sich neben ihm nieder, einen Krug in der Hand haltend.

Tungdil seufzte. »Ist es so offensichtlich?«

Der Zwerg lachte gutmütig. »Selbst mein Bruder befürchtet es inzwischen. Für ihn... für uns ist es schwer vorstellbar.« Er breitete die Arme aus. »Sicher sind es Zwerge, die hier leben, aber sie wurden von ihren Clans und Stämmen verstoßen.« Er nahm einen kräftigen Schluck. »Außerdem sind Dritte unter ihnen«, fügte er leiser hinzu, und es klang leicht feindselig. »Alles in allem ist dies hier eine Gesellschaft, in der sich rechtschaffene Kinder des Schmiedes nicht ewig aufhalten möchten.«

»Ich weiß. Ich sehe, wie ihr von Tag zu Tag unruhiger werdet. Ingrimmsch beteiligt sich schon an der Jagd auf die Guguls, damit er sein immer heißer werdendes Blut beruhigen kann. Ihm fehlt der Kampf gegen die Orks oder andere Scheusale.« Absichtlich ging er nicht auf die Wortwahl seines Freundes ein, er ließ das »rechtschaffen« so stehen. Als Dritter gehörte er im Grunde nicht dazu.

Boëndal grinste. »Er fängt sie inzwischen mit der bloßen Hand. Diejenigen, die ihn begleiten, betrachten ihn mit Respekt und Furcht. Die Biester können nämlich ordentlich mit ihren Kiefern zupacken.« Er hob den Humpen in Richtung der Statue. »Dank sei Vraccas, dass er mich diese Welt sehen ließ, doch ich möchte sie auch wieder verlassen.« Er suchte Tungdils Blick. »Wir möchten sie bald verlassen. Verstehst du das, Gelehrter? Wir machen uns Sorgen wegen der Dinge, die sich im Geborgenen Land tun.«

»Du meinst den Kampf zwischen unserem Volk und den Elben«, mutmaßte er. »Es hätte nicht dazu kommen dürfen, das Vertrauen wird schwer wieder herzustellen sein«, bedauerte er. »Aber es wird zurückkehren. Es wird das Ende Dsôn Balsurs lediglich um einen Sonnenzyklus hinauszögern. Wohin sollen die Albae flüchten? Sie sind umstellt und werden vernichtet.«

»Und es juckt dich nicht in den Fingern, an die Front zu gehen und den Menschen dabei zu helfen?«, erkundigte sich Boëndal erstaunt. »Es wäre doch ein wunderbares Zeichen, wenn der Held vom Schwarzjoch an der Spitze eines Zwergenheeres gegen die Albae zöge, die Einigkeit zwischen uns und den Elben neu beschwüre und sich die Feuerklinge zurückeroberte...«

»Es war nicht meine Schuld, dass wir sie ein weiteres Mal verloren haben«, unterbrach ihn Tungdil gereizt und nahm einen Schluck aus dem Humpen. »Ich musste Glaïmbar retten, hast du das schon vergessen? Der König der Fünften hat es nicht geschafft, sich gegen einen verwundeten Ork zu wehren«, lachte er bitter. »Wer weiß, wo die Axt ist und was die Albin damit angestellt hat.« Es ärgerte ihn, dass er ständig an den Verlust erinnert wurde.

Boëndal betrachtete ihn gedankenvoll. »Weißt du, wie du klingst, Gelehrter? Wie ein greiser Zwerg, der zu Hause am Kamin sitzen möchte und sich an die guten alten Zyklen erinnert, in denen er Schlachten schlug, ohne sich um die Gegenwart zu scheren.«

Tungdil ließ sich Zeit, ehe er zu einer Erwiderung ansetzte. »Ich denke, das trifft es nicht ganz. Meinen Teil zur Rettung des Geborgenen Landes habe ich geleistet. Ich wäre gern ein Zwerg, der sich um alltägliche Sorgen kümmern muss, der in der Schmiede steht oder als Gelehrter anderen beisteht.«

»Wie Myr? Ist sie der Grund, weshalb du bleiben möchtest? Nichts ist klebriger als der Rockzipfel einer Frau, sagt man.«

Tungdil holte tief Luft. »Ich weiß nicht«, gab er ehrlich und betrübt zurück. »Sie ist anders als Balyndis, sie ist eine Gelehrte. Wir können stundenlang über Dinge reden, von denen Balyndis nicht einen Schimmer hatte. Ich kann mir vorstellen, Myr als Gefährtin an meiner Seite zu haben, aber nachts träume ich immer noch von Balyndis, und dann kehrt der Hass auf Glaïmbar zurück.« Er schaute in Boëndals Gesicht. »Der wahre Grund könnte sein, dass ich Angst davor habe, ihn zu erschlagen oder eine Gemeinheit zu planen, wie es Bislipur tat, um sie auseinander zu bringen. Das würde mir beweisen, dass ich ein Dritter bin und dass ich gegen mein heimtückisches Wesen nicht ankomme.« Er leerte seinen Humpen und stellte ihn geräuschvoll ab. »Ich denke, ich bin hier sehr gut aufgehoben. Und ich denke, dass Myr die Bessere für mich ist.«

Boëndal nickte ihm mitleidig zu. »Ich verstehe dich, Gelehrter. Bei Boïndil bezweifle ich das, ich werde ihn niederschlagen müssen, damit er sich nicht an dich klammert.« Sie lachten ohne echte Heiterkeit in den Stimmen. »Wirst du dein Exil aufgeben, wenn das Geborgene Land und die Gemeinschaft der Zwerge dich benötigen?«

»Sicher«, antwortete Tungdil, ohne zu zögern. »Aber das wird kaum geschehen. Wann brecht ihr auf?«

»Morgen, noch bevor die Sonne aufgeht. Wir haben von einem Treffen aller Könige gehört, das unter dem Vorsitz von Andôkai der Stürmischen in Porista stattfinden wird.« Er zückte eine Pergamentrolle. »Glaïmbar hat uns den Wunsch des Großkönigs mitgeteilt, dass er uns drei gern in seiner Eskorte dabeihätte.«

»Es werden nur zwei sein«, unterstrich Tungdil seinen Willen zu bleiben. »Was soll denn besprochen werden?«

Boëndal hob die Achseln. »Das steht nicht drin. Die Stürmische macht ein Geheimnis daraus. Vermutlich will sie alle Regenten ins Gebet nehmen und sie an die Treue erinnern. Einige haben den Eid für meinen Geschmack zu schnell vergessen.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »So lebe wohl, Tungdil Goldhand. Möge dich Vraccas segnen und deiner Seele Frieden schenken, damit du in Ruhe leben kannst.« Die Freunde standen auf und umarmten sich lange. »Mir graut davor, meinem Bruder erklären zu müssen, dass du bleibst«, gestand er. »Myr soll ihm etwas Beruhigendes ins Essen streuen.«

»Nein, ich sage es ihm selbst«, entschied Tungdil. Gemeinsam gingen sie die Stufen hinunter und fanden Ingrimmsch in der Küche, wo er neben Myr stand und mit hungrigen Augen ihre Essensvorbereitungen verfolgte. Auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes lagen zwei ausgeweidete Guguls.

»Selbst gefangen«, begrüßte er sie strahlend und hob die zerkratzten Arme. »Mit meinen eigenen Händen habe ich ihnen das Genick gebrochen und mir vorgestellt, dass es Schweineschnauzen seien, denen ich die Hälse umdrehe. Aber es ist kein guter Ersatz.« Er bemerkte ihre trüben Gesichter. »Was ist? Ist das Bier schal geworden?«

»Ihr brecht morgen auf. Ohne mich«, gestand ihm Tungdil. »Ich werde bleiben und...«

Boïndil legte die Stirn in Falten, senkte den Kopf und hob die Schultern, als wollte er gleich in den Angriff übergehen. »Muss ich dich niederschlagen und mitschleifen?«, knurrte er. »Du machst einen Spaß mit mir, oder?«

»Nein, Boïndil. Ich bleibe in Goldhort. Vorerst«, rettete er sich angesichts der Entschlossenheit des Kriegers in eine Notlüge. »Ich muss noch einige Unterredungen mit Gemmil führen, damit sich die Freien an einem Angriff auf Dsôn Balsur beteiligen. Ich kann nicht einfach so verschwinden.«

»Hm.« Ingrimmsch verschränkte unzufrieden die Arme. »Wie lange dauert das? Soll ich mal mit ihm reden?«

»Bloß nicht«, wehrte Tungdil lachend ab. »Dein einnehmendes Wesen würde ihn überrumpeln.«

»Vor allem, wenn du deine Beile dabei hast«, fügte Boëndal feixend hinzu und spielte mit. »Lass die Verhandlungen den Gelehrten führen. Auf uns wartet die Reise nach Porista.«

Boïndil kam rasch auf Tungdil zu und riss ihn an sich. »Pass auf dich auf«, sagte er. »Und lass uns nicht allzu lange warten.«

»Nein.« Es klang nicht überzeugend. Tungdil schaute zu Boëndal, der den Blick auf die Tiere auf dem Tisch gerichtet hielt; seine Kiefer mahlten.

Myr verstand auf Anhieb, dass sie Ingrimmsch nicht die Wahrheit sagten. Sie lächelte glücklich, da sie ahnte, dass sie Tungdil nun für sich allein haben würde.

»Ich koche etwas ganz Besonderes«, versprach sie. »Ihr werdet viel Ausdauer in den Beinen brauchen, um schnell zurückzukehren.« Sie band sich eine Schürze um. »Vielleicht erlaubt euch Gemmil, einen unserer Tunnel zu benutzen, das würde euch Zeit sparen. Ich frage ihn.«

Boïndil packte die Käfer am Schwanz und legte sie in den großen Kessel, in dem eine klare Brühe brodelte. »Aber erst nach dem Essen.«

II




Das Geborgene Land, irgendwo

unter dem Land Gauragar, Stadt Goldhort,

6234. Sonnenzyklus, Herbst


Als Tungdil sich am nächsten Morgen von seinem Lager erhob, waren die Betten seiner Freunde leer. Ohne ihn zu wecken, waren sie aufgebrochen.

Myr begrüßte ihn mit einem ausgezeichneten Frühstück. Es gab Pfannkuchen mit Moosbeerensirup, heißem Gugul und verschiedenen geräucherten Fleischsorten, die das Feuer seiner Lebensesse anfachten.

»Sie sind noch nicht lange weg«, erzählte sie, als Tungdil nachfragte. »Sie haben ordentlich gegessen, sich Proviant eingepackt und sich dann auf den Weg gemacht.« Die blasse Zwergin setzte sich neben ihn und schaute zu, wie er aß. »Du wirst ihnen nicht folgen, nicht wahr?« Sie konnte die Frage, die ihr auf der Seele brannte, nicht länger zurückhalten. »Ihr habt Boïndil in dem Glauben gelassen, damit er dich zurücklässt.«

»Ja, Myr. Ich bleibe.« Er schaute in ihre roten, geheimnisvollen Augen. »Und wenn ich darf, würde ich gern in deinem Haus wohnen.«

»Hat dein Herz einen Entschluss gefasst?«, wagte sie sich zu erkundigen. »Darf ich es verbinden, wie ich es dir versprochen habe?«

Bewundernd betrachtete er ihre Züge, den feinen silbrigen Flaum und die geschwungenen Lippen, er las die Einladung in ihren Augen, sie zu küssen.

»Bald«, wich er ihr zu seinem eigenen Erstaunen aus und stand auf. Die innere Unruhe zwang ihn dazu, sich zu bewegen. »Ich schaue mir die Gärten noch einmal an. Die Kanäle haben mich an etwas erinnert.« Viel zu schnell sprang er auf, küsste sie auf den Haaransatz und lief zur Tür hinaus.

Du Narr, beschimpfte er sich selbst auf der Straße. Ein Clanzwerg hätte seine Schwierigkeiten nicht, er würde dem Wort seiner Anführer folgen und sein Herz zwingen können, diejenige zu lieben, die ihm als Gemahlin vorgestellt wurde. Oder leidet Balyndis ebenso wie ich?

Er schlug die Gasse ein, die ihn zu den Wasserfällen führte, und sah sie schon von weitem. Tosend ergossen sie sich in das Becken, Gischtschleier umwehten die breiten Kaskaden und schlugen sich an den Felswänden nieder.

In der Nähe der Schleuse, welche die Wassermenge in den Kanälen regulierte, entdeckte er Sanda Feuermut, die Gattin Gemmils und Kriegsherrin der Freien. Sie redete mit den Wachen, die den Durchfluss beobachteten und die Stellschrauben bedienten. Tungdil blieb stehen.

Die breit gebaute Zwergin hatte ihre Anweisungen erteilt und wandte sich zum Gehen, als sie ihn bemerkte. Sie hob grüßend die Hand und näherte sich ihm.

Ihre furchtbaren Tätowierungen im Gesicht machten jedem unmissverständlich klar, dass sie einst zu den erbittertesten Feinden der Zwerge gehört hatte; auch die langen, dunkelblonden Haare, die sie offen trug, konnten die Runen nicht verbergen.

»Vraccas hüte und bewahre den Funken deiner Lebensesse«, redete sie ihn an. Obwohl sie eine Steigung erklommen hatte, kam sie nicht außer Atem, trotz des Ledergewands und des plattenverstärkten Kettenhemds darüber. Sie trug einen rockähnlichen, gepanzerten Schutz, der bis zu den Knöcheln reichte.

»Er sei auch mit dir«, erwiderte er. »Ziehst du in den Krieg? Ich dachte, Rüstungen seien in Goldhort nicht notwendig?«

Sie lächelte, was nicht unbedingt freundlich aussah. »Ich bin eine Kriegerin, Tungdil, es ist meine Art, so wie es die deiner beiden Freunde ist. Und ganz so friedlich, wie dich die kleine Myr glauben machen möchte, ist es hier nun auch wieder nicht. Gelegentlich tauchen Felstrolle oder Bogglins auf, die aus Versehen in unsere Tunnel gerieten.« Ihre Hand legte sich an den Griff ihrer Axt. »Meine Leute und ich halten sie auf, ehe sie die Stadt erreichen.«

Er sah, dass sich ihr blonder Gesichtsflaum an manchen Stellen in Silber wandelte; folglich konnte sie nicht mehr die Jüngste sein. »Du bist noch nicht lange hier, habe ich gehört?«

»Etwas mehr als zwei Zyklen, ja. Es ist kein Geheimnis.« Sie musterte ihn. »Du weißt nicht, wie du mir begegnen sollst, habe ich Recht? Wir stammen beide von Lorimbur ab, und dennoch haben wir uns entschlossen, keine Kinder des Schmiedes zu töten.«

»Ich habe es von Anbeginn an nicht getan.«

»Und ich von Beginn an mit Widerwillen«, gestand sie offen ein. »Ich mordete, weil es mir eine Selbstverständlichkeit war und weil es nicht den geringsten Zweifel daran gab, es könnte anders sein. Doch mein Herz und meine Seele bäumten sich mehr und mehr dagegen auf.« Sie setzte sich auf den dichten, dunkelgrünen Moosteppich, das Gesicht der Stadt zugewandt; Tungdil nahm neben ihr Platz. »Dann musste ich mich entscheiden, ob ich mein Handwerk weiterhin verrichten wollte oder nicht.«

»Und du hast die Verbannung gewählt.«

»Nein. Ich habe den Tod gewählt«, berichtigte sie. »Mein eigener Stamm wird mich auf der Stelle vernichten, sollte er mich zwischen die Finger bekommen. Einst war mein Platz bei den besten, angesehensten Kriegern der Dritten, wie meine Tätowierungen dir verraten. Das war einmal. Nun gehöre ich für sie zu denjenigen, die sie mit ihrem Hass verfolgen.« Sie schaute zur Festung hinauf. »Das ist mein Zuhause, ich habe einen Gatten gefunden, der mit mir den Ehernen Bund einging und für den es nicht zählte, was ich zuvor getan habe. Es ist ein neuer Anfang, aber ein sehr, sehr schwerer Anfang.« Sie drehte sich zu ihm. »Und du? Wer waren deine Eltern?«

Tungdil schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich war zu klein und kann mich an nichts erinnern. Lot-Ionan, mein Ziehvater, erzählte mir, dass er mich Kobolden abkaufte. Dass ich ein Dritter bin, weiß ich mit Sicherheit erst, seit ich Nôdʹonn mit Hilfe der Feuerklinge besiegt habe.«

Sie schaute ihn plötzlich sehr aufmerksam an. »Wie alt bist du, Tungdil?«

»Genau kann ich es nicht sagen, doch es werden etwas mehr als sechzig Zyklen sein. Weshalb?«

Sanda betrachtete ihn genauer. »Ich habe mir den Verstand zermartert, warum mir dein Gesicht so bekannt erscheint. Du gleichst ihr sehr.« Sie blickte wieder nach vorn, auf die Dächer Goldhorts. »Vor etwa sechzig Zyklen geschah etwas, Tungdil, das mich meinen Clan und meinen Stamm verlassen ließ. Es wäre eine unvorstellbare Fügung, wenn...« Sie verstummte. »Vraccas hat es vorherbestimmt«, raunte sie dankbar, die braunen Augen auf die Statue des Gottes gerichtet. »So hat meine Entscheidung das Geborgene Land gerettet. Das wiegt alles auf, was ich erdulden musste.«

Tungdil packte sie an der Schulter. »Wovon redest du, Sanda? Weißt du, wer meine Eltern sind?«, fragte er, und sein Herz pochte schnell und laut.

Ihre Hand legte sich auf die seine, und sie sah ihn wohlgesonnen an. »Ich kannte deinen Vater, Tungdil, und ich kannte deine Mutter. Er hieß Lotrobur, ihr Name lautete Yrdiss, und dich nannten sie Calúngor. Aber ihre Liebe stand unter einem schlechten Funken, denn sie war einem anderen versprochen. Doch ihre Gefühle ließen sich nicht beugen, und so entsprangst du heimlich Yrdissʹ Leib. Dein Vater wollte dich in Sicherheit bringen, weil er die Rache des Versprochenen und des Vormunds seiner Geliebten fürchtete.« Sie atmete tief ein. »Ich verfolgte ihn, denn ich sollte ihn mitsamt dem Kind umbringen.«

»Du hast ihn...?«

»Nein. Ich stellte ihn, wir kämpften, und er unterlag.« Ihre Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an, sie schaute in die Vergangenheit und erlebte all das wieder. »Ich schwang meine Axt«, ihre Hand pochte gegen das Eisenblatt, »diese Axt!, und wollte ihm den Schädel spalten, als ich deinen Schrei hörte. Es war ein jämmerlicher Laut, aber er machte meinen Arm schwach. Ich sah in das Gesicht deines Vaters und begriff, dass ich keine Zwerge mehr töten wollte, ja, dass ich es nie gemocht hatte, sie zu töten.« Sie senkte den Kopf, fuhr über ihre Waffe. »So half ich ihm auf und ließ ihn gehen.«

Tungdil hing an ihren Lippen, begierig zu hören, was weiterhin geschehen war.

»Als ich zurückkehrte und log, dass ich Lotrobur verloren hätte, zeigte man mir den toten Körper deiner Mutter und den Kopf deines Vaters, Tungdil. Ich war nicht die Einzige auf seiner Spur gewesen. Yrdissʹ Oheim und Vormund hatte sie getötet, beide, und dich in den Abgrund gestoßen, wie er berichtete. Vraccas konnte deine Eltern nicht beschützen, aber dich bewahrte er vor dem Tod, damit du Großes vollbringst. Er leitete dein Geschick, damit du zu dem Magus gelangtest.« Sanda lächelte ihn voller Rührung an. »Und nun sitze ich hier, mehr als sechzig Zyklen später, zusammen mit dir.«

Er schluckte schwer. »Wie hieß der Oheim meiner Mutter?«

»Es war Salfalur Schildbrech, die rechte Hand von König Lorimbas«, raunte sie. »Und er lebt immer noch. Dein Vater war sein Vertrauter und bester Freund, so lernte er deine Mutter kennen. Ich bin mir sicher, dass er eines Tages die Nachfolge Salfalurs als oberster Kriegsmeister angetreten hätte. Lotrobur galt als der zweitbeste Kämpfer. Nach Salfalur.«

»Und was wurde aus dir?«

»Ich ging fort und verdingte mich in Idoslân als Söldnerin, bis ich von einem der Freien erfuhr, dass es eine Gemeinschaft derer gibt, die von ihresgleichen ausgestoßen wurden. So gelangte ich nach Goldhort. Kein Zwerg kann auf Dauer ohne eine Familie sein.«

Tungdil ergriff ihre Hand und schüttelte sie. »Sanda, nimm meinen Dank dafür, dass ich nicht länger im Unklaren bin, was meine Eltern angeht. Wie gern hätte ich ihnen etwas anderes als den Tod gebracht...«

»Lieber hätte ich dir erzählt, dass sie voller Liebe auf dich warten und ihren berühmten Sohn in die Arme schließen möchten«, entgegnete sie aufrichtig. »Doch es ist nicht so. Nicht du hast ihnen den Tod gebracht, sondern die abgesprochene Heirat, mit der weder Yrdiss noch dein Vater einverstanden waren. Solche Verbindungen sind ein Grund, zu den Freien gehören zu wollen.«

Tungdil erhob sich. »Würdest du denn mit mir auf meine Eltern trinken?«

»Immer. Und es ist mir eine Ehre«, nickte die Herrschergemahlin. Gemeinsam kehrten sie in der nächsten Schenke ein und leerten die Krüge auf Yrdiss und Lotrobur. Sanda geriet dabei ins Schwärmen und pries sie ohne Unterlass.

Auch wenn Tungdil sich nicht an seinen Vater und seine Mutter erinnerte, erwuchs in ihm der Wille, ihre Tode zu rächen. Der Hass, den er zuvor gegen Glaïmbar verspürt hatte, richtete sich nun gegen einen anderen, dessen Name Salfalur lautete.

Vom Alkohol ermutigt, rang er Sanda das Versprechen ab, ihn weiter im Umgang mit der Axt zu unterweisen. Ich werde der beste Krieger der Dritten und Salfalur töten. Das schwöre ich dir, Vraccas...




Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreiches Lios Nudin, Porista,

6234. Sonnenzyklus, Spätherbst


Die Stadt der Maga zeigte sich den hochrangigen Besuchern in ihrem neuen Glanz. Unter der Leitung Rodarios waren die zerstörten Bauten in die Höhe gewachsen, die Ruinen waren prächtigen Gebäuden gewichen und ließen ahnen, wie es hier eines Tages wieder aussehen würde.

Nach und nach trafen die Delegationen ein, die Stadt wirkte bald wie ein Heerlager. Überall flatterten Wimpel und Fahnen im Wind und markierten die vorübergehenden Territorien der Königreiche. Niemand wunderte sich, dass Liútasils Banner an der entgegengesetzten Stelle zum Lager des Großkönigs Gandogar über den Häusern wehte.

Die Bewohner Poristas freuten sich über die Gäste. So großer Einnahmen hatten sich die Händler und Wirte seit dem Wiederaufbau noch nie erfreuen können, die Gassen und Straßen quollen über vor Menschen, Zwergen und Elben.

Dennoch herrschte eine deutliche Spannung.

Man befürchtete, es könnte sich ein ähnlicher Vorfall wie in Dsôn Balsur ereignen, und die Elben und Zwerge würden sich aus einem nicht erklärbaren Anlass gegenseitig an die Gurgel gehen. Dann würde die Versammlung in einem Chaos enden. Alle hofften, dass Andôkais Anwesenheit ihnen Besonnenheit schenkte, und sei es nur aus Furcht vor ihren Zaubern.

Als die Zeit des eigentlichen Treffens anbrach, trafen sich alle Königinnen und Könige des Geborgenen Landes in der restaurierten Versammlungshalle, in der sich einst die Magi und Magae beraten hatten. Nichts verriet, dass darin vier Menschen ihr Leben gegen Nudin verloren hatten. Schutt und Trümmer waren weggeschafft worden, und die alte Pracht war durch die Arbeit unzähliger Handwerker in die Kuppelhalle zurückgekehrt. Die Statue von Lot-Ionan befand sich in der Ostecke, mit Blick auf den gesamten Saal.

Narmora, gekleidet in eine bestickte, dunkelrote Robe, die ausgezeichnet zu ihren Augen und dem Kopftuch passte, stand unter einem der weißen Arkadenbögen und begrüßte die eintreffenden Herrscher im Namen ihrer Mentorin. Andôkai würde als Letzte eintreffen, ein Symbol ihrer Autorität und der machtbewusste Hinweis an die Besucher, dass es eine gab, die über ihnen stand.

»Schaut, wie sie sich rausgeputzt hat«, vernahm sie Boïndils dröhnende Stimme, die hinter der Menge von Königin Weys Lakaien erklang. »Nur wegen uns, Bruder.«

Die Diener machten den anrückenden Zwergen Platz, und Narmora erkannte Großkönig Gandogar, der von den beiden Zwillingen flankiert wurde. Hinter ihnen folgten die Abordnungen aller vier miteinander befreundeten Zwergenstämme.

Sie grüßte zuerst Gandogar, ehe sie die kräftigen Hände der Zwillinge drückte und herzlich schüttelte. »Träumst du noch von mir?«, fragte sie frech und zwinkerte Ingrimmsch zu.

Der Zwerg verzog den Mund. »Nein, Vraccas möge mich vor Alb-Träumen bewahren«, sagte er und verdrehte die weit geöffneten Augen. »Du siehst älter aus, Narmora. Ich dachte immer, Magie würde das Leben einer Maga bewahren?«

»Es ist viel geschehen«, antwortet sie vage, denn es lag nicht in ihrer Absicht, ihr Leid vor den gesamten Regierungen des Geborgenen Landes auszubreiten. »Wir können nach dem Treffen gern erzählen«, vertröstete sie ihn. So sehr sie sich anstrengte, ein Gesicht konnte sie unter den vielen Anwesenden nicht entdecken. Sie winkte Balyndis, die neben einem ihr unbekannten, aber beeindruckenden Zwerg stand. »Wo ist Tungdil?«

»Er ist bei den...«, plauderte Ingrimmsch freimütig drauflos.

Doch Boëndal unterbrach ihn mit einem Räuspern. »... bei den anderen im Grauen Gebirge. Es war ihm nicht vergönnt zu kommen. Wache, du verstehst?« Seiner Ansicht nach war es nicht gut, das Geheimnis der Freien vor so vielen Ohren preiszugeben. Es ging niemanden außer den Zwergen etwas an.

Narmora nickte und wusste, dass sie belogen wurde. Ein Blick in das fast schon verlegene Gesicht Gandogars brachte ihr die Gewissheit.

»Und frage Balyndis nicht nach ihm«, empfahl ihr Boïndil missgelaunt. »Sie gehören nicht mehr zusammen. Der Zwerg neben ihr ist ihr Gemahl, sie sind den Ehernen Bund eingegangen. Also, sag lieber nichts zu ihr.«

Das Schicksal meint es offenbar nicht nur mit mir schlecht. »Ich werde mich an deinen Rat halten«, gab sie lächelnd zurück. »Geht nun bitte hinein, eure Plätze sind gleich neben dem Eingang.

Weit genug entfernt von den Elben«, fügte sie hinzu und deutete einladend in den Raum hinter sich.

Sie folgte ihnen und schloss das Portal. Dann durchschritt sie den Saal, in dem Tische und Stühle halbkreisförmig aufgestellt worden waren, um sich auf den vorletzten freien Platz zu setzen. Der thronartige Sessel gebührte ihrer verhassten Mentorin.

Narmora beobachtete Liútasil. Der Elbenkönig Âlandurs unterhielt sich leise mit zwei Mitgliedern seiner Delegation; in den kurzen Gesprächspausen blickten sie feindselig zu den Zwergen auf der anderen Seite hinüber, um ihre Unterhaltung sogleich wieder aufzunehmen.

Was planen sie?, versuchte sie, ihre Gedanken zu ergründen, und starrte auf die Münder. Plötzlich hörte sie ihre Unterhaltung so laut, als stünde sie unmittelbar neben ihnen. Leider nützte es ihr nichts, auch wenn ihre magischen Fertigkeiten ihr Hilfe leisteten. Sie beherrschte die Sprache der Elben nicht, die sich so völlig von der ihrer Mutter unterschied.

Das Portal wurde von einem Luftzug aufgestoßen.

Ruckartig wandten sich die Köpfe, die Zwerge langten nach ihren Waffen, was die Elben dazu veranlasste, das Gleiche zu tun.

Auf der Schwelle stand Andôkai, in eine Robe in der gleichen Farbe wie Narmoras gehüllt; nur der Schnitt und die Stickereien waren weitaus raffinierter. In der Linken trug sie ihr Schwert in der Scheide.

Ihr Blick schweifte stolz über die Versammelten. »Willkommen in Porista, Ihr Regentinnen und Regenten des Geborgenen Landes«, sprach sie. »Willkommen, Ihr Elben, Zwerge und Menschen in meinem Palast.« Sie durchquerte die Halle und nahm auf ihrem erhöhten Sessel Platz, die Türflügel schlossen sich von selbst. »Ich habe Neuigkeiten. Und es sind keine, über die man sich im Geborgenen Land freuen wird.« Sie ließ ihre Worte wirken, dann sprach sie weiter. »Es gibt zehn Wesen im Jenseitigen Land, die aus Tion hervorgingen. Vraccas hat sie mit seinem glühenden Hammer in einem Streit aus Tion herausgeschlagen. Und nun trachten sie danach, alles zu vernichten, was Tion geschaffen hat. Das wäre aus Eurer Sicht nicht schlimm. Aber sie besitzen halbgöttliche Mächte, sie verbrennen die Erde, auf der sie sich befinden, und ruhen nicht eher, bis sie das Böse zerstört haben, ohne dabei Rücksicht auf die menschlichen Belange zu nehmen. Ihnen folgt ein Heer, das nicht minder zimperlich vorgeht.« Die Königinnen und Könige hörten die Nachricht über die Avatare Tions mit zunehmendem Schrecken. »Erinnert Ihr Euch an den Kometen, der über unsere Heimat hinwegzog und in einigen Regionen mannigfaltige Schäden anrichtete?« Andôkais Augen schweiften über die Gesichter. »Es war kein Komet. Es war der elfte von ihnen, der nach langer Reise zu seinen Brüdern fand. Er stieß in seiner feurigen Gestalt zu ihnen, und es hat den Anschein, als bereiteten sie den Sturm auf das Geborgene Land vor«, schloss sie ihren Bericht. »Nur die reinsten Kreaturen, die edel im Herzen und im Gemüt sind, können vor ihnen bestehen und wären in der Lage, sie zu besiegen. Was schlagt Ihr vor?«

Königin Wey, eine Frau um die fünfzig Zyklen in einem dunkelblauen, bodenlangen Kleid, das mit unzähligen Diamanten besetzt war, erhob die Stimme. »Ist diese Legende wahr, so bedürfen wir eines großen Heeres, und zwar eines noch größeren als dem, welches vor Dsôn Balsur steht.« Sie nickte der Maga zu. »Und wir benötigen Euch.«

»Meine Dienste und die meiner Famula sind Euch sicher, doch ich befürchte, dass sie nicht ausreichen werden. Ihr spracht ganz richtig von einem Heer...«

»Ein Heer aus Unschuldigen!«, sagte der in Pelz gehüllte König Nâte von Tabaîn aus einer plötzlichen Eingabe heraus. Sein schütteres Haar war so blond wie die Halme der Ährenebene, die Augen so grün wie die Blätter von Seerosen. »Ihr hattet gesagt, dass sie von den reinsten Kreaturen bezwungen werden können«, holte er aus. »Lasst uns die Jungfrauen und Männer, die sich der Fleischeslust noch nicht hingaben, versammeln und sie zu Soldaten ausbilden.«

»Nehmt doch Kinder«, brabbelte König Belletain vor sich hin, der mit seinem Weinpokal spielte und auch zu ihm redete. Ein Zwerg stand neben ihm und ließ ihn nicht aus den Augen, bereit, ihm bei einem Anfall von Schwäche sofort beizuspringen. »Steckt sie in Wurfmaschinen und feuert sie in die Reihen der Avatare, damit sie von der Keuschheit erschlagen werden.«

»Sind Menschen denn noch unschuldig, wenn sie das Kriegshandwerk erlernt haben?«, warf die braungebrannte Königin Umilante ein, die mehrere Lagen Kleidung übereinander trug und dennoch fröstelte. Ihr wüstenhaftes Reich bot ihr höhere Temperaturen als Porista.

»Man könnte sie auch der Länge nach verschnüren, ihre Schädel zuspitzen und sie in Pfeilkatapulte spannen, damit sie die Avatare durchbohren.« Belletain imitierte das Geräusch eines fliegenden Geschosses, sein Zeigefinger zielte auf den Pokal und schnellte vorwärts. »Ssst, mittendurch.« Der Behälter kippte um. »Seht Ihr? Es würde gehen.«

Niemand achtete auf den Vorschlag des wahnsinnigen Nachfolgers von König Lothaire.

Prinz Mallen deutete zu König Nâte. »Eure Anregung ergab bislang am meisten Sinn.« Er schaute zu Liútasil. »Oder könnt Ihr uns etwas dazu berichten? Kennt Euer Volk solche Gegner, und wenn ja, was hat es gegen sie unternommen?«

Ehe der rothaarige Elb antworten konnte, wies sein Begleiter zur Linken voller Hass auf die Delegation der Zwerge. »Da sitzen unsere Gegner! Verräterische Unterirdische, die feige gemordet haben und nun hoffen, dass ihre Taten in dem Durcheinander nicht auffielen.«

Boïndil sprang in die Höhe. »Nimm das sofort zurück, Spitzohr, oder ich schwöre...«

»Boïndil, sei ruhig!«, schmetterte Gandogar, und Boëndal und Balyndis zogen Ingrimmsch zurück.

»Was schwörst du?«, höhnte der Elb und sprang ebenfalls auf, stützte sich auf den Tisch und lehnte sich vor. »Dass du mich tötest? Würdest du denn einen offenen Angriff wagen, wo es um den Mut deines Volkes so schlecht bestellt ist? Wie viele von uns habt ihr in den letzten Sonnenumläufen bereits gemeuchelt und den Tod unserer Freunde den Albae untergeschoben?«

Andôkai erhob sich, ihre Augen sprühten Funken vor Zorn. »Hinsetzen!«, rief sie harsch. Beide gehorchten ihr auf der Stelle. Niemand wollte sich ihren Unmut in Form eines schmerzhaften Zaubers zuziehen. »Erst reden wir über Dinge, die wichtiger sind. Danach können wir meinetwegen über die Fehde zwischen Euren Völkern sprechen.«

Ihre Stimme verhallte in dem gewaltigen Raum, als es laut gegen das Portal hämmerte. Narmora eilte auf einen Wink ihrer Mentorin zum Einlass und öffnete einen Flügel.

Vor ihr standen Rodario und ein sichtlich erschöpfter Zwerg, von dem ein stechender Schweißgeruch ausging. Weiße Salzkränze hatten sich auf seinem Ledergewand gebildet.

»Hallo, meine Schöne der Schatten. Hier, diesen und seine drolligen Kumpane habe ich am Tor gefunden«, hob der Mime in seiner unnachahmlichen Art zu sprechen an, doch das ließ der Zwerg nicht lange mit sich machen.

»Ich bin Beldobin Ambosskraft aus dem Clan der Eisennagel vom Stamm des Ersten. Der Stellvertreter von Königin Xamtys, Gufgar Ambosskraft aus dem Clan der Eisennagel, schickt mich zu euch«, stellte er sich selbst vor und deutete hinter sich. »Der Lange ließ mich ein, als er sah, wen wir euch bringen.«

Narmora schaute über ihn hinweg und sah die Bahre, die von zwanzig Zwergen getragen wurde.

Auf der sich gefährlich durchbiegenden Konstruktion aus Balken, Schilden und kleinen Rädern darunter lag Djerůn. An seinem Visier und anderen Stellen der Rüstung haftete getrocknete grellgelbe Farbe. Seine Linke hielt sein in der Mitte durchgebrochenes, mit Orkblut beschmiertes Schwert, die Rechte eine Keule, an der Hautfetzen und Haare hingen. Sie hatten seine Finger nicht öffnen können und ihm die Waffen belassen.

»Wir wissen nicht, was mit ihm ist. Wir haben ihn vor West-Eisenwart aufgelesen. Wir wussten ihm nicht zu helfen, und so dachten wir, es sei das Beste, ihn zu seiner Herrin zu bringen.«

»Ihr habt richtig gehandelt. Kommt also herein«, entschied Narmora und öffnete die Tür, dann eilte sie in die Mitte der Kuppelhalle. »Ehrenwerte Maga, seht, wen unsere Freunde zu uns bringen.«

Die Zwerge schoben die Bahre vorwärts und brachten sie neben Narmora zum Stehen. Dann grüßten sie Gandogar und Xamtys, um sich an die Tür zurückzuziehen. Sie hatten ihren schweren, Kraft raubenden Auftrag erfüllt.

»Djerůn!«, rief Andôkai. Sie legte ihr Schwert auf den Tisch und verließ eilends ihren Platz, um nach ihm zu sehen.

»Zurück!«, schrie Balyndis warnend, sprang auf und griff nach ihrer Axt. »Hütet Euch! Das ist nicht Djerůn!«

Andôkai kam neben ihrem Vertrauten zum Stehen und blickte die Schmiedin überrascht an, stumm eine Erklärung fordernd.

Doch dazu reichte es nicht mehr.

Der Koloss erwachte aus seiner Leblosigkeit, und mit einer einzigen Bewegung rammte er der Maga das geborstene Schwert in den ungeschützten Bauch. Er sprang von der Bahre, zog ein zweites Schwert und drosch mit der Keule nach Narmora, die sich durch einen beherzten Sprung zur Seite mitten in die Delegation Tabaîns rettete. Sie hörten das Furcht einflößende Grollen und sah das violette Leuchten hinter dem Visier des Helms.

»Djerůn«, ächzte die Maga bestürzt und stierte auf die breite Klinge, die immer noch in ihr steckte. Sie machte einen Schritt rückwärts, zog sich den Stahl aus dem Leib und langte nach ihrer eigenen Waffe. Einen Zauber murmelnd, um ihre Wunde zu schließen, hielt sie sich bereit, einem neuerlichen Angriff zu begegnen.

Der folgte prompt.

Djerůn war von dem Willen beseelt, sie zu töten. Abwechselnd stießen Keule und Schwert nieder, und Andôkai sah sich zum ersten Mal mit der gewaltigen Kraft und der unglaublichen Schnelligkeit ihres Leibwächters konfrontiert, ohne dass es sich um eine Übungsstunde handelte. Dieses Mal war er sogar noch ungestümer.

Gerade hatte sie die Blutung gestillt, da traf sie die Keule schräg von oben gegen die rechte Schulter. Laut krachend barsten Gelenk und Schlüsselbein; die Wucht warf sie zu Boden, und der vorbereitete Zauber verging in ihrem Schmerzensschrei. Sie stöhnte heiser, als Djerůn ihr das Schwert zum zweiten Mal in den Bauch jagte und die Schneide grollend um 180 Grad drehte.

Der Stoß seines Helmes gegen ihren Kopf schaltete sie endgültig aus. Die eisernen Dornen rissen ihre Kopfhaut auf, Blut lief in die Augen, und ihr schwanden die Sinne.

Endlich erwachte die Versammlung aus ihrer Schreckensstarre. Allen voran stürmte Ingrimmsch. Die Krieger der Zwerge, Menschen und Elben warfen sich gegen Djerůn. Pfeile bohrten sich durch seine Rüstung, die Äxte und Hämmer der Zwerge sprengten die dicken Metallplatten ab und hackten sich durch das Kettenhemd in die Haut. Gelb sprühte sein Blut aus klaffenden Wunden, bis er auf die Platten sank. Das Leuchten hinter dem Visier erlosch.

Mit ihm gingen neun Menschen, drei Zwerge und vier Elben in den Tod. Königin Wey entkam nur knapp einem mörderischen Hieb, Umilantes dicke Kleidung bewahrte sie vor einem Schnitt.

Boïndil ließ nicht eher von Djerůn ab, bis er das Visier restlos zertrümmert hatte und sich sicher war, dass der Koloss nicht mehr lebte. »Der war zäh«, schnaufte er und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, in dem das safranfarbene Blut klebte.

»Verfluchte Kampfwut! Jetzt werde ich nie erfahren, wie er aussah.«

Narmora kniete neben ihrer schwer verletzten Mentorin. Für die Personen um sie herum machte es den Eindruck, als täte sie alles, um Andôkai zu retten, doch sie hatte sich anders entschlossen. Es galt, die einmalige Gelegenheit zu nutzen.

»Ich könnte dich heilen, wenn ich wollte«, raunte sie ihr zu. »Aber ich weiß, was du mir, Furgas und meinem toten Sohn angetan hast. Ich kenne deine Intrigen, Andôkai. Es bereitet mir Freude, dich leiden zu sehen.«

Die Maga hustete, ihr Blick flackerte. »Furgas wird ohne meine Hilfe niemals erwachen.« Sie packte die Kragenaufschläge an Narmoras Robe. »Lass mich sterben, und du verschuldest seinen Tod.«

Narmora unternahm keinen Anlauf, die zitternden Hände abzuschütteln, sondern suchte den scharfkantigen Malachitsplitter hervor. »Erinnerst du dich an ihn?«, fragte sie Andôkai, und ihre Augen wurden so schwarz wie die Nacht. »Er kann die Macht von Magischen speichern, Nôdʹonn trug ihn in sich. Als Tungdil den Magier vernichtete und seine Innereien sich auf dem Boden des Schwarzjochs verteilten, hat keiner den Stein gesehen. Ich habe ihn mir genommen und zu meinem Talisman gemacht. Wer konnte ahnen, dass er mehr werden würde?« Sie löste ihn von der Kette. »Samusin, steh ihr bei! Sie stirbt!«, rief sie laut, damit alle es hörten.

Sie hob die Hände und legte sie langsam auf Andôkais Brust. Dabei tat sie, als spräche sie einen Heilzauber, doch stattdessen schob sie im Verborgenen den fingerlangen Splitter durch die Robe, durch das Fleisch, trieb ihn tiefer und tiefer, bis er das Herz der Maga erreichte. Ein dunkelgrünes Leuchten legte sich über die Sterbende.

Namora redete wirre Silben, um die Zeugen glauben zu machen, es wäre ihr Zauber, bis der helle Schein erlosch. Das Ende nahte.

Sie beugte sich zum Ohr ihrer Mentorin. »Dein Tod heißt Narmora«, raunte sie ihr düster auf Albisch zu. »Ich nehme dir das Leben und deine Magie.« Sie hob den Kopf der Maga ein wenig an, um Andôkai beim Sterben in die Augen zu sehen. »Beides besäßest du noch, wenn du mich in Frieden hättest leben lassen.«

Mehr als ein aufbäumendes Krächzen brachte Andôkai nicht mehr zustande, dann wich das Leben aus ihren Augen.

Im Schutz ihrer Robe zog Narmora den Malachit aus der Wunde. Das Rot an ihren Fingern fiel bei den schweren Verletzungen ihrer Mentorin und der Blutlache, in der sie kniete, nicht weiter auf. Schnell ließ sie den Stein in einer Tasche verschwinden und wandte sich an die Umstehenden.

»Andôkai die Stürmische ist gegangen«, verkündete sie mit gespielter Trauer in der Stimme und wischte sich eine falsche Träne von der Wange. »Die letzte Maga des Geborgenen Landes ist tot.«

Entsetztes Schweigen breitete sich in der Halle aus.

»Dann«, sagte Gandogar gefasst und trat neben sie, »wirst du sie ersetzen müssen, Namora. Du bist ihre einzige Famula gewesen. Wir brauchen dich im Kampf gegen die Avatare, denn nur mit deiner Magie werden wir überhaupt bestehen können.«

»Ihr werdet überhaupt nicht bestehen können«, erklang eine tiefe Stimme von der Tür her. »Weder mit Magie noch mit einem Heer. Ihr werdet niemals ein Mittel finden, um die Avatare aufzuhalten.«

Zwerge, Menschen und Elben blickten zum Eingang, die Waffen kampfbereit erhoben und auf weitere unliebsame Überraschungen vorbereitet.

Dort stand ein einzelner Zwerg. Kunstreiche Tätowierungen zierten seine Züge, er war gerüstet bis zur Nasenspitze und hielt einen dreiköpfigen Morgenstern locker in der Hand. »Mein Name ist Romo Stahlherz aus dem Clan der Steinmalmer vom Stamm Lorimbur, und ich bin gekommen, um den Menschen und Elben im Namen meines Oheims, König Lorimbas Stahlherz und Herrscher des Schwarzen Gebirges, eine Offerte zu unterbreiten.« Ein zweiter Zwerg, noch breiter und eindrucksvoller als Romo, erschien schützend in seinem Rücken; auf seiner Glatze spiegelte sich das Licht.

»Die Dritten beteiligen sich am Krieg gegen die Avatare?«, staunte Königin Wey.

»Welche Offerte mag das sein?«, flüsterte Balyndis voller böser Vorahnungen ihrem Gemahl zu.

»Ihr könnt es euch nicht erlauben, sie auszuschlagen.« Romo griente widerlich. »Mein Oheim weiß, was man gegen die Bedrohung aus dem Westen unternehmen kann.« Er deutete mit dem Stiel des Morgensterns auf die Zwergendelegation. »Aber zuerst müssen die raus. Keiner vom Stamme Borengars, Giselbarts, Goimdils oder Beroïns wird hören, was ich zu sagen habe.«




Das Geborgene Land, irgendwo

unter dem Land Gauragar, Stadt Goldhort,

6234. Sonnenzyklus, Spätherbst


Sanda duckte sich unter dem Schlag weg, ließ sich dabei auf das rechte Knie herab und schlug mit ihrer stumpfen Axt zu, den Schwung ihrer Bewegung nutzend.

Tungdil hatte nicht einmal den Hauch einer Gelegenheit, dem Hieb zu entgehen, der ebenso kraftvoll wie präzise von der Kriegerin geführt wurde.

Die harmlose Klinge traf ihn von schräg unten gegen das Kettenhemd, das ebenso wie das Ledergewand und der wattierte Waffenrock den Schlag nicht abbremsen konnten. Er spürte einen heißen Stich, der ihm in die Rippen fuhr, und die Luft blieb ihm weg.

»Halt«, rief Myr besorgt und eilte herbei, um die Stelle zu besehen. Sie hatte das Knacken deutlich gehört. »Du sollst ihn nicht umbringen, du wolltest ihn ausbilden«, sagte sie vorwurfsvoll zu der Zwergin, die sich erhob und keinesfalls schuldbewusst wirkte.

»Ich habe ihm nur zwei Rippen angebrochen, Myr. Der Schmerz ist der beste Lehrer«, gab sie kühl zurück. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie die Chirurga nicht leiden konnte. »Er wird es überstehen und hat dabei etwas Wichtiges gelernt.« Sie blickte in Tungdils Augen und erwartete seine Zustimmung.

»Ich war wirklich zu unvorsichtig«, gestand er und biss die Zähne zusammen, als Myr die Stelle abtastete.

»Sie sind gebrochen, nicht angebrochen«, fauchte sie Sanda an. »Wenn deine Muskeln schwellen, sind sie deinem Hirn im Weg. Auch eine stumpfe Waffe kann töten.«

Die Tätowierungen in Sandas Gesicht gerieten in Bewegung, der Zorn formierte sie neu. Die Kriegerin wirbelte die Axt spielerisch und drohend zugleich. »Kann sie das, Myr? Wie gut, dass du es mir sagst, bevor ich dich damit streichele und aus Versehen deinen dünnen weißen Hals knicke.« Wutschnaubend verließ sie den Raum der Festung, in der sie sich täglich mit dem Zwerg traf, um ihn auf den Kampf mit Salfalur vorzubereiten.

»Ich habe mich immer für einen guten Krieger gehalten, und auch Ingrimmsch hat mich gelobt«, ächzte er und ließ sich auf die Steinbank sinken. Myr stützte ihn dabei. »Doch Sanda übertrifft mich um Längen. Sie übertrifft auch Ingrimmsch, wenn ich es mir recht überlege.«

»Du hast alle Zeit, sie zu übertrumpfen«, ermutigte ihn die Chirurga und verlangte, dass er die Stelle frei machte, damit sie ihn besser examinieren könne. Allein für dieses Wort hätte er sie küssen mögen, es klang so gelehrtenhaft und vertraut. »Vergiss nicht, dass sie dreimal so alt ist wie du und Erfahrung besitzt, die du noch nicht wettmachen kannst.« Sie schnalzte mit der Zunge, als sie den Bluterguss an seinem Rippenbogen entdeckte. »Die Lektion ist zu Ende«, entschied sie. »Du legst dich hin, und ich bringe dir Eis, damit du die Schwellung kühlst. Danach rühre ich dir eine Salbe an.«

Tungdil beugte sich vor und erhob sich; das Strecken bereitete ihm Schmerzen, die ihm zwar nicht unbekannt, aber dennoch unangenehm waren. Sie verließen Sandas und Gemmils Festung und wanderten den geschwungenen Pfad hinab, der ihnen einen Blick auf die Stadt gewährte.

Tungdil dachte an die scharfen Worte, die zwischen den beiden Zwerginnen gefallen waren. »Wie kommt es, dass ihr euch nicht leiden könnt?«, erkundigte er sich. »Ist Sanda doch eine Zwergenhasserin?«

»Nein. Wir hassen uns gegenseitig«, lachte Myr. »Es ist kein Privileg der Dritten, andere Zwerge nicht zu mögen.«

»Verrätst du mir den Grund?«

Sie schenkte ihm einen schelmischen Augenaufschlag. »Was denkst du, Tungdil? Weshalb kann es zu erbitterter Feindschaft zwischen Frauen kommen?«

Er grinste. »Ein Zwerg? Ihr habt euch in denselben Mann verliebt?« Er schaute hinauf zur Festung. »Sag nicht, dass ihr beide hinter Gemmil her wart?«

Myr wirkte verlegen und wandte ihr hübsches Gesicht in Richtung der Wasserfälle. »Ich kam aus Gemmenschatz, das ist die südlichste unserer Städte, und lernte ihn sehr bald kennen. Gerade als sich etwas zwischen unseren Herzen anbahnte, erreichte Sanda die Freien und betörte den König mit ihrem handfesten Charme. Ich habe ihr daraufhin gesagt, was ich von ihr denke, und dass ich sie für eine niederträchtige Käferlarve halte, die für die Dritten spioniert. Sie tat das Gleiche. Seitdem wissen wir, woran wir miteinander sind.«

»Du denkst, sie bespitzelt die Stadt?«

»Ja. Die Dritten wollen alle Zwerge töten, warum sollten sie vor den Freien zurückschrecken? Nur weil die ältesten Familien von uns schneeweiß sind, werden sie uns nicht verschonen. Ich denke, sie haben uns entdeckt und wollen mehr über uns und die Überläufer aus ihren eigenen Reihen wissen.«

»Und was sagt Gemmil dazu? Du hast es ihm sicher erzählt.«

»Das habe ich.«

»Und?«

»Er hat gelacht. Sein Herz macht ihn blind, aber ein paar Freunde und ich achten gemeinsam auf sie. Sie kann nichts tun, ohne dass sie beobachtet wird.«

»Daher rührt ihr Hass.«

»Nein. Sie ahnt nichts. Sie fürchtet, dass ich Gemmil nicht aufgegeben habe und ich meine Zuneigung zu dir nur spiele, um sie in Sicherheit zu wiegen und ihn ihr wieder abspenstig zu machen.« Sie wandte sich Tungdil zu, und ihre roten Augen schienen geradewegs in seine Gedanken zu schauen. »Doch ich spiele nicht, Tungdil Goldhand. Es ist mir sehr ernst mit dir.«

Eigentlich wollte es sein Verstand nicht, doch eine andere Kraft übernahm seinen Körper und zwang ihn dazu, den Kopf nach vorn zu beugen und ihre Lippen mit den seinen zu berühren. Sie schmeckten süß, weich, verlockend, nach Gewürzen und Honig. In seinem Magen kribbelte es, ihm wurde fast schwindelig.

Nach kurzem Zögern erwiderte sie seine Zärtlichkeit, ehe er von ihr abließ. Sie lächelten sich glücklich an und schlenderten schweigend die Straßen der Stadt entlang.

Habe ich in ihr eine Gefährtin gefunden? Tungdil betrachtete Myr, die ein paar Dinge einkaufte, welche sie am Abend zubereiten wollte. Bin ich wirklich über Balyndis hinweg? Die Chirurga drehte sich lachend zu ihm um und deutete auf eine Schale mit frischem Steinobst. Ihr Anblick brachte ihm das Kribbeln zurück, das er einst bei der Schmiedin verspürt hatte. Ja, ich habe eine neue Gefährtin gefunden, dachte er erleichtert und legte den Arm um sie, während sie nach Hause gingen.

Nach ein wenig Ruhe, einem guten Essen und einer Salbe, die tatsächlich die Schmerzen linderte, nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn quer durch die Stadt, bis sie an den Rand der Höhle und weiter in einen Stollen gelangten. Immer mehr Zwerge strömten herein, und so sehr Tungdil bohrte, Myr wollte ihm nicht sagen, was ihn erwartete.

So schritten sie den Gang entlang, der von Meisterhand in den Stein geschlagen worden war, und näherten sich einem blauen Licht. Tungdil hörte die leisen Unterhaltungen unzähliger Stimmen, die ihnen von vorn entgegenschlugen.

Schließlich mündete der Stollen in einer künstlich geschaffenen Höhle. Sie standen an der höchsten Stelle, vor ihnen fiel die Wand terrassenförmig ab; die Erbauer hatten zahlreiche Tribünen angelegt, auf denen sich die Zwerge nun niederließen. Unten befand sich eine breite Bühne, auf die man von jedem der Plätze aus eine gute Sicht hatte. Die Wände glommen im Schein blauer Leuchtkristalle.

»Ein Theaterstück?«, riet Tungdil. »Wenn Rodario wüsste, dass es bei den Freien so etwas gibt, würde er auf der Stelle eine Niederlassung des Curiosums eröffnen.« Myr schaute ihn verständnislos von der Seite an. »Du kennst ihn nicht - den Unglaublichen Rodario, Mime und Weiberheld«, erklärte er ihr rasch. »Er half uns dabei, die Feuerklinge zu schmieden.«

»Kein Theater«, verneinte sie. »Heute treten die Chöre der fünf Städte gegeneinander an, es ist ein ehrenvoller Wettbewerb und Vraccas gewidmet.« Sie deutete nach unten, wo die ersten Sänger auf die Bühne traten. Die Zuschauer bereiteten ihnen einen freundlichen Empfang, indem sie mit den Stiefeln auf den Stein stampften und ein künstliches Donnern schufen. »Du wirst es nie mehr vergessen.« Ihre Hand langte nach seiner.

Der Gesang hob an.

Er klang anders als das mystisch-getragene Stück der Vraccas-Priester. Man sang mit Bass und Bariton in der Kehle über die Schönheit der unterirdischen Schätze, der Höhlen und Grotten, das verborgene Gold, die hundert verschiedenen Farbtöne, die ein einziger Fels im geschulten Auge eines Zwerges hatte, über das Schmieden einer Axt, das Errichten einer Brücke über eine bodenlose Schlucht und alles Zwergische überhaupt.

Auch die Helden und Heldinnen kamen nicht zu kurz, ihre Taten und Kämpfe gegen unzählige Ungeheuer wurden mit schmetternden Stimmen gepriesen.


Ein Zwerg schritt voran, die Axt erhoben,

wir erheben die Stimmen, am ihn zu loben.

Nicht Furcht, nicht Bang kanntʹ er auf seinen Wegen,

das Land zu schützen, dafür erhielt er Vraccasʹ Segen.


Er erschlug Feinde so zahlreich wie niemand,

bis eine tödliche Klinge ihn fand.

Er starb verblutend und focht dabei unverdrossen,

er hat sein Blut für uns alle vergossen.


Die Mörderschar, sie gab nicht auf,

setzte über ihn weg, drängte zuhauf

durch den Pass, durch den Torweg ins Geborgene Land,

doch sie starb durch vieler Zwerge Äxte und Hand.


Aber es folgten noch mehr, und als alles schien verloren,

da schritt der nächste Zwerg voran, die Axt hoch erhoben,

wir erheben die Stimmen, um auch ihn zu loben.

Die Kinder des Schmieds, so wird es immer sein,

harren aus, kämpfen für alle,

nicht fürchtend Verlust, noch Tod oder Pein.


Zu Tungdils Erstaunen handelte eines der Lieder sogar von der Schlacht am Schwarzjoch, ein anderes besang in trauervoll-melancholischer Weise den Verlust der Feuerklinge und die Toten am Grauen Gebirge. Die Strophen gingen ihm durch Mark und Bein. Glücklicherweise war das Lied kurz genug, um ihn nicht in Trübsal versinken zu lassen. Und als die derben Trink- und Spottlieder angestimmt wurden, die er schon mit den Zwillingen gesungen hatte, summte er die Melodien mit.


Sitalia schuf sie aus Morgentau, Licht und reiner Erde,

auf dass ihre Gestalt am schönsten von allen werde.

Doch der Leib täuscht und trügt, ihre Seele ist schlecht,

sie sind überheblich und handeln nicht recht.


Die Ohren spitz, das Gesicht ganz hager,

die Rippen zu sehen und deutlich zu mager,

sie fisteln, sie flöten, sie stinken nach Blumen,

sie reden mit Bäumen, wie Birken und Ulmen,

sie haben kein Bier, trinken wässrigen Wein,

Vraccas sei Dank, er ließ mich kein Elbelein sein.


Doch bewundert von allen, geblendet vom Schein,

jeder Mensch möchtʹ ein holdes Elbelein sein,

doch wir wissen, wie sie wahrhaft sind,

seltsam an Gestalt und im Gemüt ein falsches Kind.


Die Ohren spitz, das Gesicht ganz hager,

die Rippen zu sehen und deutlich zu mager,

sie fisteln, sie flöten, sie stinken nach Blumen,

sie reden mit Bäumen, wie Birken und Ulmen,

sie haben kein Bier, trinken wässrigen Wein,

Vraccas sei Dank, er ließ mich kein Elbelein sein.


Drum triffst du ʹnen Elb, triff ihn gut, triff ihn hart,

damit hast du den andern die Arbeit erspart.

Und sollten die Weiber nachts wählen, die Wahl fiel nicht

schwer,

wir haben einen Hammer, die Elben nur einen Speer.


Zwischen den Chören traten Musikanten auf, ausgestattet mit Krummhörnern, verschiedenen Flöten und Flötensäcken aus Ziegenleder sowie zahlreichen Trommeln in allen Größen.

Für Tungdil verging die Zeit wie im Flug; solange er der Musik lauschte, spürte er keinerlei Müdigkeit.

»Du hattest Recht«, sagte er irgendwann leise zu Myr, als sich vor Rührung eine Gänsehaut auf seinen Armen bildete. »Ich werde den Abend nie mehr in meinem Leben vergessen.« Er küsste sie. »So wenig, wie ich dich vergessen werde... Wenn ich dir einen Ring schenken würde, würdest du ihn von mir annehmen?«

Sie lächelte ihn voller Glück an. »Ja, Tungdil Goldhand.«


*

Sieben Sonnenumläufe später saß Tungdil in Myrs Bibliothek und las ein einem der Bücher, das die Vergangenheit der Freien beleuchtete.

Die Zwergin hatte sich die Mühe gemacht und das, was auf unzähligen Steintafeln im Tempel des Vraccas geschrieben stand, säuberlich auf Papier übertragen, um es in ein handlicheres Format zu bringen. Dazu kamen Zeichnungen der Stadt, mal von der Festung aus, mal vom Plateau. Außerdem fand er ein Buch über die Stadt Gemmenschatz, aus der Myr stammte; staunend bewunderte er deren Architektur.

Die gemalten Abbilder waren so exakt, wie er sie aus den Nachschlagewerken Lot-Ionans kannte. Eine echte Gelehrte, dachte er bewundernd und blätterte um.

Es klopfte laut gegen die Tür.

Weil er davon ausging, dass es sich um Kundschaft der Chirurga handelte, blieb er in dem bequemen Sessel sitzen, bis das Hämmern zu laut wurde, um es zu überhören. Sandas Kraft und seine gebrochenen Rippen verfluchend, erhob er sich und sah nach, wer da so ungestüm Einlass begehrte.

»Ihr?«, rief er erstaunt und blickte auf zwei triefnasse Zwerge, die sich vom Aussehen her wie ein Ei dem anderen glichen.

»Ich hasse diesen Tümpel«, polterte Ingrimmsch augenblicklich los. »Wenn wieder einer der Avatare aus den Wolken fällt, soll er hier hineinplumpsen und das stinkende Wasser ein für alle Mal in eine Wolke heißen Dampf verwandeln.« Er wrang seinen Bart aus, sodass es auf die Schwelle plätscherte. »Du musst mit uns kommen, Gelehrter.« Wütend klaubte er sich einen Stängel Seegras aus den Haaren, warf ihn zu Boden und trat drauf. »Verdammt sei Elria. Beinahe hätte sie mich erwischt.«

Boëndal versuchte indessen, sich mit seinem feuchten Ärmel das Wasser aus den Augen zu wischen, stattdessen lief noch mehr hinein. »Ich weiß, ich habe gesagt, es sei das erste und letzte Mal, dass ich in den Weiher springe«, schimpfte er, »aber es gab keinen trockeneren Weg zu dir.«

Zögernd verharrten sie im Eingang. Sie erinnerten sich sehr wohl an die Worte Myrs, ja keine Flecken auf dem Teppich zu hinterlassen.

»Es ist schön, euch zu sehen. Aber was ist geschehen, und warum soll ich euch begleiten?«, fragte er sie beunruhigt und lotste sie in die Küche, wo sie nichts außer den glatten Steinfliesen schmutzig machen konnten. Die Tropfen kullerten zu Boden, und bald bildeten sich Pfützen um die Stiefel der Brüder.

»Nach Porista«, fiel Ingrimmsch mit der Tür ins Haus und schnappte sich die Reste des Mittagsmahls. »Mmmmhhh«, genoss er den Bissen. »Ich hatte vergessen, wie gut Myr kocht.«

Tungdil konnte sich keinen Reim darauf machen. »Zu Andôkai? Geht es um die Feuerklinge?«

»Nein.« Boëndal nahm sich ein Geschirrtuch und rubbelte sich das Gesicht trocken, dann reichte er es Boïndil, der sich mit Hingabe den Bart rieb.

»Ich werde ihn mehr einfetten müssen«, murmelte er vor sich hin und schaute sich in der Küche nach Butter oder Öl um. »Es kann nicht gut sein, dass er ständig so durchweicht wird. Die Geschmeidigkeit geht verloren.«

»Es ist einiges geschehen, seit du dich entschlossen hast, bei den Freien zu bleiben. Andôkai ist tot, Gelehrter«, eröffnete ihm Boëndal. In aller Kürze berichtete er von dem Treffen, den Erkenntnissen der Maga und dem Vorfall, der ihr das Leben geraubt hatte. »Narmora wird die Nachfolge der Stürmischen antreten, ob sie will oder nicht. Und du sollst für die Zwerge bei den Verhandlungen dabei sein, wenn Romo das Angebot seines Oheims unterbreitet.«

»Ich?« Noch während er sich wunderte, weshalb Gandogar ihn als Vertreter wollte, verstand er. Nicht von Borengars, Giselbarts, Goimdils oder Beroïns Nachfahren! »Das hat er weise entschieden. Ich bin ein Dritter und nicht von der Einschränkung betroffen.«

Boïndil legte den sauber abgenagten Insektenpanzer zurück auf die Anrichte. »Ich wollte dir noch eine Standpauke halten. Mir weiszumachen, du würdest nachkommen und stattdessen bei den Freien zu bleiben, ist nicht nett gegenüber einem alten Freund wie mir.«

Tungdil lächelte den Krieger an und reichte ihm die Hand. »Verzeih mir, aber ich fürchtete, dass du mich mitschleifen würdest.«

»Das hätte ich auch getan, Gelehrter«, erwiderte Boïndil feixend und nahm sich einen Kloß, tunkte ihn in die kalte Soße und biss hinein. »Oh, dafür würde ich sogar vier Dutzend Schweineschnauzen verschonen«, schwelgte er schmatzend. »Und sie erst nach dem Essen erschlagen.«

»Es sieht einmal mehr nicht gut für das Geborgene Land aus.« Tungdil schenkte ihnen und sich dunkles Bier ein. In Porista warteten eine neue Aufgabe und Balyndis, in Goldhort hatte er Myr und führte ein ruhiges Leben wie ein Gelehrter, von gelegentlichen Ausflügen an Esse und Amboss oder den Kampfübungen abgesehen.

Sein Blick fiel in den Nebenraum, auf den diamantenbesetzten Gurt von Giselbart Eisenauge, der ihm diesen zum Geschenk gemacht hatte. Nun hing er an der Wand, unter den beiden gekreuzten Äxten, die er sich geschmiedet hatte.

Boëndal bemerkte seinen Blick. »Ja, es sieht nicht gut aus«, sagte er und ließ offen, was er damit meinte.

»Und du bist vollends zum Gelehrten geworden?« Ingrimmsch deutete mit dem angebissenen Kloß auf ihn. »Kein Kettenhemd mehr, bequeme Stiefel - und wenn ich richtig sehe, hast du etwas zugenommen?«

Er lachte. »Nein, Boïndil. Du täuschst dich. Ich gehe bei Sanda Feuermut in die Lehre, und glaube mir, sie wäre die wahre Gefährtin für dich. Sie würde dich mit ihren bloßen Fäusten niederringen.«

Ingrimmsch lachte einmal kurz auf. »Sicher, Gelehrter. Nur weil sie dich schlägt, heißt das noch lange nicht, dass ein Kerl wie ich vor ihr nicht bestehen würde. Sie würde um Gnade flehen.« Er schob sich den restlichen Kloß in den Mund und spülte ihn mit einem Schluck Bier die Kehle hinunter. Dann rülpste er laut.

»Nimm den Gurt, Tungdil, und die beiden Äxte«, bat ihn Boëndal, »und komm mit uns. Oder fühlst du dich schon zu sehr als einer von ihnen? Die Zwerge des Geborgenen Landes brauchen dich und deinen Verstand. Es gibt niemanden sonst, den Gandogar zu den Verhandlungen schicken könnte.«

Der eher praktisch veranlagte Boïndil schritt an ihm vorbei, nahm den Gurt und eine Axt von der Wand, um sie Tungdil in die Hand zu drücken. »Lass dich nicht lange bitten, Gelehrter.« Er blinzelte ihm zu. »Gehen wir?«

Die Haustür fiel laut zu. Myr war nach Hause gekommen, die Behandlungstasche hing um ihre Schulter. »Sind die Schleusen am Wasserfall undicht geworden?«, fragte sie gespielt vorwurfsvoll, die Hände in die schmalen Seiten gestemmt und die roten Augen auf die Fußspuren geheftet. »Oh, Gäste! Und sie haben die Küche gefunden!« Lachend nahm sie zuerst Boïndil, dann seinen Bruder in den Arm und drückte sie. »Ihr seid aber schnell zurückgekehrt.« Sie schnupperte. »Da riecht jemand nach Klößen. Nach dem letzten Kloß, um genau zu sein.«

»Du bist selbst schuld«, lamentierte Ingrimmsch. »Sie waren unbewacht.«

»Ihr seid nicht gekommen, um meine Klöße zu vertilgen«, schloss sie aus den ernsten Gesichtern der drei Zwerge, und Boëndal erklärte ihr den Grund dafür. »Wenn du gehst, Tungdil, werde ich an deiner Seite sein. Wenigstens bis nach Porista«, entschied sie, ohne zu zaudern. »Ich werde meinen Gemahl nicht allein lassen.«

»Gemahl?«, rief Boëndal überrumpelt. »Meinen Glückwunsch und Vraccasʹ Segen!« Er schüttelte ihnen die Hände. »Hätten wir das geahnt, hätten wir Geschenke mitgebracht.«

Ingrimmsch hatte eben eine Hand voll Moosbeeren in den Mund geschüttet und drohte wegen seiner großen Überraschung nun daran zu ersticken. Das beherzte Klopfen auf die richtige Stelle seines Rückens durch die Chirurga bewahrte ihn davor, sein Leben äußerst unwürdig zu verlieren. Mit hochrotem Kopf nahm er einen Schluck Bier. »Auf euch«, krächzte er.

Tungdil zeigte ihnen stolz den selbst geschmiedeten Ring, den er am rechten Mittelfinger trug, Myr besaß das kleinere Gegenstück dazu. »Wir haben den Ehernen Bund im Vraccas-Tempel geschlossen.« Und niemand kam, um es zu verhindern, fügte Tungdil in Gedanken hinzu.

»Dann bringen wir eben zwei Gelehrte mit nach Porista«, lachte Boëndal. »Es kann nur gut für das Geborgene Land sein.«

Myr strahlte. »Das ist aufregend. Ich werde die Hauptstadt des Zauberreiches sehen. Oh, ich kann gar nicht so viele Blätter mitnehmen, wie ich Skizzen machen möchte.« Sie begab sich auf den Weg nach oben. »Ich suche gleich ein paar Dinge zusammen, damit wir bald aufbrechen können.«

»Dürfen wir zuerst trocknen?«, fragte Boïndil und wackelte mit den Schuhspitzen, die merkwürdige Geräusche von sich gaben. »In feuchten Stiefeln läuft es sich Blasen.«


*

Bevor sie abreisten, stattete Tungdil der Festung und damit Gemmil und Sanda einen letzten Besuch ab. Wie immer wurde er freundlich empfangen, und Sanda bot ihm etwas zu trinken an. So ausführlich wie er konnte, schilderte er dem Herrscherpaar die Lage. »Ihr seht, ich muss gehen.«

Sanda hatte aufmerksam zugehört. »Ich kenne Romo Stahlherz. Er ist einer der schlimmsten Zwergentöter, die mir begegnet sind, verdorben von seinem Oheim Lorimbas und ausgebildet von Salfalur. Ihn zu einer diplomatischen Mission zu schicken hat den gleichen Wert wie einen Ork zu heißen, auf das Wohl einer Horde Menschenkinder Acht zu geben. Lorimbas sandte ihn, um keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen zu lassen.« Sie schaute kurz zu ihrem Gemahl. »Er wird nicht verhandeln. Seine Aufgabe wird sein, den Willen des Königs in die Tat umzusetzen. Ohne Ausnahme und Abstriche.« Sie blickte Tungdil warnend an. »Oder auch, um jemanden umzubringen. Traue ihm nicht. Nicht ihm und auch sonst keinem, die du in seiner Nähe siehst.«

»Danke für deinen Rat.« Er deutete eine Verbeugung an. »Myr und ich sind bald wieder zurück.«

»Myr begleitet dich?«, sagte die Königin verdutzt, überwand ihre Überraschung aber schnell und ging nicht weiter darauf ein.

Tungdil hielt es für Freude, die unliebsame Beobachterin für eine Weile los zu sein. Falls sie überhaupt etwas davon ahnt, auf Schritt und Tritt überwacht zu werden. Die Chirurga hatte ihre Vorbereitungen in die Wege geleitet, ihre Mitwisser würden auf Sanda während ihrer Abwesenheit besonders gut Acht geben.

»Richte dem Großkönig meinen Gruß aus«, bat ihn Gemmil. »Bestell ihm von mir, dass ich ihn gern sehen möchte, sobald sich die Lage im Geborgenen Land beruhigt hat. Ich fände eine Unterredung angebracht. Auch wenn die wenigsten zurück in den Schoß des Clans möchten, so dürfte ein Handel zwischen den Stämmen und uns von beiderseitigem Vorteil sein. Du wirst ihm am besten schildern können, wie es bei uns aussieht und dass wir weit davon entfernt sind, eine Gemeinschaft von Mördern und Verbrechern zu sein. Vraccas achte auf deine Schritte!«

»Ich überbringe deine Worte gern.« Tungdil verneigte sich. »Goldhort hat einen begeisterten Fürsprecher in mir.«

Er verließ den kleinen Saal und stieg die Stufen zur Eingangshalle hinab, als er hinter sich Schritte hörte, die hastig zu ihm aufschlossen. Er drehte sich um, um nach dem Verfolger zu sehen, und blickte in das runenverzierte Antlitz der Dritten.

»Meine Worte mögen in deinen Ohren unfassbar klingen«, sprach sie eindringlich. »Du wirst sie nicht glauben wollen, doch es ist so. Achte unterwegs auf alles, was dir widerfährt, und nichts davon wird Zufall sein, solange Myrmianda in deiner Nähe ist.« Sie schaute sich nach allen Seiten um und vergewisserte sich mit gehetzten Blicken, dass sie allein waren.

Tungdil runzelte die Stirn und wich einen halben Schritt vor Sanda zurück. »Ich verstehe nicht, was das heißen soll«, beschied er sie und seine Miene verlangte deutlichere Worte. »Was hat meine Gemahlin damit zu tun?«

»Du wirst es selbst herausfinden müssen, Tungdil. Es liegt an ihrer Familie«, blieb sie geheimnisvoll. »Sprich nicht mit ihr darüber, dass wir uns über sie unterhalten haben, sonst verdirbst du es.« Eine Wache erschien am Ende der Treppe und sah zu ihnen. »Ich weiß, dass sie mich beobachten lässt und ihre Fäden spinnt, wie es ehrlose Gnome nicht besser können«, raunte sie. »Ich bitte dich um deinetwillen: Vertraue ihr nicht bodenlos.« Sie reichte ihm die Hand und sagte laut: »Das wollte ich dir noch für Gandogar auf den Weg geben. Vraccas schütze dich und alle, die dir nahe stehen.«

Er glaubte in ihren Augen Wahrheit zu erkennen. Aber sie ist eine Dritte, und Myr hält sie für eine Spionin. Sie versucht, einen Keil zwischen uns zu treiben, sagte er sich, als sie die Treppen hinabstiegen. Zwist würde uns schwächen. Aber was ist der Grund? Plant sie in naher Zukunft eine Heimtücke in Goldhort? Hat es etwas mit den Ereignissen in Porista zu tun?

Eine Stunde später eilte er neben Myr, Boïndil und Boëndal den Stollen entlang, der sie an die Oberfläche bringen würde.

Ein Blick in Myrs rote, warme Augen vertrieb die Worte Sandas, und als sie ihn liebevoll küsste, löste sich die seltsame Mahnung der Königin in Asche auf.




Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreiches Lios Nudin, Porista,

6234. Sonnenzyklus, Spätherbst


Ich habe es für dich getan. Narmora kniete neben dem Bett von Furgas. Ihre Stirn lag auf der kalten Hand ihres Gefährten, das Gesicht drückte sie in die Laken. Ich habe sie bestraft und ihr die Macht genommen, mit der ich dich heilen werde. Es dauert nicht mehr lange, bis ich dich erwecke und du unsere kleine Tochter siehst.

Sie stand auf, küsste seine fahlen Lippen und verschwand aus dem Zimmer. Sie spürte die Wärme des Malachitkristalls, der sich mit der magischen Energie Andôkais voll gesogen hatte. Sobald sie in Erfahrung gebracht hatte, wie sie den Splitter einsetzen konnte, würde Furgasʹ Leiden enden.

Zu ihrem großen Bedauern hatte die Befriedigung über den Tod ihrer ahnungslosen Mentorin nicht lange angehalten; längst überwog die Sorge um ihren Mann und das Geborgene Land, von dem auch sie ein Teil war. Ihre Hand legte sich auf die frische Robe, die sie übergestreift hatte. Sie spürte den Stein darunter.

Aus einem Seitengang stieß Rodario zu ihr und lief neben ihr her. »Schrecklich das alles«, begann er.

»Mach ein Theaterstück draus«, lautete ihr bissiger Ratschlag.

»Ich fürchte, es wäre eine Spur zu dramatisch. Selbst für mich. Die Spectatores würden das Curiosum scharenweise verlassen. Die einzige Maga tot, gemeuchelt durch die List der Avatare, wie man annehmen darf, das Geborgene Land von den Abkömmlingen Tions bedroht...«

Sie blieb stehen und funkelte ihn an. »Du hast gelauscht?«

»Nein. Mein Ohr war zufällig in eurer Nähe«, verteidigte er sich mit Unschuldsmiene. »Und die Wände sind verflucht dünn.« Er klopfte gegen die massiven Mauern. »Jedenfalls an manchen Stellen.« Sie ging weiter, er begleitete sie beharrlich auf dem Weg zur Versammlung. »Aber weißt du, was die Spectatores am meisten erschüttern würde?«

»Dass der Hauptdarsteller schlecht ist?«

»Nein, meine dunkle Schönheit mit der scharfen Zunge.« Er stellte sich ihr in den Weg. »Dass die eigene Famula ihre Mentorin heimlich und kaltblütig umgebracht hat, obwohl Dutzende Augen auf sie gerichtet waren.«

Narmora hielt inne. »Hast du den Verstand verloren?«

»Das sollte ich dich fragen. Ich habe dein Tun beobachtet.«

»Was denkst du, beobachtet zu haben?«

Er zeigte keinerlei Angst vor ihr; anscheinend baute er auf die lange Freundschaft zwischen ihnen. »Ich kam zusammen mit den Zwergen in die Kuppelhalle und stand in deiner Nähe, um dir notfalls beizuspringen. Und dann habe ich gesehen, was du mit dem Kristall gemacht hast.«

»Und?« Ihre dunklen, fast schwarzen Augen fixierten ihn. »Was gedenkst du zu tun?«

Er verzog die Lippen. »Nun, nichts werde ich tun, wenn...«

Verächtlich hob sie das Kinn. »Geld, Unglaublicher Rodario?«, glaubte sie zu wissen. »Du möchtest mich erpressen?«

»Bitte, ich habe Stil«, winkte er beleidigt ab. »Und abgesehen davon«, er trat an sie heran und suchte ihren Blick, »bin ich immer noch Furgasʹ Freund. Ob ich deiner bin, weiß ich derzeit nicht. Die alte Narmora hat sich sehr verändert.«

»Die alte Narmora hat zu viel erlebt, um sich nicht verändert zu haben.« Die Anspannung fiel von ihr ab. »Andôkai hatte den Tod verdient, Rodario, du weißt es am besten. Und ich bin mächtig genug, um es mit den Avataren aufzunehmen. Ich habe schnell gelernt.«

»In einem halben Zyklus kann man nicht die Erfahrung einer reifen Maga gewinnen, nicht einmal eine wohl so begabte Famula wie du.« Er legte den Kopf schief, seine Augen richteten sich auf die Robe und exakt die Stelle, unter welcher der Malachitsplitter lag. »Es sei denn...«

Sie ging an ihm vorbei, geradewegs zur Kuppelhalle. »Du wolltest etwas von mir«, erinnerte sie ihn. »Sprich es rasch aus.«

»Ich möchte dabei sein«, sagte er in ihren Rücken und folgte ihr gemächlich. »Ich möchte dort sein, wo du bist, sehen, welche Entscheidungen du triffst, und dich beraten, wie es Furgas getan hätte.«

Sie lachte. »Wie soll ich den Königinnen und Königen erklären, dass ein Mime an meiner Seite steht und die größten Geheimnisse erfährt, um später ein Theaterstück daraus zu ersinnen?«

Er schloss zu ihr auf. »Gar nicht, dunkle Schönheit. Ich bin von nun an dein Famulus, wenn dich jemand fragt. Es gibt keine bessere Ausrede, und ich schwöre«, er hob die rechte Hand und redete in feierlichem Ton, »dass ich dir ein guter Souffleur sein werde, sollten dir die Worte je versiegen.« Als er fortfuhr, ließ er das überzogene Getue sein. »Und dein Freund bleibe. Du hast mich dringend nötig, Narmora. Wem sonst kannst du dich anvertrauen und deine Gedanken mitteilen?«

Schweigend eilten sie die Arkaden entlang. An der Tür zum Saal blieb sie stehen und wandte ihm ihr Gesicht zu. »Du hast Recht, Rodario. Ich habe einen Freund bitter nötig.« Sie lächelte und wurde für wenige Lidschläge zu der Narmora, die er aus den Zeiten des Curiosums kannte. »Lass uns das Geborgene Land retten.« Sie drückte die Flügel auf und betrat den Saal dahinter.

Die Herrscherinnen und Herrscher der Menschen und Elben erwarteten sie bereits. Die Zwerge fehlten; zum Wohl der Verhandlungen hatten sie sich der unverschämten Forderung Romos gebeugt und blieben den Gesprächen fern. Narmora würde sie später davon in Kenntnis setzen.

Sie nahm auf dem prächtigen Stuhl Andôkais Platz, Rodario wählte den Platz daneben und gab sich alle Mühe, durch seine Erscheinung Eindruck zu schinden. »Das ist mein Famulus Rodario, dessen Talente Andôkai bereits vor längerer Zeit bemerkte, doch aus Gründen der Sicherheit geheim hielt«, stellte sie ihn vor.

Er erhob sich und vollführte eine tiefe Verbeugung; die kostbaren Kleider und die aristokratischen Züge mochten das unbedarfte Auge durchaus blenden. »Ich bin nicht nur ein hervorragender Mime, nein, in absehbarer Zeit werde ich Narmora die Unheimliche mit meinen bescheidenen Künsten gegen die Avatare Tions unterstützen«, verkündete er.

»Die werden dir nichts bringen«, unterbrach Romo seine blumige Rede. Er betrachtete Narmora. »Auch du wirst nichts ausrichten, und selbst deine Lehrerin hätte bei all ihrer Kunst versagt.« Er stand auf und begab sich in die Mitte des Raumes, wo sich die Lichtstrahlen aus den hohen Fenstern kreuzten. Sein schweigsamer, beinahe menschengroßer Begleiter blieb sitzen und verfolgte das Geschehen ungerührt.

Prinz Mallen von Idoslân, der gerade auf seinem Sessel saß, schüttelte den Kopf. »Und du willst mir vortäuschen, dass dein Oheim ein Mittel gegen die Avatare besitzt?«

Romo verneigte sich. »Prinz Mallen, ich soll dich von meinem Oheim fragen, ob dein Land noch immer grünt und blüht oder ob deine Garnisonen nicht mehr genügend Leute haben, um den Orks Toboribors Einhalt zu gebieten. Wir können die Feuer, die sie aus deinen Dörfern entfachen, sogar vom Schwarzjoch aus sehen.«

»Hör mit deinem selbstgefälligen Geschwätz auf«, rief ihn Narmora zu Ordnung. »Berichte uns von dem Vorschlag, damit wir auch etwas zu lachen haben.«

Der Zwerg öffnete den Mund, da klopfte es laut gegen die Tür.

Das letzte Pochen hatte nichts Gutes bedeutet, und so fiel es der Halbalbin schwer, aufzustehen und nachzuschauen, wer der Störer war.

»Der Held des Schwarzjochs beehrt uns«, entfuhr es Rodario laut. Mit Tungdil hatte er wahrhaftig nicht gerechnet.

Narmora reichte dem Zwerg die Hand, er schlug ein.

»Es freut mich, dich zu sehen, auch wenn die Umstände durchaus hätten glücklicher sein können«, begrüßte er sie mit einem breiten Lächeln. Hinter ihm standen die Zwillinge und eine sehr bleiche Zwergin mit weißen Haaren und roten Augen. »Sie heißt Myrmianda Alabasterhaut und ist meine Gattin«, erklärte er knapp. »Mein Erscheinen hat einen Grund: Darf ich im Namen aller Kinder des Schmieds an den Beratungen teilnehmen?«, bat er sie.

»Niemals!«, rief Romo und kam auf ihn zu, das Gesicht vor Wut verzerrt. Die Tätowierungen wirkten noch dunkler als sonst auf dem faltigen Antlitz. »Er ist ein...«

»... Nachfahre von Lorimbur«, erinnerte Tungdil ihn und hob die Axt, die er in seiner Rechten hielt. »Wenn mir deine Forderung richtig übermittelt wurde, hast du alle anderen Stämme hinauswerfen lassen, aber nicht deinen eigenen.« Er stellte die Waffe auf den Boden, und es krachte, als der Axtkopf auf den Marmor prallte. »Entweder du und dein Begleiter verlassen mit mir die Halle, oder du hinderst mich nicht daran, hier zu bleiben.« Gelassen schaute er in die stechenden Augen des Zwergs, der ihn erzürnt anstarrte. »Gut, ich nehme dein Schweigen als Erlaubnis.« Er wählte sich den Sessel, auf dem Gandogar gesessen hatte. »Fahre fort, Romo. Ich möchte hören, welche Macht den Avataren trotzt.«

Mallen nickte ihm zu; er konnte seine Erheiterung kaum verbergen, und auch die anderen Königinnen und Könige bis auf Belletain genossen die erste Niederlage Romos und hofften, dass weitere folgen würden.

Romo Stahlherz hatte sich indes gefangen. »Ah, ich sehe, dass du die Feuerklinge nicht bei dir trägst. Dann stimmt es, dass die Albae sie dir gestohlen haben?«, versuchte er, Tungdil in Verlegenheit zu bringen.

»Ich habe sie einer Albin geliehen. Sie will mich unbedingt töten, also wird sie sie zu mir zurückbringen«, antwortete er leichthin. »Aber wir brauchen die Klinge nicht, das sagtest du selbst.«

Mallen lachte leise.

»Nein, wir brauchen sie nicht«, grollte Romo. Während er weitersprach, drehte er sich langsam, um sie alle der Reihe nach anzuschauen. »Mein Oheim sah und verstand die Zeichen am Himmel, er kannte die Legende. Wir wollten das Schwarzjoch nicht umsonst in unsere Gewalt bekommen, denn wir wussten von geheimen Kammern, in denen das Wissen unserer Vorfahren lagerte und nur darauf wartete, von uns wieder entdeckt zu werden«, gestand er. »Und wir haben ihn gefunden, den Hort der Erkenntnisse. Dort stand geschrieben, welcher Waffe es bedarf, die Avatare zu vernichten.«

»Jungfrauen«, nuschelte Belletain, dumpf auf den Zwerg starrend. »Die Köpfe angespitzt, nicht vergessen. Ihr sollt sie haben, meinetwegen.«

»Nein, guter Freund und König Belletain, du musst deine Jungfrauen nicht opfern«, meinte Romo. »Ihr habt gehört, dass die Avatare die Splitter aus dem Leib eines Gottes sind, herausgeschlagen vom glühenden Hammer Vraccasʹ. Wir sind die Dritten, wir verachten das, was Vraccas außer uns schuf, und somit zählen wir auch die Avatare zu unseren Feinden, denen wir keine Gnade gewähren.«

Königin Wey räusperte sich. »Sag uns endlich, bei Elria...«

»Nein, ich sage es euch nicht. Es muss euch genügen, dass wir wissen, wie wir die Avatare abwehren können. Würde ich es euch sagen, brauchtet ihr unsere Hilfe nicht mehr und würdet die Forderungen nicht erfüllen. Mehr als den Hinweis, den ich euch eben gegeben habe, bekommt ihr nicht zu hören.« Aufgeregte Stimmen wurden laut, doch Romo wartete in aller Ruhe, bis wieder Ruhe einkehrte.

»Was verlangt ihr als Gegenleistung?« Tungdil lehnte sich nach vorn, die Augen leicht verengt, das Schlimmste befürchtend.

»Nichts, was unmöglich ist.« Romo sprach allein zu ihm, die Augen der Menschen und Elben richteten sich gespannt auf die beiden. »Entweder alle Stämme Borengars, Giselbarts, Goimdils und Beroïns verschwinden stehenden Fußes aus dem Geborgenen Land, oder wir schweigen und unternehmen nichts. Wenn sie gegangen sind, übernehmen wir den Schutz aller Pässe in den Außengebirgen. Unsere Zahl ist groß genug.« Er lächelte arglistig. »Es ist die Entscheidung der Zwerge, was aus dem Geborgenen Land wird.«

III




Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreiches Lios Nudin, Porista,

6234. Sonnenzyklus, Spätherbst


»Das ist also die List der Dritten.« Gandogar blickte in die betroffenen Gesichter der Zwergenkönige und der Zwergenkönigin. »Sie suchen erst gar nicht den offenen Krieg, sie werfen uns aus dem Land und besiegen uns auf diese Weise.«

Boïndil ballte die Fäuste. »Ich würde ihn in der Luft zerreißen, wenn ich dürfte.«

»Es würde nichts ändern«, meinte Tungdil.

»Schon, aber es würde mir gut tun«, seufzte der Zwerg sehnsüchtig. »Ich bin in der richtigen Laune, mich in ein Heer voller Schweineschnauzen zu stürzen und ihre Gedärme in hohem Bogen...«

»Sei still«, mahnte ihn Boëndal. »Wir denken nach, im Gegensatz zu dir.«

Gandogar und die Delegation der Zwerge saßen in einem der vielen Räume des Palasts um einen Tisch mit einer Landkarte und berieten darüber, was sie auf die Forderung Romos erwidern sollten. Sie tagten seit nunmehr vier Stunden, doch niemandem wollte eine gescheite Lösung einfallen. Bis zum Einbruch der Nacht erwartete man ihren Entschluss, und die Dunkelheit nahte mit großen Schritten.

»Warum wollte er uns nicht dabei haben, als er die Nachricht seines Oheims überbrachte?«, fragte Balyndis in die Runde.

Tungdil schaute zu ihr; seine Hand hielt die Finger Myrs, als müsste er sich ihrer Gegenwart und seiner Liebe auf diese Weise vergewissern, als wären sie ein Rettungsseil in einem dunklen Schacht. Zu seiner eigenen Beruhigung sagte er sich, dass er nichts mehr für die Schmiedin fühlte, die ihrerseits die Hand von Glaïmbar umfasst hielt. Sie sieht gut aus. Das verräterische schnelle Schlagen in seiner Brust stammte von der Aufregung und der Wut auf Romo und die Dritten, welche die verzweifelte Lage des Geborgenen Landes für ihre eigenen Zwecke nutzten. Jedenfalls redete er sich das ein.

»Ich denke, er wollte die Menschen und Elben zuerst einlullen und ihnen das Angebot ohne lästige Zwischenrufe schmackhaft machen, ehe wir es von Narmora erführen«, vermutete der einarmige Balendilín. »Dass du auftauchtest, damit rechneten er und diejenigen, die ihn schickten, gewiss nicht.«

»Gut für uns«, sagte Ingrimmsch überzeugt und prüfte seinen Bart, ob er noch ausreichend Fett enthielt. Der Braten hatte genügend Soße hinterlassen, die er durch stetes Reiben in die Haare eingearbeitet hatte; der Geruch nach Fleisch, der ihn umgab, störte ihn nicht.

»Gut? Noch glaube ich nicht daran. Wir haben die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass wir Lorimbas sträflich vernachlässigt haben. Er übertrifft Bislipurs Bosheit hundertfach«, kommentierte der Großkönig betrübt und stützte den Kopf mit der scheinbar immer schwerer werdenden Krone ab. »Ich gestehe es ungern, aber wenn euch nichts Besseres einfällt als mir«, seine Augen wanderten zu Balendilín, »kann ich nur Vraccas um Gnade und Nachsicht bitten und euch den Befehl erteilen, dass ein jeder Stamm ins Jenseitige Land geht.«

»Niemals!«, protestierte Boïndil laut und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Dann hätten die Dritten gewonnen, und...«

»... das Geborgene Land wäre vor den Avataren Tions gerettet«, vollendete Gandogar laut und Ehrfurcht gebietend. »Boïndil Zweiklinge, ich weiß, wie du dich fühlst. Auch in mir sträubt sich alles, den Dritten unsere wunderschönen Berge und Hallen zu überlassen. Doch erinnere dich an den Auftrag, den wir von unserem Schöpfer Vraccas erhielten.« Er sprach sie reihum an. »Erinnert euch alle! Wir sind dazu auserkoren, die Bewohner des Geborgenen Landes vor jedem Schaden zu behüten. Verlangt dies von uns, deswegen unserer Heimat den Rücken zu kehren, um den Untergang zu verhindern, ist es unsere Pflicht, so zu handeln.«

Nach den Worten des Großkönigs herrschte Schweigen im Raum. Verzweifelt suchten die Zwerge nach einer anderen Lösung.

»Wie wäre es mit einem schnellen Feldzug gegen die Dritten, um sie zur Preisgabe der Waffe zu zwingen?«, warf Königin Xamtys ein.

Balendilín lehnte ihre Idee ab. »Das Schwarze Gebirge ist uns allen vollkommen unbekannt. Ich kenne keine sicheren Wege und Pässe. Allein die Vorbereitungen für unser Unternehmen würden zu lange dauern, um sie mit einem Überraschungsangriff zu überrumpeln, selbst wenn uns die Menschen und Elben beistünden. Und außerdem sitzen sie noch im Schwarzjoch und könnten uns von dort aus in den Rücken fallen.«

»Der Zeitpunkt ihres Vorhabens ist aus ihrer Sicht vollkommen.« Tungdil sank gegen die Lehne des Stuhls. »Sie lassen uns fast keine Wahl.«

»Fast?«, horchte Gandogar auf. »Tungdil Goldhand, stehst du ein zweites Mal davor, ein Held zu werden?«

»Nicht ich. Die Dritten.«

Boëndal und Boïndil wechselten schnelle Blicke, sie ahnten, was ihr Freund der Runde gleich erzählen wollte. Balyndis bemerkte die Kopfbewegung der Brüder, Ingrimmsch zwinkerte ihr aufmunternd zu und gab ihr ein beruhigendes Handzeichen.

Tungdil fuhr sich über die Stelle, an der das Gold sich in seine Haut gebrannt hatte; es glänzte im Schein der sinkenden Sonne. »Ich war lange genug in Goldhort, der Stadt der Freien, um etwas über die Ausgestoßenen zu lernen. Unter ihnen leben Zwerge, die einst dem Stamm Lorimburs angehörten und die wie ich alles andere als von dem Wunsch beseelt sind, andere Zwerge zu töten.« So sehr er sich bemühte, es nicht zu tun, er schaute doch kurz zu Glaïmbar. »Sie kennen sich im Schwarzen Gebirge aus.«

»Und die meisten wären sicherlich bereit, uns beizustehen. Sie könnten uns als Führer dienen«, sprang ihm Myr bei und bereute es sogleich.

Die Köpfe drehten sich, alle schauten sie noch neugieriger an.

Sie war ein seltsam heller Fleck in ihrer Runde. Eine Zwergin, die keinerlei Rüstung trug und ganz und gar nicht nach dem aussah, was Vraccas aus dem Stein geschlagen hatte, ließ man den Alabaster in ihrem Namen einmal außen vor. Selbst wenn man ihn berücksichtigte, gab er kein gutes Bild ab. Alabaster war weich, keinesfalls stabil und taugte kaum für etwas. Er stand weit unter dem Granit, aus dem der Göttliche Schmied die ersten Fünf geschaffen hatte.

»Was wir von den Dritten zu halten haben, wurde uns eben von Romo eindrucksvoll dargelegt!« Damit sprach ausgerechnet Balyndis aus, was die Mehrheit der Zwerginnen und Zwerge dachte. »Das geht nicht gegen dich, Tungdil. Ich bin die Letzte, die deine Loyalität anzweifelt. Doch ich kenne dich sehr gut, was ich von den anderen Dritten nicht behaupten kann.«

»Eine Dritte ist die Königin der Freien«, wollte er ihnen erklären, als er spürte, wie ihn Myr unter dem Tisch heimlich gegen den Knöchel trat. Er erinnerte sich an ihren Verdacht, Sanda sei eine Spionin, also ließ er Sanda besser unerwähnt.

»Und ich kenne etliche von ihnen, denen ich mein Leben anvertraue, wie ich es meinem Gemahl anvertrauen würde.« Noch während Myr sprach, erkannte sie an dem ablehnenden Blick der vielen Augenpaare, dass sie sich ihren Atem sparen konnte.

»Nein, auf diese Verbündeten möchte ich mich nicht stützen müssen«, erteilte Gandogar dem Vorschlag eine Absage.

»Großkönig, wir verschenken einen Vorteil«, versuchte Balendilín die Meinung zu kippen. Er hatte erkannt, dass sich ihnen eine Gelegenheit eröffnete, Lorimbasʹ Vorhaben zu vereiteln. »Mit ihnen als Kundschafter kann uns eine Überraschung gelingen.«

Tungdil nickte dem Einarmigen dankbar zu. »Gandogar, nicht einmal du kennst die Ausmaße des unterirdischen Reichs der Ausgestoßenen. Würde ich dir eine Zahl nennen, so würdest du sie mir nicht glauben.« Er erhob sich, um seiner Rede mehr Gewicht zu verleihen. »Sie standen uns bei, am Grauen Gebirge, als die schrecklichsten Orks erschienen, die ich jemals sah. Zweitausend Zwerginnen und Zwerge. König Gemmil sandte sie uns innerhalb weniger Sonnenumläufe.« Beschwörend blickte er zu Gandogar. »Wir brauchen sie, Großkönig. Und es sind viele.«

Gandogar senkte das Haupt, schloss die Augen und legte die Hände vor das Gesicht. Es war nicht klar, ob er betete oder in sich ging, um zu einer Entscheidung zu finden.

Niemand sprach. Myr drückte Tungdils Hand und lächelte ihn zurückhaltend an.

Seufzend richtete sich der Großkönig aller Zwergenstämme auf. »Wir werden weichen«, verkündete er gefasst.

Boïndil stieß einen empörten Schrei aus. »Kampflos? Wir gewähren den Dritten den Triumph und sollen uns im Jenseitigen Land eine neue Bleibe schaffen?«

»Großkönig, ist es weise?« Balendilín hatte noch immer nicht aufgegeben. »Es wird tiefster Winter sein, bis wir die Gebirge verlassen, und wir haben Frauen und Kinder bei uns. Die Verluste werden gewaltig sein, ohne dass uns ein einziges Rudel Bestien angreift. Und wir ahnen nicht mal, was uns im Jenseitigen Land erwartet. Oder im Nebel.«

»Ich weiß«, sagte Gandogar heiser. »Ich weiß es sehr genau, Balendilín. Ich werde jeden einzelnen Zwerg beweinen und mich vor Vraccas deswegen verantworten, denn ich habe den Befehl gegeben, hinaus in die eisigen Berge zu gehen, Grate und Gipfel zu überwinden.« Tränen standen in seinen Augen. »Dennoch lassen wir die Heimat mit dem Wissen zurück, dass sie fortbestehen wird und wir eines Tages zurückkehren können. Es ist kein Abschied für immer.«

»Also doch ein Krieg gegen die Dritten. Nur später«, sagte der Einarmige. »Er wird furchtbar werden. Du kannst dir denken, dass wir uns an unseren eigenen Bollwerken aufreiben und die Dritten uns mit Pfeilen, Steinen und heißer Schlacke eindecken werden, bis keiner von uns mehr übrig sein wird.« Sein Finger senkte sich auf die Karte, deutete auf das Schwarze Gebirge. »Noch sind wir hier, noch können wir...«

Gandogar erhob sich zornig. »Will mir denn keiner zuhören? Habt ihr vergessen, welches Amt ich innehabe? Es ist zu gefährlich. Die Avatare scheinen uns zu kennen und zu beobachten, wie ihr Attentat mit dem falschen Djerůn beweist. Je eher sie von den Dritten aufgehalten werden, desto besser. Ich habe die Entscheidung gefällt, und ich sage, wir verlassen das Geborgene Land!« Er hob den Zeremonienhammer und schlug so fest auf den Tisch, dass er zerbarst. »Tungdil«, wandte er sich mit bebendem Leib an ihn, »geh zurück in die Versammlung und überbringe Romo Stahlherz meine Worte.«

Tungdil stand auf, verneigte sich und verließ zusammen mit Myr den Raum. »Es ist nicht gut«, sagte er unterwegs halblaut. Wenn sie schon so viel wissen, warum haben die Avatare dann den falschen Djerůn zu Andôkai geschickt und nicht ins Schwarze Gebirge, um die Waffe der Dritten zu vernichten?

»Was ist nicht gut? Dass sie gehen?«

Als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gerannt, blieb er plötzlich stehen, packte die Zwergin bei den Schultern und küsste sie innig. Das glückliche Leuchten auf seinem Gesicht wollte nicht so ganz zu der Stimmung passen, in der er bis eben noch gewesen war.

»Was?«, fragte sie ein wenig atemlos, von der leidenschaftlichen Attacke überrascht.

»Später«, vertröstete er sie und bat sie, vor der Tür zu warten. Rodario öffnete auf sein Klopfen hin und geleitete ihn an seinen Platz.

Romo hatte einen Humpen vor sich stehen und sog laut schlürfend das Bier in sich hinein. Sein Begleiter musterte Tungdil, stutzte und neigte den Kopf.

»Aha, der Laufbursche Gandogars«, lachte Romo düster und wischte sich über den Bart. »So hat dein Großkönig entschieden?«

»Er hat, Romo Stahlherz«, erwiderte Tungdil ausdruckslos. »Und er hat beschlossen, sich der niederträchtigen Erpressung deines Oheims zu beugen.« Ein lautes Stöhnen lief durch die Reihen der Menschen und Elben, teilweise schwang Erleichterung darin, teilweise war es reines Mitgefühl für die Zwerge, die durch eine List vertrieben wurden. Er baute sich vor den Plätzen der Dritten auf. »Und ich gelobe, dass ich dich und deinen Onkel eigenhändig töten werde, wenn ihr das Geborgene Land in die Hände der Avatare fallen lasst«, setzte er hinzu. Seine Rechte hielt die Axt und deutete auf Romo.

Der Neffe König Lorimbasʹ wurde durch Tungdils Haltung deutlich gewarnt, sich weder über ihn lustig zu machen noch ihn in irgendeiner Weise herauszufordern. Zum Erstaunen der Versammelten begegneten Romo und sein Begleiter Tungdil mit Achtung.

»Ich habe die Nachricht gehört und werde sie meinem Oheim übermitteln. Solange es uns gibt, wird nichts, was dem Geborgenen Land schadet, die fünf Pforten passieren. Keine Bestien, keine Avatare und«, er langte nach seinem Morgenstern, der vor ihm auf dem Tisch lag, »keine Zwerge.« Romo erhob sich, steckte seine Waffe in den Gurt und verließ die Halle. Sein schweigender Begleiter folgte ihm und warf im Gehen einen langen Blick auf Tungdil. »Wir beginnen in achtzig Sonnenumläufen damit, die Reiche zu besetzen. Jeder, den wir darin finden und der ein Zwerg ist, wird erschlagen«, kündigte Romo an und ließ eine Pergamentrolle auf den Boden fallen. »Darauf steht, was ihr mitnehmen dürft und was uns gehört. Im Nordosten beginnen wir. Gandogar soll sich beeilen.«

Sie verließen die Halle; ihre breiten Gestalten wurden kleiner und kleiner, bis sie am Ende des Arkadenganges vom Schatten verschluckt wurden. Das Klirren ihrer merkwürdigen Rüstungen war noch lange zu hören.

Die Zwerge, an ihrer Spitze Gandogar, kehrten zurück, nachdem Rodario ihnen Bescheid gegeben hatte, dass Romo und sein Leibwächter sich nicht länger in der Kuppelhalle befanden.

»Ein schrecklicher Tag«, sprach Prinz Mallen traurig; er ging auf sie zu und reichte ihnen die Hand. »Die Rettung des Geborgenen Landes wird mit der Vertreibung der Zwerge bezahlt. Man möchte den Exodus ablehnen und kämpfen...«

»Nein«, lehnte Gandogar ab. »Bis wir die Dritten besiegt hätten, könnte es zu spät sein. Wir kehren wieder zurück, wenn die Gefahr gebannt ist.«

»Und wir werden da sein, um euch beizustehen«, versprach Mallen. Er nickte dem Großkönig voller Achtung zu. Es war nicht nötig, weitere Worte über den Großmut und den Aufopferungswillen zu verlieren.

»Wenn die Dritten gelogen haben, haben sie mehr zu fürchten als deinen Schwur, Tungdil«, sagte Liútasil. »Wir werden sie schneller finden, als es den Avataren gelingt, unsere Wälder zu vernichten. Haben sie die Königreiche betrogen, so sterben sie durch Elbenhand.« Und zu Gandogar sprach er: »Dein Name und die Selbstlosigkeit der Kinder des Schmieds werden von nun an auch in den Liedern der Elben besungen werden. In Âlandur wird es niemand mehr wagen, schlecht von dir und den Nachfahren der ersten Fünf zu reden.«

Er verneigte sich tiefer, als es ein König vor einem König tun musste. Sämtliche Regentinnen und Regenten der Menschen taten es ihm gleich, dann verließen sie die Halle.

»Ich werde die Dritten begleiten und prüfen, wie sie die Avatare aufzuhalten gedenken«, versprach Narmora, ehe auch sie und Rodario sich zum Gehen wandten. »Ihr bekommt Nachricht, sollte ich Verrat und Betrug entdecken. Nach Tungdils Axt und dem Zorn der Elben kommt die Wut einer Maga, und was dann noch von den Dritten übrig ist, das sei euren Waffen empfohlen.« Mit diesen Worten zog sie sich in die Gemächer ihres Palasttraktes zurück.

Nach und nach verabschiedeten sich die Zwergendelegationen, und an ihren Mienen war abzulesen, dass die Mehrzahl von ihnen in dieser Nacht in Bier und Met versinken würde.

Lediglich Tungdil, die Zwillinge und Balyndis blieben übrig.

Boïndil erinnerte sich an die Frage, die er vergessen hatte zu stellen. »Balyndis, wie hast du eigentlich erkannt, dass es nicht Djerůn war, der in der Rüstung steckte?«

»Ich vergesse keine Arbeit, die ich gemacht habe«, erklärte sie lächelnd. »Und die Rüstung, die ich für ihn angefertigt habe, kann ich schon gar nicht vergessen. Die Gravuren und Ätzungen auf seinem Brustpanzer stammten nicht von meiner Hand, sie waren gute Fälschungen, aber nicht gut genug. Leider habe ich es zu spät erkannt«, räumte sie zerknirscht ein. Die Zwergin kam zögernd zu Tungdil und nahm ihn in den Arm. »Ich wünsche dir und deiner Gemahlin alles Beste, immer Glut in der Esse und einen Topf Gold unterm Bett, Tungdil Goldhand«, sagte sie gepresst. »Wir werden uns kaum wieder sehen, nehme ich an.«

Er schloss die Augen und sog ihren Geruch ein, er kam ihm vertraut vor wie einst. Jetzt, wo er ihm in die Nase stieg, erkannte er, wie sehr er ihn vermisst hatte. Niemals mehr würde er ihn wahrnehmen.

Ich liebe sie noch immer, begriff er wehmütig, als er sie drückte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. »Vraccas steh dir bei«, murmelte er, mehr brachte er in seiner Verwirrung nicht hervor.

Balyndis erschrak, als sie die Wahrheit in seinen Augen las, und ihm erging es nicht anders. Die Schmiedin erwiderte seine Gefühle, obwohl er sich im Zorn von ihr abgewandt hatte. Er griff nach ihrer Hand, sie aber wich zurück, schüttelte den Kopf und drehte sich rasch um. »Glaïmbar wartet«, sagte sie mit erstickter Stimme.

Er schaute ihr hinterher. Wie so oft. Viel zu oft. »Und ich muss zu Myr«, raunte er.

»Ho, Gelehrter, wir sind auch noch da«, machte sich Ingrimmsch reizend wie immer bemerkbar. Prüfend betrachtete er seinen Freund. »Und? Komm doch mit. Nimm Myr und schließ dich uns an.«

Boëndal glaubte, zuvor, als die Menschenkönige sich bedankt hatten, ein verräterisches Funkeln in Tungdils Augen gesehen zu haben. »Du planst etwas, oder?«

»Vielleicht.« Er legte dem Krieger die Hand auf die Schulter. »Aber du und Ingrimmsch werdet die Ersten sein, die es erfahren, wenn ich mich entschlossen habe. Noch fehlt mir das Quäntchen Mut dazu.«

Boïndil grinste erwartungsvoll. »Ich wusste es! Vraccas schickt dir den Funken, der das Feuer der Heldenhaftigkeit in dir neu entzündet. Abende am Kamin sind nichts für dich. Du kannst auf uns zählen. Wir reißen das Schwarze Gebirge ein und nehmen uns die Waffe.« Er und sein Bruder folgten Balyndis.

In einer eigenartigen Mischung aus Zweifel, Klarheit und Zuversicht schritt Tungdil durch den Palast, in dem er sich vor lauter Grübeln bald verlaufen hatte. Noch immer beschäftigte ihn der Abschied von der Schmiedin.

Die alten Wunden, von denen er geglaubt hatte, sie seien verheilt, hatten sich unter der dünnen, neuen Haut niemals geschlossen; auch der Balsam in Gestalt von Myr bedeutete keine wirkliche Heilung, sondern nur eine Ablenkung von den Schmerzen. Dennoch gehörte auch der Chirurga ein großer Teil seines Herzens.

Du hast anderes zu tun, rief er sich zur Ordnung, und ein Ruck lief durch seinen Körper. Vraccas, hilf mir bei meiner Entscheidung. Mühsam gelang es ihm, sich in der weitläufigen Palastanlage zu orientieren. Endlich fand er den Gang vor der Kuppelhalle wieder.

In einem dunklen Seitenkorridor erkannte er im Vorbeigehen die Umrisse von drei Zwergen, einer war sehr schmal und zierlich, die anderen breit, einer davon sogar von hohem Wuchs.

Da... Das war Myrs Stimme! Tungdil blieb stehen und kehrte zum Gang zurück. »Hallo, Myr. Hast du dich auch verlaufen?«, fragte er heiter.

Die kleinere Zwergengestalt stieß die größere grob zurück. Tungdil vernahm einen unterdrückten Frauenschrei, eine Rüstung und ein schwerer metallischer Gegenstand kollidierten scheppernd mit der Wand. Dann klatschte es laut.

In Tungdil erwachten die Kriegerseele und die Sorge des Gatten. Er packte seine Axt und sprang zwischen die Zwerge, die Myr bedrängten. »Zurück«, sagte er aufgebracht und sah, dass auf der linken Gesichtshälfte der Chirurga tiefe Schnitte klafften. Rotes Blut quoll hervor und rann über ihre weiße Haut. Nun betrachtete er die Angelegenheit als äußerst persönlich.

Romo hielt zwei dicke Bücher in der Hand, die andere langte bereits nach dem Morgenstern. An den Knöcheln des Eisenhandschuhs klebte Myrs Blut. »Habe ich das Vergnügen, den Held des Geborgenen Landes erschlagen zu dürfen?«, kicherte er. Er warf die Folianten seinem Begleiter zu. »Hier, Salfalur. Bring sie meinem Oheim. Er wartet sicher sehnsüchtig darauf.«

Salfalur! Das ist der Mörder meiner Eltern! Tungdil starrte den Begleiter Romos an, der die Bücher fing und sich zur Flucht wandte. Die Tätowierungen machten sein grausames Gesicht noch finsterer, fast dämonisch.

»Nein! Meine Aufzeichnungen!«, schrie Myr, riss einen Dolch aus ihrem Gürtel und warf sich todesmutig gegen den riesigen Zwerg. »Ihr bekommt sie nicht!«

Salfalur ließ den Dolch gegen seine Rüstung prallen; klirrend brach die Spitze ab. Dann drosch er der Zwergin die gepanzerte Faust mitten in das geschundene Gesicht. Sie flog wie von einem Schmiedehammer getroffen rückwärts, fiel gegen die Mauer und sank regungslos auf den Boden. »Romo«, befahl er mit tiefer Stimme. »Wir gehen, ehe die Maga oder ihr Famulus auftauchen.«

»Nein«, lachte der. Die Ketten und Kugeln seines Morgensterns kreisten leise surrend um den Griff und beschrieben einen Kreis. »Ich gehe erst, wenn ich wenigstens einen Zwerg getötet habe. Es wäre das erste Mal, dass ich bei einer Zusammenkunft keinen von ihnen sterbend zurückließe.«

Tungdils Verstand überwand den lähmenden Schrecken, den ihm die Erkenntnis und der Angriff auf seine Gemahlin beschert hatten. Gerade noch rechtzeitig duckte er sich unter den heranzischenden Kugeln hinweg.

»Du wirst keinen mehr von uns töten, wenn ich mit dir fertig bin, Romo«, versprach er aufgebracht. Er rammte dem Zwerg den Stil der Axt in den Oberschenkel, riss sie heraus und nutzte den Schwung, um mit dem Axtkopf zuzuschlagen.

Fluchend wich Romo aus, humpelte rückwärts und betrachtete seine Wunde. Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze. »Du sollst sterben, Blutsverräter!«, brüllte er ihm seinen Hass entgegen, nahm den Schaft seiner Waffe in beide Hände und begann eine Folge von Angriffen.

Tungdil beschränkte sich darauf, den eisendornenbesetzten Kugeln auszuweichen. Der Gewalt, mit der Romo sie lenkte, hatte der Stiel der Axt, so gut er sie mit Eisenbändern verstärkt hatte, nichts entgegenzusetzen. Sie würde bersten und ihn ohne Waffe zurücklassen.

Polternd schlugen die Kugeln des Morgensterns gegen die Gangwände und sprengten Stücke aus den Mauern, aber Romos Wut und Attacken wollten nicht enden. Keuchend und fluchend setzte er seinem Gegner nach.

Tungdil stolperte im Zurückweichen über Myr, die Unaufmerksamkeit wurde mit einem fürchterlichen Hieb bestraft. Eine eiserne Kugel schlug ihm gegen den Oberarm, die anderen prallten genau auf die gebrochenen Rippen. Aufstöhnend krümmte er sich zusammen und behielt nur mit eiserner Disziplin die Axt in der Hand.

»Was? Ein Treffer genügt, um dich zu bezwingen, du Held?«, verspottete Romo ihn und ließ den Morgenstern über dem Kopf zum nächsten Schlag kreiseln. »Was macht dann wohl ein zweiter aus dir?«

Die Kugeln schwirrten heran.

Tungdil nutzte seine Klinge, um sie abzulenken. Krachend fuhren sie ins Holz einer Tür, durchschlugen die Latten. Die Kette verhakte sich, und so sehr der Dritte daran herumriss, seine Waffe steckte fest.

»Wie viel verträgst du?«, wollte Tungdil wissen und führte die Axt einhändig gegen die Körpermitte Romos. Die Schneide schnitt sich durch das Eisen bis ins Fleisch; rotes Blut schoss aus der Wunde.

Anstatt sich zurückzuziehen, ließ der Dritte den nutzlos gewordenen Griff des Morgensterns los und schlug stattdesssen mit beiden Fäusten gleichzeitig nach dem Gesicht seines Widersachers. Tungdil ging benommen zu Boden. Die Augenlider schwollen an, Blut aus einer Platzwunde über der rechten Braue raubte ihm die Sicht.

Romo riss sich die Axt aus dem Leib und packte sie. »Mehr als du!«, schrie er zur Antwort und holte zum Streich aus.

Plötzlich wurde er in grelle Flammen gebadet.

»So spüre meine Macht!«, hörte Tungdil eine Männerstimme übertrieben laut rufen. Eine Flammenlohe schoss heiß über ihn hinweg und hüllte Romo ein zweites Mal ein.

Bart und Haare hatten Feuer gefangen, verbrannten, schwarze Gesichtshaut platzte auf. Stinkender Qualm füllte den Korridor.

Romo versuchte nicht einmal, sich zu löschen. Er machte einen Schritt nach vorn und hieb nach Tungdil, als sich eine Gestalt von hinten gegen ihn warf und seinen Schlag auf diese Weise fehlleitete. Die Axt fuhr Funken sprühend eine halbe Handbreit neben dem Zwerg in den Boden.

Romo schüttelte seinen Angreifer knurrend ab.

»Ho, es gibt einen der Dritten zu vernichten!«, rief Ingrimmsch laut. Schon hechte er über Tungdil hinweg und wollte Romo seine beiden Beile zu kosten geben.

»Halt«, rief Tungdil ihn zurück. Er stemmte sich in die Höhe und zog den Morgenstern aus der zerstörten Tür. »Er gehört mir.«

Den ersten Schlag parierte Romo noch, doch der nachfolgende erwischte Hals, Brust und Kopf. Benommen wankte er, ohne niederzusinken.

Tungdil benötigte drei weitere kraftvolle Schläge, bis der Neffe Lorimbasʹ tot im Gang lag. Bei dir bin ich gern ein Zwergentöter, dachte er und warf den Morgenstern gleichmütig auf den Besiegten.

»Der war nichts. Verwundet und angekokelt, so ist das keine Herausforderung«, beschwerte sich Ingrimmsch enttäuscht. »Wo ist der andere? Der Dicke? Der käme mir gerade recht.«

Boëndal kümmerte sich gemeinsam mit Tungdil und Rodario, der den zaubernden Famulus gemimt hatte, um Myr, die ohnmächtig auf den kalten Steinplatten lag.

Trotz seiner Schmerzen trug Tungdil sie in ihre Unterkunft und kümmerte sich um ihre Wunden, bis Narmora erschien und sie mit Hilfe ihrer Magie versorgte. Nicht einmal eine Narbe blieb auf Myrs weißer Haut zurück; selbst der silbrigweiße Flaum stand, als wäre er nie in Mitleidenschaft gezogen worden.

Danach ließ sie Tungdil ihre heilende Macht angedeihen und befreite ihn von den gebrochenen Rippen. Probehalber bewegte er sich, doch ihm tat nichts mehr weh. »Magie ist mir noch immer unheimlich«, gestand er ihr.

»Du willst sagen, meine Magie ist dir ebenso unheimlich wie die Andôkais.«

»Du bist ein Anhänger Samusins wie sie?«

»Es gibt keinen anderen Gott, der meine Gebete akzeptieren würde. Mach dir um Myr keine Sorgen, sie wird bis morgen schlafen«, erklärte Narmora. »Geh und hilf den anderen bei der Suche nach dem Dritten.«

»Er heißt Salfalur«, sprach er dessen Namen düster aus, packte seine Axt und stieß zu den beiden Zwillingen, die mit Rodario vor der Tür ausharrten. »Danke für deine Hilfe. Kennst du die schnellsten Wege aus der Stadt?«, fragte er den Mimen.

»Ich habe sie erbaut, mein gereizter Freund«, gab Rodario großspurig zurück. »Nun, sagen wir, ich lasse sie erbauen. Nach den Plänen von Furgas«, räumte er nach und nach ein.

Ingrimmsch runzelte die Stirn. »Du bist demnach die Aufsicht, nicht der Urheber.«

»Dennoch kenne ich mich aus.« Er streifte die Ärmel der Robe bis zu den Händen herab, damit die Vorrichtung besser verborgen wurde, mit der er den Anschein erweckte, er könne Flammen aus seinen Händen schießen. Die Menschen und Zwerge, die beobachtet hatten, wie er Romo verbrannt hatte, hatten sich zumindest täuschen lassen und hielten ihn wirklich für einen Famulus.

»Immer noch der Taschenspielermagier«, grinste Boëndal. »Betrug und Gaukelei.«

»Aber es wirkt«, beharrte Rodario verschnupft. »Die Frauen werden sich um mich reißen. Angesehener Theaterbetreiber, aufstrebender Famulus und ausgezeichneter Schauspieler in einer umwerfend gut aussehenden Persönlichkeit vereint.«

Boïndil gluckste erheitert. »Ja, und ihre Ehemänner werden dich zerreißen.«

»Los«, gab Tungdil den Befehl, musste aber gegen seinen Willen lächeln. »Für Unfug ist keine Zeit.«

»Unfug? Meine herrlichen...« Er verstummte und führte sie durch die verwinkelten Gänge des Palasts.

Porista kam in dieser Nacht nicht zur Ruhe. Zwerge, Menschen und Elben suchten die Stadt ab, durchstreiften die Ruinen und prüften jedes leer stehende Haus, aber von Salfalur gab es keine Spur.

Mit ihm verschwanden die Aufzeichnungen der Chirurga über die Städte der Freien. Das geheime Leben unter dem Geborgenen Land war den Dritten nun in allen Einzelheiten enthüllt.




Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreiches Lios Nudin, Porista,

6234. Sonnenzyklus, Spätherbst


Tungdil saß neben Myrs Bett, als die zierliche Zwergin aus ihrem Heilschlaf aufschreckte. Sie benötigte etwas Zeit, um sich zu erinnern, was geschehen war. »Habt ihr ihn aufhalten können?«, fragte sie mühsam.

Tungdil schüttelte den Kopf. »Nein. Er war wie vom Erdboden verschluckt.«

»Wir müssen Gemmil und die Freien warnen. Die Dritten wissen nun einiges über meine Heimat.« Sie schaute zur Decke und schlug mit der Hand gegen die Wand. »Hätte ich die Bücher doch nur zu Hause gelassen. Mein Geiz ist das Verhängnis meiner Freunde.«

»Wieso hattest du sie überhaupt mitgenommen?«

»Papier ist nicht billig, und ich wollte die leeren Seiten nutzen. Es sollten Aufzeichnungen hinein von allem, was ich unterwegs sehen und erleben würde. Ich bin eine Gelehrte und somit das Auge und Ohr von Goldhort. Nichts von dem, was gesagt wird, darf vergessen werden.« Sie strich vorsichtig über die Stelle, an der ihre Stirn mit der Wand zusammengeprallt war. »Und wie ein Krieger niemals ohne Waffe reist, würde ich als Gelehrte niemals meine Bücher daheim lassen.«

Er streichelte ihre glatte Wange, wodurch sie erst spürte, dass es weder Schmerzen noch Narben gab. Ungläubig berührte sie ihr Gesicht.

»Du suchst den Schnitt? Narmora ist eine Maga«, erklärte er ihr lächelnd. »Sie hat auch meine gebrochenen Rippen geheilt.«

»Magie?« Myr horchte in sich hinein, als ob sie so etwas wie eine Stimme, ein Echo oder einen anderen Hinweis auf das Wirken der Maga hören könnte. »Ich kenne solche Kräfte nur aus Berichten und Erzählungen«, erklärte sie beinahe verlegen. »Ich dachte, dass man es fühlen könne, aber da ist nichts.«

»Ich weiß. Es ist unheimlich«, grinste er. »Es liegt nicht in unserem Wesen, sie zu mögen.«

Er freute sich, Myr so wohlauf zu sehen. Für ihn gab es keinen Zweifel an seiner Entscheidung, mit ihr den Bund eingegangen zu sein. Auch die noch immer lebendigen Gefühle für Balyndis änderten nichts an der ehrlichen Zuneigung, die er für die Chirurga hegte. Die Seelenverwandtschaft zweier Gelehrter machte aus ihnen das vollkommene Paar, und wenn es ihm gelänge, ihr noch das Schmieden beizubringen, gäbe es gar nichts mehr auszusetzen.

Bis auf den Makel, dass du eigentlich Balyndis liebst, erinnerte ihn sein eigener Dämon arglistig.

Sieh her, antwortete er ihm, beugte sich zu der Zwergin und gab ihr einen Kuss.

Mich täuschst du nicht, lachte der Dämon. Nur dich.

Myr lächelte ihn unsicher an. »Sie waren zu stark für mich, Tungdil. Sie warteten in meinem Zimmer, als ich vom Spaziergang zurückkam, und durchwühlten meine Taschen. Als ich hineinging, schlug mich Romo... er heißt doch Romo? Der kleinere von den beiden schlug mich nieder und nahm mich mit.

Unterwegs wurde ich wach, und er drohte mich umzubringen, falls ich es wagte, um Hilfe zu rufen. Du hast uns entdeckt.«

»Und du hast mir das Leben gerettet«, entgegnete er. »Einmal mehr. Ich weiß nicht, ob ich die Verletzungen der Albaepfeile damals, als wir uns das erste Mal begegneten, ohne deine Künste überstanden hätte. Sobald du dich stark genug fühlst, brechen wir auf«, beschied er. »Vorher habe ich die Zwergenherrscher noch zu einer Unterredung gebeten. Du kannst dir mit dem Genesen also Zeit nehmen.«

»Aus welchem Grund bittest du sie zusammen?« erkundigte sie sich erstaunt und richtete sich auf ihrer Lagerstätte auf. Sogleich schwankte sie und sank gegen ihn. »Schwindel. Es sind die Nachwirkungen des Sturzes. Oder des Schlags.«

Er hielt sie fest. »Du wirst mich sicher gleich kobolddumm nennen, aber ich halte es für eine raffinierte Hinterlist.«

»Was denn für eine Hinterlist?«, sagte sie fast schon erschrocken.

»Der Dritten. Ich denke, dass sie nichts von den Avataren wissen«, eröffnete er ihr seinen Verdacht. »Sie nutzen unsere Angst, um ihren größten Sieg zu feiern und mehr von uns zu töten, als es ihnen ein Krieg je ermöglichen würde. Ich schätze, dass die Hälfte von uns bei dem Marsch durch die Berge abseits der Wege, welchen sie von uns fordern, ums Leben kommen wird. Kälte, unsichere Pfade, Geröll- und Schneelawinen erwarten uns.«

»Und Hunger«, ergänzte sie traurig.

»Ihre Forderungen sind brutal und einzig auf den Tod Unschuldiger ausgerichtet. Und wir wollen sie erfüllen, weil wir fest davon ausgehen, dass sie die Einzigen sind, welche über ein Mittel gegen die Avatare verfügen.« Er blickte in ihre roten Augen. »Aber Romo hat gelogen, und das kann ich beweisen. Er hat die Könige auf Geheiß seines Oheims an der Nase herumgeführt. Vor lauter Furcht hat niemand bemerkt, dass Romo beim ersten Gespräch lediglich von einer Gefahr aus dem Westen sprach und nicht von den Avataren, wie mir Boëndal sagte.«

»Dein Einwand würde mich nicht überzeugen, wenn ich ein Zwergenherrscher wäre. Romo kann es auch einfach vergessen haben...«

»Mag sein. Aber warum haben die Avatare den falschen Djerůn gegen Andôkai gesandt, wenn es die Dritten sind, die eine Waffe besitzen, welche sie aufhalten oder vernichten kann?«, setzte er nach und lächelte siegesgewiss. »Auch in dieser Hinsicht schwankte seine Aussage; mal sprach er von aufhalten, mal von vernichten.«

»Ist das bei einem Krieger wie ihm nicht dasselbe? Jedenfalls hatte es auf mich ganz den Anschein.«

»Aber es geht noch weiter mit meiner Beweisführung. Es war Unsinn zu behaupten, er könne uns nicht sagen, was für eine Waffe das sei.«

»Vielleicht ist sie so einfach herzustellen, dass sie Angst haben, wir könnten selbst darauf kommen und ihren Plan zunichte machen? Oder er wollte es aus reiner Willkür nicht preisgeben.«

»Nein. Nicht einmal einen Hauch einer Andeutung hat er gemacht - keine Auskunft darüber, ob es eine Waffe ist oder ein Gegenstand, ob man eine Schleuder benötigt oder ob es Runen sind, die auf das Tor im Westen gemalt werden müssen«, beharrte Tungdil, der sich von Myr nicht verstanden fühlte. Ihre Unterhaltung klang nach einem Disput unter Gelehrten, wie vor einem Gericht.

»Sicher sind Zweifel berechtigt, Geliebter. Aber überlege selbst: Würden die Zwergenherrscher lieber auf ihn oder auf deine Worte hören, die vom sicheren Untergang des Geborgenen Landes künden?«

»Romo hat auch nichts bewiesen, und sie sind auf seinen Vorschlag eingegangen.« Tungdil blieb störrisch, überlegte dann aber. »Ja, ich verstehe. Die Lüge klingt besser.«

»Wäre ich Gandogar und müsste zwischen euch beiden abwägen, stünde das größere Gewicht auf der Seite der Dritten. Haben sie Recht und wir halten uns nicht an die Abmachung, wird das Geborgene Land vernichtet. Ich wollte diese Schuld nicht ein Leben lang mit mir herumtragen.«

»Und stattdessen schickst du tausende von Zwergen ins Verderben, obwohl du dir nicht sicher sein kannst, dass es keine Lüge ist?«, brauste er auf. »Das ist doch nicht dein Ernst, Myr. Bedenke, was es bedeutet, wenn wir ausgesperrt sind. Wir können uns lediglich mit List oder Gewalt einen Weg zurück in unsere Heimat bahnen, während die Dritten sich über unsere Dummheit goldgelb lachen, weil wir auf ihre Finte hereingefallen sind.« Er stand auf. »Ich muss Gandogar, den anderen Königen und den Clanoberhäuptern wenigstens diese zweite Möglichkeit vor Augen halten, auch wenn ich deine Vorbehalte verstehe.«

»Du wirst sie sicher gleich noch einmal hören.« Sie schaute zu ihm auf. »Tungdil, mich hast du nicht überzeugen können.« Sie küsste ihn auf den Handrücken. »Ich wünsche dir, dass Vraccas mit dir ist.«


*

»Wir danken dir dafür, dass du uns vor einem Betrug warnen möchtest.«

Tungdil wusste, was die einleitenden Worte bedeuteten, Gandogar hätte sich die folgenden Sätze sparen können. Es ist mir nicht gelungen, sie zu überzeugen. Die Erklärungen des Großkönigs, die sich nun anschlossen, hörte er gar nicht mehr richtig, sie glichen denen Myrs, genau wie sie es prophezeit hatte.

Stattdessen schaute er über die Gesichter der Könige, der Königin und deren Begleiter, die beunruhigt, besorgt und zutiefst unglücklich dreinblickten. Sie überlegen, wie sie ihren Clans den Befehl des Großkönigs erklären sollen. Warum Zwerginnen und Zwerge sterben müssen - und das vielleicht nur wegen der Boshaftigkeit der Dritten. Er verneigte sich vor Gandogar, obwohl der immer noch sprach, und nahm wieder Platz.

Der Großkönig nahm ihm die mangelnde Ehrerbietung nicht übel. »Ich weiß, dass ich als der wohl schlechteste Großkönig aller Stämme in den Büchern unseres Volkes eingetragen werde, aber Lorimbas lässt mir keine andere Wahl. Wir haben unser eigenes Wohl unter das der Völker des Geborgenen Landes zu stellen, wie Vraccas es von uns verlangt.« Er stand auf. »Wir reisen ab. Erinnere Gemmil daran, dass das Abkommen auch für seine Freien gilt. Jetzt, wo die Dritten die geheimsten Städte kennen, werden sie auch diese angreifen und besetzen wollen.« Er grüßte ihn mit einem Handzeichen und verließ die Zusammenkuft. Nach und nach leerte sich die Halle.

Tungdil schlug die Hände vors Gesicht. Der Kummer über das, was seinem Volk bevorstand, drohte ihn zu übermannen.

Um ihn herum wurde es leiser, sodass er glaubte, er wäre allein. Umso mehr erschrak er, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er ließ die Hände sinken, blickte nach oben und schaute in das bärtige Gesicht Boëndals.

»Verzweifle nicht, Gelehrter. Mich hast du überzeugt.« Er trat zur Seite und machte Platz für eine Hand voll Zwerge, denen die Entschlossenheit in den Zügen gemeißelt stand. »Deine Worte haben ihre Wirkung nicht verfehlt, wenn auch nicht bei den Königen und der Königin, so doch bei dem ein oder anderen, der vernommen hat, mit welcher Inbrunst und Überzeugung du sprachst.«

Sie stellten sich ihm der Reihe nach vor, alle vier Stämme waren vertreten.

»Und?«, griente Boïndil. »Kannst du mit ihnen was anfangen? Hast du noch immer einen Plan, den du eigentlich den Herrschern vorschlagen wolltest? Wir hören dir gern zu.«

»Meinen Plan?« Tungdil dankte Vraccas, wenigstens ein paar Verbündete gefunden zu haben. »Nein«, antwortete er langsam, und ein breites Grinsen entstand auf seinem Antlitz. »Ich denke, ich habe mir soeben einen anderen, besseren einfallen lassen.«

»Um es dir gleich zu sagen, Tungdil Goldhand«, erhob einer von ihnen die Stimme, »ich werde nichts tun, was Verrat an meinem König, meiner Familie und meinem Clan bedeutet.«

»Es ehrt dich. Ich würde so etwas auch niemals von euch verlangen.« Sein Blick schweifte über die Reihe der Anwesenden. »Eher würde ich meinem Freund Ingrimmsch befehlen, mir den Kopf von den Schultern zu hauen.« Er winkte sie näher zu sich heran. »Aber ich werde euch mit einer Aufgabe betrauen, das ist sicher. Mit eurem Mut und dem Beistand des Göttlichen Schmieds...«

»... den wir mit Sicherheit haben«, warf Boïndil ein.

»... bereiten wir den Dritten eine böse Überraschung.« Und er erklärte ihnen, was sie zu tun hatten.


*

Narmora sprang aus dem Bett, eilte den Korridor entlang und stürmte in das Schlafzimmer von Furgas. Kurz darauf war auch Rodario bei ihm.

»Hat er geschrien?«

»Ja«, antwortete sie knapp. »Lauf und hole Myr. Sie wird erkennen, was ihn plagt.« Der Schauspieler rannte los.

Ist es schon soweit? Lässt der Zauber nach, mit dem Andôkai dich belegte?, fragte sie bang und tupfte Furgas den Schweiß von der Stirn und den Wangen.

Das Tuch färbte sich rosa. Unter das salzige Nass mischte sich Blut, es sickerte in dünnen Bahnen unter den geschlossenen Lidern hervor. Nein! Ich bin noch nicht bereit, dich von dem Gift zu befreien, das dir Andôkai verabreicht hat.

Narmora wartete ungeduldig auf das Erscheinen der Chirurga, die bald darauf zusammen mit Tungdil eintraf.

Myr untersuchte Furgas genau, horchte nach seinem Herzen und der Atmung, besah sich den Urin im Nachttopf und roch an der Haut. »Fieber. Bösartiges Fieber, hervorgerufen durch eine Vergiftung, lautet meine Vermutung.« Sie blickte Narmora an. »Sein Herz rast, ehrenwerte Maga. Es wird schneller und schneller, wie ein Hammerwerk, das von einem reißenden Bach angetrieben wird und ohne Wächter ist. Es wird zerspringen, wenn Ihr nichts dagegen unternehmt.«

Die Maga zuckte zusammen. »Ich... bin auf der Suche nach einem Zauber und habe gehofft, dass du etwas mischen könntest, um seine Qualen zu lindern.«

Myr hob die Augenbrauen. »Eine Vergiftung, die Eurer Macht trotzt? Dann muss es ein schreckliches Gift sein.«

»Kannst du ihm helfen oder nicht?«, fragte Narmora schärfer als beabsichtigt. »Beruhige sein Herz, Myr!«

»Ohne das Gift zu kennen, ist es mir nicht möglich, ehrenwerte Maga«, bedauerte sie. »Sein Leben liegt in Eurer Hand.« Sie packte ihre Utensilien zusammen und stand einen Moment unschlüssig im Raum, bis sie und Tungdil von Namora mit einem Kopfnicken entlassen wurden.

Kaum waren sie verschwunden, langte die Maga unter die Robe, holte den Malachitsplitter hervor und berührte die scharfkantigen Ränder, an denen noch das getrocknete Blut Andôkais haftete. Also muss es sein. Mit fliegenden Fingern wusch sie das Blut ab, öffnete die Robe und konzentrierte sich. Dabei richtete sie all ihre magische Aufmerksamkeit auf den Stein.

Plötzlich begann er zu leuchten und erwärmte sich, wurde heißer.

Samusin, ich bitte dich, schütze mein Leben und das von Furgas. Sie setzte die Spitze unterhalb ihres Brustbeins auf die helle Haut. Ihre Armmuskeln spannten sich und bereiteten sich darauf vor, den Malachit in sie hineinzutreiben, wie es Nudin einst bei sich getan hatte.

Nimm mein Leben, um seins zu erhalten, Samusin. Dann sterbe ich gern. Sie schloss die Augen und drückte sich den Splitter ins Fleisch.

Der Schmerz war unbeschreiblich.

Eine dunkelgrüne Sonne detonierte in ihr, flutete sie mit Glut, mit Säure, mit eisigem Wasser, riss an ihren Adern, pumpte sie zum Bersten voll, und bevor sie das Gefühl hatte, wie eine reife Frucht zu platzen, endete es abrupt.

Narmora fiel auf die Knie und erbrach grüne Flüssigkeit auf den Boden. Die nächste Welle Übelkeit spülte ihren gesamten Mageninhalt als stinkende, moosfarbene Brühe durch ihre Kehle; sie klatschte in einem Schwall neben das Lager ihres Mannes.

»Wer bist du?«, rief jemand dröhnend.

Sie hustete die letzten Brocken aus, stützte sich mit zitternden Armen ab und drehte den Kopf suchend nach rechts und links. »Wer ist da?«, keuchte sie.

»Ich kann dir Dinge zeigen und Kräfte geben wie keiner anderen vor dir«, raunte es, und sie entdeckte Nudin, der plötzlich in einer Ecke des Raumes erschienen war. Er verharrte dort mit einem freundlichen Lächeln. An seinem Leib trug er Gewänder, wie sie schon lange aus der Mode gekommen waren.

»Du? Wir haben dich bezwungen, im Schwarzjoch!«

»Ich möchte dir helfen.« Vor ihren Augen verwandelte er sich unvermittelt zu dem aufgedunsenen Nôdʹonn in der dunkelgrünen Robe, der sie angriente. »Ich mache dich zu einer gefürchteten Maga.« Ein grelles Flackern folgte, nun schwebte die nebelhafte Gestalt des Dämons, den Tungdil in der Höhle des Tafelbergs zerstört hatte, über Furgas. »Armer Mensch. Er stirbt«, wisperte er. »Du kannst ihn retten. Jetzt. Weil ich dir die Macht dazu gegeben habe.«

Narmora schaute in ein grün gleißendes Licht und musste die Augen schließen. Als sie wieder etwas erkennen konnte, war die Wolke verschwunden, und es herrschte Stille im Zimmer, abgesehen von Furgasʹ ununterbrochenem Stöhnen.

Ich habe es mir nur eingebildet. Die Stelle, an der sie sich den Malachit eingesetzt hatte, präsentierte sich makellos, es gab keine verräterische Narbe oder ein klaffendes Loch, aus dem es grün schimmerte. Lediglich ein einsamer roter Blutstropfen zwischen ihren Brüsten bestätigte ihr, was sie getan hatte.

Furgas schrie laut auf, sein Leiden steigerte sich.

»Ich bin bei dir«, sagte sie schwach, zog sich am Bettgestell hoch und legte die Rechte auf den Wundverband. Nun wird sich zeigen, welche Macht ich tatsächlich erhalten habe.

Langsam und deutlich sprach sie die erste von vielen Formeln, die ihr wie von selbst in den Sinn kamen und ihrem Geliebten das Gift aus dem Leib jagen sollten.

Es begann mit einem Zischen.

Schwefelfarbene Dämpfe stiegen aus dem ruhenden Körper und lösten sich im Flug auf; winzige gelbe Tropfen drückten sich durch die Haut, tanzten und hüpften wie Wasser auf einer heißen Herdplatte, rannen herab und tünchten das Laken.

Furgasʹ Brust hob und senkte sich immer schneller, er ächzte.

Töte ich ihn? Erschrocken wollte Narmora die Hand zurückziehen.

»Mach weiter«, forderte Nudin neben ihr. »Du besitzt die Kraft, ihn zu heilen, Narmora. Du wirst ihn bald in die Arme schließen können!« Er lächelte sie freundlich an. »Vertraue mir und der Kraft des Steins. Alles wird gut. Du bist eine Maga.«

Narmora sah den Magus deutlich vor sich, als wäre er niemals gestorben. »Du bist ein Trugbild«, sagte sie mit fester Stimme. »Verschwinde!«

Die Erscheinung deutete auf den gelben Verband. »Du musst weitermachen«, wiederholte Nudin.

Narmora richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihren Mann, ihr Verstand holte sich die magischen Silben aus dem Nichts, ihre Lippen gaben sie wieder.

Noch mehr Gift sickerte aus dem Körper des stöhnenden Furgasʹ, bis er abrupt schwieg und einen langen Atemzug tat, bevor er völlig still dalag.

»Furgas! Nein!«, rief sie entsetzt, rutschte zum Kopfende und streichelte angsterfüllt sein Gesicht. »Was habe ich...«

Der Mann schlug die Augen auf, schaute verwundert zur Decke, bemerkte Narmora und hob unsicher die Hand, um ihr geliebtes Gesicht zu berühren. »Du...«

Narmora schluckte, dann lachte und weinte sie gleichzeitig und schlang die Arme um ihn. Furgas richtete sich auf und drückte sie fest an sich. »Ich habe dich wieder«, schluchzte sie. »Ich danke Samusin auf Knien dafür.«

Furgas war verwirrt, genoss jedoch die Zärtlichkeit seiner Gefährtin. »Ich erinnere mich... an den Überfall«, sagte er angestrengt. »Was geschah dann?« Er küsste ihre schwarzen Haare und schob sie zärtlich von sich. Dabei entdeckte er, dass ihr Bauch verschwunden war. »Habe ich so lange Zeit im Bett verbracht?«, fragte er erschrocken.

»Warte. Du sollst sie endlich sehen.« Narmora eilte davon, um Dorsa zu holen.

Behutsam legte sie das kleine Mädchen in die Arme des Vaters, der beim Anblick des Bündels in Tränen des Glücks ausbrach. »Sie hatte noch einen Bruder, doch er ist bei der Geburt gestorben«, gestand sie ihm mit feuchten Augen. Dann berichtete sie ihm von dem unglückseligen Tag, an dem sich der Unfall ereignet hatte.

Furgas streichelte seine Tochter. »Wenigstens sie ist uns geblieben«, sagte er rau und küsste das kleine Köpfchen. Mit der anderen Hand zog er Narmora zu sich. »Ich liebe dich, Narmora. Ich liebe euch beide«, sagte er zu Dorsa. »Wir haben viel durchgemacht, um zu unserem Glück zu finden. Dafür ist es umso größer.«

Narmora gab ihm einen langen Kuss. »Ruh dich aus, Geliebter. Morgen berichte ich dir, was in der Zwischenzeit geschehen ist und was uns noch bevorsteht, damit unser Glück Bestand haben wird. Wir brauchen dringend dein technisches Geschick.« Sie schmiegte sich an ihn. In einer Ecke des Raumes meinte sie, Nôdʹonns Abbild kurz aufblitzen zu sehen, ehe es verblasste.




Das Geborgene Land, Dsôn Balsur,

6234. Sonnenzyklus, Spätherbst


Hosjep saß auf dem obersten Querbalken des größten Onagers, schlug die letzten Nägel ein und prüfte den Sitz der zusätzlichen Sicherungsseile, welche um die Holzstreben gewickelt worden waren. Sie waren notwendig, um den tonnenschweren Druck abzufangen, der auf den Balken lastete, wenn die Wurfmaschine ihre Arbeit verrichtete.

Der Zimmermann war nicht der Einzige, der in luftiger Höhe seiner Tätigkeit nachging. Um ihn herum hämmerten, zurrten, spannten und hobelten viele weitere Menschen, um aus den mitgebrachten Stämmen, Latten und Brettern Wurfmaschinen zu bauen.

Der nächtliche Überfall der Albae vor etlichen Sonnenumläufen hatte nicht nur zahlreiche Leben gekostet und die alte Feindschaft zwischen den Elben und Zwergen aufs Neue entfacht, er hatte auch eine gehörige Portion Siegesgewissheit zerstört, die in den Köpfen der Soldaten vorhanden gewesen war - bis zu diesem verheerenden Angriff. Die Folge war, dass viele Männer den Dienst quittierten oder sich davonstahlen und die Moral bei den Menschen sank.

Hosjep befand sich nur deswegen in unmittelbarer Nähe zu dem Albaereich, weil ihn das großzügige Entgelt für seine Arbeit lockte. Den Lohn, den er hier erhielt, verdiente er sich sonst in einem Sonnenzyklus. Ohne das Gold hätten ihn keine zehn Pferde an die Grenze zu Dsôn Balsur gebracht.

Er richtete den Blick auf den schwarzen Wald, der die breite Schneise säumte, welche das Feuer hineingebrannt hatte. Von hier oben sah er, dass sie höchstens eine Meile von der Ebene dahinter trennte. Von da an stand dem Heer nichts mehr im Weg.

Die schwarze Festung der Albae lag wie eine bösartige Geschwulst inmitten des Flachlands, in dem sich das Gras wieder grün färbte.

Es wird wunderschön anzusehen sein, wenn wir die letzten Albae vernichtet haben, dachte der Zimmermann und bemühte sich, sich seine Zuversicht zu bewahren.

Hinter der Festung erstreckte sich noch mehr Grasland, knapp vor dem Horizont erkannte er so etwas wie ein Loch, aus dem sich eine lange spitze Nadel erhob, die im Schein der Sonne knochenfahl schimmerte. Es war das Herz des Albaereichs, das es zum Verstummen zu bringen galt.

Hosjep nahm seinen Hammer und Nägel, um sich weiter um den Onager zu kümmern. Wie gut, dass ich die Truppen nicht bis dorthin begleiten muss, dachte er fröstelnd.

Bis zum Sinken des Sonnengestirns kletterte er auf der gewaltigsten der Schleudern herum und machte sich beim Einbruch der Dämmerung zum Absteigen bereit. Dabei ging er sorgfältig vor, denn es gab keine Sicherungsleine oder Fangnetze. Ein Fehltritt bedeutete einen Sturz aus mehr als zehn Schritt Höhe.

Überall im Lager, in dem neue Rekruten eingetroffen waren, wurden große Feuer entzündet. In die frisch ausgehobenen Gräben um die Zelte herum legten die Soldaten mit Pech und Teer getränkte Tücher und zündeten sie an. So schufen sie einen Ring aus Flammen, durch den kein Alb hindurchgelangen konnte, ohne sich schwere Verletzungen zuzuziehen. Jede Stunde, so lautete die Anweisung, wurde etwas von der stinkenden Masse nachgeschüttet, die so zäh war, dass sie nicht im Erdreich versickerte. Den beißenden Qualm und den Gestank nahmen die Männer gern in Kauf. Sie bildeten im Vergleich zum Tod das kleinere Übel.

Hosjep war zufrieden. Die Wurfmaschinen erhoben sich erneut und drohten den Resten des Waldes mit ihren langen Armen; in zehn Umläufen wären zudem die Lager mit Petroleum und Öl vollständig aufgefüllt. Im Grunde sah es gut für das Heer aus.

Wenn da nicht die Angst, die Geschichten und der Aberglaube gewesen wären...

Zeit für ein gutes Mahl und einen Humpen Bier! Hosjep freute sich auf sein Bett aus Stroh, auf dem er seine müden Glieder ausruhen konnte. Er sprang auf den schräg nach unten zeigenden Wurfarm und wollte auf dem mannsbreiten Balken nach unten balancieren, als er sah, dass die Flamme des Feuers neben der Maschine kleiner wurde, sich ängstlich zusammenduckte und ins Holz kriechen wollte.

Hosjep verharrte an seinem Platz und schaute sich um.

Nicht nur dieses Feuer verhielt sich merkwürdig. Alles, was brannte, von der Kerze auf dem groben Tisch der Soldaten bis zur Öllampe vor dem Zelt des Kommandanten, litt daran, verkleinerte sich und verlor seine Leuchtkraft, bis es auf einen Schlag stockfinster im Lager wurde.

Der Zimmermann hörte keinen Laut. Die Menschen waren vor Schreck erstarrt, horchten in die Finsternis und beteten, dass sich nichts regte.

Ich hätte niemals geglaubt, dass es nachts so dunkel werden könnte. Sogar der Mond und die Sterne verbergen sich hinter den Wolken. Hosjep kam es so vor, als würde das gesamte Heerlager von Schwärze umfangen, die es ihm unmöglich machte, die Hand vor Augen zu sehen.

Die Pferde rochen etwas. Laut wieherten sie ihre Furcht heraus, versuchten sich loszureißen. Die Pfosten, an denen ihre Leinen festgebunden waren, ächzten und gaben schließlich der geballten Kraft nach.

Er hörte das Knirschen und Krachen, dann donnerten hunderte von Hufen durch das Lager, rissen Zelte um, trampelten Soldaten nieder. Die Tiere sahen genauso wenig wie die Menschen und wandten sich blind in die entgegengesetzte Richtung, aus der die Witterung in ihre Nüstern stieg. Gelegentlich spürte Hosjep eine Erschütterung des Holzes, wenn eines der Pferde dagegen rannte.

Staub wirbelte bis zu ihm hinauf, er roch Asche von erloschenen Feuern. Allmählich endete das ohrenbetäubende Rumpeln; die Pferde waren geflohen und wieherten leise in der Ferne.

»Sammeln«, schrie ein Offizier, der besonders abgebrüht war, um die erschrockenen Rufe und das Jammern der Verwundeten zu übertönen. »Dritter Zug zu mir, formiert euch. Die Pikenträger nach vor...« Er verstummte, und gleich darauf erklang das Fallen eines gerüsteten Körpers.

Alle, die nahe genug gestanden hatten, wussten, was es bedeutete.

»Weg!«, brüllte jemand angsterfüllt, eine Waffe fiel zu Boden, und schnelle Schritte erklangen. »Sie sind im Lager! Sie sind hier!«

Hosjep kauerte sich flach auf den Onagerarm und hoffte, dass er so weit oben und zwischen den senkrecht aufragenden Holzpfeilern vor aller Augen verborgen war, falls die Dunkelheit wich.

Um ihn herum brach das Sterben an.

Ein einzelner, lang gezogener Todesschrei leitete das Gemetzel ein, und die Geräusche, die ihm ein grausamer Wind aus allen Ecken des Lagers zutrug, würde er in seinem ganzen Leben nicht mehr vergessen.

Die Albae schienen sehr genau zu wissen, wo sich die Soldaten befanden. Unablässig sirrte es aus allen Richtungen. Ein verirrter Pfeil traf den Zimmermann ins Bein, doch er biss die Zähne zusammen, um sich nicht durch einen Schmerzenslaut zu verraten.

Das Klirren von Schwertern und die gellenden Schreie der Menschen hielten an. Dann riss die Wolkendecke auf; die Nachtgestirne durchbrachen die Finsternis und offenbarten Hosjep das grausame Schlachten.

Die Leichen der Soldaten lagen übereinander und bildeten einen grotesken Teppich, der mit zahlreichen dunklen Flecken besät war, wo das Blut der Sterbenden die umliegenden Kadaver besudelte.

Auf diesem Teppich eilten die Albae hin und her, stets auf der Suche nach Überlebenden, die sich unter den Bergen aus Leichen tot stellten und sich so das Leben erhofften. Zielsicher wurden sie gefunden und besonders grausam hingerichtet.

Palandiell, sei mir gnädig. Sie haben alle umgebracht! Hosjep entdeckte nicht einen einzigen erschlagenen Alb. Wie konntest du das zulassen?, haderte er mit seiner Schutzgöttin, Tränen des Entsetzens in den Augen.

Eine Albin kam über die Kadaver geritten, getragen von einem Stier mit gewaltigen Hörnern, die wie der Schädel von einer eisernen Maske umschlossen waren. In den Aussparungen für die Augen loderte es glutrot. Sie rief den Albae in ihrer Nähe etwas zu, woraufhin einige die Kehlen der Toten öffneten, um das Blut in Gefäßen aufzufangen. Andere machten sich an den Wurfmaschinen zu schaffen, bestrichen sie mit Pech und gossen das restliche Petroleum darüber.

Ich kann wählen, ob ich lieber verbrenne oder abgeschlachtet werde, dachte Hosjep verzagt. Wenn die Flammen höher schlugen, würde er sich den Pfeil aus dem Bein ziehen und ihn sich durchs Herz stoßen. Lieber verbrennt mein Leib, als dass ich in ihre Hände falle, entschloss er sich.

Da hob der Bulle den Kopf und schaute geradewegs zu ihm auf; sein Schnauben machte die Reiterin aufmerksam, und sie folgte seinem Blick.

Der Zimmermann erkannte ihr Gesicht nicht, es lag hinter einer Augenmaske und einem Stück schwarzem Stoff verborgen. Sie hob ihren Kampfstab und sagte etwas; ein Alb nahm seinen Bogen und schoss nach ihm.

Der Pfeil traf ihn in die linke Schulter. Aus dem Gleichgewicht gebracht, stürzte er hinab, prallte auf eine Seitenstrebe des Onagers und landete auf einer weichen Unterlage aus toten Körpern.

»Zurück! Zurück, ihr Dämonen!«, weinte er und wälzte sich herum, wollte aufstehen. Als ihm einer der Albae zu nahe kam und sich nach ihm bückte, zog er das Schwert eines Getöteten und stach so unvermittelt zu, dass die Klinge dem Feind in den Bauch stieß.

Aber der Alb starb nicht.

Er richtete sich auf, umfasste den Griff und zog sich die Schneide eigenhändig heraus. Schwarzes Blut floss aus der Wunde, doch der Strom verebbte bald.

Sie hat sich geschlossen! Hosjep kroch zurück. Deswegen haben sie keine Verluste... Palandiell, was haben wir dir getan, dass du unseren Feinden erlaubst...

»Mensch«, sprach ihn die Albin an. »Deine Götter waren dir wohlgesonnen, denn du hast das hier überlebt. Kehre zu deinem König zurück und berichte ihm davon. Sag ihm im Namen der Unauslöschlichen, dass wir nicht weichen werden. Wir haben neue Kräfte erhalten, Tion gab sie uns, und du hast gesehen, was sie bewirken.« Sie lenkte den Stier nahe an ihn heran. »Oder hast du Zweifel an dem, was du sahst?«

»Nein«, rief der Mann und wich noch weiter zurück. »Ich werde es Mallen ausrichten.«

»Dann geh.«

Und Hosjep drehte sich um und lief trotz der Schmerzen in seinem Bein und der Schulter wie noch niemals zuvor.

Ondori wendete ihren Bullen und gab neue Anweisungen.

Die Einheit, die von dem Schwarzem Wasser getrunken hatte und mit ihr in die Schlacht gezogen war, hatte die Prüfung bestanden. Keiner von ihnen starb durch die Wunden, die sie empfangen hatten. Âlandur, erzittere. Wir kommen bald über dich und rotten die Geschöpfe Sitalias aus.

Aus den Körpern, durch die ihr Stier watete, ließen sich wunderbare Skulpturen schaffen. Und am Turm der Unauslöschlichen fände sich ein Platz für die Knochen derer, für die sie keine Verwendung hatte.




Das Geborgene Land, Königreich Gauragar,

6234. Sonnenzyklus, Spätherbst


Der Spätherbst meinte es gar nicht gut mit Myr und Tungdil. Die Strecke, die sie oberirdisch zu laufen hatten, legten sie in strömendem Regen zurück.

Die Zwergin bestand darauf, Kräuter zu sammeln, um daraus einen Trank zu brauen, der sie beide von innen gegen die Herbstfrische und die Witterung unempfindlich machten sollte, wenn schon die Tropfen ihre Kleider tränkten. Eine Krankheit durften sie sich nicht erlauben, und Tungdil schluckte vertrauensvoll einen Becher nach dem anderen.

Doch die Chirurga begann ihre Abhärtungskur zu spät. Tungdil ereilte eine böse Erkältung, die seine Glieder schwächte. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als in einem Gasthof einzukehren, um ihm ein trockenes Bett und ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, während der erste ausgewachsene Herbststurm über das Land strich.

Die Wirtin staunte über das seltsame Paar, das sich bei ihr einquartierte. »Ich koche Euch eine kräftige Fleischbrühe, Herr Goldhand«, bot sie ihm an, als sie ihn unter die Laken gebettet hatten. Er roch das Stroh, das unter der weichen Wollmatte als Polster diente. »Unten in der Küche habe ich viele Kräuter, die gegen Fieber und Husten helfen.«

»Oh«, freute sich Myr. »Ich begleite dich. Mal schauen, was ich für unseren Kranken tun kann.« Sie löschte die Kerzen bis auf eine, steckte sie in einen Halter und platzierte sie neben dem Bett auf den kleinen Beistelltisch. »Schlaf ein wenig, bis ich dir den Sud bringe.« Sie küsste ihn und wandte sich um. Auf der Schwelle blieb sie stehen und warf ihm einen merkwürdigen Blick zu.

Tungdil lag dösend im Bett und betrachtete die Schatten, welche die Lampe an die weiß getünchten Wände warf.

Je länger er darauf schaute, umso unheimlicher wurden sie, nahmen die Gestalten von Bestien an, die auf ihn eindrangen, während er ungerüstet und waffenlos unter der Decke lag. Er fühlte sich fast ähnlich ausgeliefert wie im Nebel des Jenseitigen Landes.

»Verfluchtes Licht«, ärgerte er sich und wollte die Kerze löschen, aber seine vom Fieber geschwächte Hand langte daneben.

Die Kerze saß so locker in der Halterung, dass die kleine Erschütterung ausreichte, um sie umzuwerfen. Sie prallte auf die Dielen, ohne zu verlöschen, rollte unter das Bett und setzte Strohhalme in Brand, die aus der Matratze ragten.

»Verfluchtes und verdammtes Licht«, wiederholte Tungdil und wollte sich aufsetzen. Doch er war zu schwach, fiel aus dem Bett und musste zusehen, wie sich die Flammen ausbreiteten.

»Myr!«, rief er laut. »Myr, es brennt.«

Doch es tat sich nichts.

»Feuer!«, rief er hustend. Funken stiegen auf, tanzten durch den Raum und schufen neue Brandherde. Es wurde heißer und stickiger. »Feuer«, versuchte er es ein weiteres Mal. Das Fieber lähmte ihn, ließ ihn wie ein hilfloses Kind auf den groben, dreckigen Bohlen liegen.

Es knisterte lauter, schwoll zu einem lauten Prasseln und Knacken an. Das Zimmer verwandelte sich in einen Backofen, und noch immer ließ der Beistand auf sich warten.

Vraccas, soll das mein Ende sein?

Endlich wurde die Tür aufgestoßen. Brüllend stiegen die Flammen höher, angefacht vom Durchzug, der entstanden war. »Herr Goldhand?«, rief eine unbekannte Männerstimme. »Seid Ihr noch drin?«

»Hier«, krächzte er. »Hinter dem Bett.«

Ein Eimer Wasser wurde ins Zimmer geleert, es schwappte bis zu Tungdil und tränkte seinen Bart. Kurz darauf erschien eine Gestalt mit einer klatschnassen Decke über dem Kopf und dem Oberkörper neben ihm, packte ihn am linken Unterarm und zerrte ihn hinter sich her, raus aus den Flammen und bis auf den Flur.

»Tungdil!« Auf einmal war Myr an seiner Seite und beugte sich über ihn. Sie sah furchtbar erschrocken aus, verstörter als alle Menschen zusammen. Und schuldbewusst. »Wie konnte das geschehen?«

»Ich war unachtsam«, räusperte er sich mehr als er sprach. »Die Kerze, sie fiel herunter...«

»Herr Goldhand, geht nach unten«, bat ihn einer der Helfer mit rußgeschwärztem Gesicht. »Wir brauchen Platz, um das Feuer zu löschen.«

Die Wirtin und Myr schafften ihn mit vereinten Kräften die Treppe hinab in die sichere Schankstube. »Hier.« Die Chirurga drückte der Frau eine Goldmünze in die Hand. »Für dich und deinen Mann, denn ohne euch wäre er sicherlich verbrannt.« Sie deutete auf die fetten Qualmwolken. »Und was den Schaden angeht, mach dir keine Sorgen, auch den begleichen wir.« Die Frau bedankte sich und eilte davon, um beim Löschen des Brandes zu helfen.

»Und nun zu dir, Tungdil Goldhand. Da lässt man dich einmal kurz allein, und schon zündest du das Bett an«, schimpfte sie und nahm ihn dann in die Arme. »Nein, welch ein Schrecken für uns beide!« Welch ein Schrecken, der mir Gewissheit brachte.

»Wo warst du?«, fragte er und streckte seine rußigen Hände nach ihr aus.

»Den Kräutersud zubereiten. Die Magd hat in der Küche so laut mit den Töpfen geklappert, dass wir das Feuer erst bemerkt haben, als der Wirt uns rief.« Sie schluchzte und barg den Kopf an ihrer Brust: »Ruh dich aus und genese«, sagte sie unter Tränen. »Ich werde dich nie mehr allein lassen. Nie mehr.« Du bist mir das Teuerste. Ich hätte es mir niemals verziehen, wenn du gestorben wärst. Wie gut, dass mir mein Herz die Augen geöffnet hat. Sie wiegte ihn zärtlich.

IV




Das Geborgene Land, Königreich Gauragar,

6234. Sonnenzyklus, Spätherbst


Der Gasthof blieb vor einer alles vernichtenden Feuersbrunst verschont. Nur das Zimmer und Teile des Dachs wurden ein Opfer der Flammen.

Nach einer Rast von zwei Sonnenumläufen fühlte sich Tungdil dank der Kräuter und der leckeren Fleischbrühe gesund genug, um den Marsch nach Goldhort fortzusetzen. Myr führte sie zu einem geheimen Tunneleingang, und so gelangten sie nach einer rasanten Fahrt wieder in die Stadt der Freien.

Ohne Umschweife gingen sie zur Festung und suchten Gemmil auf, um ihn über die Ereignisse in Porista in Kenntnis zu setzen.

Er war nicht allein, an seiner Seite saß Sanda Feuermut, die sehr erleichtert wirkte, als sie Tungdil erblickte. Doch je mehr sie und ihr Gemahl sich anhören mussten, desto ernster wurde ihre Miene. Immer wieder heftete sie den Blick auf die Chirurga, doch entweder nahm Myr die Feindseligkeit nicht wahr, oder ließ sie einfach unbeachtet.

»Wie es aussieht, ist Goldhort in großer Gefahr«, sagte Gemmil. »Sie werden uns mit aller Härte angreifen, sollten wir nicht freiwillig gehen.«

»Ich soll dir von Glaïmbar das Angebot machen, dass die Freien durch den Steinernen Torweg mit den Fünften ziehen«, gab Tungdil die Botschaft weiter. »Ihr habt seinem Stamm bereits einen unschätzbaren Dienst erwiesen, nun wird es euch mit der Aufnahme zu einem Teil vergolten, denn die Schuld, in der er bei euch steht, ist weitaus größer.«

Gemmil bemerkte sehr wohl, dass Tungdil zum einen nicht mit voller Überzeugung sprach, zum anderen sehr deutlich nicht »mein Stamm« gesagt hatte. Vermutlich geschah es unbewusst, doch der Held des Schwarzjochs betrachtete sich nicht mehr wirklich als einer der Fünften, nachdem er seinen Schwur, das Graue Gebirge mit neuem Leben zu versehen, erfüllt hatte.

»Du bist nicht der Ansicht, dass wir gehen sollten?«, fragte er rundheraus.

»Nein«, gestand Tungdil mit aller Offenheit und erklärte dem König seine Gründe, wie er sie auch der Versammlung der Zwergenherrscher dargelegt hatte.

Dieses Mal erzielte er mit seinen Einwänden mehr Erfolg. »Deine Überlegungen ergeben einen Sinn«, räumte Gemmil ein. »Aber was willst du gegen eine List der Dritten unternehmen, ohne dir möglicherweise den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, das Geborgene Land der Vernichtung preisgegeben zu haben?«

»Die Freien bitten, mein Vorhaben zu unterstützen«, sagte er kurzerhand. »Wenn du einen Handel abschließt und es dabei um viel Gold geht, würdest du zahlen, ohne vorher die Ware gesehen zu haben? Kennst du einen, der den Diamanten im Sack kauft?« Er sah den König den Kopf schütteln. »Wäre es nicht recht und billig, nicht eher aus dem Land zu weichen, bis wir die Sicherheit haben, dass die Dritten die versprochene Waffe besitzen und sie überhaupt etwas gegen die Avatare taugt? Ist das nämlich nicht so, ist unsere Heimat mit Sicherheit dem Untergang geweiht. Die Dritten können die Avatare gewiss nicht aufhalten.«

Gemmil schaute zu Sanda. »Wie ist deine Meinung?«

»Ich bin nach zwergischen Maßstäben noch nicht so lange aus dem Schwarzen Gebirge fort und müsste mich erinnern, sollte jemals die Rede von Aufzeichnungen im Schwarzjoch die Rede gewesen sein«, antwortete sie bedächtig. »Der Berg galt uns viel, es ist eine Stätte unserer Vorfahren, aber von verborgenen Geheimnissen weiß ich nichts. Es wundert mich schon, wie Lorimbas vorgeht.«

»Nun, dennoch sind etliche Zyklen vergangen, seit du deinen Stamm verließest«, hielt Myr unerwartet dagegen. »Wer weiß, was sich in der Zwischenzeit dort ereignet hat? Bedenken wir, wie der Lauf der Dinge in nur einem Jahr vonstatten ging. Ich würde mich nicht auf deine Meinung verlassen, Sanda.« Sie strafte die Kriegerin mit unverkennbarer Verachtung. »Sei vorsichtig, Gemmil. Ebenso kann Lorimbas wirklich in den Besitz einer solchen Waffe gelangt sein.«

Tungdil fühlte sich überrumpelt. »Was redest du da, Myr? Bist du gegen mich?«

»Nein«, sagte sie beruhigend und ergriff seine Hand. »Nicht gegen dich. Gegen zu viel Wagemut und Kühnheit, die einem Helden zwar gebühren, die aber Verderben über zu viele andere bringen können.« Sie drückte seine Finger. »Betrachte mich in unserem kleinen Disput als Stimme der Vernunft. Wenn ihr am Ende eure Entscheidung gefällt habt, meinetwegen auch gegen die Stimme der Vernunft, stehe ich an deiner Seite, was auch immer dein Plan sein wird.«

»Und bedenke eine weitere Sache, Tungdil.« Sanda deutete auf sich. »Willst du das gleiche Schicksal teilen wie ich? Du würdest dich gegen deinen Großkönig stellen, und sogar für einen Helden wie dich würde das eine Strafe nach sich ziehen. Du wärst ein Ausgestoßener. In Anbetracht der Lage und der möglichen Folgen, die aus deinem Tun erwachsen könnten, würde man deinen Ungehorsam ungleich schwerwiegender einstufen als einen gewöhnlichen Verstoß gegen die Regeln des Stammes und der Clans.« Sie hielt kurz inne. »Vielleicht darfst du nie mehr zu den Fünften zurück. Bist du dir darüber im Klaren?«

Tungdil lächelte Myr an. »Seit ich bei euch bin, kommt es mir so vor, als gehörte ich genau an diesen Ort. Ich bin umgeben von Zwergen, die sich ihrer Tradition bewusst sind, aber sich nicht von ihr beherrschen lassen und ein freies Leben führen. Hier habe ich mein Herz mit dem einer Zwergin eisern verbunden.« Obwohl seine Worte nicht von Zweifeln zeugten, schwebte über allem das Antlitz von Balyndis. Sie hat ihre Entscheidung getroffen, ich musste meine treffen, verteidigte er sich vor seinem inneren Dämon, um ihn daran zu hindern, ungefragt seine Meinung kund zu tun.

Mich täuschst du nicht, hörte er ihn dennoch kichern.

»Da du dir sicher bist mit dem, was du beabsichtigst, erläutere mir die Einzelheiten deines Vorhabens«, forderte Gemmil. »Es wird Zeit, dass die Freien ihren Anteil am Schutz des Geborgenen Landes leisten.«

Und Tungdil legte seinen Plan dar.




Das Geborgene Land, das Königreich der Ersten,

Ostseite des Roten Gebirges,

6234. Sonnenzyklus, Frühwinter


Wieder begann es zu schneien. Die Schneeflocken ließen sich auf den neun Türmen und beiden Mauern Ost-Eisenwarts nieder, die in allerkürzester Zeit von den Ersten wieder errichtet worden waren.

Jede Hand, und war sie auch noch so klein, hatte mit angepackt, bis die Trümmer beiseite geräumt und die Steine fest aufeinander gefügt waren. Sogar die fünf Wälle in der Schlucht, die zum Eingang ins Reich der Ersten führte, erhoben sich neu.

Die Ingenieure hatten aus den Fehlern ihrer Vorfahren gelernt und die Standfestigkeit so berechnet, dass es der dreifachen Schneelast des vergangenen Winters bedurfte, bis die Bauten mit ihren Türmen und Brücken in Gefahr gerieten einzustürzen.

Oberhalb am Hang hatten sie Lawinenbrecher errichtet; dicke Steinkeile und Querschüttungen aus Basalt würden den Weißen Tod rechtzeitig abfangen, damit er nicht noch einmal über sie herfiele.

Was Schnee und Eis trotzte, widerstand auch Lorimbas Stahlherz und seiner Schar, die sich vor dem verschlossenen Tor des ersten Walles am Eingang der Schlucht aufreihten.

Salfalur stand vor dem Portal und suchte nach einem Öffnungsmechanismus, fand aber nur eine kahle Stelle in den Steintüren, an denen sich einst die Runen befunden hatten, mit denen einem Besucher Einlass gewährt wurde. Einem freundlichen Besucher.

»Nichts«, rief er zu Lorimbas, der sich wie alle Zwerge seiner Streitmacht mit dicken Wollumhängen über der Rüstung, Schal und Handschuhen vor dem klirrenden Frost schützte. Ihm als Herrscher lag ein Pelz um die Schultern, sein Kopf trug den Königshelm. »Es ist fest verschlossen. Wir werden klettern müssen.«

»Vermaledeite Bande«, rief er, und seine Stimme hallte von den Schluchtenwänden wider. »Sie haben es uns so schwer wie möglich gemacht.«

Salfalur kehrte zu ihm zurück; tief sank der schwere, muskulöse Krieger im Schnee ein. »Es hindert uns nicht wirklich. Es dauert einfach länger, bis wir den Hort von Xamtys unser Eigen nennen.« Er rief die Soldaten nach vorn, die mit Seilen und Wurfhaken ausgestattet waren.

Zwar gehörte derlei Werkzeug nicht zur Grundausstattung eines Zwergenheeres, zumal kein Zwerg gerne an Seilen herumkletterte, aber die mahnenden Nachrichten aus dem Norden und Nordosten hatten den Kriegsmeister auf drohende Schwierigkeiten vorbereitet.

In beiden Fällen standen die Abordnungen, welche die Reiche der Fünften und Vierten in Besitz nehmen sollten, vor verriegelten Eingängen. Die Zugänge waren mehrfach gesichert worden, sodass es nicht einmal einer Maus gelang, eine Ritze zu finden.

»Die Ersten haben es ebenso gehalten wie die anderen, darauf wette ich«, murmelte Lorimbas aufgebracht, der längst damit rechnete, auch aus dem Süden, dem Reich der Zweiten, eine ähnliche Meldung zu erhalten. Nichts war ärgerlicher, als vor dem letzten Hammerschlag das glühende Eisen vom Amboss gestohlen zu bekommen. Was ihn zunehmend aufregte, war die Tatsache, dass er keine Zwerge mehr fand, an denen er seine Wut auslassen konnte.

»Ich würde dir zurufen: Vraccas leite deinen Arm und deinen Hammer, aber auf den Segen des Göttlichen Schmieds legst du ja keinen Wert«, erklang ein lauter und überraschender Begrüßungsruf, der just von den Bergen selbst zu kommen schien. Auf der Brüstung, genau über dem Tor, erschien nun ein Zwerg. »Daher sage ich einfach: Sei gegrüßt, König Lorimbas Stahlherz aus dem Clan der Steinmalmer vom Stamm des Dritten.«

Salfalur gab Lorimbas ein knappes Zeichen, er hatte den Rufer sofort erkannt. Der Herrscher der Dritten ballte die Fäuste. »Du bist also Tungdil Goldhand, der Mörder meines Neffen«, sprach er.

»Der nach dem Leben meiner Gemahlin trachtete«, erwiderte Tungdil. »Er wählte sich sein Schicksal selbst, frag den Mörder von Lotrobur an deiner Seite.«

»Ich werde dich bei lebendigem Leib ausweiden«, schrie Lorimbas und zog seine Axt.

»Du darfst es gern versuchen, aber du wirst damit keinen Erfolg haben. Oder siehst du, dass sich die Tore von Eisenwart durch dein Gebrüll öffnen?«, lachte er, stützte die Hände auf die Mauer und zeigte deutlich, dass er in der überlegenen Position war. »Schrei nur, und du wirst den Weißen Tod anlocken. Er rinnt bis zum Grund der Schlucht, bis dorthin, wo du stehst und wie ein haarloser Ork krakeelst.« Er hob den Blick und tat, als sähe er sich um, als spähte er in weite Ferne. »Hast du Angst vor den Bergen, oder warum kommst du mit so vielen Kriegern? Wie viele werden es sein? Fünftausend? Und wo ist die Waffe, die du den Menschen und Elben gegen die Avatare versprochen hast?«

»Das geht dich nichts an! Schere dich aus meiner Festung!«

»Da ich weiß, wie man sie öffnet, ist es wohl meine Festung, Lorimbas. Ich werde dich nicht eher hereinbitten, bis du uns die Waffe gezeigt und erklärt hast.«

Der Herrscher der Dritten richtete die Axtspitze auf ihn. »Du hast das alles ausgeheckt! Du hast damit gegen die Abmachung und das Wort Gandogars verstoßen«, erboste er sich. »Die Könige werden dich...«

»Ich bin ein Dritter«, fiel ihm Tungdil unbeeindruckt ins Wort. »Hast du das vergessen?« Jetzt hob er die Axt und deutete auf Salfalur. »Frag ihn, wenn du mir nicht glauben willst. Er hat meinen Vater und meine Mutter erschlagen; mich warf er in den Abgrund, doch durch Vraccasʹ Hand wurde ich gerettet und stehe heute vor euch, um euren Verrat an dem Geborgenen Land zu verhindern.« Tungdil hielt seine Waffe mit beiden Händen und richtete sich auf. Wie ein Wächter stand er da. »Also, Lorimbas, wo ist die Waffe?«

Salfalur gab den Zwergen mit den Wurfhaken ein Zeichen, und sie stapften auf die Mauer zu.

Tungdil grinste. »Ist es so einfach, die Avatare zu besiegen? Man braucht Zwerge mit Seilen und Klettereisen? Aber falls ihr versuchen wollt, hinaufzugelangen«, zu seiner Linken erschien Boïndil, zu seiner Rechten Boëndal, die Waffen einsatzbereit in den Händen haltend und nicht zu Scherzen aufgelegt, »seid gewarnt: Ich bin nicht allein.«

»Dieses Mal ist es aber Verrat und ein Bruch des Abkommens«, bemerkte Salfalur. »Ich kenne die beiden, sie gehören zu den Zweiten.«

»Nein«, widersprach Ingrimmsch genüsslich; die Beile drehten sich unablässig in seinen Händen, als könnten sie es nicht erwarten, endlich gegen einen Gegner geführt zu werden. »Nicht mehr. Wir haben uns losgesagt, Dicker.«

Gemmil trat ins Blickfeld von Lorimbas. »Sie gehören nun zu uns, den Freien.«

Auf seinen Wink wurde der Wehrgang des ersten Bollwerks mit Zwergen gefüllt, die Schilde, Keulen, Äxte und andere Waffen bereithielten. Hier und da hievten sie große Felsbrocken auf die Zinnen, um sie im Fall eines Angriffs auf die Gegner zu werfen.

»Auf diesem Wall und dem Stück hinter der Mauer warten die Krieger aus Goldhort, dahinter die Krieger aus Gemmenschatz und viele weitere. Du wirst zehntausend Zwerge, fünf Wälle, Ost-Eisenwart mit seinen zwei Festungsmauern und neun Türmen überwinden müssen, um über die Brücke ins Reich der Ersten schreiten zu können.«

»Und mich.« Narmora trat an die Brüstung, über ihrer Robe einen roten Mantel tragend.

»Und mich, Rodario den Unglaublichen«, rief der Mime getragen, darauf achtend, in seinem phantasiereich gestalteten Maguskostüm besonders eindrucksvoll zu wirken, »der fast mit ebensolch schrecklicher Zaubermacht ausgestattet ist wie seine Mentorin, Narmora die Unheimliche.«

Tungdil wirbelte seine Axt um die eigene Achse. »So, mein guter Lorimbas, du kannst angreifen oder dir und deinen Männern das alles ersparen - die Steinkugeln und Bolzen, die magischen Angriffe, denen sie nichts entgegenzusetzen haben. Zeig uns einfach die Waffe gegen die Avatare und erkläre sie uns.«

Der König ließ den Blick über die vielen Gesichter auf der hohen Mauer huschen. »Wir haben sie nicht dabei«, antwortete er grantig. »Wir wollten zuerst unser Reich besetzen und sichern.«

»Schön. Dann werden du und alle, die zu dir gehören, eben so lange warten müssen, bis wir uns von der Schlagkraft deiner Waffe überzeugt haben. Ich hoffe für euch, dass sie schnell nachfolgt, sonst werdet ihr bald erfroren sein.« Er wies nach rechts. »Da drüben findet ihr eine Höhle, es werden die Hälfte deiner Krieger hineinpassen. Dem Rest wünsche ich, dass er genügend Decken dabei hat.«

»Gelehrter, wie wollen wir erkennen, ob diese Waffe überhaupt etwas taugt?«, erkundigte sich Boïndil leise.

Tungdil grinste. »Siehst du, wie Lorimbas sich windet und mit den Augen rollt? Wie Salfalur am liebsten die Mauer hinaufspringen und mich in Stücke reißen würde?«

»Ja. Und?«, fragte Ingrimmsch begriffsstutzig.

»Was er sagen möchte, Bruder, ist, dass Lorimbas diese rätselhafte Waffe gar nicht besitzt«, übersetzte Boëndal mit der Genugtuung, dass die Entscheidung, Tungdil zu vertrauen und ihm zu folgen, die richtige gewesen war. »Du hattest Recht, Gelehrter. Lorimbas hat die Könige der Menschen, Elben und Zwerge betrogen.«

Unter anderen Umständen wäre ihm zum Jubeln zumute gewesen - wenn seinem Sieg nicht dieser schreckliche Beigeschmack anhaftete. »Das bedeutet, dass wir uns im Kampf gegen die Avatare nur noch auf Narmora verlassen können. Sie muss sie beschäftigen, bis wir unser Heer aus Unschuldigen aufgestellt haben. Wir müssen umgehend Boten zu den Zwergen und den Königshäusern senden, um sie von der neuen Lage zu unterrichten.«

»Die Waffe«, rief Lorimbas zu ihnen, »wird übermorgen da sein. Überstürzt nichts. Euch werden die Augen aufgehen.«

»Wir warten gern, wenn du uns die Rettung bringst«, gab Tungdil zurück und sprach zu seinen Freunden: »Sie werden angreifen, das steht fest. Sie werden die Frist dazu nutzen, eine Gemeinheit auszuhecken. Die Wachen sollen auf der Hut sein. Der Sturm wird kommen.«

Boïndil schlug die Beile aneinander. »Sollen sie kommen! Mein Herz wird schreien, dass ich Zwerge töte und ihr Blut vergieße, aber sie haben es nicht besser verdient. Vraccas wird mir vergeben.«

»Ihr Dritten!«, hallte Lorimbasʹ Stimme durch die kalte Luft. »Ihr Dritten, die ihr euch auf die falsche Seite begeben habt, wie du, Sanda Feuermut, ich beschwöre euch: Kehrt in den Schoß des Stammes zurück, und es werden euch all eure Fehltritte vergeben sein, bevor ihr noch größere Schuld auf euch ladet.«

»Eine neue List, Lorimbas?«, rief Tungdil. »Du wirst damit keinen Erfolg haben.« Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Sanda unsicher zu Gemmil schaute, danach zu Myr, sich ansonsten aber ruhig verhielt. Er erinnerte sich an die warnenden Worte der Chirurga. »Zwei Sonnenumläufe, Lorimbas. Wir sind alle sehr gespannt, wie die Waffe aussieht, die göttergleiche Wesen zertrümmert.«

Er ging rückwärts, bis er sich sicher war, dass man ihn von unten nicht mehr sehen konnte. Narmora und die Zwerge zogen sich ebenfalls zurück. Er wusste noch immer nicht, ob er sich darüber freuen sollte, mit seinen schlimmsten Vermutungen Recht behalten zu haben. Eigentlich hatte er sich mehr gewünscht, Lorimbas mit einer Maschine zu sehen, die mit einem einzigen Schuss einen Avatar vernichten könnte.

Narmora kam zu ihm, sie schien seine Gedanken lesen zu können. »Was tun wir jetzt, Tungdil? Es sieht danach aus, als müssten wir schon bald an zwei Fronten kämpfen.« Ihre dunklen, fast schwarzen Augen richteten sich nach Westen. »Nach all den Umläufen, in denen sich scheinbar nichts ereignet hat, sind die Zeichen in den letzten Nächten schlimmer geworden. Die Avatare nähern sich.« Sie war froh, dass sie ihre kleine Tochter im Palast von Porista untergebracht hatte. In der Obhut der Amme Rosild war sie sicherer als hier, wenngleich sie und Furgas die Trennung schmerzte. Sehr schmerzte.

»Was wirst du gegen sie ausrichten können?«

Sie lachte freudlos auf. »Wenn die Legende stimmt, habe ich es mit elf Splittern eines Gottes zu tun.« Sie sah ihn mutlos an. »Ich bin einen halben Sonnenzyklus bei Andôkai in die Lehre gegangen. Sie war eine Maga, die mehr als einhundert Zyklen an ihrer Kunst feilte und noch lange nicht die Vollendung fand, die sie gesucht hatte.« Narmora senkte die Stimme. »Und auch sie wusste nicht, was sie gegen die Avatare tun sollte. Niemand weiß Genaues, außer dass sie dem Land, in dem sie niedergehen, Tod und Verderben bringen. Nôdʹonn hatte Recht, Tungdil. Er warnte uns vor ihnen, und wir haben ihn getötet. Der Einzige, der stark genug gewesen wäre, sie zu vernichten, musste sterben.« Sie atmete tief ein. »Dies ist einer der letzten ruhigen Tage, Tungdil. Genießen wir ihn, ehe die Welt untergeht.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich sage Furgas, dass er die Katapulte laden soll.«

»Lass den Posten auf der Westseite ausrichten, dass sie jede noch so kleine Beobachtung melden sollen«, bat er sie. »Ich hoffe, dass wir die Sache mit Lorimbas geklärt haben, bevor die Avatare anrücken oder sie Xamtys auf offenem Feld begegnen.«

Narmora nickte und kehrte in die Festung zurück.

»Sie hat ihren Geliebten vom Gift befreit«, sagte Myr nachdenklich. »Sie muss ihre Kräfte rasch vervielfacht haben, denn bis vor kurzem behauptete sie noch, dazu nicht in der Lage zu sein.«

»Ich erinnere mich. Und ich hoffe, dass sie stark genug ist. Nicht nur, was die Zaubermacht angeht, sondern auch, was ihre Zuversicht anbelangt.« Tungdil schloss die Zwergin in die Arme. »Wie geht unsere Geschichte zu Ende, Myr? Werden wir von Lorimbas und Salfalur erschlagen, oder vergehen wir im Angesicht von Tions Avataren? Oder schlagen wir beide in die Flucht?«

Sie streichelte seine Wange. »Ich bin Chirurga, keine Seherin. Was auch immer geschehen wird, ich stehe an deiner Seite. Einmal habe ich dich allein gelassen, und es wird nicht noch einmal geschehen, dass durch mich dein Leben in Gefahr gerät. Kein Avatar und kein Salfalur können mich abhalten, zu dir zu gelangen, wenn du mich brauchst.« Sie schaute auf die Vielzahl von Zwergen auf ihrer Seite des Bollwerks, die sich in den Schutz der warmen Feuer Ost-Eisenwarts zurückzogen. »Ich werde in zwei Umläufen meine Instrumententasche zurechtlegen. Es wird viele Verletzte geben, wenn Lorimbas angreift.«

»Nein. Sie gelangen nicht über die Mauer.«

»Bist du sicher? Warum sollten sie klettern, wenn sich das Tor öffnet?«

Beide schauten zu Sanda Feuermut, die sich mit den Wachen unmittelbar am Durchlass unterhielt und ihnen Anweisungen erteilte.

»Sie wird unser Verderben sein, wenn sie keiner im Auge behält«, sagte Myr gedankenverloren. »Das wird meine Mission sein.«


*

Die Frist verstrich wie im Flug.

Nach den beiden Sonnenumläufen warteten Tungdil, Narmora und die Zwillinge auf dem Wehrgang auf die nächste Ausrede Lorimbas oder den Angriff. »Was haben sie in den vergangenen Tagen unternommen?«, fragte Tungdil den wachhabenden Zwerg.

»Gesungen. Ein Lied nach dem anderen. Vor unseren Toren. Schlachtenlieder, Lieder voller Beleidigungen, von morgens bis abends«, knurrte er, und man sah ihm an, dass ihm die Zeilen mächtig missfallen hatten. »Man konnte kein Auge zutun, so laut waren sie. Aber ihre Stimmen haben den Wall nicht zu Fall gebracht.«

»Und das Singen nimmt kein Ende.« Boëndal nickte zur Höhle, aus der die Dritten geströmt kamen. »Sie versuchen es erneut.«

Sie hielten geradewegs auf den Wall zu, formierten sich zu einem großen Rechteck, dessen untere Linie ebenso lang wie die Mauer der Verteidiger war, und näherten sich singend. Lorimbas marschierte an der Spitze und hielt an, als er und sein Heer 30 Schritte vom Tor entfernt waren.

»Keine Waffe, Lorimbas?«, fragte Tungdil spitz, die Antwort wohl wissend.

»Es gab niemals eine, Tungdil Goldhand, Verräter an deinem eigenen Blut«, brüllte der König der Dritten zurück. »Vor deinem Ende sollst du hören, dass ihr alle - du, die schlauen Menschen, die hochmütigen Elben und die weisen Zwerge - auf uns hereingefallen seid. Es gibt keine Avatare.«

»Das nenne ich einfallsreich. Nun leugnest du einfach die Gefahr.« Tungdil gab den Zwergen ein Zeichen, dass sie sich bereithalten sollten. »Was wird das Nächste sein?«

»Mein Angriff. In diesem Augenblick stehen viertausend Zwerge vor dem Westeingang des Geborgenen Landes und werden ihn stürmen, während ich diese Mauern zu Fall bringe. Keine Magie, kein Gott, nichts wird mich daran hindern, alle Zwergenreiche zu erobern. Unsere Vorbereitungen sind abgeschlossen, unsere Spione haben gute Arbeit geleistet.«

»Wo ist der Dicke?« Argwöhnisch blickte Ingrimmsch über die Reihen der Gegner. »Ich kann ihn nirgends sehen. Und die Portionen da unten, das sind höchstens viertausend, also haben sie irgendwo ihre restlichen tausend verborgen.«

»Ich gebe dir Recht. Irgendetwas stimmt nicht«, antwortete Tungdil und richtete die Worte wieder an Lorimbas. »Wenn es die Avatare nicht gibt, was sehen wir dann Nacht für Nacht am Himmel, Lorimbas? Kannst du zaubern?«

Der König lachte. »Ja, ich kann zaubern. Aber anders als diese Maga. Ich kann Zwerge wie der Wind ins Jenseitige Land tragen und sie dort riesige Feuer entfachen lassen, in denen sie Schwefel und andere Dinge verbrennen, damit ihr an die Legende von den Avataren glaubt.«

»Wie soll das...«

»Es ist das Geheimnis des Schwarzjochs, du großer Held, das du nicht erkundet hast«, zog er ihn auf. »Ihr seid auf dem Tafelberg herumgetrampelt und habt den wahren Wert nicht erkannt. Er besitzt eigene Tunnel, gegraben von den Dritten vor tausenden von Zyklen, um Angriffe von vielen Seiten zu ermöglichen. Als ich hörte, dass ihr euch alle vor der Gefahr aus dem Westen fürchtet, habe ich euch eben eine Gefahr geboten.«

»Du lügst schon wieder!«

»Nein, es ist die Wahrheit. Meine besten Ingenieure sitzen vor den Toren von Xamtysʹ Königreich und sorgen mit den Feuerspielen dafür, dass sich das gesamte Geborgene Land in die Hosen macht«, triumphierte Lorimbas.

»Sie können keine fallenden Sterne nachahmen. Es gibt keine Schleuder, die so groß...«

»Nun, der Stern war echt. Eine glückliche Fügung für uns. Er schlug ein, ja, mehr aber auch nicht. Meine Leute haben sich den Ort von weitem angeschaut, wo er runter fiel. Nichts, keine Spur eines Gottes, es sei denn, er bestünde aus blubberndem Schlamm.« Er klopfte sich auf die Schenkel. »Und wie er so herrlich eure Furcht vor dem nährte, was Nôdʹonn euch prophezeite! Letztlich wart ihr so davon überzeugt, dass ich alles verlangen konnte.«

»Und es beinahe auch bekommen hättest«, murmelte Tungdil.

»Ich stelle dich vor die Wahl: Öffne uns das Tor und liefere dich uns aus, und wir lassen die Zwerge in Frieden abziehen - oder bleib und stirb mit ihnen zusammen. Es wird keine Gnade geben.«

Narmora starrte auf den König der Dritten. Alles nur Lüge! Ich habe mein Kind verloren, Andôkai ermordet, Furgas stand auf der Schwelle zum Tod, und das alles wegen seiner Intrige! Sie hob die Arme, die Augen färbten sich Schwarz. »Lorimbas Stahlherz«, rief sie mit dunkler Stimme, und die Zwerge um sie herum wichen zurück, »du wirst für dein Werk vergehen.«

»Nicht jetzt, Hexe!«, gab er zurück und blies sein Rufhorn. Gleich darauf senkte sich der Fels unter dem Wall ab, und die Mauer sackte lärmend in sich zusammen.

Die Verteidiger stürzten mit in die Tiefe. Die Mehrzahl derer, die sich auf dem Wehrgang befunden hatten, wurde zwischen den zwergengroßen Quadern zerquetscht oder von ihnen begraben.

Der letzte Stein rollte noch, da stürmten die Dritten nach vorn, stiegen über die eingefallene Mauer hinweg und warfen sich gegen die überraschten, führungslosen Freien.

Doch es wurde noch schlimmer für die Krieger aus Goldhort.

Hinter ihnen durchstießen Pickel und Hacken an mehreren Stellen die Oberfläche. Aus dem eilends gegrabenen Tunnel sprangen die vermissten eintausend Krieger unter der Führung des Furcht erregenden Salfalur und fielen ihnen in den Rücken.

Das erste Scharmützel nahm seinen Verlauf.


*

Als die Sonne sank, lagen gut dreitausend Verteidiger tot zwischen dem ersten und zweiten Wall, und die Dritten feierten ihren Sieg mit Lobgesängen an Lorimbur.

Tungdil und den Zwillingen war es gelungen, Narmora schwer verletzt unter den Steinen hervorzuziehen und sie durch das zweite Tor zu schaffen, ehe überhaupt jemand bemerkte, was sie da taten. Auch Gemmil, Sanda und neunhundert vollkommen verstörte Freie hatten sich retten können.

Narmora schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Selbstheilung; ihre Wunden schlossen sich schneller, als Wasser eine kleine Kaskade hinabstürzt. Sie sprang auf. »Ich werde mir Lorimbas...«

»Nein, Narmora. Nicht heute«, bat Tungdil sie. »Wir geben die vier vorgelagerten Wehre auf, sie sind bei der Taktik der Dritten nicht zu halten. Schone deine Kräfte zu Verteidigung der Festung.«

Sie setzte zu einer Erwiderung an, als Myr aufgeregt angelaufen kam. »Rasch, ehrenwerte Maga«, rief sie schon von weitem. »Kommt und seht, was uns die Wachen von der Westseite bringen.«

»Noch mehr Verwundete«, vermutete sie.

»Einen Verwundeten«, stellte sie richtig. »Ihr kennt ihn. Es ist Djerůn... denke ich.«

»Oder der nächste Versuch, die neue Maga umzubringen«, brummte Boïndil. »Wie viele gibt es eigentlich von dieser Sorte, und wo kommen sie her? Das Loch sollte man stopfen.«

»Und wer schickt sie uns?«, fügte Tungdil an. »Boïndil, danke!«

»Bitte. Aber für was?«

Sie liefen los und folgten Myr über die Brücke in die Vorhalle im Berg.

»Dafür«, antwortete Tungdil ihm unterwegs, »dass du mich auf eine wichtige Frage gebracht hast, auf die Lorimbas keine Antwort finden wird. Und das bereitet mir Sorgen.« Er schaute zur Chirurga, in deren roten Augen er Verstehen las.

Am Boden der Halle lag Djerůn oder jedenfalls das, was Djerůn sein mochte.

Die Rüstung sah mitgenommen aus, trug Kratzer, Brandflecke und Dellen. Abgebrochene Lanzenspitzen, Schwertstücke und Eisendornen von Keulen oder Morgensternen zeugten von den Kämpfen, die Djerůn durchlitten hatte. Überall an der Rüstung haftete sein getrocknetes, grellgelbes Blut. Regungslos ruhte er auf dem Stein.

»Tja«, machte Boïndil und kratzte sich am Bart. »Kann einer von euch Djerůnisch?«

Natürlich blickten alle zu Narmora.

»Ich muss euch enttäuschen. Sie hat mich nicht eingeweiht«, sagte sie sogleich. »Andôkai nahm das Geheimnis der Sprache mit in ihr...«

»Wo ist die Herrin?«, hörte sie eine merkwürdig raue Stimme sagen.

»Da, er hat gegrummelt!«, entfuhr es Boïndil. »Hussa, Topfkopf! Sprich gefälligst so, dass wir dich verstehen.« Mutig trat er näher an ihn heran. »Du bist doch das alte Eisengesicht, oder?« Prüfend beäugte er das Visier. »Balyndis könnte uns sagen, ob es ihre Rüstung ist oder nicht. Na, schauen wir einfach mal nach.« Seine kurzen Finger langten nach dem unteren Teil der Maske.

»Sag ihm, er soll aufhören«, vernahm Narmora die Stimme wieder und begriff, dass es Djerůn war, der mit ihr redete. »Ich spüre, dass du eine Verwandlung durchwandert hast, Halbalbin. Du trägst in dir, was einst Nôdʹonn gehörte.«

»Ui, er hat schon wieder gegrummelt«, lachte Ingrimmsch. »Schnappst du gleich nach mir«, er zog mit der anderen Hand ein Beil und hielt die stumpfe Seite nach vorn, »dann haue ich dir auf deinen Eisentopf...«

»Boïndil, hör auf!«, befahl Narmora. »Mir... ist wieder eingefallen, wie es geht.« Ihre Lippen bewegten sich wie von selbst, formten Silben und Laute, die sie bis eben noch nie gehört hatte. Die Macht des Steins, mutmaßte sie darüber, woher sie die Sprache bekommen hatte.

»Nein, nicht die Macht des Steins, sondern dessen, was darin aufgenommen ist«, sagte Nudin, der wie aus dem Nichts erschienen war und nun neben Djerůn stand. »Er wird dir noch nützlicher sein, wenn du...« Von einem Blinzeln zum nächsten war er wieder verschwunden.

Narmora versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Eine Sinnestäuschung, sagte sie sich. Sie muss vom Sturz unter die Steine herrühren. »Djerůn, deine Herrin ist tot«, erklärte sie ihm. »Sie wurde von einem Wesen umgebracht, das dir glich und in einer Rüstung steckte wie du. Weißt du etwas darüber?«

»Dann bist du ihre Nachfolgerin?«

»Warum steht er nicht auf?«, rätselte Boïndil und tippte Djerůn übermütig mit dem Stiel des Beils gegen die Brust. »Ist er eingeschlafen? Spricht er oder schnarcht er, Narmora?«

»Sei endlich still, Bruder«, erteilte ihm Boëndal eine Rüge und zog ihn an der Schulter zurück. »Du gibst nicht eher Ruhe, bis er sich auf dich stürzt.«

»Er ist waffenlos und verletzt, was könnte er mir schon anhaben?«

»Ihn in der Mitte zerreißen. Es ist ganz einfach, die Glieder der Kettenhemden biegen sich auf«, sagte Djerůn zu Narmora. »Bist du nun ihre Nachfolgerin?«

»Ich wollte es sicher nicht«, gestand sie ein. »Man nennt mich Narmora die Unheimliche, und ich werde Andôkais Andenken bewahren.«

»Du warst ihre Famula, und du betest zu dem gleichen Gott wie sie, daher werde ich dir dienen, wie ich ihr diente«, verkündete er.

»Erzähle uns, was du erlebt hast, Djerůn.«

»Mein Leben schwindet, ich benötige zuerst Eure heilende Kraft, Herrin.«

»Welchen Zauber...«

»Keinen Zauber, Herrin.« Er wandte ihr den Kopf zu. »Eure Kraft.«

»Ha! Die Blechdose lebt noch!«, machte Ingrimmsch. »Und es scheint die richtige zu sein.«

»Boïndil!«, kam es von allen Seiten auf ihn eingeprasselt. Mürrisch zog er die Schultern hoch und schwieg. Vorerst.

»Dein Blut, Herrin.«

»Was ist damit?«

»Ich brauche es, Herrin. Es ist besser als das Fleisch der Kreaturen, von denen ich mich ernähre. Das Blut einer Maga bindet mich an sie und verleiht mir neue Kraft.«

»Geht alle hinaus«, verlangte Narmora und gab sich Mühe, ihre Aufregung zu verbergen. »Ich muss einen Zauber sprechen, um ihn zu heilen, der für euch schädlich sein kann.« Besonders Ingrimmsch verließ nur widerstrebend die Halle. Als sie allein waren, kniete Narmora mit klopfendem Herzen neben ihm nieder, krempelte die Robe hoch und hielt ihm anbietend die Schlagader vor das Visier.

Djerůn hob die Rechte, öffnete die Verschlüsse der Maske und schob den Gesichtsschutz nach oben. Sie überwand sich, die Kreatur, die sich ihr offenbarte, anzuschauen. Wie Bayndis erschauerte sie bei dem schrecklichen Anblick.

»Es tut weh, Herrin«, bereitete er sie auf die Schmerzen vor. Mit einer schnellen Bewegung seines Kopfes rammte er ihr die Zähne in den Unterarm, schlitzte ihn der Länge nach auf und presste ihn an seinen lippenlosen Mund.

Narmora wurde sofort schwindelig. Ihr neuer Vertrauter schien ihr alles Blut aus den Adern saugen zu wollen. Als sie kurz vor einer Ohnmacht stand, gab er sie frei, und sie sank neben ihn auf den Hallenboden und sprach einen Heilzauber, um den offen stehenden Schnitt zu schließen.

Djerůns Augen begannen blauviolett zu leuchten, das Licht wurde gleißend und durchdringend, heller als der Schein der Sonne. Sie hörte es unter seiner Rüstung knistern und rascheln, klicken und knacken, dann schob sich zuerst die Lanzenspitze aus dem Metall des Harnischs, und die vielen anderen abgebrochenen Waffenstücke klirrten auf den Stein.

»Ihr schmeckt gut, Herrin. Sogar ein wenig nach Andôkai«, dröhnte Djerůn mit neuer Kraft wie ein junger Gott. »Und ihr schmeckt nach Macht, Herrin. Viel mehr Macht als Andôkai besaß. Eine gute Quelle, die mich nährt und heilt.« Er stand auf, frisch und ausgeruht, als erhöbe er sich von einem Mittagsschlaf, und neigte sein Haupt, das nach wie vor von einem Helm geschützt wurde. »Nun will ich Euch berichten, Herrin...


Andôkai sandte mich aus, um nach den Avataren zu suchen.

Ich durchquerte das Rote Gebirge, ich durchwanderte die Ebene dahinter und fand Zwerge, die merkwürdige Dinge trieben. Da es nicht mein Auftrag war, mich um sie zu kümmern, umging ich sie.

Ich passierte einen Krater, vierfach so breit, wie die Schlucht vor der Festung lang ist, in dem eine glühende Masse kochte, und dahinter einen verwüsteten, mit Asche bedeckten Landstrich, der großer Dürre zum Opfer gefallen war. Darin lagen Skelette von Soldaten in den Farben von Weyurn.

Dann stieß ich auf ein Heer.

Sie trugen weiße Banner mit zehn unterschiedlichen Runen; ihre Rüstungen waren so weiß, dass es in meinen Augen brannte, und sie ritten Schimmel, so weiß, wie ich noch kein Pferd gesehen habe.

Obwohl ich mich vor ihnen verbarg, um sie auszukundschaften, bemerkten sie mich und griffen mich an.

Für einen von ihnen, den ich erschlug, drangen vier neue auf mich ein, bis sie mich niederrangen und vor die Angesichter von zehn Gestalten zerrten, die sich in eine Aura aus Reinheit hüllten. Ein Strahlenkranz umspielte jeden von ihnen; derart geblendet, konnte ich ihre Gesichter nicht erkennen.

Sie fragten mich, woher ich käme, und weil ich nicht antwortete, überschütteten sie mich mit ihrer Gnade, Liebe, Hoffnung und Wärme, dass es mich schreien ließ.

Doch ich verging nicht darin, wie sie dachten.

Ich riss mich los und rannte, um Andôkai zu erzählen, was ich gesehen hatte.

Und sie riefen mir nach, dass die Ehrlichen und die Aufrichtigen des Geborgenen Landes sich nicht länger zu fürchten brauchten. Sie brächten allen anderen, die da unrein und böse seien, das Verderben und wollten das Land von dem Dämon Tions befreien, der hunderte von Zyklen über es geherrscht habe.

Ich lief durch Sonnen- und Mondenschein, bis ich über verborgene Pfade bis vor die Festung der Zwerge gelangte.«


Narmora fuhr sich über den Arm, der narbenlos verheilt war. Jetzt weiß ich wenigstens, was sie bei uns wollen. Sie denken, dass Nôdʹonn und das Tote Land noch immer existieren. Nur wissen sie nicht, dass wir ihn in der Zwischenzeit besiegt haben. »Danke, Djerůn«, sagte sie versonnen.

»Und die Zwerge, Herrin?«

»Was soll mit ihnen sein? Sie gehören zu den Dritten.«

»Ich meinte nicht die, die sich seltsam benahmen. Als ich flüchtete, waren Teile des Weißen Heeres mir dicht auf den Fersen. Sie müssten die Zwerge längst erreicht haben. Die Dritten und diejenigen, die mir entgegenkamen.«

Die Maga nickte. Mitleid für die Dritten wollte sich nicht einstellen, doch um Xamtys sorgte sie sich. Sie ging zum Durchgang, der sie aus der Halle in einen Korridor führte, wo Tungdil und seine Freunde warteten.

Als sie die Tür aufstieß, schnellten die Köpfe in ihre Richtung. Sie erkannte vor allem Neugier in den Gesichtern. »Die Avatare gibt es. Sie kommen.«

Und die Neugier schlug um in Furcht.


*

»Meint ihr, der kleine wütende Dreikäsehoch würde mit sich reden lassen, wenn wir ihm von der Bedrohung berichteten?« Rodario musste einfach etwas sagen, um die bleierne Stille zu durchbrechen, die in dem Saal herrschte.

Tungdil, Gemmil, Namora und die Zwillinge sowie alle mit Rang und Namen saßen zusammen, um zu bereden, was ihnen bevorstand, während draußen Salfalur eine Mauer nach der anderen überstieg und sich mit seinen Kriegern der Festung näherte.

Die Fallen, die Furgas eingerichtet hatte, hatten bereits dreihundert Dritten das Leben gekostet, doch aufhalten ließen sich die fanatischen Zwergenhasser nicht. Sie befanden sich kurz davor, das erste Zwergenreich einzunehmen und den letzten Widerstand, der sich ihnen entgegenstellte, ein für allemal zu brechen. Sie ahnten nichts davon, dass sich die Lüge über die Avatare als Wahrheit erwiesen hatte.

Boïndil prustete. »Er nun wieder, der Schwätzer! Denkst du wirklich, unglaublicher Rodario...«

Sogleich hob der Mime warnend den Zeigefinger. »Ich heiße fortan Rodario der Unglaubliche«, bestand er gegenüber dem Zwerg. »So viel Zeit muss sein, mein kurzbeiniger Freund mit dem heißen Blut.«

Ingrimmsch stemmte die Hände in die Hüften. »Du bist weder ein Famulus noch ein Magus. Du bist ein Betrüger, der das Glück hat, einen schlauen und beinahe zwergenbegabten Magister technicus als Mitstreiter zu haben.« Er schlug sich gegen die Stirn. »Ho! Ich weiß, was wir machen! Bei den Schweineschnauzen hat es nicht geklappt, aber vielleicht kannst du die Avatare mit deinem Mundwerk besiegen.«

»Kein Grund, mich zu beleidigen, Herr Ingrimmsch. Ich habe lediglich einen Vorschlag unterbreitet.«

»Schwachsinn ist das«, grummelte Boïndil.

»Nein, ist es nicht.«

»Ha, sicher!«

»Mitnichten.«

»Oh, doch.«

»Ruhe, ihr zwei!«, fuhr Narmora dazwischen. Sie schaute Rodario an. »Und Boïndil hat Recht, unglaublicher Famulus. Es ist Schwachsinn.«

»Fall mir nur in den Rücken«, beschwerte er sich. »Ich dachte lediglich, wir sollten an seine Vernunft appellieren. Immerhin hat er das Schwarze Gebirge die ganzen Zyklen über gehütet und den Ostpass gegen Ungeheuer verteidigt. Wenigstens diesen Rest Anstand scheinen sich die Dritten bewahrt zu haben.«

Boëndal schnalzte mit der Zunge. »Versuchen wir es. Mehr als ablehnen kann er nicht. Wir brauchen allerdings Beweise, denn unseren Worten wird er ebenso wenig trauen wie wir den seinen.«

»Ich habe Xamtys einen Boten gesandt, der sie vor den Avataren warnt und von unserer Lage berichtet«, warf Tungdil in die Runde. »Ich hoffe, er erreicht sie rechtzeitig.«

Die Tür wurde aufgerissen. »Kommt schnell! Wir brauchen Hilfe am ersten Tor. Die Dritten drohen durchzubrechen«, erstattete ein aufgeregter Zwerg Bericht.

»Man kann von ihnen halten, was man will, aber es sind begnadete Krieger«, brummte Boïndil, stand auf und folgte sogleich dem Boten; die Beile hielt er bereits in den Händen. »Aber ich zeige ihnen, dass ein Zweiter mindestens genauso gut ist, auch ohne die Linien im Gesicht.« Er lachte. »Ha, jetzt habe ich es verstanden! Das sind die Schnittmuster für meine Klingen.«

Tungdil hörte durchaus heraus, dass Ingrimmsch lange nicht so begierig klang wie sonst, wenn es darum ging, Orks, Bogglins oder ähnliche Bestien zu töten. Insgeheim ging Tungdil fast sogar davon aus, dass die Dritten als Sieger von diesem Schlachtfeld zu Füßen des Roten Gebirges gehen würden. Es wird seinem Namen alle Ehre machen, das Blut wird nicht wissen, wohin es fließen soll.

Es blieb abzuwarten, wie sich Narmoras Magie, Djerůns Stärke und Furgasʹ Einfallsreichtum auf das Kampfglück auswirkten. Tungdil hatte die Dritten bei der ersten Schlacht gesehen und war sprachlos über so viel Kraft, Disziplin und Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen.

Doch es wird Salfalur nichts bringen. Ich werde ihn töten, gleich wie. Er nahm seine Axt, stapfte durch die Halle über die Brücke und gelangte über den Wehrgang zum höchsten der Türme, von dem aus er die beste Übersicht hatte.

Er staunte nicht schlecht.

Die Mineure der Dritten bewiesen, dass sie sich auch auf die Baukunst verstanden. Sie hatten die überwundenen Wälle eingerissen und aus den Steinen einen großen, dreieckigen Turm errichtet, dessen vordere Kante wie die Schneide eines Fallbeils auf die beiden Mauern Eisenwarts zeigte und sie um 20 Schritte überragte.

Das Bauwerk war schief angelegt worden und mit Streben versehen, die es am vorzeitigen Einsturz hinderten. Um die Streben aber waren Seile gelegt worden.

Tungdil kam gerade rechtzeitig, um mitzuverfolgen, wie fünfzig Dritte die Seile aufnahmen und mit aller Gewalt daran zogen, um die Streben einzureißen. Der Turm senkte sich langsam nach vorn, wurde im Fallen schneller und schlug dann wie ein gewaltiger Keil in die Mauer ein. Turm und Festungsmauern barsten, die notwendige Bresche war geschlagen.

Die Dritten begannen mit ihrem Sturmangriff.

»Ich habe gleich gesagt, dass es ein Fehler ist, sie nicht am Bau des Turms zu hindern«, kommentierte Boïndil und schaute nach unten. »Die Freien sind nicht geschaffen zum Kampf«, schätzte er ihr Können und die Versuche ein, die Feinde aufhalten zu wollen. »Selbst unsere zahlenmäßige Überlegenheit bringt uns kaum etwas.« Gemeinsam liefen sie zu der absenkbaren Plattform, um nach unten zu gelangen und in den Kampf einzugreifen. »Wenn Xamtys nicht bald zurückkehrt, hat Lorimbas sein Reich fest in der Hand.«

Tungdil entdeckte Salfalur in den ersten Linien, wo er mit einem einzigen Hieb des übergroßen Hammers gleich mehrere Zwerge auf einmal erschlug. »Ich kümmere mich um ihn«, sagte er, und die Finger schlossen sich um den Stiel seiner Axt. »Nimm du dir Lorimbas vor.«

Die Verteidiger ließen heiße Schlackeströme auf die Feinde niedergehen; Petroleum ergoss sich auf sie und entflammte auf wundersame Weise, kurz bevor es die feindlichen Zwerge erreichte.

Auf der linken Flanke der Verteidiger flackerten Feuerwolken auf. Narmora und Rodario taten alles, um die Dritten zurückzudrängen, sie mit echter Magie, er mit technischen Spielereien und so tuend, als schleuderte er einen Zauber nach dem nächsten gegen sie. Djerůn wachte darüber, dass ihnen keiner zu nahe rückte.

Aber selbst vor ihm, der dreifach großen Kreatur, kannten die Dritten keine Furcht. Sie wichen zurück, um den Lanzen- und Pikenträgern Platz zu machen, die ihn aus sicherer Entfernung zu attackieren versuchten.

Noch gelangten sie nicht zur Rampe, die zum zweiten Haupttor führte. Dahinter lag der Aufgang zum neunten Turm, von dem eine Brücke über den Abgrund in das Reich von Königin Xamtys II. führte. Solange das Tor verschlossen blieb, brachte den Dritten der erfolgreiche Kampf gegen die Freien gar nichts, welche die Rampe hartnäckig verteidigten.

Tungdil focht sich vorwärts und hatte Salfalur beinahe erreicht, als er den Schrei Myrs hörte.

Er wandte sich um und entdeckte sie, am Boden vor dem Tor liegend, die Instrumententasche neben sich. Sanda Feuermut stand drohend über ihr, eine Keule mit einer Eisenkugel am Ende führend. Die Flügeltüren des entscheidenden Durchgangs schwenkten soeben auseinander, was von den Dritten sogleich bemerkt wurde.

Also doch! Sanda ist eine Verräterin! Tungdil hastete zurück, drängelte sich durch die Zwergenleiber, um seiner Gemahlin beizustehen. Und ich Narr vertraute ihr.

Bevor er sie jedoch erreichte, sprang Ingrimmsch herbei, stürzte sich auf die Kriegerin und schleuderte sie zu Boden.

Myr trug den Abdruck von Sandas Hand im Gesicht, feuerrot zeichneten sich die fünf Finger auf der rechten Wange ab, Blut rann aus ihrer Nase und dem Mundwinkel. »Sie hat das Tor für die Dritten geöffnet«, keuchte sie und stand mit Tungdils Hilfe auf. »Ich habe es zu spät bemerkt.«

»Ich weiß, deine Mission«, sagte er und küsste sie voller Erleichterung, dass Boïndil dazwischengegangen war. »Komm, wir müssen das Tor schließen.« Sie eilten durch den Torbogen, Tungdil fluchte. Sanda hatte die Winde unbrauchbar gemacht, die Kette lag vollständig abgewickelt als grauer Haufen auf dem Stein.

Währenddessen parierte die Dritte die Angriffe Ingrimmschs, als wäre es ein Kinderspiel für sie, was ihn natürlich noch mehr anstachelte. Schon schienen seine Augen ins Leere zu blicken, der Kampfgeist hatte von seinem Verstand Besitz ergriffen und leitete ihn. »Ich werde dir zeigen, was es heißt, die Lebensretterin meines Bruders töten zu wollen«, grollte er und steigerte die Geschwindigkeit seiner Angriffe.

»Ich wollte sie nicht töten«, widersprach sie und musste nun schon mehr Acht geben, um den zuckenden Beilen zu entkommen.

»Verräterin!« Er täuschte einen hohen Schlag an.

»Ich? Sie hat das Tor doch ge...« Das Beil vollführte einen unerwarteten Schwenk und schlug ihr von unten in die Achsel. Es knirschte und klirrte, Kettenhemd und Knochen wurden zerteilt. Während Sanda noch mit dem Schock und dem Schmerz rang, trat Ingrimmsch ihr von vorn gegen die Kniescheibe, brach sie und zwang sie nieder.

»Sie lügt!«, schrie Myr aufgebracht, riss ihren Dolch hoch und wollte sich auf sie stürzen, aber Tungdil hielt sie davon ab.

»Beruhige dich, sie kann dir nichts mehr tun.«

»Ich schwöre es«, stöhnte Sanda und versuchte mit der anderen Hand, die Blutung aufzuhalten. »Myr hat das Tor geöffnet, ich kam zu spät.« Sie schluckte. »Ich kenne sie. Sie ist die Tochter von Lorimbas.«

»Sicher!«, lachte Ingrimmsch. »Und ich bin Vraccasʹ leiblicher Sohn.«

»Sie ist es!« Sanda lehnte sich ermattend gegen die Mauer, ihr Blut schoss aus der tiefen Wunde, das Beil hatte die Schlagader gekappt. »Ich erkannte sie am ersten Tag, als sie in Goldhort auftauchte, und wollte es Gemmil sagen, aber sie drohte mir. Sie würde ihrem Vater eine Botschaft senden, und alle meine Verwandten würden umgebracht werden.«

»Schamlose Lügnerin!« Myr zeigte mit dem Dolch auf sie. »Du versuchst vor deinem Tod, Zwist zu säen. Du bist die Dritte, nicht ich.«

»In Porista hat sie den Überfall auf sich vorgetäuscht, um Romo die gesamten Aufzeichnungen zu geben, ohne einen Verdacht zu erwecken. Warum hätte er ihr sonst das Leben geschenkt?«, redete sie leise weiter und schloss die Augen. »Hat sie dir erzählt, Tungdil, dass sie schon zweimal verheiratet war? Der eine Mann starb am Fieber, der andere erkrankte und kam in den Flammen um, als das Schlafzimmer brannte.« Sie richtete ihre braunen Augen auf ihn und er konnte keine Lüge darin erkennen. »Als ich sah, dass sie sich an Gemmil anpirschte, kam ich ihr in die Quere.«

Tungdils Gedanken überschlugen sich, er musste an die Ereignisse in Porista denken, an die Rückreise, ihren ungewöhnlichen Gefühlsausbruch nach dem Brand. »Mein Fieber, Myr, das Feuer im Gasthof«, begann er langsam. »Schwöre, dass es ein Zufall war.« In ihren roten Augen flackerte Unsicherheit auf. Er packte sie am Arm, zog sie zu sich wie ein störrisches Kind. »Schwöre es bei deiner Liebe zu mir!«

Tränen quollen ihr aus den Augenwinkeln. »Tungdil... Ich... Du glaubst einer Dritten mehr als mir?«, bäumte sie sich halbherzig gegen seine Forderung auf.

»Schwöre es, und ich rede nie wieder darüber.«

Sie senkte den Blick. »Ich hätte dir niemals neues Leid zufügen können. Die Gefühle für dich kamen, und ich konnte nichts dagegen tun. Seit jener Nacht im Gasthof verstand ich, dass du für mich mehr bedeutest, und... ich...« Sie fing an zu weinen.

»Myr, sag, dass du nicht Lorimbasʹ Tochter bist«, raunte Tungdil. Er fühlte sich übler verraten denn je zuvor. Erst Balyndis, jetzt sie, meine Gemahlin. Mit einem Mal war alles um ihn herum unwichtig, der Kampf gegen die Dritten, die Rettung des Geborgenen Landes...

Sie schniefte, trocknete die Tränen mit dem Ärmel ihrer Robe und blickte ihm fest in die Augen. »Doch, Tungdil. Ich gestehe es, dass mein Vater Lorimbas Stahlherz mich zu den Freien sandte, um sie auszuhorchen, ihre Geheimnisse zu erkunden und die Eroberung vorzubereiten. Ich wurde so bleich geboren, wie ich bin. Die Natur gab mir die bestmögliche Tarnung, und zusammen mit ein paar Lügen und Augenaufschlägen gehörte ich zu den Freien. Aber du hast alles verändert.« Sie nahm seine Hand. »Ich sollte dich eigentlich töten, doch mein Herz entschied sich anders. Du...«

Sie schaute an ihm vorbei und erschrak. Schnell packte sie ihn bei den Schultern und machte einen Schritt um ihn herum, da traf sie etwas mit solcher Wucht in den Rücken, dass sie gegen ihn taumelte. Tungdil fing sie auf, sie öffnete die Lippen und rang nach Luft wie eine Ertrinkende.

Hinter ihr stand Salfalur. Die Hände umspannten den Griff des Kriegshammers, an dessen Kopf ein unterarmlanger Sporn angebracht war. Die Spitze ragte aus Myrs Brustkorb, sie hatte sich durch die Robe gebohrt und berührte beinahe Tungdils Kettenhemd.

»Ich hätte dir nie mehr...«, seufzte sie, ihre Finger gruben sich in seine Schultern. »Denke nicht zu schlecht von mir.« Ihr zierlicher Leib erschlaffte. Myr starb in Tungdils Armen und trug trotz der Qual noch ein letztes Lächeln für ihn auf dem Gesicht.

Salfalur zog das Eisen behutsam zurück. Die Spitze glitt mit einem leisen Schmatzen aus ihrem Rücken.

»Hat es dir nicht gereicht?« Tungdil legte sie sanft auf den Stein und hob seine Axt. »Du hast mir nicht nur meine Eltern genommen, sondern nun auch noch mein Weib?«

»Dein Weib?« Salfalur starrte auf Myr, er schien eingefroren zu sein. »Nein. Nicht dein Weib.« Seine Linke streckte sich, er berührte das Blut, das an dem Sporn hinablief, und zerrieb es zwischen den Fingern. »Meines. Wegen dir habe ich meine Gemahlin getötet«, entgegnete er kalt. »Dafür wirst du tausend Tode sterben, Tungdil Goldhand.«

»Deine...« Erschüttert machte er einen Schritt zurück, fing sich dann aber wieder. »Dann sollten wir das Ende nicht warten lassen«, schlug er düster vor und machte sich kampfbereit.

Sie umkreisten sich, jeder wartete darauf, dass der andere begann.

Salfalur eröffnete das Duell, hob seinen Hammer, als wäre er so leicht wie ein Besenstiel - und fing den Schlag noch in der Luft ab. Das Hornsignal seines Königs rief ihn zum überraschenden Rückzug, Königin Xamtys war mit einem Teil ihrer Soldaten dem eigentlichen Zug der Heimkehrer vorausgeeilt und zeigte sich auf den Zinnen.

Tungdil sah, dass Salfalur mit sich rang, den begonnenen Kampf zu Ende zu bringen, doch als Kriegsmeister trug er die Verantwortung für die Truppen. Schließlich senkte der Zwerg die Waffe, in den braunen Augen stand das Versprechen, den Zweikampf zu beenden. Nicht hier und nicht an diesem Tag.

Tungdil nickte.


*

Und noch eine Zwergin sollte diesen Tag nicht überleben. Sanda Feuermut wartete in den Armen von Gemmil auf den Tod, der Blutverlust war zu groß.

Boïndil stand daneben und wusste nicht, was er tun sollte.

»Es ist gut«, versicherte sie mit stockender Stimme. »Ich kenne deinen Fluch, Boïndil Zweiklinge, du konntest nicht anders.«

Er sank neben ihr auf die Knie. »Ich...«

»Nein, gräme dich nicht. Ich verzeihe dir.« Sie hob die Hand, ihre blutverschmierten Finger öffneten sich.

Ingrimmsch stand die Reue im Gesicht. Er umfasste wortlos die Hand, und bald darauf wich das Leben aus Sanda. »Vraccas muss mich hassen, dass er mich das tun ließ, ohne mir mein Leben zu nehmen«, sagte er leise mit versteinerter Miene. Die Tränen in seinen Augen zeigten, was in ihm vorging. »Ich hätte sie ebenso gut niederschlagen können, doch mein heißes Blut ließ mich eine weitere Zwergin im Kampfrausch töten. Zuerst Smeralda, nun Sanda.«

Gemmil stand auf und winkte ein paar Zwerge der Freien herbei, die ihre tote Königin behutsam aufhoben und in die Festung trugen. »Es ist, wie sie gesagt hat: Du kannst nichts dafür, Boïndil. Du bist Myrs Arglist aufgesessen, und gegen deine Natur, deinen Ingrimm kannst du nicht ankommen.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter zum Zeichen, dass auch er ihm nichts nachtrug, und ging davon.

Es ist kein guter Tag. Tungdil betrachtete den Leib der Chirurga und das blutgetränkte Kleid, dann nahm er sie auf die Arme, überquerte den mit Toten und Verletzten übersäten Hof und folgte den Dritten, die sich zurückfallen ließen.

»Lorimbas!«, rief er laut. »Ich bringe dir deine tote Tochter, erstochen von der Hand Salfalurs.« Er legte sie zu seinen Füßen nieder. »Hier ist sie. Wenn du sie bestatten möchtest, hol sie dir.«

Lorimbas erschien, umringt von zwanzig seiner Krieger. Ohne Salfalur. »Es liegt ein Fluch auf dir, Tungdil Goldhand.« Ohne ihn anzuschauen, ging er neben Myr in die Knie und streichelte ihr weißes Haar. »Du tötest alles, was mir lieb und teuer ist. Zuerst Romo, nun Myr.« Er hob sie zärtlich auf. »Es wird keinen Frieden geben zwischen uns, Tungdil. Dein Vater war ebenso wie du. Mit ihm begann alles, und mit deinem Tod wird es enden.«

»Lorimbas Stahlherz!« Xamtys näherte sich ihnen. »Hier bringe ich dir deine restlichen Leute.« Sie deutete auf eine Hand voll Zwerge. »Das sind alle, die von deinem zweiten Heer, das West-Eisenwart angreifen sollte, übrig geblieben sind.«

»Dann sind die Ersten wohl doch bessere Krieger, als ich angenommen hatte.« Er warf einen verächtlichen Blick auf die Überlebenden, die über und über mit Brandmalen und Schnittwunden versehrt waren.

»Es waren nicht die Ersten, mein König«, sagte einer von ihnen mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Es waren die Avatare.«

»Was?« Lorimbas Brauen zogen sich zusammen. »Was redest du da? Haben sie dir eine Belohnung für deine Lüge versprochen?«

»Nein, mein König, es gibt sie wirklich!«

»Es gibt sie nicht! Sie sind eine Legende, um Kinder, Bestien und Einfältige zu schrecken!«, schrie der König, seine tote Tochter an die Brust gepresst.

»Wir waren auf dem Marsch nach Westen«, begann ein zweiter Zwerg, »und hatten die Einheiten von Xamtys vor uns, die zurückkehren wollten, als ihre Reiterei uns einholte. Große weiße Pferde, Einhörner, waren darunter, und sie ritten durch unsere Reihen, als kümmerte es sie nicht, ob wir uns wehrten oder nicht. Sie empfanden keine Furcht.« Er wankte und wurde von seinem Nachbarn gestützt. »Als Nächstes kamen sie, leuchtend wie frischer Schnee, auf den die Mittagssonne scheint, strahlender als Diamanten und so heiß wie fünf Essen zusammen. Sie waren überall gleichzeitig, überschütteten uns mit... ich weiß nicht, was es war«, wisperte er verzweifelt. »Mich traf eine Wolke aus Licht, ich stürzte und rappelte mich auf, ehe sie eine zweite sandten, und dann rannte ich um mein Leben, bis ich in die Reihen der Ersten gelangte und sie uns gefangen nahmen.«

Lorimbas wurde nun doch aufmerksam. »Was wurde aus den anderen tausend?«

Der Krieger schüttelte den Kopf, auf dem wenig Haare und viel verbranntes Fleisch zu sehen waren. »Ich weiß es nicht, mein König, doch der Wind, der uns folgte, trug warme Asche mit sich.«

»Wir haben einen Aufklärer entsandt, der uns Ähnliches berichtete. Das Heer von Weyurn, das Ausschau halten sollte, wurde ebenso vernichtet«, sprang ihm Tungdil bei. »Es gibt sie, Lorimbas.«

Der König drückte Myr so fest an sich, dass ihr Blut aus den Wunden floss und ihn besudelte. »Nein, es gibt sie nicht«, flüsterte er. »Nein, nein, nein, es kann sie nicht geben. Wir haben sie erfunden, wir haben nur so getan, als ob...«

»Was unternehmen wir jetzt, Lorimbas?« Xamtys schaute ihn fordernd an. »Kämpfen wir weiter um mein Königreich, oder streiten wir Seite an Seite an der Westseite, um die Avatare vom Eindringen abzuhalten?«

Er streichelte den silbrigen Flaum auf den Wangen seiner Tochter. »Alles ist verloren, was ich angestrebt habe. Nun soll wenigstens das Geborgene Land nicht darunter leiden.« Er drehte den Kopf zu Tungdil, noch immer wollte er ihm nicht in die Augen sehen. »Sollten wir die Schlacht überstehen, werde ich dich zum Kampf fordern! Deine Familienreihe soll ausgelöscht werden, wie es schon längst hätte geschehen sollen.« Sich an die Zwergenkönigin wendend, sprach er: »Ich verkünde hiermit einen Waffenstillstand zwischen uns und allen anderen Stämmen, bis wir die Avatare aufgehalten haben. Das gelobe ich bei meinem toten Kind, dessen Blut an meinen Händen klebt.« Er wandte sich um. »Ich rufe die übrigen Truppen ins Rote Gebirge und erwarte mit euch die Ankunft der Avatare.«

»Wie viele bringst du uns zur Verteidigung?«, fragte Xamtys.

Lorimbas würdigte sie keines Blickes. »Es wird ausreichen, diese Wesen zu vernichten.« Mit Myr auf den Armen, begab er sich in die Mitte seiner Wachen und kehrte in die Reihen seiner Streiter zurück.

Dort, wo er ging, senkten sie die Waffen und Häupter vor der viel zu früh verstorbenen Prinzessin der Dritten.

V




Das Geborgene Land, das Königreich der Ersten,

Ostseite des Roten Gebirges,

6234. Sonnenzyklus, Frühwinter


»Wir bekommen sie nie wieder hier raus, wenn sie sich erst festgesetzt haben. Tausende von Dritten. In meinem Reich.« Xamtys klang immer noch beeindruckt. »Wir hätten sie niemals aufhalten können. Sie hätten jede Schlacht gegen uns gewonnen, denn im Umgang mit den Waffen sind sie besser als wir.«

Sie hatten sich in der Versammlungshalle getroffen, um eine Strategie im Kampf gegen die Avatare zu besprechen. Dass man gegen die Splitter eines Gottes einer besonderen bedurfte, wusste jeder von ihnen, nur welcher, das war nicht einfach zu entscheiden. Bei Bier und einem herzhaften Essen suchten sie nach einer Lösung.

»Ich jedenfalls bete, dass möglichst viele von ihnen gegen Avatare fallen«, sprach Boïndil seine Gedanken laut aus. »Wenn sie auf ein paar hundert zurechtgestutzt werden, sieht es gut für unsere Sicherheit aus.« Er nahm sich einen Humpen und zapfte sich von dem Gebräu, das schwarz aus dem Hahn des Fasses lief und einen sahnigen, weißen Schaum obenauf bildete.

»Es mag euch zu früh erscheinen, doch wir sollten nicht vergessen, auch einen Plan zur Eroberung des Schwarzjochs aufzustellen«, warf Boëndal ein. »Ich gehe davon aus, dass wir die Avatare besiegen. In der Zeit danach müssen wir uns um die geschwächten Dritten kümmern. Es wird selten jemals wieder eine so große Streitmacht aller Zwerge zusammengezogen werden. Sie dürfen die Tunnel des Tafelberges auf keinen Fall besetzt halten.«

Tungdil stimmte ihm zu. »Die Boten sind auf dem Weg zu Gandogar, Glaïmbar und Balendilín; sie werden allerdings einige Sonnenumläufe benötigen, bis sie mit ihren Kriegern bei uns sind. Dieser Übermacht werden dann aber selbst die Dritten nicht widerstehen können. Wir werden eine Einigung erzwingen.« Er betrachtete die Karte des Roten Gebirges, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Doch zuerst steht uns der Tanz gegen die Avatare bevor.«

Xamtys nickte. »Ich habe fünftausend Soldaten mitgebracht.«

Tungdil blickte zu Furgas, Narmora und Rodario. »Wie weit seid ihr?«

»Mehr als zaubern kann ich nicht. Dazu bedarf es keiner weiteren Vorbereitung, und ich trage noch genügend Energie in mir«, antwortete die Maga. Es zahlte sich aus, dass sich die Zwerge nicht besonders auf Magie verstanden. Jeder Magus hätte sich gewundert, wie sie sich nach ihrem Einsatz gegen die Dritten den Avataren in den Weg stellen wollte, und das ohne Angst und ohne sich in die Magiefelder zu begeben, um neue Kraft zu schöpfen. Es war der Malachit, der ihr solches ermöglichte.

Furgas hatte Skizzen auf dem Tisch ausgebreitet. »Ich habe die Mehrzahl der Katapulte, die wir gegen die Dritten nicht mehr brauchen, von den Türmen abmontieren und nach West-Eisenwart schaffen lassen. Es gab genügend helfende Hände, sodass es schnell ging. Die Maschinen sind aufgebaut. Wir können den Himmel verdunkeln, wenn wir alle gleichzeitig abfeuern.«

»Sehr gut«, lobte ihn Tungdil. »Rodario? Nein, ich meine Rodario der Unglaubliche?«, verbesserte er sich rasch, ehe Protest aufkam.

»Danke, zu aufmerksam«, bedankte sich der Mime leicht säuerlich und erhob sich von seinem Platz, um eine einstudierte Rednerpose einzunehmen. »Ich bin bereit, als Lockmittel und Magusattrappe zu dienen und mir den Zorn der Avatare zu sichern, damit meine Mentorin, Narmora die Unheimliche, unbemerkt ihre Kraft bündeln und voll entfalten kann, in der die Avatare umkommen.« Er räusperte sich. »An dieser Stelle möchte ich betonen, dass es mir durchaus eine Ehre ist, ein entbehrliches Mitglied in der Heldenriege zu sein, doch ich betone gleichermaßen, dass ich gern anbiete, meine Funktion an einen anderen abzutreten. Möchte jemand?« Niemand meldete sich. »Dachtʹ ich mirʹs doch«, murmelte er verkniffen und setzte sich. »Eine verdammte Nebenrolle habe ich und werde zudem noch mit dem Tode belohnt. Ich hoffe, dass das Geborgene Land sich meiner erinnert.«

»Du wirst es überleben, Rodario«, grinste Tungdil. »Wir werden dich alle auf der Bühne des Curiosums wieder sehen.«

»Und das Stück wird lauten: Wie Rodario der Unglaubliche die Welt rettete«, frotzelte Ingrimmsch und leerte seinen Humpen.

»Wenn du noch einen guten Witz brauchst, nimm den von dem Ork, der den Zwerg nach dem Weg fragt.«

»Und wie geht der?«, fragte Rodario.

Ihre Lagebesprechung wurde durch die Kunde unterbrochen, dass die Kontingente Lorimbas einrückten. Gemeinsam stiegen sie auf die Galerie, die im oberen Teil der großen Vorhalle verlief, und beobachteten mit gemischten Gefühlen, wie die Krieger der Dritten unter ihnen vorbeimarschierten.

Waffen starrend, in schwere Rüstungen gehüllt, schritten sie vorwärts, schweigend und mit finsteren Mienen. Sie entfachten ein lautes Scheppern, Klirren und Rasseln, begleitet vom dumpfen Geräusch ihrer Stiefel auf dem Fels. Einige der Abteilungen bestanden aus Kriegern mit tätowierten Gesichtern, der Elite der Dritten. Selbst auf die Entfernung spürten die Beobachter, dass sie unzufrieden waren, den Ort zu betreten, ohne ihn im Kampf erobert zu haben.

»Man könnte fast Angst vor ihnen haben«, fand Rodario, ein wenig aus der Fassung gebracht. »Sie sehen so grimmig aus, dass ich mich freiwillig ergeben würde, wäre ich ein Avatar.«

»Wie schade, dass du keiner bist«, meinte Ingrimmsch. Er zog die Nase hoch und spie aus; der Klumpen verfehlte einen der Tätowierten um Barthaaresbreite. »Seht sie euch an, die Zwergenhasser. Es fällt mir nicht leicht, mit ihnen zu kämpfen. Jedenfalls werde ich ihnen niemals den Rücken zuwenden.«

Tungdil riss sich von dem düsteren Anblick los. »Wir gehen auch nach Westen«, entschied er und legte den Zwillingen die Hände auf die Oberarme. »Kommt, Freunde. Bewahren wir das Geborgene Land vor Schaden. Auch ohne die Feuerklinge.«


Sie reisten mit den Loren durch das Reich der Ersten und erreichten nach kurzer Fahrt die Festungsanlage auf der anderen Seite des Roten Gebirges.

West-Eisenwart bildete das exakte Gegenstück zu der Schwesterburg am Osteingang. Xamtys hatte auch ihre Mauern nachträglich verstärken lassen, um sie weniger anfällig für die Last von Schnee und Eis zu machen. Zwei Mauern, neun Türme, ein einziger Zugang in das Rote Gebirge. Davor schlängelte sich eine breite und tiefe Schlucht, in der fünf Wälle als Sperren fungierten.

Es war ein seltsames Bild. Die Freien und Ersten besetzten gemeinsam die Wehrgänge. Wall für Wall gesellten sich die Krieger Lorimbasʹ hinzu.

Unterschiedlicher hätten die drei Zwergengruppen nicht sein können, und dennoch vereinte sie eine Absicht: der Schutz des Geborgenen Landes. Und so erwarteten sie die Ankunft des übermächtigen Feindes.

Tungdil stand wie vor wenigen Sonnenumläufen auf dem höchsten der Türme und überschlug die Zahl der Dritten. Wenn er sich nicht sehr verschätzte, waren es etwas mehr als 20000. Xamtys hatte Recht. Wir hätten sie niemals aufhalten können. Er richtete seine Augen auf die Schlucht und hielt Ausschau, ohne genau zu wissen, worauf er achten sollte.

Gegen Einbruch der Dämmerung entdeckte er das gleißend helle Licht, das am anderen Ende des Passes aufleuchtete, seine Strahlen hinauf bis zu den Wolken sandte und sich näherte. Ihm kam es so vor, als wanderte eine silberne Sonne auf der Erde entlang.

Noch war es weit entfernt, doch Tungdil konnte sich gut vorstellen, welche Wirkung es aus nächster Nähe hatte. Bereits auf diese Entfernung konnte er nicht lange hinsehen.

»Es geht los.« Narmora trat neben ihn und legte die Hände auf die Brüstung. »Ich frage mich, ob wir nicht einfach mit ihnen verhandeln sollen. Warum sollen wir ihnen nicht sagen, dass es Nôdʹonn und den Dämon nicht mehr gibt und wie wir ihn vernichtet haben? Sie hätten keinen Grund, bei uns einzufallen.«

»Und wer soll das tun? Hingehen und mit ihnen sprechen?«, meinte Tungdil.

»Ich brauche eine Jungfrau«, sagte sie.

»Wieso, o unheimliche Unheimliche? Hat Djerůn etwa Appetit auf etwas Zartes?«, erwiderte Rodario trocken, als er sich zu ihnen gesellte.

»Keine Späße, Unglaublicher«, wies sie ihn zurecht. »Die Avatare verschonen das Reine, also werden sie einer Jungfrau nichts tun. Hoffe ich. Sie wird hinausgehen und ihnen erklären, dass sie zu spät kommen.« Sie schaute zu Tungdil. »Ich würde liebend gern selbst hingehen, aber ich würde ihnen wohl weit eher einen hervorragenden Grund bieten einzumarschieren.«

»Denkst du wirklich, das Vorhaben könnte gelingen?«

»Nun, wir sollten es wenigstens versuchen«, lautete ihre Antwort. »Oftmals ist die einfachste Lösung die richtige.«

So geschah es, dass gegen Abend eine junge Zwergin, gehüllt in weiße Pelze, die Hauptfeste verließ. Fyrna Edelhaupt aus dem Clan der Erzfinder, gerade einmal 24 Zyklen alt, nach zwergischen Richtschnüren noch juvenil sowie von keinem Zwergenmann berührt, wurde von Xamtys aus der Schar der Freiwilligen ausgesucht, die sich gemeldet hatten.

Narmora hatte ihr erklärt, was sie sagen sollte. »Mehr nicht. Wenn sie verhandeln wollen, kehrst du zu uns zurück und überbringst uns ihre Forderungen«, schärfte sie ihr ein. »Kein Wort über unsere Krieger und die Vorbereitungen.«

Die junge Zwergin gehorchte und schritt die Schlucht entlang. Obgleich sie mutig erschien, zuckte sie zusammen, als sich ein Wehr nach dem anderen hinter ihr schloss.

Sie verschwand in den Biegungen und war für die Augen der Zwerge bald nicht mehr zu erkennen, denen nichts anderes übrig blieb, als für sie zu beten und auf ihre Rückkehr zu hoffen.

Der grelle Schein bewegte sich unbarmherzig weiter.

Mitten in der Nacht, der Mond stand voll über dem Roten Gebirge, verharrte das Leuchten auf der Stelle, was von den Wartenden sehr schnell bemerkt wurde.

»Das gute Kind ist bei ihnen angelangt«, schätzte Xamtys angespannt. »Vraccas, bewahre sie vor Schaden!«

Narmora stützte die Arme auf die Zinne und ließ den Glanz nicht mehr aus den Augen. »Ich hoffe, dass sie ein Einsehen haben und abziehen.«

»Da!« Ingrimmsch zog an Tungdils Arm, dann deutete er auf das Licht. »Seht ihr, wie es schwächer wird?«

»Fyrna hat es geschafft!«, rief Xamtys ungläubig. »Vraccas... ich opfere dir meinen gesamten Hort, wenn du uns diese Prüfung ersparst!«

Tatsächlich verringerte sich sie Helligkeit, bis sie zu einem Widerschein an den Felswänden wurde und gänzlich verlosch.

Es ist tatsächlich geschafft! Tungdil wandte sich lachend zu Narmora. »Du hattest Recht! Die einfachste Antwort ist oftmals die richtige.«

Den Zwergen auf den Wehrgängen der Festung und auf den Wällen in der Schlucht entging das Geschehen nicht. Sie jubelten laut, die Spannung fiel von ihnen ab, und für wenige Augenblicke fielen die Schranken zwischen den Ersten, den Freien und den Dritten. Die Freude einigte sie. Kurz.

»Warten wir ab, was uns Fyrna erzählt«, sagte Tungdil und schüttelte der Maga die Hand. Dann ging er hinein, um sich einen Humpen heißes Gewürzbier zu nehmen und auf dem Turm die Rückkehr der tapferen Botin mitzuerleben.

Die Nacht verstrich.

Die Morgensonne erhob sich über die Gebirgskämme und wärmte die frierenden Zwerge mit ihren ersten Strahlen. Die Zuversicht der Zwerge wuchs.

Doch Fyrna Edelhaupt aus dem Clan der Erzfinder kam nicht.

Gegen Mittag ließ Xamtys einen Erkundungstrupp ausschicken, weil das Wetter sich zu verschlechtern drohte und bei einem Schneesturm keiner mehr einen Fuß vor die Tür setzen konnte.

Stunden später kehrten sie zurück, mit einer bewusstlosen, aber lebendigen Botin. Narmora untersuchte sie und kümmerte sich um die Erfrierungen, welche die Nacht im Schnee der jungen Zwergin beschert hatte.

»Ansonsten fehlt ihr nichts«, beruhigte sie Tungdil und die anderen nach einer ersten Begutachtung. Sie weckte sie mit leichten Schlägen gegen die Wange und reichte ihr einen Becher heißen Flechtentee.

Hastig trank Fyrna davon. »Ich habe versagt, Königin«, gestand sie bibbernd und beugte niedergeschlagen das Haupt vor Xamtys. »Ich kam zu spät.«

»Du kamst zu spät? Was soll denn das nun wieder heißen?« Boïndil deutete zur Schlucht. »Da unten sind sie nicht, also wo, bei allen Bestien Tions, sind sie hin verschwunden? Haben sie sich in Reinheit aufgelöst?«

»Sei ruhig«, brummte Boëndal und rempelte ihn in die Seite.

»Ich näherte mich ihnen, so weit es ging, doch irgendwann war das Licht zu grell. Also rief ich laut, um auf mich aufmerksam zu machen«, begann sie ihre Erzählung. »Eine Gestalt aus Licht flog heran und fragte mich freundlich, was ich wolle.« Fyrna schaute zu Narmora. »Ich sagte ihr genau die Worte, die Ihr mir aufgetragen hattet, ehrenwerte Maga, doch die Gestalt lachte. Es war ein grausames, klares Lachen, wie ein hoher und heller Ton, der durch meinen Körper lief. Ich spürte ihn.« Sie nahm einen Schluck. »Die Gestalt sagte, ich solle mich nicht sorgen, es ginge rasch. Dann berührte sie mich, und ich... erwachte hier bei euch.«

Tungdil schaute in die besorgten Gesichter seiner Freunde. »Wenn sie nicht hier sind und auch nicht auf dem Weg zu uns, wo sind sie dann verblieben?«

»Im Tunnel«, ertönte Lorimbasʹ Stimme krächzend hinter ihnen. Der Dritte hatte sich ihnen unbemerkt genähert und die letzten Worte vernommen. »Sie haben unsere Tunnel entdeckt.«

Tungdil lief ein Schauder über den Rücken. »Sie werden mitten im Geborgenen Land erscheinen. Und am Schwarzjoch erwartet sie niemand«, flüsterte er entsetzt. »Wir stehen an der falschen Stelle, um sie aufzuhalten!«

Die Betroffenheit lähmte sie. In ihrer Vorstellung sahen sie, wie das reine Licht aus dem Berg schwebte und das Weiße Heer ihm folgte und auf der vergeblichen Suche nach Nôdʹonn ganze Städte und Länder zu Asche verbrannte.

»Bin ich in einer Gruft? Genug geschwiegen«, forderte Ingrimmsch entschieden. »Worauf warten wir noch? Wir wissen, wo wir gebraucht werden.«




Das Geborgene Land, das Königreich Gauragar,

Schwarzjoch,

6234. Sonnenzyklus, Frühwinter


Theogil Harthand nahm die Kette mit beiden Händen und zog fest daran. Die Umlenkrollen und die Funktionsweise des Flaschenzugs erleichterten ihm die Arbeit. So hob er die herrenlose Lore, die auf der falschen Schiene gestanden hatte, mühelos an und von den Gleisen.

Er wusste nicht, woher sie gekommen war.

Als er seinen Dienst angetreten hatte, hatte sie da gestanden. Wahrscheinlich hatte sie sich aus einem toten Gleis gelöst, doch glücklicherweise war sie unterwegs mit keiner anderen Lore kollidiert, in der Zwerge saßen. Das hätte sicherlich einen schweren Unfall nach sich gezogen. Nun blockierte sie die Spur für eventuelle Nachzügler, die im Schwarzjoch einen Halt einlegten, ehe sie weiter ins Rote Gebirge rollten, um sich den Avataren zu stellen.

»Weg mit dir«, sagte er leise zu dem Karren und drückte ihn mit einer Hand vorwärts. Die Aufhängung war mit kleinen Rädern an den Deckenschienen festgemacht, was ein Rangieren und Umsetzen der Wagen wesentlich vereinfachte.

Er schob sie in die hintere Ecke der Halle, wo die überzähligen Loren gelagert wurden. Vorsichtig setzte er sie ab, löste die Haltehaken aus den vorgesehenen Ösen und legte die Hände auf den oberen Rand, um sie nach hinten zu schieben. Da vernahm er das Geräusch.

Es kam aus dem Tunnel, und es hörte sich an wie das weit entfernte Rattern vieler Loren hintereinander.

Wer soll das sein?, fragte er sich und überlegte, welche Truppenkontingente für heute angemeldet waren. Alle Krieger der Dritten befanden sich auf dem Weg nach Westen oder waren bereits angekommen. Die Anweisungen Lorimbasʹ hatten sie unerwartet getroffen, doch sie wurden ohne Zögern befolgt.

Theogil ließ die Lore los und bewegte sich vorsichtig auf den Tunnel zu, aus dem er die Laute vernahm. Mit angehaltenem Atem horchte er, um Gewissheit zu erlangen. Und bekam sie auch. Das Rattern und Surren wurde immer lauter.

Diese Schwachköpfe, ärgerte er sich. Sie halten die Mindestabstände nicht ein, sie werden bei der Ankunft ineinander rasseln und sich trotz der langen Auslaufzone gehörig verkeilen!

Hastig begann er damit, Vorkehrungen zu treffen, verstärkte die Strohsäcke an den Prellböcken, damit es nicht so viele Verletzte gäbe, und bezog neben dem großen Hebel des Stellwerks Posten. Sobald er sie sah, wollte er die Loren auf die verschiedenen Ankunftsbuchten verteilen und auf diese Weise die Zahl der Unfälle verringern. Noch immer konnte er sich nicht vorstellen, welche Einheit ins Schwarzjoch zurückkehrte.

Der Zwerg starrte auf den dunklen Schlund und wartete darauf, das schwache Licht zu sichten, das von der Blendlaterne am Kopf der Lore stammte.

Es dauerte nicht lange, und er sah einen Schein, doch der rührte keinesfalls von der Blendlaterne her. Er leuchtete den Tunnel vollständig aus und erhellte ihn, als schiene die Sonne hinein. Theogil musste wegschauen, so grell wurde das Licht, als es sich näherte.

Was haben die denn dabei? Haben sie eine neue Laterne entwickelt?, wunderte er sich und verließ sich gänzlich auf seine Ohren, die ihm sagten, wann er den Hebel bedienen musste.

Nun hörte er das Kreischen der Bremsen, die Kutscher drückten die Eisenklötze gegen die schmalen Räder, verringerten die Geschwindigkeit. Wind schoss aus der Röhre, herausgepresst von den nahenden Wagen.

Theogil roch seltsame Düfte, wie sie weder zu den Zwergen noch zu Menschen, Elben oder Ungeheuern gehörten. Die Böe spielte mit seinem Bart und brachte die Enden seines Kettenhemds zum Schaukeln. Sie führte den Geruch von geölten Waffen, sauberem Eisen und gewaschenen Händen mit sich und mengte sich zu einem Odeur der Reinheit. Dann schoss die erste Lore lichtumspielt aus dem Tunnel und erleuchtete die gewaltige Halle bis in den letzten Winkel.

»Was immer es ist, macht es aus«, verlangte der Zwerg lauthals. Tränen rannen aus seinen überforderten Augen; er schloss die Lider, bediente den Hebel blind und wies den Vehikeln je nach Rattern und Kreischen ihre Ankunftsbuchten zu. »Schafft sie von den Gleisen«, rief er, um die Geräusche zu übertönen. »Oder wir bekommen viele Verletzte.«

Das Licht, das die Zwerge mit sich brachten, war so grell, dass er das Blut in seinen Lidern sehen konnte. Die Helligkeit durchdrang die dünne Haut und machte sie geradezu transparent, als schaute er unmittelbar in die Mittagssonne.

Eine Hitzequelle bewegte sich auf ihn zu, jemand packte ihn mit glühenden Fingern an der Schulter und drückte ihn unsanft vom Hebel weg. »He, pass auf! Du verbrennst mich!« Nun musste er doch die Augen öffnen und blinzelte vorsichtig.

Vor ihm stand ein Wesen aus Licht, es war menschengroß und umgab sich mit einer Aura aus Weiß, das in den Pupillen brannte. Die Luft um es herum flirrte. »Ich grüße dich, Untergründiger«, sagte es mit freundlicher Stimme zu ihm. »Habe keine Angst vor mir, ich werde dir nichts tun, wenn das Gute in dir lebt.«

Theogil packte seine Keule mit der Rechten und tat einen Schritt rückwärts. »Was bist du?«, fragte er mit schroffem Ton. »Und wer hat dir erlaubt, unsere Loren zu benutzen?«

Mit der Linken nahm er das Rufhorn aus dem Gürtel und hielt es an die Lippen, um Alarm zu geben, doch das Wesen sandte einen Strahl aus weißem Licht gegen ihn und setzte das Horn in Flammen.

Hastig ließ er es zu Boden fallen, ehe das Feuer den Bart erreichte. Seine letzten Zweifel schmolzen wie das Horn, aus dem das Instrument gemacht worden war. Es gibt sie doch! Er stand vor einem der Avatare!

Wie es sich für einen Zwerg gehörte, nahm er die Keule in beide Hände und hielt sie schlagbereit erhoben. »Geh. Ihr habt keinen Grund, hier zu sein und Leid über das Land zu bringen.«

»Leid? Nein, wir bringen kein Leid, wir vernichten es«, erwiderte der Avatar freundlich. »Das Böse hat viele Gestalten. Wir wissen, dass es Nôdʹonn nicht mehr gibt. Eine Untergründige sagte es uns. Aber wir erfuhren auch, dass es noch immer Kreaturen gibt, die Tion verehren oder von ihm geschaffen wurden.« Das Wesen kam näher, und selbst der von der Glut der Esse abgehärtete Theogil konnte nicht anders, als vor der Hitze zurückzuweichen, die das Wesen umgab. »Wo finden wir die Albae, Untergründiger und Geschöpf des guten Essgar? Wir werden euch von ihnen erlösen und ihre verdorbenen Seelen auslöschen, damit ihr sie nie mehr zu fürchten braucht.«

»Geht!«, rief der Zwerg und hob drohend die Keule. »Wir werden allein mit den niederträchtigen Spitzohren fertig. Niemand hat euch gerufen! Ihr seid Zerstörer von Bösem und Gutem!«

»Nur das Reine übersteht unseren Anblick. Was zu Asche zerfällt, war nicht rein genug«, bekam er zur Antwort. Der Avatar schwebte so schnell heran, dass er nicht ausweichen konnte, und berührte seinen Kopf. »Zeig mir, Untergründiger, wie unverdorben du bist oder ob du einen Makel in dir trägst, der es rechtfertigt, dich zu vernichten.«

Theogil fühlte sich von der unglaublichen Hitze gelähmt; er dachte, glühendes Eisen brennte sich durch seine Schläfen, durch den Schädelknochen bis zu seinem Verstand und trocknete ihn aus. Die Hände mit der Keule wurden schwer und senkten sich gegen seinen Willen, schließlich ließ er die Waffe sogar fallen.

»Du hast gelogen«, hörte er das Wesen in tadelndem Ton sprechen. »Du hast mir verheimlicht, dass es noch Orks in einem Land namens Toboribor im Südosten gibt. Und Oger sehe ich in deinen Gedanken, ein Bergreich voller Oger namens Borwôl im Nordosten.« Es lachte glücklich. »Oh, wir haben so viel zu tun im Geborgenen Land. Bald hat es seinen Namen zu Recht verdient, Theogil Harthand, bald wird es wirklich geborgen sein. Geborgen und ohne Gefahr für die Menschen, Elben und dein Volk.« Die brennenden Finger gaben ihn frei. Schwindelnd taumelte er rückwärts und sank gegen einen Eisenbock. »Doch hütet euch, uns bei unserer göttlichen Aufgabe zu behindern! Einen jeden, der sich uns in den Weg stellt, betrachten wir als Freund des Übels.« Der Avatar wich zurück.

Der Zwerg hielt sich die Hand vors Gesicht, um die Helligkeit zu mindern, und spitzte zwischen einem Spalt hindurch, um zu sehen, was sich in der Halle tat.

Sie füllte sich mit Kriegern in weißen Rüstungen, die helle Banner trugen und sich sofort nach ihrer Ankunft zu Gruppen formierten. Sie schienen sich an der gleißenden Helligkeit nicht zu stören, während er noch immer fürchtete, seine Augen würden verdampfen, wenn er sie zwischendurch nicht immer wieder schloss.

Der Lärm in der Ankunftshalle blieb weiter oben im Berg nicht ungehört.

Theogil sah, dass mehrere Zwergenwachen vorsichtig die breite Treppe hinabstiegen. Als sie merkten, was sich zutrug, gab einer von ihnen unverzüglich Alarm. Laut tönte das warnende Horn durch die Stollen und Säle des Schwarzjochs und rief die wenigen Verteidiger zu den Waffen.

Der Avatar hielt inne und kehrte zu Theogil zurück. Der Zwerg tastete indessen nach seiner Keule. »O ihr Uneinsichtigen«, sagte die Lichtgestalt bedauernd. »Ihr habt euer Verderben selbst gewählt, obwohl wir das gleiche Ziel verfolgen. Nun werdet ihr sterben müssen.«

»Ich zeige dir, dass wir uns nicht vor dir und deinen Soldaten fürchten«, rief Theogil ihm knurrend zu, sprang auf die Beine und lief dem Avatar entschlossen entgegen, einen Kriegsschrei auf den Lippen und die Keule schwingend.

Kurz bevor er die schimmernde Gestalt erreichte, schwoll die Hitze unerträglich an. Das Metall an seinem Körper glühte rot, das Leder verbrannte stinkend, und Fleisch und Blut verdampften schneller als ein Tropfen Wasser in der Glut.

Von Theogil Harthand blieb nichts zurück als ein Häufchen Asche und verkohlte Knochenstücke. Kaum senkten sich die grauen Flocken auf den Stein, wurden sie von den Stiefelsohlen des Avatarheeres, das sich gegen die anrückenden Zwerge warf, vollends zu nichts zerrieben.




Das Geborgene Land, Königreich Gauragar,

Ende des 6234. Sonnenzyklus, Winter


Boïndil stapfte durch den Neuschnee, der wie Puderzucker auf der Erde, den Bäumen und Zelten lag, und betrat als Letzter die Unterkunft, in der die Besprechung stattfand. Er trat ans Feuer, um sich zu wärmen, und nahm einen Humpen Bier vom kleinen Tisch. Wie alle anderen auch, gönnte er sich noch einen letzten beschaulichen Abend, ehe der Heereszug um die Mitte des morgigen Tages den Tafelberg erreichen und sehr wahrscheinlich auf die Avatare treffen würde.

»Diese Bastarde«, sagte Boïndil voller Überzeugung. »Man merkt, dass sie aus Tion entspringen. Von diesem Gott kann nichts Gutes kommen. Selbst wenn sie auf der Jagd nach dem Bösen sind, richten sie Böses an.« Er leerte sein Gefäß und füllte es sogleich wieder. Dabei richtete er seine Augen mit den stecknadelkopfgroßen Pupillen auf Tungdil. »Gibt es schon Neuigkeiten von unseren Aufklärern, Tungdil?«

»Nur, dass ihre Reiterei den Berg verlassen hat und nach Norden zieht«, sagte Lorimbas statt seiner. »Sie kamen teilweise durch die Tunnel und haben sie hinter sich zum Einsturz gebracht.«

»Und woran haben das deine Späher erkannt?«, wollte er wissen.

»An den Spalten, die sich oberirdisch bildeten«, antwortete der König der Dritten. »Mit ihrer Zaubermacht haben die Avatare große Strecken der Tunnel, die vom Schwarzjoch ausgehen, einbrechen lassen. Was das Beben nach dem Meteoritenhagel nicht schaffte, haben sie mit ihrer Kraft erreicht.«

Xamtys nickte. »Wir haben ähnliche Beobachtungen gemacht. Auch unsere anderen Tunnel sind nicht mehr sicher; die Heere von Balendilín, Gandogar und Glaïmbar werden oberirdisch reisen müssen.«

»Schlecht für uns.« Tungdil betrachtete einmal mehr die Karte. In Gedanken zog er eine gerade Linie, um die bisherige Marschroute der Avatare und ihres Heeres zu verlängern, und gelangte damit nach Dsôn Balsur. »Wenn man in ihren Dimensionen denkt, macht der Marsch gegen die Albae Sinn«, äußerte er seine Vermutung. »Sie sind derzeit unsere ärgsten Feinde. Zusammen mit der zusätzlichen Macht, die ihnen das Schwarze Wasser gab, sind sie eine lohnens- und vernichtenswerte Beute für die Avatare.«

»Wenn sie nicht so schädlich für die Umgebung wären, wäre ich versucht zu sagen, dass wir sie gewähren lassen sollten«, merkte die Königin an. »Sie sind in der Lage, die Albae auszurotten, was dem Heer aus Menschen, Elben und uns nicht gelungen ist. Seit jener Nacht, als sie die Menschen überfallen haben, finden sich keine Freiwilligen mehr, und auch die Soldaten fliehen scharenweise, wenn sie hören, dass sie gegen Dsôn Balsur geschickt werden.«

»Du sagt es, Xamtys. Seit sie die Kraft des Schwarzen Wassers für sich entdeckt haben, sind sie noch gefährlicher, todbringender geworden«, gab ihr Tungdil Recht. »Die Späher berichteten uns, dass die Gegend um das Schwarzjoch ohne Schnee sei, während wir in wenigen Sonnenumläufen bis zu den Bäuchen durch das Weiß waten werden.« Er schaute zu Narmora. »Bist du bereit für das Zusammentreffen?«

Die Maga hatte die Augen auf die zuckenden Flammen des Leuchters an der Decke gerichtet. »Ich überlege die ganze Zeit, ob meine Magie etwas gegen sie ausrichten kann«, gestand sie. »Ich beschreite den Weg des Ausgleichs, zwischen Gut und Böse, ich habe die Kraft von beidem. Wäre es nicht besser, sie mit etwas zu attackieren, was seine Kraft ausschließlich aus dem Guten schöpft?« Sie löste sich von den Flammen. »Wir werden bald sehen, wie weit ich mit meinen Zaubern komme.«

»Und ich bin an deiner Seite, Mentorin«, versicherte ihr Rodario und gab sich Mühe, unbeschwert und zuversichtlich zu klingen. »Ich werde sie glauben lassen, sie hätten den mächtigsten Magus des Geborgenen Landes vor sich, und du wirst sie aus dem Hinterhalt einen nach dem anderen in die Knie zwingen.« Er nahm einen Schluck Bier und verzog das Gesicht. Zu bitter, zu malzig, zu stark. »Oder jedenfalls versuchst du es«, sagte er etwas leiser. »Ich hätte nach meinem Tod gern eine Statue in Porista, wäre das möglich?«, bat er sie noch leiser, was sie absichtlich überhörte.

Tungdil musste grinsen; er bemerkte, dass Djerůn unbeweglich wie so oft hinter seiner neuen Herrin stand und über sie wachte. Seine lädierte Rüstung machte ihn einschüchternder als je zuvor, denn sie zeigte jedem, der ihn sah, dass er viel überstanden hatte, von Schwerthieben über Lanzenstiche bis Feuer, und trotzdem auf beiden Beinen stand.

Während er ihn betrachtete, kam ihm eine Sache merkwürdig vor. Die Avatare verfügten über enorme magische Kräfte, mit denen sie gegen alles Böse ins Feld zogen, das sie nur finden konnten. Wie die Legende und die Überlebenden der Dritten berichteten, überstand man ein Zusammentreffen mit ihnen durch einen Zufall - oder man war rein genug, was immer das bedeutete.

Aber Djerůn lebt immer noch. Sie hätten ihn eigentlich vernichten müssen. Immerhin ist er ein Wesen Tions und durch seine Kraft gefährlicher als Orks, Bogglins oder Oger. Tungdil spürte ein Ziehen im Magen, die Aufregung packte ihn. Doch er hat ihre Attacken überstanden. Das kann kein Zufall sein.

Ohne sein Verhalten zu erklären, stand er auf, ging zu Narmoras Leibwächter und fuhr mit den Fingern über die Rüstung, zeichnete die vom magischen Feuer geschwärzten Intarsien nach, berührte die eingetriebenen Zeichen und Symbole, die Balyndis auf Geheiß von Andôkai angebracht hatte. Sollen sie ihn bewahrt haben?

»Verzeih, Held des Schwarzjochs, aber was genau machst du gerade?«, erkundigte sich Rodario verwundert. »Sicher, ihr Zwerge habt ein Schwäche für gut gemachte Schmiedekunst, aber ist das nun wahrhaftig die rechte Stunde, um solche Arbeit zu begutachten?«

Tungdil antwortete nicht auf den Einwurf des Mimen. »Narmora, frag Djerůn, was genau geschah, als er den Avataren begegnete«, bat er sie.

»Muss ich nicht. Er versteht dich«, antwortete sie, und kurz darauf ertönten die Laute, die keiner der Anwesenden außer der Halbalbin verstand. »Nun, wenn ich es richtig vernommen habe, so haben sie ihn mit Zaubern attackiert.«

Tungdil trat einen Schritt zurück und pochte gegen das Eisen. »Und wieso hat er überlebt, was die gerüsteten Zwerge der Dritten vernichtete?«, warf er die Frage in die Runde. »Djerůn ist ein Wesen, das schwerlich auf die Gnade der Avatare vertrauen dürfte. Sie müssten alles daran gesetzt haben, ihn zu vernichten. Dennoch haben sie es mit ihrer angeblich immensen Macht lediglich geschafft, seine Rüstung mit Ruß zu belegen. Hätte ihn das Heer, das sie begleitete, nicht niedergerungen, so vermute ich, dass sie ihn gar nicht hätten halten können.«

»Du meinst, seine Rüstung hat ihn vor der Magie bewahrt?«, hakte Boëndal nach. Er hatte es zur gleichen Zeit wie Narmora verstanden, das konnte man am Gesicht der Maga ablesen. »Dann hatte Andôkai doch ein Mittel gegen ihre Macht gefunden?«

Narmora schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Warum hat sie es niemandem gesagt? Warum sollte sie es für sich behalten?«

»Um uns nicht zu enttäuschen, falls es nicht so gewesen wäre?«, schlug Rodario vor. »Es könnte doch sein, dass sie unseren Ritter absichtlich ausschickte, um mit ihm eine Probe zu unternehmen, bevor sie uns davon berichtete.«

»Du kanntest die Maga schlecht. Niemals hätte sie Djerůns Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Er geriet durch eine Fügung in die Hände der Avatare, nicht weil es sein Auftrag war«, widersprach Narmora. Sie bedeutete Tungdil, von ihrem Leibwächter zurückzutreten, dann hob sie die Arme und bereitete einen Zauber vor. »Wir werden gleich sehen, ob es die Rüstung war, die ihn vor ihrer Macht bewahrte.« Sie gab einen kurzen Laut von sich, um Djerůn auf das Kommende vorzubereiten, und öffnete den Mund.

»Ho, du wirst doch nicht hier im Zelt...«, wollte Ingrimmsch protestieren, doch sie scherte sich nicht um Widersprüche.

Ein Flämmchen aus dem Leuchter über dem Kartentisch löste sich vom Docht, flog in ihre geöffneten Hände und färbte sich darin rubinrot. Es wuchs und vergrößerte sich, bis es den Umfang eines Kopfes erreichte, dann zischte es gegen die breite gepanzerte Brust.

Zischend zerbarst es daran und hüllte Djerůns Oberkörper in Feuer; gleichzeitig glühten die Runen auf, und das Inferno erlosch auf der Stelle. Djerůn wankte nicht einmal.

»Nun mit etwas mehr Macht«, murmelte sie und hob den rechten Arm, woraufhin sich sämtliche Flammen im Zelt zwischen ihren Fingern sammelten und zu einem heißen Feuerball vereinigten, den sie gegen ihn schleuderte.

Wieder verschwand der Koloss in dem Angriff, dieses Mal ging er durch die Wucht des Aufpralls in die Knie, doch nachdem die Lohe erstarb, erhob er sich und knurrte etwas.

»Er sagt, er spürt die Wärme, doch sie vermag ihm nichts anzuhaben«, übersetzte sie, völlig außer Fassung geraten. Ein Zeichen ihres Fingers genügte, und die Dochte entfachten sich von selbst, das Licht kehrte ins Zelt zurück. »Damit niemand denkt, ich hätte ihn geschont, sei euch allen gesagt, dass ich mit diesem Feuer Eisen zum Schmelzen bekomme.« Narmora trat zu ihm, betrachtete kopfschüttelnd seinen Harnisch und legte die Hand darauf. »Er ist warm, mehr nicht. Und die Runen schimmern ein wenig nach.« Sie wandte sich an die Zwerge. »Ich bin mir sicher: Balyndis hat ihm einen Panzer angefertigt, der nicht nur gegen herkömmliche Waffen taugt.«

Tungdil stieß erleichtert die Luft aus. »Vraccas, einmal mehr gibt uns die Kunst, die du in unser Blut legtest, die Möglichkeit, das Geborgene Land zu schützen. Wir danken dir.« Er ließ sich auf Knie herab und bedankte sich mit einem lauten Gebet; die anderen Zwerge bis auf Lorimbas fielen ein.

Er wird aber nicht erscheinen, um euch vor mir zu retten. Abschätzig glitten die dunkelbraunen Augen des Dritten über die geneigten Häupter, die er am liebsten von den Hälsen geschlagen hätte, doch das durfte er nicht. Noch nicht.

Tungdil erhob sich als Erster. »Wir müssen Balyndis herschaffen, so schnell wie möglich«, sagte er laut und erleichtert, einen Hoffnungsschimmer gefunden zu haben. »Senden wir ihr eine Nachricht, dass wir die Rezeptur von Djerůns Rüstung benötigen.« Es scheint mein Fluch zu sein, ihr immer wieder begegnen zu müssen.

»Am besten schmieden wir gleich zehntausend Stück davon, um uns vor den Avataren zu schützen«, sagte Boëndal, die Hand auf seinen Krähenschnabel gestützt. »Ich bin gewiss kein Feigling, doch ich denke, dass wir ohne diesen Schutz erst gar nicht gegen sie ins Feld ziehen brauchen. Bedenkt, wie viele Überlebende es bislang gab.«

Tungdil sandte sogleich vier Boten in Richtung des Grauen Gebirges, damit Balyndis ihre Nachricht auch sicher erhielt. »Wir sehen uns morgen das Schwarzjoch an, danach entscheiden wir, was wir tun«, empfahl er. »Mir wäre es auch lieber, wenn wir die Rüstungen schon hätten, doch unter Umständen müssen wir vorher angreifen.« Er deutete auf die Karte, auf der Dsôn Balsur drohend mit dicken, schwarzen Strichen eingezeichnet war. »Wenn sie die Albae vernichten, wächst ihre Kraft, weil sie ihre Macht aus dem Bösen ziehen, das sie vernichten. Wer weiß, ob die Rüstungen dann noch halten.«

»Aber es gibt Hoffnung«, freute sich Ingrimmsch. »Ho, was werde ich den Avataren meine Beile um die Ohren dreschen, wenn ich erst einmal in dem feinen Eisenkleid stecke! Die ersten zehn gehören mir, damit das klar ist.«

»Es sind nur elf Avatare«, machte ihn sein Bruder aufmerksam, und die anderen lachten.

Boïndil bleckte die Zähne und prostete ihm zu. »Na und? Ich kann nichts dafür, dass sie nicht für alle reichen.«


*

Die gute Laune des Abends wollte angesichts des Tafelbergs, den sie am Nachmittag des folgenden Sonnenumlaufs erreichten, nicht lange vorhalten.

Als sie sich dem Schwarzjoch auf Sichtweite näherten, sahen sie, dass die dunklen Wolken am grauen Winterhimmel keine Schneewolken, sondern Rauchschwaden waren. Und woher sie kamen, war bald offensichtlich.

Der Berg mit dem abgeschnittenen Gipfel brannte lichterloh.

Das Feuer schlug nicht aus einzelnen Spalten oder Öffnungen, nein, der ganze Fels stand in Flammen. Der Qualm verdunkelte die Sonne, trübte die helle Scheibe und machte den Tag zum Abend. Krachend platzten große Stücke des Jochs ab und stürzten in den Staub; rund um den Berg war die einst winterliche Erde ausgedörrt. Die Lohen schossen höher und höher und schienen die Sonne selbst entzünden zu wollen.

»Ich hätte niemals geglaubt«, presste Xamtys hervor, »dass ich so etwas sehe.«

»Wie geht das an, Maga?«, fragte Ingrimmsch ungläubig. »Haben die Avatare den Granit in Kohle verwandelt?«

Narmoras Augen wurden schmal. »Es ist eine Warnung«, sagte sie. »Eine Warnung an alle, die ihnen folgen. Eine Zurschaustellung ihrer Kräfte.«

»Wie soll ich das auf der Bühne hinbekommen?«, seufzte Rodario, und Furgas zuckte mit den Achseln.

Tungdil schulterte seine Axt. »Sehen wir uns aus der Nähe an, was sie angerichtet haben.«

Und die Avatare hatten Gewaltiges angerichtet.

Im Umkreis von 500 Schritten um den Tafelberg ging der Schnee in Matsch über. Nach weiteren 300 Schritten wurde der Boden trockener, so wie an einem Sommertag, und die Füße des Zwergenheeres wirbelten Staub auf.

Näher als 250 Schritte gelangten sie nicht an das Schwarzjoch heran, denn einem herabstürzenden Felsen war auf die kurze Entfernung nicht mehr auszuweichen. Gelegentlich entdeckten sie in dem Staub die Reste von Äxten und Keulen, hier und da lagen verbrannte Gebeine und zu verformten Klumpen gewordene Rüstungsteile, in denen die verkohlten Überreste ihrer Träger eingebacken waren. Mehr war von den Bewachern des Tafelberges nicht geblieben.

Lorimbas hatte den Blick auf die unvorstellbare Zerstörung gerichtet, Tränen funkelten in seinen Augen. »Für euch mögen es nur Dritte gewesen sein, die im Feuer umkamen«, sprach er leise, mühsam beherrscht. »Für mich aber sind Freunde gestorben, deren Tod nach Rache verlangt.« Der Kampf gegen die Avatare bekam für ihn und seine Krieger unversehens eine schrecklichere, persönliche Dimension. Die Flammen des Schwarzjochs setzten die Herzen der Dritten in Brand.

»Aussichtslos«, murmelte Rodario und scharrte mit der Stiefelspitze im pudrig grauen Staub. »Ohne die Rüstungen hat es keinen Sinn, gegen sie zu ziehen. Oder sieht das jemand anders?«

»Es wird uns vielleicht keine Wahl bleiben, um sie zu beschäftigen«, antwortete Lorimbas düster und besah sich die breite Spur, welche die Avatare auf ihrem Weg nach Norden hinterlassen hatten. Ein 100 Schritt breiter, schneefreier Streifen aufgewühlter Erde wies ihm und den anderen die Richtung, in die sich die Eindringlinge gewandt hatten. Dann bückte er sich und hob einen Axtkopf auf; die Reste des verbrannten Stiels steckten noch darin. »Goldhand hat Recht. Wir müssen sie aufhalten, ehe sie Dsôn Balsur erreichen und die Albae vernichten. Noch mehr Macht dürfen wir ihnen nicht geben.«

»Verrückt, oder?«, rief Ingrimmsch. »Da haben wir uns einen Umlauf nach dem anderen bemüht, die schwarzäugigen Spitzohren aus dem Land zu werfen, und jetzt müssen wir sie vor denen beschützen, die es tun könnten.«

»Mir gefällt es ebenso wenig«, meinte Tungdil. »Wir können den Avataren nicht erlauben, Dsôn Balsur niederzuzwingen, aber es wird die Albae nicht vor ihrer endgültigen Vernichtung bewahren. Sie ist nur aufgeschoben.« Er schaute zu Lorimbas. »Sind zehntausend von deinen Dritten in der Lage, an dem Heer vorbeizuziehen, damit wir sie von zwei Seiten in die Zange nehmen können?« Der König nickte. »Gut. Dann gehen Narmora, Rodario, ich und die Zwillinge mit ihnen, um das Heer der Fremden am Marschieren zu hindern. Wir verwickeln sie in einen Kampf; ihr werdet sie zusammen mit den Freien und den Ersten von hinten angreifen, und Narmora kümmert sich um die Avatare, sobald sie sich zeigen.« Er schlug Boïndil auf die Schulter. »Ist das eine Herausforderung nach deinem Geschmack?«

»Ich weiß es noch nicht«, sagte Ingrimmsch unsicher. »Vielleicht ist sie sogar für mich zu groß.«

Als sich Tungdil mit den Elitekriegern der Dritten anschickte, einen schnellen Vorstoß südlich an den Avataren vorbei zu unternehmen, war die einst so stattliche Erhebung nichts weiter als ein zerklüfteter, lang gestreckter Hügel von gerade mal fünfzig Schritt Höhe. Und als sie gegen Abend eine kurze Rast einlegten, stiegen nur mehr Funken in die Höhe, wo einst das Schwarzjoch gewesen war. Der mächtige Tafelberg war verbrannt, zerstört vom Feuer der Avatare.

Doch so sehr sich Tungdil und die Dritten bemühten, an dem Heer vorbeizukommen, das nachts seinen hellen Schein gegen den dunklen Himmel warf und ihnen zeigte, wo es sich gerade befand, es gelang ihnen nicht.

Die Soldaten der Avatare schienen keiner Ruhe zu bedürfen, sie standen allem Anschein nach von morgens bis abends auf den Beinen und ließen Meile um Meile hinter sich, während die Dritten nach dem zehnten Sonnenumlauf allmählich die Kraft verloren.

»Wenn sie so weiter rennen, sind sie in weiteren zehn Sonnenumläufen bei den bösen Spitzohren«, schätzte Ingrimmsch abends am Lagerfeuer und begutachtete die zahlreichen Blasen, die er sich gelaufen hatte. »Wir kommen kaum hinterher, wie sollen es da Gemmil, Xamtys und Lorimbas mit dem riesigen Hauptheer schaffen, Anschluss zu halten?«

Tungdil studierte die Karte. Um ihn herum saßen die Hauptleute der Dritten, ihre tätowierten Gesichter blieben ausdruckslos und verrieten durch nichts ihre Gedanken oder Empfindungen. »Unseren vereinbarten Angriffsort können wir nicht halten«, sagte er, nachdem er die Entfernungen hochgerechnet hatte. Er deutete mit dem Ende seiner langstieligen Pfeife auf die Grenze zu Dsôn Balsur. »Wir müssen schneller laufen, dann werden wir sie hier abfangen, mitten auf der Linie. Eher wird es kaum gelingen. Ich sende dem Hauptheer einen Läufer, der ihm die neuen Pläne übermittelt.«

Die Hauptleute der Dritten hörten schweigend zu.

»Riskant, aber unvermeidlich«, fasste Boëndal zusammen. »Mit dem Ziel vor Augen werden sie sich noch mehr anstrengen, uns zu überwinden und mitten ins Herz des Albaereichs zu stoßen.«

»Es geht nicht anders. Wir sind zu langsam.« Tungdil las die Berichte der Späher, die unbemerkt von den Avataren am Ende des Weißen Heeres blieben und regelmäßig Meldung erstatteten.

Inzwischen waren den Fremden vier Städte zum Opfer gefallen, die auf der Strecke gelegen und sich offenbar geweigert hatten, sie zu unterstützen. Sie waren von den Truppen geplündert worden und standen nun in Flammen.

Angeblich gab es nur wenige Überlebende, in erster Linie waren es Kinder und junge Mädchen, denen die Gnade der Wesen zuteil geworden war. Alle anderen wurden wie die Zwerge im Schwarzjoch zu Asche verwandelt. Ähnlich erging es Wäldern, Feldern, Wiesen und aller Natur, der sie begegneten. Das Heer der Fremden hinterließ eine breite Schneise aus verbrannter Erde und Asche.

Es mochte sein, dass es wenig Reinheit im Wesen der Menschen und Zwerge gab, doch Tungdil bezweifelte stark, dass so viele derart verkommen waren, dass es ihre Tötung gerechtfertigte.

Ich verstehe nicht viel von göttlichen Maßstäben, aber was sie dem Geborgenen Land antun, spricht gegen sie. So viel Leid haben nicht einmal die Albae über die Menschen gebracht. Er warf die Zettel ins Feuer und beobachtete, wie sich das Papier wellte, krümmte und in Flammen aufging. Sogleich musste er an das Schwarzjoch und die Toten denken, welche die Avatare allein dort zu verschulden hatten. Sie sind schlimmer als jede Bestie.

In dieser Nacht träumte er von Balyndis und Myr.

Die beiden Zwerginnen kämpften um seine Gunst, die eine mit Schmiedehammer und Zange, die andere mit scharfen Messern. Plötzlich erschien Salfalur und erschlug alle beide; dann eilte er tränenüberströmt und den Hammer schwingend auf Tungdil zu. In dem Moment, als der Hammer auf ihn niederfuhr, wurde er wach.

Boïndil saß neben ihm und hatte ihn aus seinem Traum geschüttelt. »Auf die Beine, Gelehrter. Das Weiße Heer marschiert schneller als sonst. Es scheint, als hätte ihnen der Wind unser Vorhaben verraten.«

Fluchend stand Tungdil auf, schnallte sich sein Wehrgehänge um, stopfte die Decke in den Rucksack und verfiel in leichten Trab, um an die Spitze des Heeres zu gelangen, das sich bereits auf dem Marsch befand. Die Dritten hatten es nicht für notwendig befunden, ihn zu wecken. Wenn Ingrimmsch nicht gewesen wäre, hätte er sich beim Erwachen sehr gewundert, dass er allein am Feuer lag.

Er spürte die bohrenden Blicke im Nacken, als er an ihren Reihen vorbeirannte. Nein, auch er würde es wie Boïndil halten und ihnen niemals im Kampf den Rücken zuwenden, auch wenn es sein Stamm war.




Das Geborgene Land,

82 Meilen nordwestlich von Dsôn Balsur,

Ende des 6234. Sonnenzyklus, Winter


Ondori wendete den Feuerstier und blickte stolz auf die Schar von viertausend Kriegern, die ihr durch das Dunkel der Nacht folgten.

Sie alle hatten von dem Schwarzen Wasser getrunken, ihre Kräfte hatten sich gesteigert, und keine weltliche Waffe würde sie in absehbarer Zeit bezwingen können.

Die Unauslöschlichen hatten ihr den Auftrag erteilt, nach Âlandur zu gehen und Liútasil zu vernichten. Für die Albin gab es kaum etwas, das sie lieber getan hätte. Die Vernichtung des Elbenfürsten hatte Vorrang vor ihrem eigenen Rachefeldzug gegen die Zwerge, und gestärkt durch die Macht des Schwarzen Wassers konnte sie sich alle Zeit der Welt nehmen, ehe sie ihnen einen Besuch abstattete.

Mit ein wenig Glück und dem Segen Tions ergab sich für sie und ihre Krieger die Gelegenheit, die gesamte Linie Liútasils auszurotten. Je nachdem, wie der Angriff verlief, würde sie ihren Zug durch Âlandur fortsetzen und so viele Siedlungen wie möglich in Schutt und Asche legen. Der Turm der Unauslöschlichen würde mit neuem Elbenbein geschmückt werden, und der Kopf Liútasils käme ganz oben auf die Spitze.

Sieh an. Ein paar unvorsichtige Wandersleute. Unterhalb eines kleinen Solitärberges bemerkte sie ein schwaches rotes Glühen, das von einem schlecht verborgenen Lagerfeuer stammte. Sie winkte zwei Dutzend Krieger zu sich und bedeutete ihnen, sie zu begleiten. Vielleicht habe ich Glück und töte ein paar Elben.

Sie schlichen sich durch die Talsohle an den Felsen heran, dessen Wand im unteren Teil einen Vorsprung und damit einen natürlichen Schutz gegen Regen und Schnee bildete. Unter anderen Umständen wäre es ein vortrefflicher Platz für eine Rast gewesen, doch in dieser Nacht waren die beschützenden Götter nicht mit den Wanderern.

Ondori saß ab und glitt lautlos auf den Boden. Sie hörte das Schnarchen, roch den strengen Tabakgeruch ihrer Opfer. Nach wenigen Schritten stand sie hinter einem Deckung gebenden Findling und betrachtete aus seinem Schatten heraus, was sich ihr bot.

Unterirdische, staunte sie lautlos, als sie die gedrungenen Körper der Schlafenden rund um das schwach brennende Feuer liegen sah. Der Wächter hockte mit dem Rücken zu ihr auf einem Stein und schmauchte ein Pfeifchen. Gelegentlich schöpfte er mit seinem Becher aus einem Topf über den Flammen und nahm einen Schluck von der dampfenden Flüssigkeit.

Ondori zählte und kam auf zwanzig. Doch was wollen sie hier? Späher sind es keine, es gibt nichts, was sich auszukundschaften lohnt.

Sie befahl ihren Begleitern mit knappen Gesten, dass sie einen am Leben lassen sollten, um ihn auszufragen; für den Rest hatte sie keine Verwendung. Sie konzentrierte sich auf das Feuer und zwang es, kleiner zu werden. Die Flammen gehorchten und erstarben nach einem kurzen Aufbäumen.

Leise fluchend erhob sich der Wächter und warf trockenes Holz auf die Glut, ging auf die Knie und pustete, um das Feuer zu entfachen.

Ondori löste sich aus dem Schatten des Steins und huschte neben ihn. Sie bewegte sich so leise, dass er keine Zeit mehr hatte zu reagieren. Schon kappte ihre sichelförmige Waffe seinen Hals. Verblutend stürzte er in die glimmenden Reste, sein Lebenssaft ergoss sich auf die Glut und löschte sie vollends.

Ein Zwerg schreckte durch das Geräusch des fallenden Körpers aus seinem Schlummer. Kaum hatte er den verstrubbelten Kopf erhoben, beendeten drei schwarze Pfeile sein Leben; langsam sank er zurück auf die Decke, als wollte er seinen Schlaf fortsetzen.

Die Albae meuchelten sich von rechts nach links durch die Reihen der Zwerge, schlitzten ihnen die Kehlen auf, jagten ihnen schmale Dolche durch die geschlossenen Lider oder erstachen sie mit ihren Schwertern.

Währenddessen setzte sich Ondori vor den letzten Überlebenden, nahm ihm die Waffe ab, die neben ihm ruhte, und pochte mit dem Kampfstab auf dessen Schulter.

Verschlafen richtete er sich auf, und die Albin erkannte, dass es sich um eine Zwergin handelte. Augenblicklich langte sie neben sich und tastete nach ihrer Axt, doch vergebens.

»Sei still«, raunte Ondori, hielt die Zwergenwaffe hoch, damit die andere sie sah, und schleuderte sie in den Schnee. »Wenn du schreist, sterben zuerst deine Freunde und dann du. Hast du verstanden, Unterirdische?« Die Zwergin nickte, man hörte, wie ihre Zähne mahlten. »Was wollt ihr hier?«

»Nach euch sehen«, gab sie zur Antwort.

Die Albin bleckte die Zähne. »Lüg mich nicht an, Kurzbein.« Ihr kam das Antlitz vage bekannt vor. »Ich kenne dich doch. Ich habe dich bei der Schlacht am Grauen Gebirge gesehen! Du hast geschrieen und die Ablenkung beschert, damit ich flüchten konnte.« Dann lächelte sie unheilvoll. »Du bist die Frau des Königs der Meute, die in den verlassenen Hallen eingezogen sind. Schickt er ein neues Heer gegen uns? Seid ihr die Kundschafter?«

»Nein, du täuschst dich«, sagte die Zwergin trotzig. »Wir sollten nachschauen, was sich am Waldrand Dsôn Balsurs tut und danach zu den Elben gehen, um mit ihnen zu verhandeln.«

Ondori vollführte eine schwungvolle Bewegung mit ihrem Stab und drückte einen verborgenen Knopf, woraufhin am anderen Ende eine Klinge hervorschnellte und sich an die Kehle ihrer Gefangenen legte. Mit einem Klacken arretierte die Schneide. »Sag mir die Wahrheit, Unterirdische.« Sie schwenkte den Stab und hielt die Spitze an die Seite des Zwergs zur ihrer Rechten. »Denke an deine Freunde«, raunte sie gefährlich. »Ich kann sie in den Ewigen Schlaf schicken.«

Die Zwergin senkte den Kopf. »Du wirst ihnen nichts tun, Schwarzauge«, gab sie wenig eingeschüchtert zurück.

Ungerührt stieß Ondori zu und versenkte die Schneide im Leib des ohnehin schon Ermordeten. Doch die Zwergin fiel auf ihre List herein und glaubte, ihr unerbittliches Schweigen hätte seinen Tod verschuldet. »Nun sind es noch achtzehn, Unterirdische, dich eingeschlossen. Wie oft wirst du noch lügen?«

»Du Scheusal!« Ohne Vorwarnung warf sich die Zwergin nach vorn, schlug den Kampfstab zur Seite und prallte gegen die Albin, die mit raubtierhafter Geschmeidigkeit unter ihr wegrutschte und sich ihren starken Fingern entzog.

»Zu langsam.« Ondori trat ihr mit voller Wucht unters Kinn und grinste, als sie sah, wie der Leib der Zwergin erschlaffte. Da hat mir die Fügung eine nette Beute beschert. Sie erhob sich und streifte den Schnee ab, als die vermeintlich Bewusstlose ihren Dolch zog und ihn ihr durch den linken Unterschenkel zog. Die Schneide biss durch das Leder des Stiefels, ihr Bein knickte ein.

»Zu den Waffen!«, schrie die Zwergin und hechtete auf die Albin, den Dolch auf die Kehle gerichtet. »Ein Schwarzauge ist im Lager!«

»Tötet sie nicht!«, rief Ondori trotz ihrer Schmerzen. »Sie ist wichtig, wir brauchen sie lebend.« Sie fing den Arm mit der Klinge ab. Die Zwergin verfügte über enorme Kraft und hatte dazu noch ein ordentliches Gewicht, nicht zu vergessen die Entschlossenheit, die Mörderin eines Freundes zur Rechenschaft zu ziehen.

Vier Albae standen ihr bei, packten die Angreiferin von hinten, rissen sie zurück und schleuderten sie hart auf den gefrorenen Boden. Dann stellten sie sich auf ihre Arme und Beine, doch noch immer versuchte sie, sich aus der Gewalt ihrer Feinde zu befreien.

Die Albin schnitt einen Fetzen Stoff aus dem Umhang eines toten Zwergs und verband sich damit die tiefe Wunde, die sich bald von selbst schließen würde. »Verwünschte Bergmaden«, knurrte sie und rammte der Zwergin das stumpfe Ende des Stabs in den Bauch, sodass sie sich krümmte. »Wir werden dich mitnehmen, Unterirdische. Du bist die Frau des Königs und eine sehr gute Freundin von Tungdil Goldhand.« Sie wies ihre Begleiter an, die Zwergin zu fesseln. »Mein Gespür sagt mir, dass du wertvoll für uns sein wirst.«

Sie humpelte vorweg; ihre Krieger folgten ihr und zerrten die Gefangene mit sich, die sich störrisch wie ein Esel benahm - was darin endete, dass die Albae sie durch den Schnee hinter sich her schleiften. Es war die einzige Spur, die sie bei ihrem Überfall hinterließen.

Ondori atmete auf, als sie sich wieder in den Sattel ihres Stieres Agrass schwang. Der Schnitt pochte und klopfte; zwar sorgte das Schwarze Wasser dafür, dass sich die Wunde schneller schloss als bei einem normalen Wesen, aber es tat weh. Das Ende des Stricks, mit dem sie die Zwergin gebunden hatten, verknotete sie in einer Öse am Sattel, sodass ihre Gefangene nicht weglief.

Sie kehrten zu ihrer kleinen Streitmacht zurück und setzten den Weg in Richtung Âlandur fort. Der Bulle wandte den Kopf, die Nüstern blähten sich im Wind. Sein Verhalten warnte die Albin, sie drehte sich im Sattel um und schaute nach Westen. Was, bei allen Wesenheiten, ist das?

Ein lang gezogenes Band aus Licht bewegte sich durch Gauragar und hielt ohne Umschweife auf die Grenze ihrer Heimat zu. Die Spitze des Zuges durfte höchstens zwei volle Umläufe vom Wald entfernt sein.

Haben die Menschen etwas Neues ersonnen, um die Stämme in Brand zu setzen?, wunderte sie sich über den unvermittelt zurückgekehrten Mut der Angreifer, verwarf den Gedanken jedoch sogleich wieder. Sie kannte keine Lampe, die ein solches Licht warf, selbst die Laternen der Elben erreichten nicht diese durchgehende Helligkeit. Feuer konnte es auch nicht sein, dafür war der Glanz zu hell, zu weißlich.

»Unterirdische!« Ihr Fuß traf die Zwergin, die neben ihrem Stier stand, mitten ins Kreuz. »Ist das euer Werk?«

Die Gefangene warf ihr einen mörderischen Blick zu und zuckte dann mit den Schultern. »Vielleicht, Schwarzauge.«

»Also nicht.« Es sieht aus, als rönne geschmolzenes Palandium über die Erde... Für Ondori kam nur eine Lösung für das Phänomen in Frage, und die lautete: Andôkai.

Die Maga musste von den Menschen so lange beschwatzt worden sein, bis sie sich einen Zauber hatte einfallen lassen, um gegen ihr Volk vorzugehen. Kaum nahm die Idee in ihren Gedanken Form an, so schalt sie sich selbst deswegen. Der Beiname »die Stürmische« verriet, dass sich die Maga auf Winde und derlei verlegt hatte. Es wäre bestimmt nicht ihre Art, nachts wie ein Fanal durch die finstere Gegend zu ziehen und die Späher der Albae dankenswerter Weise auf ihr Kommen aufmerksam zu machen.

Was geht dort vor? Ondori hatte ein ungutes Gefühl, das klare Weiß des Lichtes schmerzte ihr in den Augen. »Halt«, rief sie laut. »Lasst die Abteilungen umkehren.« Zur Erklärung deutete sie auf das schimmernde Band. »Wir sehen uns das genauer an, bevor wir uns um Âlandur kümmern.«

Die Melder ritten auf ihren Nachtmahren los, um ihren Willen weiterzutragen, zwei blieben bei ihr. Gedankenverloren berührte Ondori das Mal auf ihrer Stirn, das der Segen der Unauslöschlichen auf ihrer Haut hinterlassen hatte. Sie konnte sich täuschen, doch es begann zu brennen, als hätte es sich entzündet.

»Ondori«, sagte einer der Melder und wies nach Süden. »Ist da nicht auch Feuerschein?«

Sie strengte sich an, um etwas zu erkennen, und sah in der Tat viele Meilen entfernt einen Schein, der demjenigen glich, welcher sich ihnen näherte. »Von ihm droht uns keine Gefahr«, stellte sie beruhigt fest. »Aber wir behalten ihn im Auge. Nicht dass er - was immer er ist - uns umgeht und von Norden her angreift!«

»Also haben wir es mit zwei Heeren zu tun«, vermutete der Melder und lächelte. »Die Unauslöschlichen werden sich freuen, so viele neue Knochen überbracht zu bekommen.«

Sie rieb sich die stechenden Narben auf der Stirn. »Gewiss«, murmelte sie und empfand eine ungewohnte Unsicherheit beim Anblick des Lichts, das sich geschwind näherte. »Beeilen wir uns. Ich möchte wissen, womit wir es zu tun haben.«


*

Während die Sonne aufging, beobachtete Ondori den Heereszug, auf dessen polierten weißen Rüstungen sich die Strahlen spiegelten und es unmöglich machten, sie länger zu betrachten. Die Banner mit den Runen waren ihr völlig unbekannt und stammten sicherlich nicht aus dem Geborgenen Land.

»Zweitausendfünfhundert Mann Reiterei und nochmals zwanzigtausend Mann Fußtruppen«, überschlug einer der Melder an ihrer Seite die Menge der namenlosen Feinde. »Wir sollten den Unauslöschlichen Bescheid geben.«

»Unsere Späher werden sie sicherlich entdeckt haben«, beruhigte Ondori ihn und kniff die Augen eng zusammen. »Wir greifen ihre Nachhut an, sobald es Abend geworden ist und ihre verdammten Harnische nicht mehr wie Diamanten funkeln. Ich möchte ein paar von ihnen gefangen nehmen, damit wir sie verhören können.«

Das Wenige, das sie von den Rüstungen und der Kleidung erkannte, passte zu keiner der Truppen, denen sie je gegenübergestanden hatte, und dabei hatten am Schwarzjoch Soldaten aus allen Menschenreichen gekämpft. Woher kommt dieses Heer? Sie fand es ungewöhnlich, dass man ihnen ausländische Söldner auf den Hals hetzte und zuvor nichts davon zu hören gewesen war. Schließlich hatten genug Albaespäher die Gespräche an den Lagerfeuern der Belagerer Dsôn Balsurs belauscht.

»Wer immer sie sind, ich werde sie herzlich nach Art der Albae begrüßen«, lachte sie böse und kehrte zusammen mit ihren Begleitern zu ihrer Truppe zurück, mit der sie sich in aller Ruhe bis zum Abend an das Ende des feindlichen Heeres hängte und darauf lauerte, dass die Sonne versank.

Die Zwergin hatten sie an einen Baum gebunden; sie gaben ihr Schnee zu essen, damit sie nicht verdurstete.

»Es wird nicht lange dauern. Wir sind bald wieder bei dir, um dich zu den Unauslöschlichen zu bringen«, versprach ihr Ondori und bewegte probehalber ihren Fuß. Das Schwarze Wasser hatte die Wunde am Unterschenkel geheilt, sie fühlte sich an, als hätte sie niemals einen Dolch zu spüren bekommen.

Die Albin stieg in den Sattel des Bullen und setzte sich an die Spitze des Trupps.

Was sie sah, als sie die Nachhut aus einem Versteck heraus beobachteten, schmeckte ihr nicht. Die Rüstungen der Fremden hatten die Strahlen der Sonnen gespeichert, sie verloren kaum etwas von ihrem Gleißen und zwangen Ondori zu einem ungewöhnlichen Befehl. Sie ließ ihre Krieger die Binden mit den dünnen Schlitzen über die Augen legen, mit denen sie sich bei Märschen über Schneeflächen vor Blindheit schützten.

Mehr schlecht als recht vor dem merkwürdigen Weiß bewahrt, griffen sie die Nachhut aus dem Hinterhalt an.

Schon beim Ansturm auf die hinteren Reihen überfiel Ondori Unsicherheit. Agrass schnaubte und tänzelte aufgeregt, anstatt wie sonst in gestrecktem Galopp in die Linien der Feinde zu brechen und sie durcheinander zu bringen. Je näher sie kam, umso heißer fühlte sich das Mal auf ihrer Stirn an.

Das Gefecht begann unerwartet schlecht.

Die unbekannten Soldaten mussten ihre Attacke erahnt haben, oder sie verstanden sich so gut aufs Kriegshandwerk, dass sie durch nichts aus der Ruhe zu bringen waren.

Als der Erste von ihnen durch einen Albaepfeil aus dem Sattel geholt wurde, formierten sich die Schildträger auf der Stelle zu einem Wall. Hinter sie begaben sich Teile der Reiterei, welche mit ihren langen Schilden die Mauer auf gut drei Schritt aufstockten; durch die Lücken schoben sich Lanzen und Hellebarden.

Plötzlich flammte über den Albae eine Mitternachtssonne auf und überschüttete sie mit kaltem, weißem Glanz. Ondori schrie auf, als ihr Mal auf der Stirn wie flüssiges Feuer brannte und ihr unsägliche Qualen bereitete. Der Angriff geriet ins Stocken.

»Ihr seid die Albae, wie uns berichtet wurde«, sprach die Sonne zu ihnen. »Ich spüre, dass ihr verdorben seid und den Samen Tions in euch tragt, um ihn ständig weiterzuverbreiten.« Die Sonne schien heller, heißer. »Doch damit hat es nun ein Ende. Ihr werdet das Geborgene Land nicht länger mit eurer Existenz bedrohen.«

Eine Glutwelle rollte über die Albae hinweg, ein Drittel von ihnen stand in Flammen und wälzte sich in Agonie auf dem getauten Boden, um das Feuer zu ersticken. Doch vergebens.

Ondori sah die glühende Wolke vorwärts stieben und warf sich unter ihren Stier, hoffend, dass er sie mit seinen Hufen nicht zertrampelte.

Sie schloss die Augen und spürte die sengende Hitze. Um sich herum hörte sie es knistern, als Haare und Kleidung ihrer Krieger Feuer fingen; es stank bestialisch. Sie bekam einige heftige Tritte von den Hufen ihres Bullen ab, dann endete der mörderische Hauch, der geradewegs aus dem Maul eines Drachen zu kommen schien.

Die Albin sprang auf die Füße und sah die verkohlten, zuckenden Reste ihres Stiers auf dem Boden liegen. Das Feuer hatte selbst die eiserne Kampfmaske teilweise verflüssigt, was dem Bullen letztlich den Tod gebracht hatte.

»Weg!«, schrie sie laut. »Zurück in den Wald!«

Ihre Befehle gingen in den höhnischen Rufen der fremden Soldaten unter, die ihrerseits den Angriff eröffneten. Die Reiterei der Nachhut preschte vorwärts, galoppierte auf ihren Schimmeln unerschrocken durch die schwarzen Linien der Albae und stach und schlug dabei Dutzende von ihnen nieder.

Ondori erstarrte. Obwohl die meisten ihrer Krieger nur Treffer in den Körper erhielten, erhoben sie sich nicht wieder. Welches Wunder auch immer an den Waffen der Gegner haftete, es war stärker als die Macht des Schwarzen Wassers.

Wir sind so verletzlich wie gewöhnliche Kämpfer, dachte sie voller Entsetzen und wandte sich zur Flucht. Gegen diesen Feind gab es kein Bestehen.

Sie sprang über die Verletzten hinweg und suchte Rettung in dem vertrockneten Unterholz des Wäldchens, aus dem heraus sie angegriffen hatten.

Die Reiterei der Unbekannten fiel bald zurück, und die Fußtruppen konnten es mit ihrer Geschwindigkeit schon gar nicht aufnehmen. Dennoch wurde Ondori nicht langsamer, die Furcht vor dem heißen Licht beflügelte sie, peitschte sie an, ließ sie Seitenstechen und Atemnot vergessen, bis sie eine Lichtung erreichte und erschöpft zusammenbrach.

Sie blieb nicht lang allein. Nach und nach gelangten mehrere Überlebende ihrer Einheit zu ihr, mehr als zehn wurden es nicht.

Der Rest lag irgendwo weit hinter ihnen auf dem Weg, verbrannt oder erschlagen.

»Was war das?«, keuchte ein Alb verstört und erhoffte sich eine Antwort.

Ondori konnte nicht sprechen. Ihre Lungen taten weh, und als sie die schmerzende Stirn oberhalb ihrer Maske berührte, zerfiel die Haut raschelnd zu nichts, haftete als schwarze, klebrige Asche an ihrer Hand und gab die Sicht auf ihren Schädelknochen darunter frei.

Ihr wütender und zugleich gequälter Schrei hallte laut durch die Nacht, ihre Finger gruben sich in das Erdreich.

Unvermittelt traten ein paar breite, ausgelatschte Stiefel in ihr Gesichtsfeld. »Ho, was haben wir denn hier?«, sagte eine brummige Stimme, dann traf sie ein schwerer Gegenstand in den Nacken, und sie sank betäubt nieder.

VI




Das Geborgene Land, 21 Meilen nordwestlich von Dsôn Balsur,

Ende des 6234. Sonnenzyklus, Winter


»Ich kenne sie. Ihre Maske hat sie verraten. Sie stand mir im Grauen Gebirge gegenüber und wollte mich töten.« Tungdil betrachtete die gefesselte Albin, die neben dem Lagerfeuer auf dem gefrorenen Boden ruhte. Um sie herum saßen er und seine Freunde und warteten, dass sie zu sich kam. »Sie hat die Feuerklinge mitgenommen.«

Ingrimmsch hielt eines seiner Beile schlagbereit, um die Albin beim geringsten Anzeichen einer Gemeinheit zu töten. »Das dauert mir zu lange«, sagte er unzufrieden.

»Hättest du nicht so hart zugeschlagen, wäre sie wach«, erinnerte ihn Boëndal daran, wer die Schuld an ihrer Ohnmacht trug.

»Dann wecke ich sie eben.« Er nahm eine Hand voll Schnee und warf ihr ihn ins Gesicht. Die Maske hatten sie ihr abgenommen, darunter offenbarte sich ihnen ein klassisches, schmales Antlitz, wie es die Albae und Elben gleichermaßen auszeichnete. Tungdil sah die Brandwunden auf ihrem Gesicht; die Flammen der Axt hatten sie für immer gezeichnet.

Der Schnee prasselte gegen sie und fiel zur Erde, teilweise blieb er auf der warmen Haut haften und taute.

»Vielleicht bringt Hitze mehr. Sie sieht aus, als hätte sie ihre Erfahrungen damit gemacht«, mutmaßte Boïndil und beugte sich nach vorn, um mit den Handschuhen ein Stück Glut aufzunehmen.

Die Albin riss die Lider in die Höhe. »Wag es nicht«, zischte sie.

»Ich wusste es. Das Schwarzauge ist wach«, griente er und zeigte ihr sein Beil. »Benimm dich, oder ich hacke dich wie Petersilie.«

Tungdil nickte ihr zu. »Nun sehe ich dich doch ohne deine Maske.«

»Du hast meinen Eid gebrochen. Dafür wird dich der Fluch Tions treffen«, spie sie hasserfüllt aus. »Lange hast du nicht mehr zu leben, Goldhand. Ebenso wenig wie deine Freunde.«

Rodario schüttelte den Kopf. »Nun hört sie euch an, die kleine Wildkatze mit den spitzen Ohren. Wir haben sie verschnürt wie einen Braten, und sie versucht immer noch, ihre Krallen in uns zu schlagen.« Er stellte sich in Pose. »Höre, Albin. Ich bin Rodario der Unglaubliche, Famulus von Narmora der Unheimlichen, und ich könnte dich auf der Stelle vernichten, wenn ich wollte, aber wir werden dir das Leben schenken, wenn...«

»Sag uns, wo die Feuerklinge ist«, fiel ihm Boïndil in die Rede, was ihm der angebliche Famulus mit theatralischer Empörung vergütete.

»Dort, wo ihr sie niemals erlangen werdet«, antwortete Ondori.

»Nein, wir nicht. Aber es kann durchaus sein, dass andere in eure Hauptstadt gelangen und sie dem Erdboden gleichmachen«, sprach Tungdil.

»Du meinst die Fremden? Und man benötigt die Feuerklinge, um sie aufzuhalten?« Hoffnung keimte in der Albin auf; sie hob den Blick und richtete ihn auf den Zwerg.

»Sie ist also in Dsôn?«, schloss er daraus.

Die Albin schwieg und versuchte sich einen Reim auf das zu machen, was sie soeben erfahren hatte. Als sie vorgetäuscht hatte zu schlafen, hatten sich die Zwerge über die Fremden unterhalten. In Ondoris Ohren hatte es so geklungen, als wollten sie sich dem Heer in den Weg stellen. »Da ihr sie nicht gerufen habt, warum wollt ihr sie aufhalten?«, erkundigte sie sich. »Tun sie nicht genau das, wonach ihr immer getrachtet habt?«

»Sie hat wirklich keine Ahnung«, entfuhr es Rodario verblüfft. »Sag, kleine Wildkatze, hast du schon einmal etwas von der Legende der Avatare gehört?« Als sie verneinte, gab der Mime die Geschichte in ausschmückenden Worten wieder, dichtete ein wenig hinzu, um ihr noch mehr Angst einzujagen, und endete, indem er mit ausgestrecktem Arm nach vorn zeigte. »Deine Männer verglühten in der Reinheit der Avatare, in den Splittern des Gottes, den du anbetest. Ich finde das eine herrliche Ironie, nicht wahr?«

»Sie werden nicht eher Ruhe geben, bis sie die Letzten von uns vernichtet haben«, sagte Ondori nachdenklich. Nun erklärte sich einiges: ihr schlechtes Gefühl beim Angriff auf die Nachhut des Feindes, warum ihr Segenszeichen in dem Schein verbrannt war, weshalb das Schwarze Wasser in ihren Adern seine Wirkung verlor... Und sie erkannte, dass es nichts gab, was Dsôn Balsur vor der Invasion der Avatare bewahren konnte. Außer den stinkenden Unterirdischen. Sie lachte auf. »Ja, das ist wahrlich Hohn. Nun müssen wir von denen geschützt werden, die uns am liebsten vernichten würden.«

»Im Grunde«, begann Tungdil und schaute sie ernst an, »kommt es noch besser. Wir müssten Seite an Seite kämpfen, um den Feind mit geeinten Kräften anzugreifen.«

»Unterirdischer, wir können vor ihrer Macht nicht bestehen«, widersprach sie schaudernd, an die Wolke aus Licht und Hitze denkend. »Ebenso könntest du verlangen, dass sich ein Schneeball auf die Sonne stürzt.«

»Der Schneeball muss nur groß genug sein«, hielt er dagegen und schickte sich an, ihre Fesseln zu durchschneiden. »Vergiss die Feindschaft zwischen uns und kehre rasch in die Hauptstadt zurück. Triff dich mit deinem Herrscher und erkläre ihm, was eurem Reich droht. Je mehr sich den Avataren und ihrem Heer in den Weg stellen, desto bessere Aussichten haben wir gegen sie.«

»Ich werde es tun.«

Als Ondori sich die Maske anlegte, um ihre Entstellung zu verbergen, schob sich eine Frau in einer schwarzen Lederrüstung nach vorn; sie hatte viel zu schmale Züge, um ein Mensch zu sein. »Mein Name ist Narmora, ich war die Schülerin von Andôkai der Stürmischen«, stellte sie sich in der Sprache der Albae vor, und auch wenn ihre Betonung furchtbar und ihr Akzent grausam war, verstand Ondori sie. »Richte deinen Herrschern Folgendes aus: Wenn sie uns keine Krieger schicken, lassen wir die Avatare passieren und sehen zu, was sie aus eurem Reich machen. Bevor wir wertvollere Leben opfern, um euch zu retten, gewähren wir den Avataren lieber mehr Macht.« Ihre Augen wurden schwarz und drohend. »Lasst es euch gar nicht erst einfallen, nichts zu tun, oder ich zeige den Wesen persönlich den Weg ins Herz von Dsôn Balsur und helfe ihnen bei der Zerstörung.«

Sie ist eine von uns! Ondori konnte nicht anders, sie musste nicken. »Ich werde es den Unauslöschlichen übermitteln«, krächzte sie rau, streifte die Stricke ab und erhob sich.

»Schwöre es bei deinem Blut«, verlangte die Maga finster, packte den linken Arm der Albin und schnitt ihr über den Handrücken; dann hielt sie ihr die rot schimmernde Messerklinge vor die Augen. »Damit findet dich mein Zauber überall, er wird sich wie ein Raubtier an deine Spur heften und dich vernichten, wenn ich den Eindruck gewinne, dass du mich hintergehst.«

Ondori wagte keinen Widerstand, Narmora war zu einschüchternd und zu überzeugend. »Ich werde deinen Willen erfüllen«, stammelte sie. »Damit du siehst, dass ich dich nicht betrügen werde, verrate dich dir, wo ich eine Gefangene angebunden habe. Eine Unterirdische.« Sie beschrieb den Weg zu dem Baum, wo sie die Zwergin zurückgelassen hatten, dann eilte sie aus dem Lager und verschwand in der Dunkelheit.

»Ich will nicht wissen, was du gesagt hast«, meinte Boïndil missmutig. »Ich will auch diese Sprache nicht gehört haben.«

»Dann hätte ich allerdings nicht erfahren, dass nicht weit von hier eine Zwergin auf ihre Befreiung wartet«, gab Narmora grinsend zurück, während ihre Augen wieder ihre normale Farbe annahmen. »Soll ich Djerůn schicken, oder wollt ihr sie selbst befreien?«

Diese Frage hätte sie gar nicht zu stellen brauchen. Für die Zwerge war es eine Selbstverständlichkeit, eine der Ihren aus der misslichen Lage zu befreien, und so zog Tungdil mit den Zwillingen und dreißig Freiwilligen durchs Unterholz, um die Gefangene zu suchen.

Sie erreichten die Stelle.

Allerdings war jemand vor ihnen da gewesen, wie sie am getauten Schnee und den zahlreichen Fußspuren im Matsch erkannten. An der Tanne lag das Seil, mit dem die Albin ihre Gefangene verschnürt hatte.

»Die Avatare haben sie gefunden.« Tungdil umrundete den Stamm auf der Suche nach einem Hinweis auf die Herkunft der Zwergin. Neben den Schuhabdrücken und halb in die Erde gestampft, entdeckte er eine zerrissene Halskette aus geschmiedeten Eisenplättchen, die mit winzigen Goldkügelchen versehen waren.

Er kannte sie nur zu gut.

»Balyndis«, presste er hervor, hob die Kette auf und befreite sie zärtlich vom Schmutz. Damit war den Fremden nicht nur seine wahre Liebe, sondern auch das Geheimnis von Djerůns Rüstung in die Hände gefallen.

»Wollen denn die Prüfungen gar nicht enden?«, grummelte Boïndil. »Irgendwann ist es auch für mich genug.«

Boëndal aber klopfte Tungdil tröstend auf die Schulter. »Einen besseren Ansporn, das Heer der Avatare zu vernichten, wird es nicht mehr geben, Gelehrter. Keine Sorge, wir befreien deine Schmiedin aus den Händen der Feinde.«

»Es ist nicht mehr meine Schmiedin, hast du das vergessen, Boëndal?« Tungdil wickelte die Kette um sein rechtes Handgelenk, über das Halstuch von Frala, seiner getöteten Menschenfreundin. Und wenn ich gegen alle Avatare einzeln antreten muss, Vraccas, ich bekomme sie wieder.

»Nein, ich habe es nicht vergessen. Sie ist Glaïmbars Weib. Dennoch wird sie immer deine Schmiedin sein.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Und ich wünsche mir, dass sie es eines Tages wieder richtig sein wird.«

Stumm gab ihm Tungdil Recht.


*

Tungdil, den Zwillingen und der Gruppe der zehntausend Dritten gelang es in einem Gewaltmarsch das Heer der Avatare zu überholen. Vor der Schneise, welche die Menschen in den Wald an der Grenze zu Dsôn Balsur gebrannt hatten, stellten sie sich auf. Zweitausend ließ Tungdil in zwei Abteilungen rechts und links von ihrer Hauptstreitmacht ins Unterholz kriechen und sich vor den Blicken verbergen.

Die Albin, die er in die Hauptstadt ihres Reiches geschickt hatte, überbrachte ihnen die Nachricht vom zeitweiligen Waffenstillstand, den sie an dem erfreulichen Umstand erkannten, dass es keine schwarzen Pfeile auf sie regnete und keine Albae über sie herfielen.

Andere hatten in der Vergangenheit weniger Glück gehabt als sie. Mit Grausen betrachteten die Zwerge die Reste der absonderlichen Skulpturen aus menschlichen Kadavern, welche die Albae als Zeichen ihres Triumphes in der Schneise aufgestellt hatten. Allenthalben wehten Fahnen aus abgezogener Haut im Wind, auf die albische Symbole und Runen mit dem Blut der Getöteten geschrieben waren. Die Witterung hatte den widerlichen Kunstwerken in den Sommermonaten bereits stark zugesetzt, der Frost bewahrte sie jedoch vor weiterem Zerfall, und der Schnee bedeckte die Leiber mit einem weißen Tuch und ersparte den Zwergen den Anblick erschreckender Einzelheiten. In Momenten wie diesen verspürten Tungdil und seine Freunde nicht übel Lust, die Avatare gewähren zu lassen.

Die Dritten zeigten ihre Angst, so sie überhaupt welche empfanden, überhaupt nicht. Ihre tätowierten Gesichter waren nach Süden gerichtet, von wo der Feind auftauchte; diszipliniert bildeten sie Reihe um Reihe, die Schilde vor sich haltend und in der freien Hand die Waffe.

Auf Boïndil, der sich wie sein Bruder stets in der Nähe von Tungdil aufhielt, machten sie mächtig Eindruck. Auch wenn es keiner der Zwillinge aussprach, sie sahen es als ihre Aufgabe an, das Leben ihres Freundes zu bewahren und ihn vor Anschlägen aus den eigenen Reihen zu schützen. Nur weil die Zwerge zusammen kämpften, bedeutete es nach wie vor nicht, dass sie einander vertrauten.

Ein Späher, den Tungdil ausgesandt hatte, kehrte am späten Nachmittag im Laufschritt zurück. »Sie kommen«, schnaufte der Zwerg. »Der Abstand unseres Hauptheeres dürfte etwa einen halben Sonnenumlauf betragen, ich habe sie am Horizont erkennen können.«

Tungdil bedankte sich bei ihm und sandte ihn zurück in die Reihen. »Einen halben Sonnenumlauf«, wiederholte er die Nachricht. »Das wird ein hartes Stück Arbeit.« Unwillkürlich dachte er an das schnelle Ende der viertausend Albae, die an die Avatare geraten waren. Ein verflucht hartes.

»Es wird nicht einfach, aber es ist nicht unmöglich«, versuchte Ingrimmsch ihn aufzuheitern und zog sein zweites Beil.

Stunden später kam ein unwinterlich warmer Wind auf, der die Ankunft ihrer Gegner ankündigte.

»Haltet die Linie«, mahnte Tungdil sie und ließ seine Anweisungen per Melder an die Hauptleute überbringen. »Wenn das Feuer kommt, hebt die Schilde schräg vor euch und duckt euch dahinter, dann rollt es über euch hinweg.«

Sie hörten das Donnern der Hufe. Die Reiterei der Avatare schwenkte herum und formierte sich in zwei langen Linien hintereinander; dahinter marschierte die Vorhut des Heeres auf und gab den Reitern samt Tieren Deckung mit langen Spießen, hinter die sie sich nach einem Angriff zurückziehen konnten.

Die Zwerge verfolgten das Treiben ungerührt. Erst als das Funkeln und Glitzern zu grell wurde, banden sie sich Tücher zum Schutz gegen die Helligkeit vor die Augen.

Dann löste sich eine Lichtgestalt aus den Reihen und näherte sich ihnen langsam. Sie schwebte über den Schnee, der unter ihr auf der Stelle zu Wasser wurde.

In einer Entfernung von zehn Schritten hielt sie an. Es war unmöglich, ein Gesicht in den gleißenden Umrissen auszumachen. »Ihr seid die Zwerge«, sprach sie mit unendlicher Güte in der Stimme. »Ihr habt das Geborgene Land seit tausenden von Zyklen vor den Bestien Tions beschützt, soweit es euch möglich war, und dennoch stellt ihr euch uns entgegen, die wir das gleiche Ziel verfolgen?«

»Avatar, wir bitten dich und deine zehn Begleiter, unsere Heimat sofort zu verlassen«, entgegnete Tungdil. »Ihr seid nicht gut für den Boden, die Menschen und alles Land um euch herum.«

»Wir haben einen Auftrag, Tungdil Goldhand«, antwortete die Stimme einnehmend. »Albae, Orks und Oger, von all denen bietet das Land uns etwas. Und so gehen wir nicht eher, bis wir sie vernichtet haben, um euch von ihnen zu erlösen, Tion zu demütigen und unsere Macht zu vergrößern, damit wir eines Tages gegen ihn selbst ziehen können.« Der Avatar schwebte näher, es wurde deutlich wärmer. »Gebt uns den Weg frei, Zwerge, und es geschieht euch nichts.« Seine schimmernde Hand wies nach Norden. »Der Turm und die Stadt sind unser Ziel.«

»Wir können es euch nicht erlauben, denn mit mehr Macht bringt ihr noch mehr Schlechtes über die Menschen.« Tungdil hob seinen Schild und machte sich darauf gefasst, von brennendem Weiß eingehüllt zu werden. »Wir Zwerge beschützen das Geborgene Land vor Gefahr. Da ihr eine Gefahr seid, bleibt uns nichts anderes übrig, als euch aufzuhalten. Und es wird für...«

Djerůn lief unerwartet vorwärts. Der Koloss stand mit drei schnellen Schritten neben der Gestalt, packte sie mit beiden Händen am Hals, umklammerte sie und schien zuzudrücken.

Der Avatar schrie und hüllte sich in blitzendes Licht; er überschüttete Djerůn damit, dem der Angriff nichts auszumachen schien. Der Geruch von heißem Metall lag in der Luft. Von der Seite des gegnerischen Heeres vernahmen sie einen entsetzten Aufschrei.

Dann gab es ein lautes Geräusch, als zerrisse man einen dicken, schweren Vorhang in der Mitte. Das Knacken von Knochen mischte sich darunter.

Urplötzlich erlosch das blendende Schimmern, und die Zwerge hörten Djerůns triumphierendes Grollen. Er reckte den in der Mitte geteilten Avatar, der nun sehr menschlich aussah, gegen den grauen Himmel. Es war ein Mann um die dreißig Zyklen, seine Robe aus beigem Stoff war mit Blut getränkt.

Der eiserne Leibwächter warf die triefenden Hälften in hohem Bogen durch die Luft; sie fielen in den Schnee, überschlugen sich einige Male und blieben liegen. Weder setzten sie sich erneut zusammen, noch begannen sie zu glühen. Es war nichts Göttliches mehr an ihnen.

»Da schlage Vraccas mit dem Hammer drein!« Boïndil schluckte. »Er hat ihn einfach zerrissen... wie ein... Hühnchen.«

»Ein Mensch«, raunte Narmora und lachte befreit. »Er hat gerochen, dass es ein Mensch ist! Sie sind nichts weiter als Zauberer, die uns mit ihrem Blendwerk glauben machen wollen, sie seien Avatare.«

Tungdil fiel in ihr Lachen mit ein, es befreite ihn von all seinen Ängsten, zu denen auch gehört hatte, diesen Tag nicht zu überstehen und Balyndis nicht retten zu können.

Die Heiterkeit breitete sich aus, und bald erscholl lautes, spöttisches Zwergengelächter, das selbst dann nicht endete, als die Reiterei ihren Angriff begann und herangaloppierte. Die Rüstungen, die zuvor noch geleuchtet hatten, hatten einen Teil ihres Glanzes eingebüßt. Er war mit dem Tod des unbekannten Magus gegangen.

Boïndil hob Schild und Axt. »Schlagt den Kleppern die Knie auseinander, dann kommen die Reiter von selbst zu euch«, rief er in bester Kampfeslaune. Wie alle anderen trug er nun wieder Zuversicht im Herzen.

Unter der Führung Tungdils rannten die achttausend Zwerge mit einem Kampfschrei auf den Lippen los.


*

So einfach es gewesen war, den ersten der scheinbaren Avatare zu vernichten, der bald unter den Stiefeln der Zwerge zertreten wurde, so schwierig wurde es, gegen die Soldaten zu bestehen.

Angepeitscht vom Tod eines ihrer Anführer, warfen sie sich voller Wut in die Schlacht und brachten die Zwerge gerade durch die flinke, wendige Reiterei in arge Bedrängnis.

Der Kraft, mit der die Pferde in ihre Reihen brachen, schuf Öffnungen in den Schildwällen, in welche die nachdrängenden Fußtruppen stießen und die Ordnung der Zwerge in Gefahr brachten.

»Rückzug!« Tungdil ließ das geschmälerte Heer zurückfallen, um es näher in den Schutz der Bäume zu bringen. Kaum erreichten sie den Rand des Waldes, brachen die restlichen Dritten daraus hervor und schlugen die Fußtruppen der Avatare zurück. »Haltet durch«, feuerte er sie an. »Die Sonne sinkt, es dauert nicht mehr lange, bis euer König Lorimbas kommt, um euch zu unterstützen.«

Da näherte sich die zweite Gestalt aus Licht, die jedoch nicht den Fehler beging, allzu dicht heranzukommen.

Sie schwebte drei Meter über der Erde hinter den eigenen Reihen und schleuderte Feuerbälle in das Gefecht. Narmora benötigte all ihre Kräfte, um sie abzuwehren und sie zwischen die Feinde zu lenken.

Als der Avatar erkannte, dass er eine Gegenspielerin vor sich hatte, die ihm gewachsen war, befahl er den restlichen Truppen, die Flanke anzugreifen, bei der sie sich aufhielt.

Tungdil rief die Zwillinge zu sich und hetzte mit ihnen zusammen zu Narmora, um sie zu verteidigen. Noch ehe sie ihren Standort erreichten, entbrannte das Gefecht, und die Maga verschwand in dem Durcheinander.

»Sie darf uns unter keinen Umständen verloren gehen«, schärfte ihnen Tungdil ein. Boïndil übernahm die Spitze, dahinter folgten Boëndal und er. Die Beile, der Krähenschnabel und die Axt hieben sich eine Schneise durch die Feinde; in gerader Linie schritten sie voran und visierten die Stelle an, an der sie die Maga glaubten.

Endlich erreichten sie Narmora, die sich einem gnadenlosen Ansturm der Soldaten erwehren musste. Noch dazu hatte sich der zweite Avatar in ihre Nähe begeben und setzte ihr mit unaufhörlichen magischen Angriffen zu.

Die Dritten um sie herum hielten Stand, Djerůns Keule und Schwert machte mit jedem Hieb drei oder mehr Männer nieder, die seiner Herrin zu nahe kamen. Aber die gegnerischen Krieger spürten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Zwerge einbrachen. Es waren zu wenige.

Narmora stand schweißüberströmt neben Djerůn, ihre Hände formten Symbole und damit Zauber. »Ich kann ihn nicht länger aufhalten«, keuchte sie Tungdil zu. »Djerůn kommt nicht nahe genug an den Magus heran, um ihn zu töten. Und er ist stark!« Sie wehrte einen heranfliegenden Blitz ab und lenkte ihn zwischen die Angreifer; ein Dutzend von ihnen verbrannte in der Energie.

Tungdil zögerte, einen Ausfall zu befehlen, um mit den Dritten einen Weg für Djerůn zu bahnen. Wo sind die anderen neun Avatare?, fragte er sich unterdessen. Seit Beginn des Kampfes rechnete er damit, dass er und sein kleines Heer in einer Feuerwolke verbrannten, so wie es den Albae zuvor ergangen war. Warum tun sie nichts und opfern das Leben ihrer Soldaten? Er beschloss, es darauf ankommen zu lassen, und führte zusammen mit den Zwillingen die Offensive an. Die Dritten setzten sich an ihre Fersen und zeigten, dass sie selbst in der Unterzahl in der Lage waren, großen Schaden bei ihren Feinden anzurichten. Doch sie waren zu wenig.

Gerade als ihr Angriff in der Dämmerung ins Stocken geriet, erhielten sie Unterstützung.

Über die Köpfe der Zwerge schnellte ein gewaltiger Schatten hinweg, es rauschte und zischte vogelschwarmgleich, danach prasselte es laut, als die Rüstungen der gegnerischen Soldaten von hunderten von Pfeilen getroffen wurden. Pfeilen mit schwarzen Schäften und schwarzen Federn.

»Die schwarzäugigen Spitzohren haben es sich wohl überlegt«, brummte Boïndil. »Es wird immer schwieriger, aus diesem Kampf lebend davonzukommen.« Er parierte den Schlag eines Soldaten, schlug ihm die Hand mit der Waffe ab und hackte ihm in den ungeschützten Oberschenkel. »Dritte, Albae und Avatare.« Sein nächster Schlag traf einen Feind in die Hüfte, die Beilklinge durchbrach die Rüstung und hinterließ eine tiefe Wunde. »Ich müsste mich die ganze Zeit im Kreis drehen, um sie alle im Auge zu behalten.«

Boëndal schwang den Krähenschnabel und zertrümmerte mit der flachen Seite einen Helm samt Kopf; der Torso kippte nach hinten in die Reihen seiner Kameraden. »Richte deine Augen auf das, was vor dir steht, und hör auf, dir Gedanken zu machen«, wies er ihn an und wischte sich mit seinem langen Bart Schweiß und Blut aus dem Gesicht. »Da vorn ist der Avatar, da müssen wir hin.«

Unaufhörlich sirrten die Albaepfeile über sie hinweg und brachten den Feinden den gefiederten Tod. Die Soldaten verloren zusehends ihren Siegeswillen, die Ersten bewegten sich geordnet rückwärts, die Schilde zum Schutz gegen die Geschosse nach oben haltend.

Djerůns Stunde war gekommen. Er verließ die Seite Narmoras, preschte vorwärts, tötete jeden Gegner, der sich unvorsichtigerweise in die Reichweite seiner Waffen begab, und drückte sich unmittelbar hinter Tungdil vom Boden ab.

Mit einer Leichtigkeit, die ihm niemand zugetraut hätte, sprang er gut sieben Schritt durch die Luft, über die Helme, Schilde und Köpfe hinweg, landete mitten in einem Pulk und nur zwei Schritte von dem zweiten Avatar entfernt.

Die Lichtgestalt bedachte ihn auf der Stelle mit einem Strang weißer, knisternder Energie. Die Magie prallte gegen den Harnisch und brachte die Symbole zum Leuchten, ohne dass Djerůn sichtbares Leid zustieß. Die abprallenden Strahlen suchten sich ihre Ziele unter den umstehenden Soldaten, sodass es Djerůn ein Leichtes war, den Avatar zu erreichen.

Wieder verließ er sich auf seine übermenschliche Stärke; die eisenbewehrten Finger griffen in das Licht, das daraufhin greller und intensiver wurde, bis sie einen lauten, schrillen Todesschrei vernahmen und der Glanz erlosch.

Grollend reckte Djerůn den Leichnam des zweiten Magus empor, dem er das Genick gebrochen hatte. Purpurfarben strahlte es aus den Augenschlitzen seines Helms hervor, als hätte sich sein Stolz in ein Leuchten gewandelt. Er genoss seinen Sieg, drehte und wendete sich, um sicherzugehen, dass das Heer den Tod ihres Anführers erkannte, ehe er ihn wie ein langweilig gewordenes Spielzeug davonwarf.

Der Körper flog weit und landete in den Spitzen der Hellebarden und Piken seiner eigenen Leute.

Nun wurde es mit einem Schlag ruhig auf dem Schlachtfeld.

Hatten die Feinde das Ableben des ersten Avatars vielleicht noch als Zufall erklären können, zeigte sich nun, dass die Wesen alles andere als göttlich und unbesiegbar waren. Das Blut des Magus rann über das Eisen und die Holzschäfte wie bei einem gewöhnlichen Toten. Kein Heil bringendes Licht umgab ihn, und alle Reinheit war verschwunden.

»Jetzt«, schrie Tungdil laut und voller Begeisterung. »Macht sie nieder, bevor sie sich von ihrem Schrecken erholen!« Seine Axt krachte durch einen Schild und zertrümmerte den Arm dahinter; schreiend fiel der Mann auf die aufgewühlte Erde.

Der Kampf entbrannte von neuem, dieses Mal war die Zuversicht auf der Seite von Tungdils Männern und Frauen.

Als die Albae aus der Deckung des Waldes herauskamen, um sich ebenfalls in den Nahkampf zu stürzen, und ein lautes Hornsignal die Ankunft von Xamtys und dem restlichen Heer aus Freien, Ersten und Dritten verkündete, geriet Djerůn in eine Falle.

Die Pikenträger sahen es längst als ihr oberstes Ziel an, die Kreatur zu töten, die ihnen die Avatare raubte. Sie drangen unablässig auf ihn ein, stachen zu, sprangen gerade noch rechtzeitig wieder zurück; erschlug er dennoch einen von ihnen, fielen ihm vier weitere in den Rücken.

Boïndil bemerkte Djerůn Bedrängnis. »Schaut, der Topfkopf hat Schwierigkeiten.« Ein kurzer Blick zu Tungdil und Boëndal genügte, und er sah die Zustimmung in ihren müden Gesichtern. »Gehen wir ihn retten. Ich habe mich so an ihn gewöhnt, dass es schade um ihn...«

Boëndal schrie eine Warnung und hob den Krähenschnabel zum Wurf. Die schwere Waffe wirbelte los und flog dem Reiter entgegen, der mit eingelegtem Speer von hinterrücks auf Djerůn zu galoppierte. Aber der Krieger bemerkte, was auf ihn zukam, und duckte sich unter der verheerenden Waffe hinweg.

Djerůn war zu sehr mit den Pikenträgern beschäftigt, er hörte das Trappeln der Hufe zu spät. Zwar drehte er sich noch halb zur Seite, dennoch fuhr ihm der Speer quer durch den Unterleib. Der Soldat bezahlte den wagemutigen Angriff mit seinem Leben, die Keule zerschmetterte seine Brust.

Sofort setzten die Pikenträger nach, sie stießen den geschwächten Leibwächter zu Boden. Für Tungdil und die anderen Zwerge geriet Djerůn außer Sicht.

»Narmora!«, rief Tungdil und machte die Maga auf das Schicksal ihres Leibwächters aufmerksam.

Narmora suchte mit den Blicken nach ihm und konnte ihn zwischen den tobenden Kriegern nicht ausmachen. »Ich sehe ihn nicht«, rief sie zurück und sandte einen Flammenstrahl in die Richtung, die Tungdil ihr gewiesen hatte. »Ich brenne euch den Weg frei, sucht ihr ihn.« Die Zwerge nickten und hielten sich bereit, nach dem nächsten Flammenstoß zu Djerůn vorzudringen.

Was sie nicht ahnten, war, dass die Maga nicht ihre gesamte Energie aufwendete, um ihre Zauber zu sprechen.

Djerůn war sicherlich nützlich gewesen, sie hatten durch ihn erkannt, dass es eine Rüstung gab, die Magie trotzte. Aber Narmora hatte ihm nicht vergeben, dass er an der Verschwörung gegen sie beteiligt gewesen war.

Stirbt er, ist es gut. Überlebt er, so wird er den Tod an einem anderen Tag finden, dachte sie gleichgültig und schaute den Zwergen hinterher, die sich mit einer Abordnung von Dritten daranmachten, Djerůn zu retten. Ich werde mich keinesfalls verausgaben. Nicht für ihn.


*

Die Pikenträger erwiesen sich als die zähesten Widersacher.

Jeden Vorstoß der Zwerge wehrten sie mit ihren langen Hellebarden und Spießen ab. Eine Reihe Eisenspitzen reckte sich ihnen entgegen und hielt sie auf Abstand, eine zweite zuckte immer wieder nach vorn und verletzte jeden, der sich einen Weg durch das Lanzengewirr zu bahnen und die Schäfte zu zerschlagen versuchte. Irgendwo dahinter lag Djerůn.

»Ho, jetzt habt ihr es geschafft! Ihr werdet gleich erfahren, was es heißt, den Zorn eines Zwerges auf sich zu ziehen«, rief Ingrimmsch wütend und wollte angreifen, aber sein besonnener Bruder hielt ihn zurück.

»Sie würden dich aufspießen wie ein Brathuhn«, warnte er ihn und verstummte, als sich mehrere hoch gewachsene Gestalten um sie herum postierten, die Langbögen im Anschlag und auf die Pikenträger zielend. Kurz darauf schwirrten die Pfeile in die Feinde, töteten etliche von ihnen und schufen eine Schneise von knapp zwei Schritt Breite.

»Lasst euch nicht aufhalten«, sagte eine weibliche Stimme, und Tungdil erkannte die Tochter von Sinthoras. »Beeilt euch.«

»Das schmeckt mir nicht.« Boïndil betrachtete sie argwöhnisch. »Wir hätten sie mit ihren verfluchten Bögen in unserem Rücken«, zischte er seinem Bruder zu.

»Ja. Wir könnten euch jederzeit erschießen«, bestätigte Ondori lächelnd. »Aber warum sollten wir? Im Augenblick haben wir dieselben Feinde.« Sie schaute zu den Gegnern und befahl ihren Leuten, eine zweite Salve abzuschießen, da sich der Wald aus Eisenspitzen bereits wieder schloss. »Los, Goldhand.« Sie nahm sich einen Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne. »Ich wache persönlich über dein Leben, damit ich es mir ein anderes Mal nehmen kann.« Die grauen Augen waren voller Hass.

Tungdil blieb keine Wahl, wollte er Djerůn retten. Ein stummes Schutzgebet an Vraccas richtend, stürmte er in die Bresche, die Zwillinge und die Dritten folgten ihm. Auch wenn er sich fest vorgenommen hatte, es nicht zu tun, drehte er dennoch den Kopf, um nach der Albin zu sehen.

Sie stand aufrecht, hatte den Bogen gespannt und zielte genau auf ihn. Schon gaben ihre Finger die Sehne frei, und das Geschoss schnellte heran. Er bildete sich ein, bereits den Schmerz zu spüren, aber wie durch ein Wunder verfehlte ihn der Pfeil.

Sie senkte den Bogen und deutete nach vorn.

Tungdil drehte sich um und sah, dass sie einen Gegner unmittelbar vor ihm mit einem Schuss getötet hatte. Weil er sich zu ihr umgewandt hatte, wäre er geradewegs in dessen Schwert gelaufen. Ich werde auf ihren Hass vertrauen. Er ist mein bester Schutz, dachte er, sprang über den Toten und attackierte die Soldaten, um zu Djerůn vorzudringen. Doch von dem Leibwächter der Maga fehlte jede Spur.

Jetzt, da sie sich mitten unter den Kriegern befanden, gab es kein Halten mehr für Ingrimmsch. Die Pikenträger führten Kurzschwerter als zweite Waffe mit sich, die so gar nichts gegen die wuchtigen Keulen, Beile, Äxte und Hämmer der Zwerge taugten. Mit einem Mal besaßen die Zwerge die Übermacht. Sie gewährten ihren Feinden keinerlei Schonung und hatten auch nicht vor, Gefangene zu machen. Es dauerte bis zum Einbruch der Nacht, und der Rest des Heeres der Avatare lag erschlagen vor dem Wald Dsôn Balsurs.

Schließlich fanden sie Djerůn.

Er lag umgeben von getöteten Soldaten und regte sich nicht mehr. Weder sprach er auf lautes Rufen an noch auf heftiges Rütteln an seiner Schulter. Aus den zahlreichen Löchern seiner Rüstung rann das unheimliche, grellgelbe Blut und bildete eine enorme Lache um ihn herum. Tungdil rief Narmora herbei.

»Geht alle zehn Schritte zurück«, befahl sie. »Niemand darf sehen, was ich tue. Es ist Magie, die euch den Tod bringen kann.« Sie legte einen Mantel über sich und den Kopf Djerůns. Im Verborgenen öffnete sie das Visier.

Die Augenhöhlen in dem grauenvollen Bestiengesicht waren leer, nichts glänzte mehr darin oder kündete von Leben. Narmora empfand kein Mitleid, aber auch keine Genugtuung, war Djerůn für sie doch lediglich ein Handlanger der verhassten Andôkai gewesen.

So hast du deine Strafe für das erhalten, was du mir und Furgas angetan hast. Sie schloss die Maske wieder und ließ den Mantel sinken, dann erhob sie sich. »Er ist tot«, verkündete sie laut. »Djerůn hat sein Leben gegeben, um zwei der Avatare zu vernichten. Wir werden ihn in Erinnerung behalten.« Sie ging hinüber zu Tungdil. »Habt ihr Balyndis gefunden?«

Boïndil verneinte verärgert. »Das verstehe ich nicht. Wohin haben sie sie bloß gebracht?«

»Und ich verstehe nicht, dass es nur zwei selbst ernannte Avatare waren«, fügte Tungdil hinzu. Die Sorge um das Schicksal der Schmiedin bedrückte ihn sehr. »Wo sind die anderen neun hin verschwunden?«

»Vielleicht waren es niemals mehr als zwei«, gab Narmora zu bedenken. »Ich habe die Leichen der angeblichen Göttersplitter gesehen, und auf mich haben sie den Eindruck gemacht, als wären es gewöhnliche Menschen gewesen.« Sie zeigte den Zwergen die Gegenstände, welche sie den Toten abgenommen hatte. »Amulette, Ringe mit Kristallen und andere Utensilien, um Magie darin zu speichern, mehr war es nicht. Nimm sie ihnen, und sie vermögen nichts anzurichten.«

»Deshalb haben sie geglänzt?«, staunte Ingrimmsch.

Die Maga nickte. »Es muss ein Zauber sein, den sie mit Hilfe ihrer Amulette aufrechterhielten. Auf diese Weise erweckten sie den Anschein, sie wären göttlich.« Sie wies auf einen der toten Soldaten. »Sehr ihr den Mondstein, den sie alle knapp neben dem Halsschutz im Harnisch tragen? Der Zauber, der auf ihnen liegt, sorgte dafür, dass sie beinahe ebenso funkelten wie ihre Herren.«

»Betrüger«, brummelte Boïndil und nickte Rodario zu, der zu ihnen gestoßen war. »Wie du. Sie gaukelten uns vor, etwas anderes zu sein.«

»Ich muss doch sehr bitten«, protestierte er. »Ich habe mich wacker gehalten und die Feinde durchaus glauben lassen, dass sie es mit einem echten Magus zu tun hätten.« In der Tat wirkte seine Robe ramponiert und hatte den einen oder anderen Schnitt kassiert, ohne dass er dabei jedoch verletzt worden wäre.

Wie aus dem Nichts stand die Albin unter ihnen, die Finsternis schien sie geradewegs auszuspeien. Sofort riss Ingrimmsch ein Beil aus dem Gürtel und hielt es ihr drohend entgegen. »Zurück, Schwarzauge! Die Schlacht ist geschlagen, wir sind wieder Feinde.«

»Wenn es so wäre«, gab sie herablassend zurück, »lägst du schon lange mit dem Gesicht im Staub, Unterirdischer. Mir ist eingefallen, dass ich euch eine Lösung für das Mysterium der fehlenden Avatare bieten kann. Kurz bevor wir auf sie trafen, sah ich in der Nacht einen zweiten Lichtschimmer, der sich nach Westen bewegte. Vielleicht haben sie sich aufgeteilt?«

»Ohne dass wir es bemerkt hätten?«, lachte Boïndil.

»Ja. Ohne dass ihr es bemerkt hättet. Unterirdische schlafen tief und fest. Es ist ein Leichtes, sie nachts zu überfallen und sie zu töten. Oder sie zu täuschen.« Sie beobachtete ihn abwartend hinter ihrer Maske. »Ich weiß es sehr genau.«

Hätten Tungdil und Boëndal ihn nicht an den Schultern gepackt, er hätte sich auf die Albin gestürzt. So aber tobte er und beschimpfte er sie.

»Wohin wollen sie?«, richtete Tungdil die Frage an die Versammelten. »Was gibt es im Westen, worauf sie es abgesehen haben könnten? Dort leben keine Orks oder Oger.« Er dachte über die Legende nach. »Auch wenn es normale Magi sind, scheint es zu stimmen, dass sie ihre Kräfte aus der Vernichtung des Bösen ziehen. Von daher werden sie etwas suchen, das böse ist.«

Narmora wurde bleich.

»Porista«, wisperte sie.

»Porista ist das Böse?«, staunte Rodario. »So habe ich es aber niemals empfunden, ganz im Gegenteil. Die Menschen sind sehr freundlich, bis auf einige Ehemänner, denen ich...«

»Nein, nicht die Menschen. Die Quelle in den Gewölben des Palasts, die alle Magiefelder in den Reichen speist«, erklärte sie. »Nôdʹonn hatte sie nach seiner Machtergreifung verändert und sie zum Schlechten manipuliert, damit er allein auf sie zugreifen konnte. Nur Andôkai - und mir - war es noch möglich, weil wir Samusin anbeten und sich uns Licht und Dunkel gleichermaßen öffnen.«

Tungdil ahnte, was die restlichen Avatare beabsichtigten. »Die Quelle hat sich nach seinem Tod nicht mehr zurückverwandelt?« Narmora schüttelte den Kopf. »Dann wäre sie ein lohnendes Ziel.«

»Welche Auswirkungen wird das auf das Geborgene Land haben?«, rätselte Boëndal. »Ich kenne mich mit Magie nicht aus, aber es wird ein Nachteil sein, wenn die Felder plötzlich... verschwinden, oder? Vielleicht gehören sie zum Land wie der Untergrund, auf dem ein Berg steht. Man sieht ihn nicht, aber er ist bedeutend.«

»Narmora, kann man die Quelle zum Versiegen bringen oder sie vernichten?«, fragte Tungdil sie alarmiert.

»Ich weiß es nicht«, gestand sie. »In den Archiven könnte darüber etwas stehen, aber... die Schriften sind in Porista.« Sie rang nach Atem, blickte zu Furgas. »Ebenso wie unsere Tochter.«

»Dann bleiben wir Waffenbrüder«, stellte Ondori kühl fest. »Gut für euch. Damit behaltet ihr euer Leben etwas länger.«

Tungdil schaute über das enorme Leichenfeld. Das war erst der Auftakt für das, was uns noch bevorsteht, Vraccas.

Von den etwas mehr als dreißigtausend Zwergen, davon zweiundzwanzigtausend Dritten, waren ihnen nach dem ersten Zusammentreffen mit den Fremden geschätzte zwanzigtausend verblieben. Damit mussten sie gegen eine Stadt und eine unbekannte Anzahl von Feinden ziehen, die von mächtigen Magi geführt wurden.

Auf die Menschen und Elben zählte Tungdil nicht. Die einen waren nach der Vernichtung ihres Heeres vor Dsôn Balsur nicht in der Lage, so rasch neue Kräfte aufzustellen, und die anderen würden sich sicherlich weigern, gemeinsam mit den Albae zu kämpfen. Dennoch gedachte er Boten nach Âlandur zu senden und die Elben um Beistand zu bitten.

Es liegt an uns, Vraccas. Ganz allein an uns. Tungdil wandte seine Augen dorthin, wo irgendwo in der Dunkelheit der Nacht das Graue Gebirge lag. »Die Kinder des Schmieds haben ihre Aufgabe zu erfüllen«, sagte er mit fester Stimme. Aus irgendeinem Grund ging er davon aus, dass Balyndis noch lebte. Ich werde sie finden und befreien.

Ingrimmsch nickte. »Ja, es scheint an uns hängen zu bleiben, Gelehrter. Aber wir haben darin Erfahrung.« Er deutete auf die Albin und eine Gruppe von Dritten. »Auch wenn ich mir andere Verbündete gewünscht hätte.«

Ein Alb trat neben Ondori und raunte ihr etwas ins Ohr. »Wir haben Spuren gefunden, Unterirdische«, erklärte sie. »Sie stammen von einer Gruppe Berittener, mehr als zwanzig dürften es nicht gewesen sein. Vermutlich haben sie Porista zum Ziel. Dort, wo sie in die Sättel gestiegen sind, fanden wir auch den Stiefelabdruck, der zu einem Kind passt.«

Tungdil atmete auf. »Nein, kein Kind. Eine Zwergin. Und sie kennt das Geheimnis der Rüstung, die man benötigt, um gegen die Magie bestehen zu können.«

»Nennt mich herzlos, aber einfacher wäre es wohl gewesen, sie zu töten«, warf Rodario wenig einfühlsam ein.

»Einfacher sicher. Doch sie werden sich denken können, dass sie nicht irgendeine gewöhnliche Zwergin ist. Vielleicht haben sie erfahren, dass Balyndis eine Rüstung schmieden kann, die ihrer Magie trotzt. Bedenkt, dass die nicht gerade göttlichen Avatare ihr Heer mit solchen Rüstungen noch stärker machen könnten. Oder sich selbst.« Entschlossen blickte Tungdil in die Runde. »Bevor wir Porista angreifen, müssen wir Balyndis befreien. Ohne sie und das Geheimnis von Djerůns Panzerung brauchen wir erst gar nicht gegen die Stadt zu ziehen. Sie würden uns zu Asche verbrennen. Ein paar von uns werden uns in die Mauern der Stadt schleichen und sie retten.«

»Ich komme mit«, bestand Ondori. Ihr Beweggrund lag auf der Hand: Sie würde Tungdil und den Zwillingen den Tod bringen, sonst keiner.

Furgas und Rodario wechselten rasche Blicke. »Wir kennen den ein oder anderen Schlupfweg«, meinte der Magister technicus. »Ich werde euch führen...«

»... aber nur, wenn wir auch unsere Tochter aus dem Palast befreien«, setzte Narmora ihre Bedingung. »Ich will nicht, dass sie bei den Kämpfen zu Schaden kommt. Meinen Sohn habe ich schon verloren.« Sie schaute zu Tungdil. »Versprich mir das«, forderte sie.

Auch wenn es das Wagnis ihres waghalsigen Unternehmens noch vergrößerte, er sagte zu und wunderte sich insgeheim, wie sehr sich Narmora verändert hatte. Die Lehrzeit bei Andôkai hat Spuren hinterlassen, schätzte er. Er betrachtete bedauernd den toten Djerůn, den er nicht nur wegen seiner enormen Kampfkraft vermisste.

Und dann kam ihm ein Einfall.




Das Geborgene Land, 187 Meilen östlich von Porista,

Ende des 6234. Sonnenzyklus, Winter


Laut schallte das helle Klingen des Schmiedehammers durch den Morgendunst. Tungdil stand in der kleinen Werkstatt des Dorfes namens Klinntal, auf das sie auf ihrem Weg nach Porista gestoßen waren, und arbeitete Djerůns gewaltige Körperpanzerung um. Nach einer ersten Begutachtung würde das Material bei sparsamem Umgang ausreichen, ein Eisenkleid für ihn selbst und die Zwillinge zu schaffen.

Tungdil hatte sich genau überlegt, was er aus welchen Einzelteilen der Rüstung schmieden wollte. Bevor er den Harnisch sowie die Arm- und Beinschienen auseinander trieb, fertigte er eine genaue Zeichnung von der originalen Panzerung an, damit er die Runen an den passenden Stellen anbringen konnte.

»Geht es voran?«, erkundigte sich Boëndal, der Tungdil beim Schmieden ebenso zur Hand ging wie Boïndil und der Dorfschmied mit seinem Gesellen. Die Menschen bestaunten vor allem die Fingerfertigkeit Tungdils, der den Hammer ungewohnt schnell, dennoch kraftvoll und präzise führte.

»Es wird lange dauern«, schätzte er unzufrieden. »Die Werkzeuge sind nicht das, was ich gewohnt bin, die Esse zieht schlecht und könnte noch heißer sein.« Der Hammerkopf sauste nach unten und brachte das Eisen mehr und mehr in Form. »Unsere Rüstungen werden zwicken, wir haben nicht die Zeit, sie bis ins Letzte anzupassen.«

»Solange sie mich vor den verfluchten Magi schützt, kann sie mir die Haut vom Knochen scheuern«, brummte Ingrimmsch und war damit beschäftigt, die Symbole in ein fertiges Stück zu schlagen. Abschätzend wog er es in der Hand. »Es ist schwer. Wir werden im Kampf langsamer sein als sonst«, warnte er seinen Bruder. »Und der Nächste, der seine Waffe wegwirft, ohne eine zweite dabeizuhaben, bezahlt einen Sack Goldmünzen«, sagte er mit Anspielung auf Boëndal, der bei dem Versuch, Djerůn zu retten, den Krähenschnabel nach dem Reiter geschleudert hatte. »Das ist eine Unsitte.«

Mehr als neun Sonnenumläufe waren sie durch das verschneite Gauragar getrabt. Den Leichnam Djerůns hatten sie zuvor im Kettenhemd samt Helm in der Erde vor Dsôn Balsur vergraben; sie hatten ihm sein Geheimnis gelassen, und sogar Boïndil hatte ein Einsehen gehabt.

Danach waren Tungdil, Ingrimmsch und sein Bruder, Ondori, Rodario und Furgas aufgebrochen, um schnellstmöglich in die Hauptstadt zu gelangen. Narmora würde mit dem Heer reisen und als Schutz bei ihm bleiben, falls die Avatare ihnen unterwegs eine magische Falle stellten.

»Ich hatte sehr wohl noch eine zweite Waffe dabei«, erwiderte Boëndal grinsend und deutete auf ein Handbeil an seinem Gürtel. »Ich werde dir niemals etwas zahlen müssen.« Er deutete mit der Zange auf Tungdil. »Andere dagegen schon, nicht wahr, Gelehrter?«

Tungdil begutachtete den Harnisch, der durch stetes Hämmern entstanden war, rieb sich das erhitzte Gesicht mit etwas Wasser ab und entfernte den grauen Ruß aus seinem lang gewordenen, braunen Bart. Er hörte nur halb hin, seine Gedanken waren entweder auf das Schmieden gerichtet oder auf Balyndis.

In den letzten Tagen war er sehr schweigsam gewesen; er grübelte viel und erkundete seine Gefühlswelt. Die vielen Enttäuschungen machten ihm zu schaffen. Der Verrat von Myr, die ihn dennoch so geliebt hatte, dass sie für ihn gestorben war, Balyndisʹ Entscheidung gegen ihn und ihre gemeinsame Liebe, die schwindelnden Höhen und unendlichen Tiefen, in die ihn die beiden Zwerginnen gestürzt hatten, verursachten in ruhigen Augenblicken einen Zustand seltsamer Schwermut. Dann gab es nichts, das ihn erfreute, und er konnte nicht anders, als mit seinem Schicksal zu hadern.

Egal, was er anpackte, es war immer mit Schmerz und Unglück verbunden. Manches Mal, aber wirklich nur manches Mal, wünschte er sich, in einem Kampf zu unterliegen und umzukommen, damit er wenigstens in der Ewigen Schmiede von Vraccas seine Seelenruhe fände...

»Gelehrter?«, hörte er Boëndal besorgt nachfragen.

Tungdil streifte das Wasser aus dem Bart. »Es ist nichts«, wiegelte er ab und zwang sich zu einem Lächeln. Dann öffnete er die Bändel des Lederschurzes und legte ihn ab. »Ich habe Hunger und Durst auf ein gutes Bier.«

»Ich auch«, stimmte Ingrimmsch seufzend mit ein. »Schade, dass sie hier kein gutes Bier haben.«

Sie verließen die Schmiede und gingen hinüber zu dem Bauernhof, in dem sie sich einquartiert hatten. Schon von weitem rochen sie den Duft von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot.

Sie betraten die Stube, in der Furgas auf der schmalen Bank hinter dem Tisch döste. Ondori hatte es sich neben dem Kamin bequem gemacht.

Ihr und ihrem Bogen verdankten sie den Fleischüberfluss, denn obwohl die Dörfler geschworen hatten, dass sich nach dem Wintereinbruch kein Wild mehr in der Umgebung aufhielt, fand die Albin immer ein Ziel, mal ein Reh, dann mehrere Hasen. Sie war eine hervorragende Jägerin, und vermutlich machte sie zwischen den Kreaturen keinen Unterschied. Mensch, Tier, Ork, für sie standen sie alle auf einer Ebene, die sich deutlich unter der einer Albin befand.

Sie hob die Augen nicht, als sie hereinkamen; sie war damit beschäftigt, aus den Knochen und Sehnen der Tiere bewegliche Figürchen zu bauen. Mit ihrem scharfen Messer schnitzte sie die Gebeine in Form und schuf Gesichter. Der Tochter des Bauern fertigte sie sogar eine Knochenflöte an, deren Klang durchaus schön zu nennen war.

Tungdil ahnte, dass sie das, was sie mit den Überresten von Tieren tat, auch mit denen ihrer getöteten Feinde anstellte. Bei der Vorstellung, dass ein Alb oder eine Albin auf dem Unterschenkelknochen eines Zwerges musizierte, drehte sich ihm der Magen um.

Nichtsdestotrotz schlugen sie sich mit dem erlegten Wild die Bäuche voll. Die Arbeit am Amboss verlangte viel Kraft in den Armen, und die erhielten sie außerhalb der Gebirge am ehesten von Fleisch.

Furgas erwachte, streckte sich und schaute zu Rodario, der sich Notizen machte und immer wieder zu Ondori blickte. Er skizzierte sie mit schnellen Strichen. »Eine äußerst interessante Figur, wie ich finde«, sagte er halblaut. »Ihr Antrieb, dich vor den Feinden zu bewahren, ist, dich selbst zu töten. Das macht sich in dem Stück ganz ausgezeichnet. So viel Dramatik«, schwärmte er und klappte sein Büchlein zu.

»Dir ist schon bewusst, dass wir uns nicht auf einer Bühne befinden?« Furgas fühlte sich einmal mehr dazu veranlasst, seinen Freund daran zu erinnern, welche Aufgabe ihnen bevorstand.

»Ich weiß es sehr wohl«, winkte er ab. »Keine Proben, keine Souffleuse, keine Zuschauer und leider auch keine Einnahmen.« Er schenkte sich von dem Kräutersud ein, den ihnen die Bäuerin brachte, ehe sie sich rasch entfernte, um sich nicht lange in der Nähe der Albin aufhalten zu müssen. »Wenn mir einer gesagt hätte, dass ich bald wieder gegen das Böse ziehen müsste, ich hätte ihn ausgelacht«, seufzte er und blies über die heiße Flüssigkeit. »Ich wollte in Porista mein Curiosum betreiben, Frauen verführen und mein Leben in aller Ruhe auf der Bühne verbringen.

Aber schon hebt sich der Vorhang für ein weiteres Spiel, das mich das Leben kosten kann.«

»Nanu, Rodario?«, neckte ihn Boëndal. »Du wirst nachdenklich?«

»Schon. Es mag am Winter liegen, das ständige Grau, das ist nicht gut.« Er stieß Tungdil an. »Ihm ergeht es ebenso. Seit wir unterwegs sind, hat er beinahe nur geschwiegen. Wie wäre es mit einem Witz? Ich weiß immer noch nicht, wie der mit dem Ork und dem Zwerg geht.«

Tungdil nahm sich von dem warmen Bier. »Mich einen unterhaltsamen Anführer zu nennen wäre wohl übertrieben.«

Ingrimmsch stieß mit ihm an. »Wir machen uns alle Sorgen um Balyndis, du bist nicht der Einzige, Gelehrter. Und wir können uns denken, dass du noch mehr um sie bangst als wir. Alte Liebe rostet nicht, sagt man.« Er biss sich auf die Zunge, um nicht noch mehr zu sagen, was Tungdils Laune senkte. »Verzeih, ich war schon wieder gedankenlos.«

»Du warst schon wieder ehrlich«, verbesserte ihn Tungdil. Und du hast Recht, fügte er bei sich hinzu, darauf wartend, dass sich sein innerer Dämon gleich meldete. Der aber schwieg. Er schwieg, weil Tungdil aufgehört hatte, sich selbst zu belügen. Ich liebe sie immer noch und werde sie immer lieben. Keine wird ihr das Eisen reichen können, und so werde ich besser allein bleiben, als eine Zwergin unglücklich zu machen, weil ich ihre Liebe nicht in vollem Maß erwidere. Er trank von seinem Bier, nahm den Humpen und stand auf. »Kommt, wir wollen wieder Rüstungen schmieden.«

Weitere zwei Sonnenumläufe benötigten sie, bis die Harnische fertig waren und diese einigermaßen passgenau an ihren Körpern saßen; nach vier weiteren Umläufen waren die Arm- und Beinschienen samt der Helme fertig. Die Glieder für die Handschuhe hatten sie vorbereitet und würden sie unterwegs mit Eisendraht zusammenfügen.

Nach schnellem Marsch und wenig Rast quer durch Gauragar gelangten sie schließlich in die Nähe von Porista.

Schon vom weitem sahen sie, wer die neuen Herren der Stadt waren.

Die Banner mit den unbekannten Symbolen flatterten auf den Türmen des Palasts, in der ganzen Stadt waren Zelte aufgeschlagen worden, welche die Häuser teilweise sogar überragten. Patrouillen zogen um den äußeren Rand und kontrollierten jeden, der herein oder hinaus wollte.

»Sie machen es sich einfach.« Furgas deutete auf die Kräne, die hin und her schwenkten; die Bauarbeiten gingen trotz der Besatzung voran. »Scheint so, als gefielen unseren falschen Avataren meine Maschinen.«

Er wollte noch etwas hinzufügen, da spürten sie das Beben unter ihren Füßen. Zuerst war es nicht mehr als ein Zittern, das jedoch anschwoll und den Schnee von den Bäumen um sie herum schüttelte; dann endete es.

Tungdil drehte sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung, um zu sehen, ob das Beben weiterlief.

Tatsächlich rollte es gleichmäßig vorwärts. So als hätte man einen Stein ins Wasser geworfen, breitete die Welle sich rundum aus. Tungdil erkannte es an dem Wippen der Äste und dem niederfallenden Schnee, ehe sie schwächer wurde und verebbte. »Sie machen sich an der Quelle zu schaffen«, lautete seine Einschätzung. »Seht, was sie anrichten.«

Boïndil wischte sich den von den Zweigen gerieselten Schnee von den Schultern, und weil er seinen Helm nicht trug, musste er damit leben, dass sich das Weiß in seinen Nacken gestürzt hatte; dort taute es und rann als eisiges Wasser seinen Rücken hinab. »Wenn es bei dem bisschen Wackeln bleibt, kann es das Geborgene Land ertragen.«

»Es wird besser sein, wenn es erst gar nicht dazu kommt, dass sie die Quelle in irgendeiner Weise beschädigen.« Boëndal schaute auf Furgas und Rodario. »So, ihr beiden Langen. Macht euch nützlich und zeigt uns die Schlupflöcher.«

Furgas deutete nach Norden. »Dort haben wir begonnen, ein neues Kanalsystem zu legen. Die alten Röhren sind eingestürzt, also haben wir die Schächte verbreitert und sie aufgemauert wie ein Gewölbe. Die ersten 500 Schritte sind fertig, sie führen uns von außen bis in die Nähe des Großen Marktplatzes.«

»Habt ihr den Zugang irgendwie verschlossen?« Tungdil prüfte den Sitz seiner Ganzkörperrüstung, sie schuf eine sehr beklemmende Enge; auch der Helm, den er sich überstreifte, schränkte die Sicht sehr ein. Die Zwillinge wirkten ebenso wenig begeistert.

»Ich verstehe nicht, wie das der Topfkopf ausgehalten hat«, kam es hohl unter Ingrimmschs Helm hervor, ein lauter Fluch folgte. »Verdammt, ich habe mir den Bart eingeklemmt. Das Ding reißt mir ganze Büschel aus.«

»Ein Holztor«, sagte Furgas. »Damit keine Tiere nachts in die Stadt kommen. Der Zugang liegt versteckt, sie werden ihn sicherlich nicht gesehen haben.« Er wollte losgehen, aber Ondori schob ihn zurück.

»Lass mich nach vorn«, wies sie ihn an. Sie legte einen Pfeil locker auf die Sehne und pirschte voraus, die anderen folgten ihr mit einem Abstand von zehn Schritten.

»Ihr lieben kleinen Hoffnungsträger des Geborgenen Landes«, sagte Rodario, als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. »Ihr quietscht, klappert und scheppert, als wolltet ihr unbedingt Aufmerksamkeit erregen. Hat denn keiner einen Tropfen Öl dabei, für die Scharniere?«

»Wo wir gerade beim Wundern waren«, Boïndil schob das Visier hoch, »wie hat es Djerůn geschafft, mit dem ganzen Eisen und Stahl am Leib so leise zu sein?«

»Es wäre gut, wenn ihr sein Geheimnis bald ergründen könntet. Ich geriete ungern in Gefangenschaft der Avatare. Versuchen wir es mal damit.« Rodario bückte sich und rieb etwas Schnee auf eine Gelenkstelle, die daraufhin noch erbärmlichere Geräusche von sich gab. »Holla, welch aufsässiges, kleines...«

Ingrimmsch stieß Rodario grob in den Schnee, und er verschwand in einer glitzernden weißen Wolke. »Haltet mir bloß den Schwätzer vom Leib! Mit seinen Einfällen treibt er uns nur in die Arme des Feindes. Wir sollten ihn zur Ablenkung von der anderen Seite nach Porista schicken.«

Aufgebracht sprang Rodario in die Höhe. »Nun, mein wichtigtuerischer Freund Haudrauf und Schlagtot, genau das werde ich auch tun«, sagte er affektiert. »Ich bin immer noch ein unbescholtener Bürger Poristas, der ein Theater betreibt, da dürfte es wohl nicht schwierig sein, in die Stadt zu gelangen.«

»Sei doch vernünftig«, bat ihn Tungdil. »Bleib bei uns...«

»Vielen Dank, nein.« Rodario ließ nicht mit sich verhandeln, er hob den Arm zum Gruß. »Ich warte auf euch am Großen Marktplatz. Bis dahin habe ich gewiss in Erfahrung bringen können, wie die Lage in Porista ist.« Er wandte sich auf dem Absatz um und stolzierte davon.

»Soll er doch gehen«, brummte Boïndil. »Er würde eh unentwegt plappern.«

Tungdil sah ihm nach. Es passte ihm gar nicht, dass Rodario sich von ihnen trennte; mit seiner unnachahmlichen Redegewandtheit hätte er in einer Notsituation nützlich sein können. Andererseits zweifelte er nicht daran, dass sich der Mime einen Weg bis zum Curiosum plaudern würde, ohne auch nur einmal in den Verdacht zu geraten, ein Spion oder ein Feind der Avatare zu sein.

»Ich bin mir zwar nicht sicher, ob er weiß, was er tut, aber er wird es schaffen«, meinte Furgas grinsend. »Er wird ohne Schwierigkeiten hinter die Mauern gelangen, das sei euch versichert. Wer den Verstand eines aufgebrachten Vaters, dessen Tochter verführt wurde, mit Worten einnebeln kann, der kommt überall durch.« Er ging weiter und folgte den Zeichen, die Ondori ihnen in den Schnee malte.

Fußspuren hinterließ die Albin keine. Mithilfe der dunklen Kräfte ihres Volkes gelang es ihr, vollkommen unsichtbar zu sein, sobald sich ihr ein wenig Schatten bot, in dem sie sich verbergen konnte.

»Sie ist die Tochter von diesem Sinthoras, habe ich das richtig verstanden?«, fragte Ingrimmsch leise. »Dann sollten wir sie erschlagen, sobald wir sie nicht mehr brauchen, sonst jagt sie uns allen noch einen Pfeil zwischen die Rippen. Ich traue dem Schwarzauge nicht, sie stinkt nach Verrat und Tod. Zwergentod.«

Tungdil gab ihm Recht. »Ich sage dir, wann es soweit ist. Bis dahin behältst du die Ruhe, Boïndil. Einen Kampf mit ihr können wir uns mitten unter Feinden nicht erlauben.«

Sie schlichen näher an die wieder errichteten Mauern Poristas; hier und da waren die Steine nicht ganz so hoch aufgetürmt wie einst, dennoch reichten sie aus, um Angreifern Widerstand zu bieten.

Unterhalb einer halbfertigen Mauer entdeckten sie tatsächlich den von Furgas beschriebenen, mannshohen Durchgang, der mit einem Verschlag verschlossen war. Der Wind hatte den Schnee so gegen die Steine und das Holz vor dem Kanaleingang geweht, dass er einem unkundigen Spaziergänger oder eine Wache nicht aufgefallen wäre. Die Albin kauerte daneben und sicherte.

»Eine gehörige Schwachstelle«, sagte Boëndal leicht vorwurfsvoll. »Das macht die Stadt anfällig für Handstreiche, oder?«

»Nein«, gab Furgas lächelnd zurück. »Wir haben Gatter vorgesehen, die zusätzlich runtergelassen werden, wenn Gefahr droht. Aber derzeit sind sie nicht abgesenkt, was gut für uns ist.«

Er hüpfte durch den Schnee die Böschung hinab, die Zwerge folgten ihm ungelenk. Sie vermissten ihre Kettenhemden, die weniger schwer und auch wesentlich beweglicher waren.

Mit wenigen Griffen hatte Furgas die Schlösser überwunden; seinen Fingern, die sich auf Mechanik jeglicher Art verstanden, hielten sie nicht lange stand. Leise klickend gaben sie ihren Widerstand auf und ermöglichten den Zwergen, Furgas und Ondori, in die Kanalröhre zu steigen.

Furgas zog die Tür hinter ihnen zu und sicherte sie sorgfältig. Dann entzündete er eine kleine Laterne, damit er etwas erkennen konnte, und führte sie zielstrebig vorwärts.

Nach zehn Schritten wies er auf die fünf Schlitze in der Decke, die im Abstand von drei Schritten aufeinander folgten.

»Von da oben werden die Gatter hinabgelassen, armdicke Eisenstücke, die jedem Versuch widerstehen, sie auseinander zu biegen oder gar aus der Verankerung zu reißen«, erläuterte er seine Sicherheitsvorkehrungen. »Niemand wird Porista auf diesem Weg erobern.«

»Und was machen wir gerade? Einen Ausflug?«, feixte Ingrimmsch und gab Acht, dass er in der gefrorenen Wasserlache nicht ausrutschte. »Da hat dein Plan schon einen Fehler, Furgas.«

Der Magister technicus lachte leise. »Die Götter mögen sich was dabei gedacht haben, als sie mich vergessen ließen, die Sicherungen jetzt schon zu betätigen.«

Behutsam tasteten sie sich voran. Ondori verbarg sich irgendwo vor ihnen in der Finsternis; sie blieb verschwunden, bis sie unerwartet neben Boëndal stand. »Ihr könnt schneller gehen«, sagte sie, und Furgasʹ Hand begann vor Schreck zu zittern. »Wir sind allein hier unten. Bis zum Aufgang steht uns kein Hindernis im Weg.« Sie tauchte wieder in die Dunkelheit ein und kam erst zum Vorschein, als sie die Stelle erreichten, wo schmale Treppen nach oben führten.

»Die sind für den Abtrittmeister gedacht«, sagte Furgas. »Es wird seine Aufgabe sein, in regelmäßigen Abständen hier unten nach dem Rechten zu sehen und darauf zu achten, dass sich keine Hindernisse stauen. Wir haben den Eingang mit einer Steinplatte versehen, die man von außen öffnet. Wir müssten sie mit etwas Kraft auch von innen aufstemmen können.«

Ondori ging nach oben und gab ihnen das Signal, zu ihr aufzuschließen. Auf der schmalen Treppe passten sie nur hintereinander auf die Stufen, und so sehr sie auch gegen die Abdeckung drückten, es tat sich nichts.

Furgas versuchte, durch einen Spalt hinauszusehen. »Sie ist von außen verriegelt worden.«

»Wenigstens daran haben sie gedacht.« Ingrimmsch pochte gegen die Wand. »Gut gemauert. Das wird nicht leicht für uns, einen Weg hinauszugraben.«

Ondori hob die Hand, sie verstummten.

Jemand machte sich auf der anderen Seite am Stein zu schaffen. Rumpelnd wurden Balken entfernt, dann wackelte die Abdeckung, und sie hörten unterdrücktes Ächzen.

»Kann es Rodario sein?«, wisperte Boëndal Furgas ins Ohr.

»Machen wir auf, dann sehen wir es«, schlug sein Bruder vor und legte die Hände gegen den Stein. Die anderen halfen, während die Albin ihren Bogen bereithielt.

Die Abdeckung gab nach und klappte mit Schwung auf. Sie blickten in das dreckige Gesicht eines Mannes, der neben sich einen großen Eimer Kehricht stehen hatte und sich sehr darüber wunderte, was ihm da aus dem Untergrund Poristas entgegenkam.

»Magister Furgas«, stammelte er. »Was macht Ihr denn...« Er wich zurück und machte ihnen Platz. »Kommt hervor, rasch. Ihr wollt sicher nicht von den Fremden gesehen werden, oder?«

»Das ist Ertil«, stellte Furgas den Mann knapp vor. »Er hat unsere Bautrupps mit Essen beliefert, daher kennen wir uns.«

»Vertraust du ihm?«, fragte Ondori kühl, sie hatte den Bogen nicht gesenkt.

»Eine Elbin«, entfuhr es Ertil ehrfurchtsvoll, als er die schlanke, hoch gewachsene Gestalt entdeckte. Er versuchte, mehr von ihrem Gesicht zu erkennen, schließlich wurde die Schönheit der Schöpfung Sitalias in unzähligen Liedern gerühmt. Dummerweise lag sie hinter einer Maske verborgen.

»Ja«, beeilte sich Furgas zu sagen, weil er nicht wollte, dass sie Ertil erschoss. »Er kann uns berichten, was geschehen ist.«

Der Mann nickte. »Sicher, Magister Furgas. Es ist mir eine Ehre. Wie gut, dass ich meinen Abfall wegbringen wollte.« Er schaute auf die seltsame Gruppe, die aus dem Kanal stieg. Den Eimer mit Kehricht leerte er neben dem Eingang aus. »Nur, falls Ihr wieder durch den Gang flüchten müsst. Eure Schuhe sollen sauber bleiben.«

Sie setzten die Abdeckung wieder ein und stahlen sich im Schatten der Häuser die Gasse entlang, bis sie Ertils Zuhause erreichten.

Er ließ sie herein, zündete einige Kerzen an und brachte ihnen etwas zu trinken. »Sie kamen vor fünfzehn Sonnenumläufen. Dabei glänzten sie so sehr, dass einige, die sie betrachten wollten, ihr Augenlicht verloren«, berichtete er. »Sie haben sich in der ganzen Stadt verteilt und die Wachen ermordet, die sich ihnen in den Weg stellten, um das Eigentum Narmoras zu verteidigen. Ihre Anführer, schimmernde, leuchtende Wesen, sind im Palast verschwunden und wurden seitdem nicht mehr gesehen. Sie tun uns nichts, lassen uns unsere Arbeit machen wie vorher auch, aber niemand darf es wagen, in die Nähe des Palasts zu gehen. Sie haben verkündet, dass die Stadt nun den Amshas gehöre.«

»Gab es Aufstände?«, erkundigte sich Furgas.

»Nein. Wir haben es nicht gewagt.« Ertil schlug die Augen nieder. »Wir sind zu wenige, sie aber haben zehntausend Soldaten mitgebracht. Das ist zu viel für uns.«

»Niemand macht euch einen Vorwurf«, beruhigte er den Mann. »Hast du diese Lichtgestalten zählen können? Wie viele sind es gewesen?«

»Ich kam auf fünf«, antwortete er. »Andere wollen mehr gesehen haben, es kann sein, dass meine Augen durch das grelle Leuchten getäuscht wurden.« Er schaute Furgas an. »Was sind das für Wesen, Magister Furgas? Gehen sie wieder? Sie machen etwas im Palast, was nicht gut sein kann. Die Tiere benehmen sich seit zwei Umläufen seltsam, sie sind unruhig und wollen aus ihren Ställen. Wann erscheint die ehrenwerte Maga, um uns von den Amshas zu befreien?«

»Bald, Ertil. Wir sind hier, um einige Dinge auszukundschaften«, beruhigte er ihn. »Wichtig ist vor allem, dass du niemandem von uns erzählst.« Der Mann nickte.

»Hatten sie eine Zwergin dabei, als sie ankamen?« Tungdil wollte Gewissheit über den Verbleib von Balyndis. »Weißt du, wohin sie gebracht wurde?«

»Eine Zwergin? Ja, ich erinnere mich.« Er deutete aus dem Fenster in Richtung Palast. »Sie befand sich bei einer Gruppe, die erst vor sieben Umläufen in Porista ankam. Ich weiß es, weil ich am Tor vorbeifuhr und zum Markt wollte. Sie ritten wie die Teufel, und wäre ich nicht aus dem Weg gesprungen, sie hätten mich glatt zertreten. Sie sind im Palast verschwunden.«

»Und meine Tochter?«, hakte Furgas ein. »Weißt du etwas über sie?«

Ertil schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand hat den Palast verlassen, Magister Furgas.«

»Es hat auch einen Vorteil«, grummelte Boïndil. »Wir müssen nur einmal laufen, um sie und deine Tochter zu retten. Das erleichtert uns den schnellen Rückzug.«

Boëndal stand am Fenster und spähte hinaus, um nach dem Schauspieler zu sehen. »Es ist menschenleer«, gab er seine Beobachtung weiter. »Rodario wird auffallen wie ein Brandfleck auf einem makellosen Lederhemd, wenn er hierher kommt.«

»Keine Bange«, betonte Furgas. »Er wird es schaffen.«

»Lange können wir nicht auf ihn warten«, bedauerte Tungdil. »Wir müssen ihnen Balyndis entreißen, ehe sie ihr das Geheimnis der Rüstung entlocken.« In seiner Vorstellung sah er, wie sie gefoltert, verstümmelt und gedemütigt wurde.

»Besser, wir gehen gleich. Ich kenne mich im Palast recht gut aus. Doch zuvor solltet ihr eure Scharniere ölen.« Ertil brachte den Zwergen Sonnenblumenöl, und sie brachten die quietschenden Scharniere zum Schweigen, auch wenn Ingrimmsch die Vorgehensweise beanstandete.

Der Magister technicus stand auf und trat zur Tür. Ihr gefährliches Unternehmen konnte beginnen.

Ondori sicherte die Spitze, danach kamen er und die gerüsteten Zwerge. Sie hatten Ertil angewiesen, den Eingang im Auge zu behalten und Rodario, so er denn ankam, abzufangen und bei sich unterzubringen, bis sie auftauchten. Oder gefangen genommen wurden.

Sie huschten mehr oder weniger leise durch das stille Porista.

Furgas konnte seine Besorgnis über das Fehlen von Rodario nicht verbergen. Er müsste schon längst hier sein. Was mag ihm wohl zugestoßen sein?

VII




Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreiches Lios Nudin, Porista,

6234./6235. Sonnenzyklus, Winter


Denk immer daran, es ist keine Probe, und die Wachen haben keine Schwerter mit zurückfedernder Klinge. Rodario gab sich einen Ruck, raffte das Reisig an sich, das er aufs Geratewohl zusammengeklaubt hatte, und marschierte auf das Tor zu, an dem er auf die Entfernung neun gelangweilte Soldaten in schimmernden Rüstungen erkannte. Sie standen um einen Feuerkorb und wärmten sich an den Flammen. Ihre nachlässige Haltung änderte sich kaum, als er sich ihnen näherte.

»Wohin?« Einer von ihnen stellte sich ihm verwehrend in den Weg, die Spitze des Speers deutete auf seinen Magen. »Und woher?«

»Ich kam von da«, antwortete er, deutete aufs freie Feld und verfiel in ein beinahe unverständliches Kauderwelsch, damit sie ihn für einen geistig Minderbemittelten hielten, »und möchte dahin.« Er deutete die Gasse hinab und zeigte dem Mann das dünne Holz. »Hab gesammelt. Für das kleine Feuer im Herd. Damit es Essen bekommt.«

Seine Hoffnung ging auf. »Oh, wir haben den Stadtdeppen gefunden«, rief der Soldat laut. Er packte einen halbverbrannten Scheit, der erloschen war, und legte ihn auf das Bündel. »Da, nimm den auch noch mit. Unser Feuer mag den Klotz nicht.«

Rodario lachte dankbar und einfältig, verneigte sich und ließ dabei wohl berechnet das Holz fallen. Fluchend raffte er es an sich, verlor dabei absichtlich Reisig und sammelte sich auf diese Weise an den lachenden Wächtern vorbei, die sich den Spaß erlaubten und kleine Äste weit in die Gasse hinein schleuderten.

Der Schauspieler tat ihnen den Gefallen und rannte den dickeren Zweigen wie ein Hund dem Knochen hinterher, doch sobald er um die nächste Hausecke bog, hörte er schlagartig auf zu lachen. Das war sehr einfach. Er warf das Holz von sich und verfiel in einen schnellen Schritt. Rennen wollte er nicht, damit würde er ungewollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die er überhaupt nicht gebrauchen konnte.

In den schmalen Straßen kannte er sich bestens aus. Sein Weg führte ihn am Curiosum vorbei, und seine Beine blieben einfach stehen. Wehleidig strich er über die verschlossene Tür und den Anschlag daran, den er sich leise vorlas: »WEGEN GASTSPIEL VORERST GESCHLOSSEN. DER UNGLAUBLICHE RODARIO WIRD ABER BALD ZURÜCKKEHREN UND DEN BEWOHNERN PORISTAS MIT SEINEN STÜCKEN DEN ALLTAG VERSÜSSEN. SEID GESPANNT, SPECTATORES, AUF SO VIEL TALENT UND KÖNNEN.«

»Sehr schade, nicht wahr?«, sagte eine milde Frauenstimme hinter ihm bedauernd. »Ich hätte ihn gern einmal kennen gelernt, diesen Rodario.«

»Er heißt Unglaublicher Rodario«, bestand er auf den vollen Titel und wandte sich um, damit rechnend, vor einer betrunkenen Stadtmatrone zu stehen, die gerade von einem Streifzug aus den Kaschemmen kam.

Aber er wurde überrascht. Er blickte auf eine junge Dame in seinem Alter, die sich mit einem kostspieligen Pelz gegen die Kälte schützte. Eine Kapuze bewahrte ihren Schopf vor dem einsetzenden Schneefall.

»Er soll unglaublich gut sein«, setzte er hinzu und lächelte so einnehmend, wie nur er zu lächeln vermochte.

»Ihr seid eben erst angekommen?«, vermutete sie anhand seiner mitgenommenen Garderobe und den Bartstoppeln in seinem Gesicht. »Ist es nicht eine sehr unbequeme Zeit für lange Wanderungen?«

»Wenn einem das Pferd im Graben verreckt, läuft man gezwungenermaßen, meine Dame«, strickte er den Anfang einer Lügengeschichte, an deren Ende ihre Gunst stehen sollte. »Ich entkam mit knapper Not ein paar Straßenräubern, die mir den Gaul verletzten, woran er krepierte, und meine Satteltaschen mit meinem Hab und Gut stahlen.«

»Lasst mich raten: Ihr seid ein Edelmann, der auf dem Weg zu seiner Liebsten nach Porista war.« Sie strich sich eine brünette Strähne aus dem Gesicht und erwiderte sein Lächeln mit nicht weniger Schelmigkeit in den Augen. »Ich habe Euren Namen nicht verstanden, Herr...?«

Er geriet ins Schwanken. Offenbar durchschaute sie seine kleine Geschichte bereits in den Ansätzen. Ein harter Brocken. Umso besser, eine Herausforderung macht die Angelegenheit spannender.

Ihm entging nicht, dass sie an ihm vorbeischaute. Also blickte auch er dorthin und musste lachen. Ich Idiot. Er hatte vollkommen vergessen, dass sein überlebensgroßes, lächelndes Konterfei neben den Eingang gemalt worden war. Auf sein Drängen. Zu seinem Glück hatten es die Wachen wohl nicht bemerkt.

»Nun verratet Ihr mir, weshalb Ihr mir gegenüber nicht sagen wolltet, wer Ihr wirklich seid?«, bat sie ihn und trat näher an ihn heran. »Weshalb erzählt der Unglaubliche Rodario Lügenmärchen?« Ihre dunkelgrünen Augen musterten ihn verschmitzt.

»Mir war gerade danach«, stürzte er sich in die nächste Ausflucht. »Und da Ihr ohnehin wisst, wer ich bin, verratet mir, wie es sein kann, dass eine hübsche Frau wie Ihr nachts allein und ohne Schutz durch Porista wandelt? Ich kenne Euch nicht, edle Dame, und glaubt mir, ich kenne...«

»Jede Frau in der Stadt?«, lachte sie ihn aus. »Dann wäre eine Bekanntschaft mit Euch äußerst fragwürdig.«

»Nein, nicht jede Frau. Aber ich bin von Andôkai der Stürmischen und ihrer Nachfolgerin Narmora der Unheimlichen als Miterbauer der Stadt bestellt worden. Zusammen mit meinem Compagnon Furgas richten wir wieder auf, was zerstört wurde...« Er folgte ihr mit den Augen, während sie ihn umwanderte; die Schleppe ihres Pelzes glitt durch den Schnee und zog eine Spur. »Da lernt man die Menschen kennen. Aber Euch«, wie von selbst streckte sich seine Hand aus und hielt sie am Arm fest, als sie vor ihm stand und zu einer neuerlichen Umrundung ansetzen wollte, »habe ich noch nie gesehen. Dabei sollten die Steine in den Gassen Eure Schönheit preisen und Mosaiken formen, die Euer Antlitz zeigen.«

Sie lächelte, dieses Mal wie ein junges Mädchen, das ihr erstes Kompliment von einem Verehrer bekommen hatte. »War das nun ein Zitat aus einem Eurer Stücke, oder habt Ihr es gerade eben erst ersonnen?«

»Einmalige Worte für eine einmalige Frau wie Euch«, hauchte er und freute sich, als er sah, dass ihr gefiel, was sie aus seinem Mund vernahm. Ich habe nichts verlernt.

Zufällig schaute er über ihre Schulter und sah die Straße, die zum Großen Marktplatz führte. Da fiel ihm ein, weshalb er eigentlich in Porista war. Leider war nicht vorgesehen, dass er sich mit der Unbekannten näher beschäftigte, so wie er es sich gewünscht hätte. Viel zu lange hatte er schon dem Spiel der Spiele zwischen Mann und Frau entsagt.

Reiß dich zusammen, herrschte er sich selbst an. Du kannst deine Freunde nicht länger warten lassen. Er ergriff forsch, aber galant ihre in einen weißen Handschuh gehüllte Linke und drückte einen Kuss darauf. »Sagt, wo kann ich Euch finden? Man erwartet mich bereits für eine geheime Probe, die ich unmöglich absagen kann. Aber danach«, er schenkte ihr einen tiefen Blick aus seinen braunen Augen, »könnten wir uns wieder sehen. Wenn Ihr möchtet.«

Sie zog die Hand zurück, sie wirkte enttäuscht. »So schnell ergreift Ihr die Flucht, Rodario?« Ihre Füße trugen sie die Gasse hinauf. »Nun, dann halte ich Euch nicht auf. Es wird mir aber eine Freude sein, das Stück, das Ihr einstudiert, bald auf der Bühne zu sehen.« Sie schenkte ihm einen aufreizenden Augenaufschlag, wandte sich um und verschwand bald im Schneetreiben, ohne sich noch einmal nach ihm umgesehen zu haben.

»Wo finde ich Euch? Ich möchte Euch die Karten senden!«, rief er laut, aber er erhielt keine Antwort. Es soll nicht sein. Ein wenig niedergeschlagen eilte er das Sträßchen entlang und landete auf dem Marktplatz.

Die immer dichter fallenden Flocken gaben ihm Deckung vor neugierigen Blicken, er huschte hinüber zu der Stelle, wo der Kanal an die Oberfläche kam, und sah, dass die Riegel geöffnet waren. Die Fußspuren davor waren von dem Neuschnee noch nicht gänzlich ausgefüllt worden.

Sie haben nicht auf mich gewartet! Empört stampfte er mit dem Fuß auf. Das haben sie absichtlich getan. Ich wette, es war Ingrimmsch, der darauf bestanden hat, ohne mich zu gehen. Er rieb sich am Kinnbärtchen, seine verletzte Eitelkeit stachelte seine Verwegenheit an, und schon wandte er sich um, seine Schritte zum Palast lenkend. Ihr werdet euch wundern, versprach er den Zwergen und malte sich aus, aus welch misslicher Situation er sie bei seiner Ankunft befreien würde.

Unterwegs prüfte er den Sitz seiner Utensilien, die ihn notfalls zu Magus Rodario dem Unglaublichen werden ließen und die bereits in der Schlacht gute Dienste verrichtet hatten.

In den Taschen seiner Kleidung verbargen sich allerlei Pülverchen, die zusammen mit Feuer grelle Flammen, beißende Wolken und bunte Nebelschwaden erzeugten; die vier Glasröhrchen mit Säure lagen in einem besonders gepolsterten Bett.

Am wichtigsten waren jedoch die von Furgas entwickelten Flammenwerfer, deren Mündungen er unterhalb seiner beiden Handgelenke befestigte.

Das eine Ende mit dem kleinen Feuerstein zeigte nach vorn, am anderen Ende saß ein Lederbeutel, der mit Luft und Bärlappsamen gefüllt war. Drückte er auf den Beutel, schossen die Samen vorn heraus; gleichzeitig wurde durch das Pressen ein Mechanismus betätigt, der den Feuerstein rieb und die herausfliegenden Samen entzündete. Was Orks im Grauen Gebirge beeindruckte, half auch gegen einfache Soldaten. Mechanik konnte durchaus eine Art Magie sein.

Als die Mauer des Palasts vor ihm auftauchte, fiel ihm ein, dass er so ohne weiteres nicht hineingelangen würde. Sicher, er kannte die Losung, weil er sich damals in der Abwesenheit von Narmora um seinen kranken Freund Furgas gekümmert hatte, aber die Avatare würden sich schon wundern, wenn sich die Tore plötzlich für einen Menschen öffneten, den sie nicht hereingebeten hatten. Welchen anderen Weg gibt es noch?

»Ist Eure Probe schon beendet?«, hörte er die Stimme der unbekannten Schönen wieder hinter sich.

Er wirbelte herum und freute sich, sie so bald wieder zu sehen. »Man kann sagen, meine verehrten Schauspielergenossen haben sich entschieden, den Abend lieber mit einem Fass Wein denn mit mir und dem Einüben des Textes zu verbringen«, log er.

»Dann erweist mir die Ehre, mir bei einem Mahl Gesellschaft zu leisten und von Eurem neuen Vorhaben zu erzählen.« Sie lächelte derart hinreißend, dass er sich nicht anders zu helfen wusste, als zu nicken, während seine Imagination ihr bereits den Mantel und alle Kleider darunter auszog. Sie roch sicherlich nach Milch und Seide.

»Doch ich warne Euch, meine Garderobe lässt schwer zu wünschen übrig. Ich kam heute erst von einer Reise zurück und hatte noch keinerlei Gelegenheit, mich zu erfrischen. Oder zu rasieren«, sagte er entschuldigend.

»Das sehe ich. Wir können etwas dagegen unternehmen. In meiner Unterkunft werden wir etwas für Euch finden.« Sie kam näher, er bot ihr seinen Arm, und sie hakte sich unter. »Mein Name ist Lirkim«, stellte sie sich ihm nun vor und übernahm die Führung.

»In welchem Gasthof seid Ihr abgestiegen?«, erkundigte sich Rodario, um unschöne Szenen zu vermeiden; denn mit der einen oder anderen Wirtstochter hatte er durchaus ein persönliches Gastspiel gegeben, und es wäre ihm sehr peinlich, vor Lirkims Augen und Ohren an sein Techtelmechtel erinnert zu werden.

Die Frau blieb vor den Toren der Palastanlage stehen und schüttelte den Kopf. »Kein Gasthof, Herr Rodario.« Sie nannte eine ihm unbekannte Losung und vollführte eine sehr anmutige Geste, woraufhin sich die schweren Flügeltüren öffneten und für sie zurückschwangen. »Ich habe hier meine Bleibe gefunden.«

Er stand wie angewurzelt auf der Schwelle. »Ihr seid bei den Avataren untergekommen? Ihr seid... doch wohl kaum eine einfache Dienstbotin? Eine Zofe?«

»Ihr müsst Euch nicht sorgen, Herr Rodario. Sie sind seltsam anzuschauen, aber denen, die sie in Ruhe lassen, tun sie nichts. Und wir haben nicht vor, sie zu behelligen. Oder?« Sie hatte sich nicht aus seinem Griff befreit und ging nun voran. Rodario folgte ihr.

Nun machte er sich ernsthaft Sorgen, weniger um sich als um seine Gefährten, die nichts davon ahnten, dass sich das Tor nicht mehr mit der alten Formel öffnen ließ. Er wiederum dankte allen Göttern. Was habe ich doch für ein Glück. Er grinste. Nun käme er in den Genuss einer Liebesnacht oder zumindest eines Bades und guten Essens; danach könnte er sich im Palast nach Balyndis und Dorsa umschauen. Ich werde ein Held sein, Balyndis und Narmoras Tochter retten. Das wird dem kleinen Haudrauf endgültig die große Klappe stopfen. Die Augen werden ihm aus dem Kopf fallen, wenn der Schwätzer mehr ausgerichtet hat als er!

»Was ist, Herr Rodario?«, erkundigte sich Lirkim neugierig. »Eure Sorge hat sich rasch zu Zufriedenheit gewandelt...«

»Mir ist etwas vergönnt, was wenige mit eigenen Augen gesehen haben. Ich darf den Palast von innen betrachten«, erklärte er seinen Gesichtsausdruck.

Sie wunderte sich offensichtlich, während sie die breite Treppe hinaufstiegen. Die Wachen machten ihnen Platz. »So? Ihr als Miterbauer der Stadt seid niemals bei Andôkai gewesen?«

»Leider nein. Sie hat ein großes Geheimnis aus den Gebäuden gemacht und fürchtete, dass das Wissen Kreise zöge und Anschläge erleichterte, gerade nachdem die Avatare ihr einen Attentäter sandten«, log er fröhlich weiter.

»Wisst Ihr denn, wo sie sich derzeit aufhält?«

»Ihr meint ihre Nachfolgerin, Narmora, nehme ich an? Sie ist abgereist, irgendwo nach Norden. Ihre Anweisung lautete, ich solle mich weiter um den Ausbau Poristas kümmern.« Automatisch schlug er den Weg zu Furgas Zimmer ein, was Lirkim dazu veranlasste, ihn am Arm festzuhalten.

»Halt, halt! Wohin wollt Ihr denn? Habt Ihr vergessen, dass ich Eure Führerin bin?«

Rodario lachte verlegen. »Nein, ich war in Gedanken.« Mehrere Gerüstete schritten an ihnen vorbei, sie grüßten Lirkim und schenkten Rodario einen verwunderten Blick.

Er nickte ihnen jovial zu, als handelte es sich bei ihnen um alte Bekannte. Überall entdeckte er die kleinen Stücke Mondstein in ihren Panzern, doch sie glänzten nicht. Offenbar taten sie es nur, wenn es der Träger verlangte.

Er fühlte sich großartig und befand sich kurz davor, übermütig zu werden. Er saß mitten in der Höhle des Orks und war dennoch sicher wie in Palandiells Schoß. Lirkim geleitete ihn in den Trakt der Dienstboten, rief zwei Mägde, die Rodario noch nie gesehen hatte, und wies sie an, sich um ihn zu kümmern.

»Ich lasse ein Essen für uns beide anrichten, in einer Stunde unterhalten wir uns«, verabschiedete sie sich von ihm, zog ihren Handschuh aus und hielt ihm den weißen Handrücken hin.

»Ich freue mich darauf, edle Dame.« Er küsste die weiche Haut und bildete sich ein, Milch und Seide zu schmecken.


*

Furgas hatte von Anfang an vorgesehen, nicht durch das Haupttor zu gehen, was auch geschickter war. Die Avatare umgaben sich sicherlich mit Wachen, die am Eingang zu finden wären und ihr Eindringen sofort bemerken würden. »Es gibt zwei Nebenpforten, wie mir Narmora erzählte. Sie sind für das bloße Auge unsichtbar, aber ich kenne eine davon. Jedenfalls ungefähr.«

»Ungefähr. Das ist ja reizend«, brummte ein sichtbar unzufriedener Boïndil.

»Ich weiß, ginge es nach dir, wären wir durch das große Tor gestürmt, hätten uns zu Balyndis und Dorsa durchgekämpft und wären wieder gegangen«, sagte sein Bruder tadelnd. »Zügle dich. Wir haben es mit Gegnern zu tun, die über deine Beile lachen.«

Furgas tastete die Mauer ab. »Hier ist es.« Er nannte eine Formel, doch nichts tat sich.

»Bist du dir sicher?« Tungdil fuhr mit den Fingern prüfend über die Steine, fühlte jedoch weder eine Fuge noch eine besonders markante Unebenheit.

Ondori wiederholte die Worte, und die Umrisse einer Tür wurden im Mauerwerk sichtbar.

Ingrimmsch wandte sich zu ihr. »Wie hast du das gemacht, Bohnenstange?«

»Geh«, wies sie ihn gönnerhaft an. »Ihr Unterirdischen versteht nichts von Magie.« Sie schaute zu Furgas. »Und die meisten Menschen auch nicht.«

»Aber du schon, ja?« Boïndil wollte sich keine Anweisungen von einer Albin geben lassen und schon gar nicht in einem gönnerhaften Tonfall.

»Sicher. Jedenfalls mehr als du«, sagte sie achselzuckend. »Was nun? Geh voran oder mir aus dem Weg.«

Boëndal schob seinen Bruder vorwärts, um weitere Diskussionen zu verhindern. Nacheinander betraten sie den kleinen Garten des Palasts, der im Norden des weitläufigen Areals lag. Niemand kümmerte sich um die Eindringlinge.

»Wir müssen schnell sein«, riet die Albin. »Wenn eine Patrouille eure Fußspuren entdeckt, wird sie wissen, dass sich Personen im Palast aufhalten, die keiner eingeladen hat.«

Furgas setzte sich an die Spitze der Gruppe und leitete sie über Umwege durch den vermeintlich leeren Dienstbotentrakt. Plötzlich blieb er vor einer Biegung stehen und drückte sich gegen die Wand; die Zwerge verharrten sofort und vermieden jede Bewegung, um sich nicht durch ihre Rüstungen zu verraten.

Sie hörten die leise Stimme einer Frau, die mit einem fremdartigen Akzent sprach. »Ich lasse ein Essen für uns beide anrichten, in einer Stunde unterhalten wir uns.«

»Ich freue mich darauf, edle Dame«, antwortete ein Mann mit unverwechselbarem Tonfall.

»Der Schwätzer«, entfuhr es Ingrimmsch verdutzt. »Wie hat er das wieder angestellt?«

»Wie wohl?«, grinste Furgas. Eine Tür wurde geschlossen. Er blickte um die Ecke und sah eine Frau in einem weißen Pelzmantel den Gang hinaufwandeln. »Ich schlage vor, wir lassen ihn sein Vorhaben weiter verfolgen.«

»Und er bekommt auch noch was zu essen!«, regte sich Boïndil leise auf.

»Still«, zischte Ondori.

»Von dir lasse ich mir nichts sagen, schwarzäugige Bohnenstange«, grollte er ungerührt zurück. »Wenn wir deine Eltern früher erschlagen hätten, gäbe es dich gar nicht, also sei uns gefälligst dankbar, dass du überhaupt lebst.«

Die Albin beschränkte sich darauf, den Zwerg mit mörderischen Blicken aus ihren grauen Augen zu töten, der aber tat ihr nicht den Gefallen zu sterben. Furgas hob die Hand »Sie ist stehen geblieben«, raunte er seinen Begleitern zu. Die Albin trat neben ihn und hob den Bogen. »Jetzt... geht sie weiter.«

Ondori drückte dem Mann ihren Bogen in die Hand. »Ich werde ihn fragen gehen, was er bezweckt«, erklärte sie und schlich zur Tür, hinter der sie den Schauspieler vermutete. Sie lauschte und öffnete dann leise die Tür.


*

Rodario saß in einem Zuber, umgeben von duftendem Schaum, und schrubbte sich den Dreck der vergangenen Sonnenumläufe von der Haut. Der Staub Gauragars wurde aus den Poren gespült und verschwand ebenso wie die vereinzelten Tannennadeln, die von ihrer letzten Übernachtung im Freien herrührten. Danach nahm er sich das Rasiermesser, richtete den Spiegel aus und schabte die Stoppeln aus seinen herrschaftlich anmutenden Zügen.

»Und immer, wenn du glaubst, du bist allein, ist es nicht so.« Ondori ergriff seine Hand und hielt sie fest, bevor er sich vor Schreck aus Versehen die Kehle aufschlitzte. »Du hast deinen Weg in den Palast gefunden?«

Erleichtert atmete er aus. »Meine Güte, ihr Albae«, stöhnte er. »Narmora beherrscht diese unselige Schleicherei ebenso.« Sie ließ seine Hand los, er setzte die Rasur fort. »Schön, dass ihr auch drinnen seid. Oder bist du als Einzige hineingelangt?«

»Nein, die anderen warten draußen. Ich bin nur hier, weil ich fragen soll, was du beabsichtigst.«

»Ich?«, antwortete er in großspurigem Tonfall. »Ich mache mich fein und diniere mit einer wunderschönen Frau, die wohl eine hohe Zofe im Gefolge der Avatare ist. Etwas Wein, ein wenig seichte Plauderei mit einer wohl dosierten Prise vorgetäuschter Zuneigung, und ich erfahre alles von ihr, was ich möchte.« Er setzte das Rasiermesser an und fuhr sich damit über die Haut. »Wo das Kind steckt, wo Balyndis ist und welche Geheimnisse die Möchtegerngötter vor uns verbergen.« Er lächelte sich selbst im Spiegel an und prüfte die Sauberkeit seiner Rasur. »Danach rette ich Kind und Zwergin und beschäme den kleinen Haudrauf. Brillant, oder?«

Ondori grinste hinter ihrer Maske. »Das hast du dir eben erst ausgedacht.«

»Nein, es fußt auf einer reiflichen Überlegung«, widersprach er entrüstet. »Und ihr, was macht ihr?«

»Da du alles für uns übernimmst, werden wir wieder gehen.« Die Albin sah auf den Stapel Ausrüstung, der auf einer Bank ruhte. »Nun ohne Flachs. Wir werden uns heimlich umsehen und abwarten, ob wir vor dir ans Ziel gelangen.«

Er fuchtelte mit dem Messer umher und zerschnitt den Schaum. »Ich werde euch retten müssen, warte es ab«, prophezeite er ihr. »Nun hinaus, ehe eine Magd zurückkommt und mich mit dir sieht.« Sie antwortete ihm nicht und als er sich nach ihr umwandte, war sie verschwunden. »Ein kleines Glöcklein am Knöchel, das würde ihr und Narmora gut stehen«, fand er und entfernte die letzten Stoppeln. Dann strich er sich über das Kinnbärtchen und zwinkerte. O ja. Lirkim wird plaudern.


*

»Sicher, er rettet uns. In seinen wirren Komödien vielleicht.« Boïndil schnaubte. »Was sich dieser Schwätzer einbildet, geht auf keine Ogerhaut.«

»Er hat immerhin einen Plan.« Tungdil staunte über die Gabe des Schauspielers, ab und zu doch zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. »Sollten wir keinen Erfolg haben, so haben wir ihn immer noch in der Hinterhand.«

»Eher wird ein Amboss von einer Brise davongetragen.« Ingrimmsch wollte sich nicht geschlagen geben; für ihn stand unzweifelhaft fest, dass sie die Rettung übernahmen.

Furgas beendete die fruchtlose Unterhaltung, indem er sie einfach weiter durch den Palast leitete. »Wir suchen Dorsa. Vielleicht haben sie das Kind im Kinderzimmer gelassen.«

Es dauerte nicht lange, und sie standen vor der Tür. Wieder übernahm es die Albin, lautlos ins Zimmer einzudringen und sich umzuschauen, bevor die Zwerge in ihren immer noch lärmenden Rüstungen folgten.

Sie öffnete ihnen die Tür. »Keine Gefahr. Es sei denn, das Kind besitzt Kräfte, von denen ich nichts weiß«, sprach sie.

Furgas eilte an ihr vorbei und schaute in das Bettchen, in dem seine Tochter lag und friedlich schlief. Nichts deutete daraufhin, dass man ihr Gewalt angetan hätte. Tungdil, Boïndil und Boëndal standen stumm daneben und freuten sich mit dem Vater.

Ondori machte sie darauf aufmerksam, dass sich jemand der Tür näherte. Eine Frau kam ins Zimmer. Die Albin packte sie hinterrücks, ihr Dolch setzte sich an die blanke Kehle. »Keinen Laut«, zischte sie eisig.

»Lass sie«, sprang Furgas ihr bei. »Es ist die Amme!« Die Albin gab sie zögernd frei, er eilte auf sie zu und drückte sie. »Rosild! Dir und meiner Tochter ist nichts geschehen. Wie ist es euch beiden ergangen?«

»Magister Furgas«, stotterte sie, die Überraschungen häuften sich denn doch zu sehr für sie. »Ihr...« Sie benötigte einen Augenblick, um sich zu fangen. »Die Fremden kamen in den Palast und haben ihn beschlagnahmt. Ich habe gesagt, ich sei eine Bedienstete und Dorsa meine Tochter, die ich hier unterbringen dürfte, solange die Maga weg sei. Sie haben gesagt, dass ich bleiben und mich um das Essen der Palastgarden kümmern solle.«

Ingrimmsch fasste es kaum. »Sehr gutgläubig, diese Avatare.«

»Gutgläubig? Ich muss jedes Mahl vorkosten, und wenn auch nur einer von ihnen Bauchgrimmen bekommt, werden sie Dorsa und mich töten, haben sie gesagt«, erklärte Rosild. »Ihr werdet verstehen, dass ich in ständiger Angst um mich und das Kind lebe.«

Furgas ergriff ihre Schultern. »Tapfere Rosild. Nicht mehr lange, und wir bringen dich hier raus. Deine Gefangenschaft hat bald ein Ende.«

»Aber zuerst müssen wir wissen, wohin sie die Zwergin gebracht haben.« Tungdil trat neben sie. »Kannst du uns sagen, wo Balyndis ist? Sie ist vor sieben Sonnenumläufen hier angekommen, hat man uns gesagt.«

»Balyndis, heißt die Zwergin so?« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe gehört, dass neue Soldaten angekommen sind, eine Hand voll, die sehr aufgebracht waren und sofort im Palast verschwanden. Ich hielt den Gefangenen für ein Kind oder einen Gnom. Merkwürdig, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin, dass es eine Unterirdische...«

»Zwergin«, verbesserte Boïndil sofort.

»Verzeiht... eine Zwergin sein könnte.« Sie schaute zu Furgas. »Sie haben sie, glaube ich, in den hohen Raum mit der Kuppel gebracht. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Bereite alles für eine rasche Flucht vor«, sagte Tungdil zu ihr. »Sei aber leise und ziehe die Aufmerksamkeit der Wachen nicht auf dich. Wenn wir die Zwergin befreit haben, wird es sehr schnell gehen müssen. Es ist kalt draußen, achte auf warme Kleidung für Dorsa.« Die Amme verlor zwar etwas von ihrer Farbe, dennoch nickte sie. Tungdil blickte in die ernsten Gesichter seiner Begleiter. »So weit, so gut. Vraccas ist mit uns. Jetzt befreien wir Balyndis.«


*

Rodario schaute an den Kerzenleuchtern vorbei und konnte sich an dem hübschen Gesicht seiner Gastgeberin gar nicht satt sehen. Sie trug ein weißes, reich besticktes Kleid, das bis zu den Waden reichte und aus einem seidenähnlichen Stoff geschneidert war.

»Ihr seid so schön, dass selbst das Licht der Kerzen vor Euch verblasst«, sagte er beeindruckt und hob sein Glas mit dunkelrotem Wein. »Auf Euch und Eure Schönheit, die niemals vergehen wird.« Sein Ärmel drohte hochzurutschen und seine Flammenwerferapparatur am Unterarm preiszugeben; mit einer schwungvollen Bewegung verhinderte er es, ohne den Wein zu verschütten. Verflucht.

»Sehr galant, Eure Zunge. Aber wartet zwei Dekaden ab, und meine straffe Haut wird hängen wie ein ausgeleiertes Netz.« Dennoch prostete sie ihm dezent zu, und ihre grünen Augen sagten ihm, dass sie ihn und seine Komplimente schätzte.

Er wiederum genoss es, sein volles Talent zum Einsatz bringen zu dürfen; Bauerntöchter, Wirtsdamen und selbst Stadtfrauen waren mit weit weniger zu beeindrucken. Doch diese Zofe oder was auch immer ihre Aufgabe bei den Avataren sein mochte, verstand sich ausgezeichnet auf Konversation.

Bevor sie unweigerlich, und davon ging er fest aus, eine unvergessliche Liebesnacht begingen, brauchte er die notwendigen Auskünfte, um handeln zu können, während sie, ermattet vom Liebesspiel, später schlafend und glücklich in den Kissen läge.

Er zupfte seine Garderobe zurecht, stand auf, nahm den Dekanter und goss ihr Wein nach. Dabei spritzte ein roter Tropfen in die Höhe und landete auf ihrer nackten Schulter.

»Wie unachtsam von mir.« Einer Eingebung folgend, küsste er ihn sanft weg. Sie ließ ihn gewähren und hielt ihren weißen Nacken hin, der unter ihren langen, braunen Haaren hervorschimmerte. »Oh, noch einer.« Er tat so, als hätte er wieder einen Tropfen entdeckt, und küsste sie ein weiteres Mal. Zufrieden bemerkte er, dass sie eine Gänsehaut bekam. Ich kann es noch!, jubelte er innerlich und begab sich zurück an seinen Platz. Er hatte ihre Glut entfacht, nun wollte er sehen, ob sich das Feuer der Leidenschaft daran entzündete.

Schon wieder drohte der Ärmel zu verrutschen und sein Geheimnis preiszugeben. Es wird allmählich anstrengend. Rodario trug seine Magusausrüstung nur, weil er nicht wusste, wohin damit. Liegenlassen konnte er sie nicht, und hätte er sie eingesteckt, hätte sie seine Taschen ausgebeult. Später am Abend, wenn das Liebesspiel begann, müsste er Lirkim nur genügend ablenken, während er sich die Apparaturen abstreifte.

»Wie schade, dass es nicht mehr waren«, kommentierte Lirkim neckend und widmete sich wieder dem hervorragenden Essen.

»Vielleicht übergieße ich Euch später damit«, blinzelte Rodario. »Woher stammt der Wein?«

»Aus dem Keller der Maga. Das ist das Gute, wenn man etwas erobert hat. Der Sieger erhält alles.«

»Und es macht den Avataren nichts aus, dass Ihr mit einem Mann am Tisch sitzt, der bis vor kurzem in den Diensten von Narmora stand?«

»Stand? Tut Ihr das nicht mehr, Herr Rodario?«

Eiskalt überlief es ihn. Wie hat sie das gemeint? Ahnt sie etwas von meinem doppelten Spiel? »Nun«, räusperte er sich, »ich gehöre zur Stadt, die Eure Herren erobert haben; folglich betrachte ich mich nun als in deren Diensten stehend.«

»Sehr scharfsinnig und auch Scherereien ersparend.« Sie lachte hell. »Nein, sie haben nichts dagegen. Nur wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Menschen wie Ihr haben nichts zu befürchten.«

»Das wird die Angestellten im Palast gefreut haben«, bog er die Kurve zu Dorsas Schicksal. »Hatte Narmora nicht eine eigene Magd?«

Sie nickte, zerteilte das Fleisch und schob sich einen Bissen in den Mund. Erst nachdem sie gekaut und geschluckt hatte, setzte sie zu einer Antwort an. »Ja. Rosild und ihre kleine Tochter sind immer noch hier, sie verrichtet ihre Dienste bestens. Ihr seht, die Avatare haben nichts verändert.«

»Ja. Sie scheinen weniger schrecklich zu sein, als man sich erzählt.« Er verbarg seine Freude darüber, dass die Amme und das Kind wohlauf waren.

»So?« Lirkim legte das Besteck auf den Tellerrand. »Was habt Ihr denn gehört?«

»Dass sie eine Legende sind und alles Land, das sie betreten, in Schutt und...« Er stockte. »Seltsam, denn wenn ich es recht bedenke...«

»Genau, mein lieber Herr Rodario. Porista müsste schon lange in Flammen stehen, wenn es sich so verhielte. Habt Ihr noch mehr Märchen über sie gesammelt? Für ein Theaterstück womöglich?«

»Noch viel mehr.« Er berichtete ihr von dem, was er in der Schlacht vor den Toren Dsôn Balsurs alles gesehen hatte, als wäre es ihm von einem Soldaten erzählt worden, angefangen von den Energien bis zum Glänzen der Rüstungen. Den Tod der Avatare verschwieg er. Lirkim hörte aufmerksam zu, sie schien sich köstlich zu amüsieren. »Und sie sollen eine Zwergin entführt haben, was ich für eine Erfindung halte. Was sollten sie mit einer Unterirdischen?« Er spießte das Fleisch auf und aß es.

»Vieles, was der Soldat Euch berichtete, stimmt«, sagte sie belustigt und nippte am Wein. Schnell prostete er ihr zu und brachte sie dazu, mehr zu trinken. Ihre stark geröteten Wangen verstand er als Zeichen, dass der Alkohol, den er ihr seit einer Stunde einflößte, seine Wirkung tat. »Aber sie verstehen sich auf viele Kniffe, die ein einfacher Verstand nicht eben leicht durchschaut.« Erschrocken legte sie die Hand vor den Mund und machte große Augen. »Was sage ich denn da?«

»Ich werde Euch nicht bei den Avataren melden«, lachte er und täuschte Gleichgültigkeit vor. »Götter können sicherlich manches Trugbild erschaffen, wie das einer Zwergin, auch wenn ich den Sinn nicht verstünde.« Er stand auf und goss nach, sie wehrte sich halbherzig dagegen.

»Kein Trugbild. Sie ist echt. Sie haben die Untergründige mitgenommen, um ihr ein Geheimnis zu entlocken.« Sie kicherte mädchenhaft. »Sie sind zäh, diese kleinen Felspuler.«

»Und nun erfahren sie, wie man Blei zu Gold macht? Sind Avatare auf derart Irdisches angewiesen?«, lachte er, als machte er einen Scherz.

»Ach, was sollten sie mit Gold?« Klirrend stieß sie ihr Glas gegen das von Rodario. »Sie kennt eine Rezeptur, um ein besonderes Metall... Was sollʹs. Sie brauchen es ohnehin bald nicht mehr.« Ihre Lider wurden schwer, ihre freie Hand tastete nach seinem Oberschenkel. »Sagt, Herr Rodario, wollten wir beide nicht...«

»Sicher, werden wir auch«, sagte er rasch. »Ich wunderte mich eben noch über das Verhör, das wohl doch nicht mehr so wichtig ist.«

»Ist es auch nicht.« Sie stand auf und schlang die Arme um seinen Hals. »Sie haben bald so viel Macht, dass sie sich alles nehmen, was sie möchten, und selbst die Götter herausfordern können. Ein jeder von ihnen wird über ein riesiges Reich gebieten und sich zu einem Herrscher aufschwingen, wie es noch keinen vor ihnen gab. Das Wort Kaiser vermag ihre Macht nicht zu fassen. Und das Geborgene Land soll...«, sie biss sich auf die Lippen, eine sehr anzügliche Geste, wie der Schauspieler fand, »jetzt nicht mehr unsere Sorge sein.«

Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, der Zofe nach Strich und Faden zu beweisen, wie sehr er ein Mann war, doch die Neuigkeiten aus ihrem Mund wirkten sich auf seine Lust aus wie ein Eimer Eis in seiner Unterwäsche oder das Erscheinen eines gehörnten Ehemanns im Schlafzimmer: Sie verging schlagartig.

In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen.

Ich hätte nicht an den Ehemann denken sollen. Rodario erkannte an dem Geräusch, das er schon oft in seinem Leben vernommen hatte, dass der Besucher wütend war, wie man es von einem betrogenen Gatten erwarten durfte.

Herein stürmte ein hellhaariger Mann um die dreißig Umläufe, er trug eine weiße Robe und einen unterarmlangen Stab, dessen Ende gekrümmt war. Mit ihm betraten drei Gerüstete den Raum und beendeten die Zweisamkeit von Rodario und Lirkim. Einige der Gesichter hatte Rodario vorhin auf dem Gang gesehen.

»Bist du verheiratet, Lirkim?«, flüsterte er ihr zu, sie schüttelte den Kopf und war genauso erstaunt über die Störung wie er. »Dann haben die Avatare wohl doch etwas dagegen, dass wir...«

»Das ist er, Fascou! Ich bin mir sicher«, rief einer der Soldaten und deutete mit seinem Schwert auf Rodario.

»Lirkim, geh weg von ihm«, befahl der Mann in der Robe und sah dabei sehr aufmerksam aus.

Stattdessen stellte sie sich vor ihn. »Nein, Fascou, du wirst ihm nichts tun. Verschwinde und vergnüge dich mit der Untergründigen oder pfusche zusammen mit den anderen noch mehr an der Quelle herum, aber wage es nicht, ihn anzufassen. Er gehört mir! Ich möchte auch meinen Spaß.«

»Du bist angetrunken, Lirkim«, redete er beschwichtigend auf sie ein. »Du beschützt einen unserer ärgsten Widersacher. Es ist Rodario...«

»Der Unglaubliche Rodario«, korrigierte sie ihn weinstörrisch. »Ich weiß, er betreibt das Curiosum in der...«

Der Mann machte einen Schritt nach vorn und hob den Arm, die Finger waren anbietend ausgestreckt. »Nein, er heißt Rodario der Unglaubliche und ist der Famulus von Narmora.«

Der Soldat nickte. »Ich habe auf der Flanke gekämpft, die er verteidigt hat. Seine Hände spieen Feuer, und wo seine Hand hindeutete, schmolzen meine Männer wie Butter in der Sonne.«

Rodario konnte es kaum glauben. Wie sehr hatte er sich stets gewünscht, berühmt zu sein, weit über die Grenzen seiner Wirkungsstätte hinaus, und jetzt, da sich sein Traum erfüllte, brachte er ihn an den Rand des Todes.

Gut, spiele ich ihnen eben den Famulus von Narmora. Er streckte sich, eine Hand richtete sich auf den Mann in der Robe, mit der anderen packte er die Kehle der überraschten Lirkim, danach gab er sein schurkischstes Gelächter zum Besten. »Ja, ich bin ein Magus«, rief er bühnengerecht. »Bleibt, wo ihr seid! Ich werde nicht zögern, der Zofe ihren...«

Schneller als eine Kerze im Sturm erlosch, entstand unmittelbar vor ihm ein grelles Weiß, das ihn blendete und ihn nichts als Helligkeit sehen ließ. Lirkim hatte sich in eine gleißende Sonne verwandelt, und die Hitze folgte dem Licht unmittelbar nach.


*

Furgas leitete die Gruppe sicher durch die dunklen Gänge des Palasts. Schließlich hielten sie vor den Türen der Kuppelhalle. Sie standen weit offen, die Avatare fürchteten wohl nicht, dass die Zwergin entkam.

»Es könnte auch eine Falle sein«, warnte Boëndal, und schon stahl sich Ondori hinein, um die Lage zu sondieren, und kehrte gleich darauf zurück.

»Nichts. Außer einer angeketteten Unterirdischen«, meinte sie lakonisch und ließ den Zwergen den Vortritt.

Sie erkannten sofort, warum niemand vor der Tür Wache stand.

Balyndis lag mitten im Raum auf dem Boden, die Unterarme und -Schenkel waren ihr gebrochen worden, die Knochen standen teilweise aus dem Fleisch heraus, getrocknetes Blut und Eiter klebten auf ihrer Haut. Ihr freier Oberkörper war übersät mit Brandmalen und Schnitten, die ein ungeordnetes Muster ergaben, ihre langen, braunen Haare lagen büschelweise ausgerissen rund um sie verteilt. In den Marmor geschlagene Eisenschellen an den Hand- und Fußgelenken verbanden sie fest mit dem Boden der Halle.

Tungdil stiegen bei dem furchtbaren Anblick die Tränen in die Augen. Was haben sie dir angetan? Sofort kniete er sich neben sie, fühlte ihre heiße Stirn. Wundfieber. Er hob die Axt und sprengte die Schellen. Sie bekam weder die Schläge mit noch den Lärm, der dabei entstand; ihre Lider blieben geschlossen.

»Niemand darf eine Zwergin so behandeln«, knurrte Ingrimmsch, sein Blick wurde starr und verkündete den nahenden Kampfrausch, der dieses Mal durch den Anblick der misshandelten Schmiedin ausgelöst wurde. »Vraccas, sende mir einen von diesen falschen Zauberern, und ich reiße ihn mit meinen Händen auseinander wie einen Laib Brot!«

Boëndal reichte Tungdil seinen Mantel, um die Blöße der Zwergin damit zu bedecken. »Ich hoffe, wir haben später nur die äußeren Wunden zu versorgen«, sagte er leise.

»Sie haben ihren Willen wohl noch nicht gebrochen, sonst wäre sie tot.« Tungdil legte sie sich über die Schulter. »Also haben sie ihrem Verstand auch nicht schaden können.«

Für ihn stand damit endgültig fest, dass die selbsternannten Abkömmlinge eines zweifelhaften Gottes keinerlei Gnade verdienten, auch wenn man ihnen die Ausrottung des Bösen durchaus zugute halten konnte. Doch nichts rechtfertigte ihr anmaßendes, grausames Verhalten gegenüber denen, die ihnen im Weg standen.

Er erhob sich auf und erstarrte. An der Wand der Ostseite des Raumes wartete sein Ziehvater Lot-Ionan!

»Ist es möglich?«, flüsterte er. Vorsichtig ging er auf den Mann zu, der ihn bei sich aufgenommen und groß gezogen hatte, bis er seinen Irrtum erkannte. Vor ihm erhob sich das, was Nôdʹonn aus seinem Mentor gemacht hatte: ein Ding, ein steinernes Abbild des geliebten Menschen. Der Zauber des Verräters hatte ihn in Fels verwandelt.

Unwiederbringlich, entsann er sich der Worte Andôkais. Er schluchzte, weil ihm der Anblick in der Seele wehtat und ihn an früher, die schönen Zyklen mit Lot-Ionan und der Magd Frala erinnerte. Tungdil berührte die Statue und wandte sich um. Es blieb keine Zeit für Trauer, nun war die Zeit des Hasses angebrochen.

Sie liefen zurück und stießen zur Amme, die sich ängstlich zur Flucht bereithielt. Von ihr bekam Balyndis eine dickere Decke, damit sie in der winterlichen Kälte nicht erfror. Furgas übernahm es, die ohnmächtige Zwergin zu tragen. Noch immer war ihr Eindringen in den Palast unbemerkt geblieben.

Ondori setzte sich an die Spitze, dahinter folgten die Zwerge, danach der beladene Furgas und die Amme Rosild mit Dorsa. Langsam, aber beständig kamen sie vorwärts, verließen das Gebäude durch einen der hinteren Ausgänge in den Garten und bewegten sich auf die Stelle zu, an welcher der verborgene Durchlass lag.


*

Das verdammte Miststück ist eine Avatara! Rodario handelte sehr ungalant. Er versetzte der aufgehenden Sonne, denn mehr als Helligkeit sah er im Augenblick nicht mehr, einen Tritt dahin, wo er den Hintern vermutete, sodass sie nach vorn gegen den Tisch geschleudert wurde. Es rumpelte, und das Gestirn erlosch.

Danach richtete er aufs Geratewohl seine beiden Flammenwerfer gegen die Soldaten und den anderen Avatar. Dabei schrie er aus dem Stegreif ersonnene Formeln, und als er die überraschten Schreie hörte, schleuderte er noch zwei der Glasröhrchen mit Säure hinterher. Anschließend hechtete er unter den Tisch.

Hatte er damit gerechnet, sogleich zu einem Aschehäufchen zu werden, stellte er nun fest, dass nichts dergleichen geschah. Zwar stank es verbrannt um ihn herum, doch das ging nicht von ihm aus.

Sobald er wieder etwas von seiner Umgebung sehen konnte, erkannte er, dass sich die Soldaten kokelnd am Boden wälzten und der Mann in der Robe tot zwischen ihnen lag. Eines der Gläschen hatte ihn am Kopf getroffen, die Hälfte seines Schädels und sein Gesicht waren von der Säure verschlungen worden.

»Ha!« Ermutigt von dem unerwarteten Erfolg, kroch er unter seinem Schutz hervor. »Das habt ihr davon, dass ihr euch mit Rodario dem Unglaublichen angelegt habt!« Lirkim lag mit dem Oberkörper auf der Tischplatte, begrub ihren Teller und zwei Anrichteplatten unter sich und war mit der Schläfe so hart gegen das Holz geprallt, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. »Und nimm auch du zur Kenntnis: Kein Weib treibt Spielchen mit Rodario.«

Ich habe eben zwei Avatare besiegt! Er stemmte die Arme in die Hüften und lachte, wie es eine seiner Bühnefiguren sicherlich auch getan hätte. Und dich nehme ich mit. Du wirst uns erzählen, was du und deine Freunde mit der magischen Quelle beabsichtigen.

Er packte die Frau im Nacken und zog sie zurück, riss ihr sämtlichen Schmuck von Hals und Fingern, um sie ihrer magischen Energie zu berauben und ihn sich selbst einzustecken. Dann flößte er ihr nochmals einen ordentlichen Schluck Wein ein und zertrümmerte vorsichtshalber den leeren Dekanter auf ihrem Kopf, um sicherzugehen, dass sie nicht erwachte. Schlag und Alkohol sollten gemeinschaftlich dafür Sorge tragen.

Er warf sie sich eben über die Schulter, als er Getrappel vor der Tür vernahm. Die lauten und vor allem unüberhörbaren Geräusche des Kampfes hatten andere Wächter alarmiert. Die Freude über den Sieg erlosch, und auch sein Draufgängertum zerfloss wie Schminke in der Hitze eines vollbesetzten Theaters.

Seine Füße trugen ihn von selbst zum Fenster, er schaute hinab in den Garten und entdeckte mehrere Gestalten. Kleine Gestalten. Er stieß die Flügel auf. »He, Freunde! Ich habe eine Avatara gestohlen!« Er deutete auf ihren Hintern. »Aber ihre Mitgötter sind mir auf den Fersen. Wärt ihr wohl so gut, und...«

»Komm runter, Schwätzer!«, rief Boïndil zurück und gestikulierte wild. »Wir kennen einen Ausgang!«

»Es ist üblicherweise nicht meine Art, Frauen derart zu behandeln, verzeiht mir«, sagte er entschuldigend zu dem Hintern. Ohne länger zu zögern, warf er Lirkim über die Brüstung. Sie fiel nach kurzem Sturz in den Schnee, er hüpfte hinterher und landete knapp neben ihr. Schnell vergewisserte er sich, dass ihr Herz noch schlug, dann wuchtete er sich die Avatara auf die Schulter und lief hinter den Zwergen, Furgas und Ondori her, die auf magische Weise eine Öffnung in der ansonsten massiven Mauer des Palasts schufen.

Sie verließen den Garten und rannten die leeren Gassen Poristas entlang. Das dichter werdende Schneetreiben deckte ihre Flucht und machte es unmöglich, sie auf eine Entfernung von mehr als fünf Schritten zu erkennen.

»Welch glückliche Fügung«, keuchte der Schauspieler unter seiner Last und sah, dass seine Begleiter ihren Teil der Mission erfüllt hatten. »Es scheint, als wären wir wieder die Lieblinge der Götter. Balyndis, das Kind und eine Avatara. Erfolgreicher kann man nicht sein.«

»Was faselst du die ganze Zeit von einer Avatara?«, schnaufte Boïndil, bei dem sich das Gewicht der schweren Rüstung ebenso auswirkte wie bei Boëndal und Tungdil. Sie verloren weiter an Geschwindigkeit, was dem Schauspieler nicht unrecht war. Auch für ihn bedeutete das Schleppen eine ungewohnte Herausforderung. Der kräftige Furgas dagegen tat sich leichter.

»Ihr Name ist Lirkim. Sie tat zuerst so, als wäre sie eine Zofe im Gefolge der Avatare. Besser gesagt, ich ging davon aus. Aber beim Essen kam ihr Freund ungebeten hinzu, und ich erkannte, was sie in Wirklichkeit ist«, hechelte Rodario.

»Sicher. Der Schwätzer fängt eine Avatara.« Ingrimmschs Atem ging pfeifend.

Die Gefangene murmelte undeutliche Worte, es klang nach Avatar und Eoîl. Ondori lauschte auf die Töne und versetzte ihr rasch einen harten Faustschlag ins Gesicht, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ein Zauber«, erklärte sie. »Ich wollte nicht, dass sie uns Schwierigkeiten macht.«

»Hört auf zu reden, spart euch die Luft zum Rennen«, zischte Tungdil und kämpfte mit zunehmendem Seitenstechen.

Sie erreichten den Platz, wo Ertil sie hinter einem Stapel leerer Fässer verborgen erwartete. Er öffnete ihnen den Eingang in den Kanal, als Ondori herum wirbelte und in die hektisch tanzenden Flocken starrte.

Der Schnee um sie herum wandelte sich, wurde zuerst zu Eisklümpchen, dann zu Wassertropfen, die auf ihre Rüstungen prasselten.

»Rein«, befahl sie und legte einen Pfeil auf die Sehne. Furgas brachte sich und Balyndis in Sicherheit, dann folgten die Amme und Rodario mit seiner Gefangenen.

Durch den Regen flog eine golden leuchtende Kugel heran, wurde größer und hielt genau auf Boïndil zu, der als Letzter in der Reihe stand.

Er hatte eben noch Zeit, das Visier des Helmes herunterzuklappen, dann traf sie ihn auf der Brust und verwandelte sich in einen Feuerball, der ihn vollkommen umfing. Sowohl Tungdil als auch Boëndal spürten die immense Hitze, und Ondori schrie auf.

Als die magischen Flammen knisternd erloschen, stand Ingrimmsch immer noch, kleine Lohen umzüngelten ihn und erstarben dann. Die umgearbeitete Rüstung hatte den heraufbeschworenen Gewalten entgegengewirkt.

»Hier sind sie«, schrie ein Mann in der Dunkelheit. Im nächsten Moment wurde er zu einem gleißenden Wesen aus Licht. »Hierher!«

»Ho, hat dein Hokuspokus nicht gewirkt, Betrüger? Ich bin gespannt, welche Farbe dein Blut hat«, grollte Boïndil und stürmte auf den Avatar zu; sein Bruder hob den Krähenschnabel und rannte ebenfalls los.

»Für Balyndis!«, rief Tungdil laut und stürzte sich in den Kampf.

Der selbst erkorene Avatar schleuderte ihnen einen Zauber nach dem anderen entgegen, um sie daran zu hindern, bis zu ihm vorzudringen, doch gegen die Zähigkeit und den ehernen Willen von drei wütenden, hasserfüllten Zwergen gab es kein Mittel.

Tungdil fühlte sich wie ein Stück Erz in einem Hochofen. Die Panzerung hielt ihm die zerstörerische Wirkung vom Leib, aber sie erhitzte sich dabei stark und würde ihn rösten, gelänge es ihm nicht rechtzeitig, den Avatar zu vernichten.

Die Waffen der Zwerge waren von den heißen Flammen rot glühend geworden, die hölzernen, angesengten Stiele drohten in Brand zu geraten, aber bevor die Beile, der Krähenschnabel und die Axt unbrauchbar wurden, fanden sie ihr Ziel.

Auch wenn sie den Mann wegen des Lichts nicht richtig erkannten, die Umrisse genügten ihnen vollkommen. Nach den ersten beiden Hieben Ingrimmschs erlosch der Schimmer, und vor dem Trio taumelte ein am Oberschenkel verletzter Mann von etwas mehr als sechzig Sonnenumläufen rückwärts, ein Kurzschwert zur Abwehr vor sich haltend.

Es nützte ihm nichts.

Das robenähnliche weiße Gewand schützte ihn nicht vor den heißen Klingen und dem langen, geschwungenen Spieß des Krähenschnabels. Von drei Seiten hackten sie auf ihn ein, bis er verstümmelt und wimmernd in der Gosse verblutete. Zur Sicherheit zertrümmerte ihm Boëndal den Schädel, dann liefen sie in den Kanal und schlossen ihn.

»Wieder einer weniger«, sagte Boïndil grimmig, als er die neugierigen Gesichter der wartenden Menschen sah. »Aber es wurde verflucht heiß in meinem Kleid.«

»Und wo habt ihr Ondori gelassen?«, erkundigte sich Rodario, der Lirkim auf seiner Schulter zurechtrückte und neben Tungdil herging.

»Die Albin!« Ihre Abwesenheit war ihnen erst aufgefallen, nachdem das Gefecht gegen den Magus geschlagen war. »Ich habe sie schreien hören...«

»Sie wird in der Glutwolke verbrannt sein«, schätzte Ingrimmsch und griente boshaft. »Es ist nicht schade um das Schwarzauge. Und wir müssen uns nicht den Kopf zerbrechen, wie wir sie loswerden.« Er stapfte den Kanal entlang und sicherte die Spitze. »Dabei hätte ich sie so gern erschlagen.«

Niemand sagte ein Wort des Bedauerns über den Tod Ondoris, allerdings war sich auch keiner wirklich über ihr Ableben sicher.


*

Sie schafften das nächste Wunder und erreichten das Heer aus Dritten, Freien, Ersten und Albae, deren Vorhut sich bis auf zehn Meilen an Porista angenähert hatte.

Tungdil brachte Balyndis sofort zu Narmora, welche die Zwergin mit ihren Kräften von den schlimmsten Schmerzen und Wunden befreite und den Rest der Heilung dem schier unzerstörbaren Zwerginnenkörper überließ.

Während der Prozedur vernahm Narmora den Schrei eines Kindes, und bei aller Härte, die sie als Maga bewies, schlug dennoch das Herz einer sorgenden Mutter in ihr. Bald lagen sich Furgas, Narmora und Dorsa in den Armen; die kleine Familie war gerettet und überglücklich. Gerührt standen die Zwerge um sie herum, auch Ingrimmsch wischte sich eine Träne von der behaarten Wange.

Tungdil wich nicht mehr von Balyndisʹ Lager, versorgte sie mit frischem Wasser, wusch ihr den Ruß und das getrocknete Blut vom Leib, behandelte die Brandmale mit heilenden Salben und wartete sehnlichst darauf, dass sie die Augen öffnete.

»Gelehrter, kommst du?«, fragte ihn Boëndal gegen Abend. »Narmora möchte, dass du beim Verhör der Avatara dabei bist. Je mehr Fragen uns einfallen, desto besser.«

Widerwillig trennte er sich von der Zwergin, berührte ihre Hand und folgte seinem Freund.

»Mach dir keine falschen Hoffnungen...«, fühlte sich der Zwerg verpflichtet anzumerken. »Glaïmbar wird dir auf ewig dankbar sein, dass du seine Gemahlin gerettet hast. Aber sie wird...«

»Ich weiß«, lächelte Tungdil wehmütig. »Ich weiß, lieber Freund. Sie wird ihn niemals verlassen. Aber ich weiß, dass ich sie immer lieben werde, so wie sie mich liebt. Es ist mir schon lange klar gewesen, dass sie mein Herz trotz Myr besaß, und so wird es bleiben. Ich halte es wie Boïndil und lasse die Finger von Frauen. Jeder Bund mit einer Zwergin wäre eine Beleidigung für ihre Gefühle und ein Verrat an Balyndis. Ich bin dankbar, dass ich es war, der sie retten durfte, und ich bin noch dankbarer, wenn es mir gelingt, sie wieder als Freundin bezeichnen zu dürfen. Ich bitte Vraccas, dass sie mir mein Verhalten verzeiht.«

Boëndal nickte und führte ihn zu der Köhlerhütte, in der sie Lirkim eingesperrt hatten. Narmora, Ingrimmsch und Rodario, der einen Eimer in der Hand hielt, waren bereits da.

»Fangen wir an.« Der Mime leerte den Eimer über Lirkims Rücken, die sie mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gebunden hatten. Eiskaltes Wasser ergoss sich über sie, und sie riss auf der Stelle die Augen auf. Rodario ging neben ihr in die Hocke. »Sei gegrüßt. Wir konnten unsere Unterhaltung in Porista nicht fortsetzen, daher habe ich dich mit zu meinen Freunden genommen. Sollte es auch nur das kleinste Anzeichen geben, dass du zauberst, wirst du sterben. Hast du verstanden?«

Die Frau versuchte, sich umzuschauen, blickte aber nur auf Stiefel, Schienbeine und die Spitzen von Waffen, die auf ihren Kopf gerichtet waren. »Mein rechter Arm tut höllisch weh«, sagte sie erstickt.

»Ja, ich glaube, er ist gebrochen, als ich dich... als du aus dem Fenster gefallen bist.« Rodario gab sich alle Mühe, nicht nett zu klingen und schon gar kein Mitleid zu zeigen, auch wenn es ihm in Anbetracht ihrer Schönheit sehr schwer fiel, in ihr ein Wesen zu sehen, dass sicherlich den Tod tausender verschuldet hatte. »Hast du meine Worte von eben verstanden?«

»Ich werde nicht zaubern«, versprach sie, und ihre Stimme zitterte ebenso sehr wie ihr Körper. Die Kälte, durch die sie getragen worden war, und das eisige Wasser machten ihr zu schaffen.

»Was habt ihr mit der magischen Quelle vor?«, begann er das Verhör. Schon wollte er eine Decke über sie legen, doch Tungdil nahm sie ihm sofort aus den Händen, und seine braunen Augen blickten unerbittlich.

»Der Eoîl hat die Quelle aufgespürt, als wir unterwegs nach Dsôn Balsur über die Ausläufer eines Magiefeldes zogen, und einen Weg gefunden, ihre Energien für uns zu nutzen«, erklärte sie hustend. »Ich weiß nicht genau, was er vorhatte, aber er sagte uns, dass wir kurz davor stünden, die höchste Macht zu erlangen.«

»Wer und wie viele seid ihr wirklich?«, wollte Narmora wissen. »Ihr seid Menschen, das ist sicher. Sprich, denn jedes Stocken bringt dich dem Tod näher.«

Lirkim nickte schwach. »Wir sind sieben Hexer, drei Frauen und vier Männer, und der Eoîl. Wir haben uns vor etwa vierhundert Sonnenzyklen zusammengetan und unsere Kräfte vereint, um Macht zu erlangen, die uns allen Widersachern überlegen sein lässt. Die Legende von den Avataren und unser Auftreten halfen uns, noch mehr Schrecken zu verbreiten. Ihr seid die Ersten, denen es gelingt, uns in Bedrängnis zu bringen.«

Boïndil trat gegen ihren Fuß. »Sag, was ein Eoîl ist.«

»Ein Eoîl ist ein... Eoîl. Er ist nicht leicht zu beschreiben und er ist der Einzige von uns, der wahrlich göttlich ist.«

»Göttlich? Dass ich nicht lache. Verschone uns mit deinen Märchen, er ist ein Hochstapler, ein Augenblender wie du«, höhnte der Zwerg.

Lirkim blieb standhaft. »Er ist ein Eoîl. Dort, von woher ich komme, gibt es sehr wenige. Sie sind mächtige Beschwörer, und jede Kreatur zittert vor ihnen. Ihr werdet es sehen, wenn ihr gegen Porista zieht, wie ich vermute. Er wird euch vernichten. Seine Macht ist es, welche die Landstriche in Wüsten verwandelt und Meere zu Salzseen macht, nicht unsere! Wir sind...«

»Und ihr schöpft eure Kraft aus dem Bösen, das ihr vernichtet?«, hakte die Maga ein.

»Ja. Der Eoîl hat uns seine Formel beigebracht, welche die Niedertracht, die in den Scheusalen vorhanden ist, in Energie umwandelt. Diese nutzen wir, um unsere Sprüche zu sprechen. Als wir hörten, dass das Geborgene Land über eine finstere Quelle...«

»Ihr wusstet davon? Ihr seid nicht wegen Nôdʹonn zu uns gekommen?«

»Der Eoîl wusste es. Er hat auch gesagt, dass der Dämon, der Nôdʹonn leitete, nicht vollkommen bezwungen sei.«

»Nun habe ich aber genug von diesem Eoîl-Gefasel!« Schon zückte Boïndil ein Beil, aber Boëndal hielt ihn zurück.

»Ihr seid in Porista, weil der Eoîl etwas mit der Quelle zu tun beabsichtigt, aber du weißt nicht, was er vorhat?«, fasste Tungdil zusammen. Sie nickte. »Was wolltet ihr von der Zwergin?«

»Sie haben die Untergründige an einen Baum gefesselt gefunden und sich gewundert, was das zu bedeuten habe«, gab sie zur Auskunft. Ihre Zähne schlugen wegen der Kälte rasch aufeinander und machten ihre Sätze abgehackt. »Sie haben ihr vorgegaukelt, sie träfe auf ihresgleichen, die sie befreien wollten, und so erzählte sie, dass sie die Formel für die Rüstung im Kopf habe. Als die Schlacht für uns verheerend endete und Timshar und Sʹliinsh von einem Aneoîl zerrissen wurden, dachten wir uns, dass es nur diese besondere Rüstung sein konnte, die sie meinte. Wir wollten die Formel in unseren Besitz bringen.«

»Hast du sie so zugerichtet?«

»Nein. Es war der Eoîl. Er hasst die Untergründigen aus tiefstem Herzen.«

Offenbar kannte Lirkim die Kreaturen, die aus Djerůns Art stammten, und es schien eine Verwandtschaft zwischen ihnen und dem Eoîl zu existieren. Tungdil fragte nach.

»Sie haben nichts miteinander gemein, außer dass sie die Kreaturen des Bösen töten, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen. Der Aneoîl tut es, weil er die Schwachen unter ihnen ausrottet, der Eoîl tut es, weil er alles Böse vernichtet.« Sie drehte den Kopf und schielte zu Narmora. »Es war seine Idee, einen Aneoîl zu deiner Meisterin zu senden. Er wusste, dass der Anschlag gelingen würde.«

Narmora lächelte böse. »Es mag sein, dass er dir sehr mächtig erscheint, dein Eoîl, aber er hat vieles nicht bedacht.«

»Ja! Mich beispielsweise«, sagte Rodario sofort.

Tungdil freute sich über die Neuigkeiten, die ihre Gefangene ausplauderte. Er nahm nicht an, dass sie es wagte zu lügen, dafür wirkte sie zu eingeschüchtert von der Düsternis der Köhlerhütte und dem ganzen Drumherum. Vier Hexer haben wir getötet, eine Hexe liegt gefangen vor mir, blieben zwei herkömmliche Zauberer und ein Eoîl, was immer es ist. Zuversicht breitete sich in ihm aus. Wenn alles vorüber ist, werde ich sie zum Jenseitigen Land befragen. Sie weiß sicherlich mehr über die Untergründigen. Jetzt ist nicht die Stunde dazu.

Narmora dachte nach. »Wie weit sind die Vorbereitungen des Eoîl gediehen?«

»Er sagte uns, dass wir uns nicht mehr lange zu gedulden brauchten. Gestern rechnete er mit neun bis zehn Sonnen«, hörten sie alle die ernüchternde Antwort.

»Er wird sich beeilen, da er davon ausgeht, dass wir sie verhören«, sagte Tungdil ernst. »Wir brauchen rasch einen Plan zur Eroberung von Porista, oder dem Geborgenen Land steht die schwärzeste Stunde bevor.«

Boëndal blickte ihn an. »Wie kommst du darauf, Gelehrter?«

»Erinnert ihr euch an das Beben unter unseren Füßen?«, antwortete er.

Narmora machte ein besorgtes Gesicht. »Ich spüre es, seit wir uns auf dem Land bewegen, das von den Magiefeldern durchdrungen ist. Sie sind kaum mehr vorhanden, so als versiegte die Quelle.«

»Oder jemand leitet die Quelle um«, gab Tungdil zu bedenken. »Was immer der Eoîl unternimmt, es muss enden, sonst bringt er das Gefüge des Geborgenen Landes durcheinander und reißt es womöglich ins Verderben.« Er schaute in die Runde. »Wir treffen uns in meinem Zelt, sobald die Sonne aufgegangen ist. Wir haben eine Stadt einzunehmen.« Er wandte sich zum Gehen.

»Was geschieht mit ihr?« Ingrimmsch deutete auf die Liegende, deren Lippen sich blau verfärbt hatten. »Sie wird zaubern und ist zu gefährlich...«

»Es ist meine Gefangene, sie kann nicht mehr zaubern. Ich habe ihr den Schmuck abgenommen, in dem ihre Kräfte liegen«, erhob Rodario die Stimme. »Ich bestimme, was wir mit ihr tun oder lassen.«

Narmora schüttelte den Kopf. »Nein, Unglaublicher. Die Sicherheit aller wiegt schwerer. Sie gehört zu denen, die sich selbst als Avatare bezeichnen, und sie haben mir keinen Grund gegeben, Schonung zu gewähren. Sie sind zu gefährlich.«

»Ich flehe euch an, mir mein Leben zu schenken«, bibberte Lirkim, der es kaum mehr gelang, ein Wort herauszubringen. »Selbst wenn ich wollte, könnte ich euch nicht mit Zaubersprüchen gefährlich werden.« Nun schauten sie alle zur Gefangenen. »Rodario sprach die Wahrheit. Ohne meine Amulette bin ich harmlos«, gestand sie.

»Das würde ich auch behaupten«, lachte Boïndil.

»Bitte, ich will nicht, dass wir sie einfach umbringen«, richtete sich Rodario eindringlich an die Maga. »Es ist nicht rechtens.«

»Ich bin ebenfalls dafür, dass wir sie am Leben lassen, zumindest bis sich Porista in unserer Hand befindet.« Tungdil schaute verächtlich auf sie herab. »Wir werden sehen, ob sie ihren Freunden etwas bedeutet und ob sie uns im Kampf gegen sie nützlich sein wird.« Außerdem sträubte sich alles in ihm dagegen, eine Wehrlose zu töten.

Narmora hob die Hand und jagte einen prasselnden Blitz in den Rücken Lirkims.

Die Frau schrie, bäumte sich auf und riss an den Fesseln, ohne sich befreien zu können. Der Einschlag hatte ihr Gewand zerfetzt und eine Brandblase von der Größe einer Männerhand hinterlassen. Keuchend entspannte sich die einstige und entzauberte Avatara wieder, als der schrecklichste Schmerz sie verließ.

»Ja, es scheint, als hätte sie ihre Kräfte verloren«, sagte die Maga leise, bückte sich und riss ihr eine Haarsträhne aus. »Damit, Lirkim, kann ich einen Zauber weben, der dich überall findet. Er wird dich töten, ganz egal ob im Geborgenen Land oder sonst wo. Benimm dich anständig, und du wirst verschont bleiben.« Sie verließ die Hütte, die Zwerge folgten ihr, und vier der Krieger der Dritten blieben als Wächter zurück.

Rodario nahm eine Hand voll Schnee von draußen und legte ihn auf die Blase, unter der sich das Wasser sammelte. Lirkim zuckte zusammen.

»Danke«, wisperte sie und schluchzte. »Danke, dass du mein Leben gerettet hast.«

Er löste ihr die Fesseln, half ihr auf und brachte sie zu einem Lager. Sie legte die nassen Kleider ab und schlüpfte unter die groben Decken.

»Was wolltest du von mir, Lirkim? Damals in Porista«, fragte er sie leise.

»War das nicht offensichtlich?«, gab sie zurück. »Du bist ein anziehender Mann, ich war auf der Suche nach Unterhaltung außerhalb des Palasts. Ich begegnete dir, den Rest hätte der Abend gebracht.«

Ja, fürwahr, ein abenteuerlicher Abend. Ehe sein Mitleid für die Frau noch größer wurde, rief er sich die Bilder der Schlacht vor Dsôn Balsur ins Gedächtnis, und er sagte sich immer wieder, dass ihre Freunde und sie, mochte sie noch so zart und gebrechlich aussehen, furchtbare Dinge getan hatten. Vierhundert Sonnenzyklen, und dennoch sieht sie jung und frisch aus... »Du hast von dem Dämon gesprochen, Lirkim. Das Wesen, das von Nudin Besitz ergriffen hatte und ihn zum Verräter werden ließ.« Sie nickte. »Wie kann er überlebt haben?«

Sie hob die Schultern, und er kannte ihre Antwort, ehe sie über die blauen Lippen kam: »Der Eoîl weiß es. Er kennt und erkennt ihn.«

Rodario dachte, ein Geräusch vor der Eingangstür gehört zu haben, und sah einen Schatten am Fenster der Hütte vorbeilaufen. Jemand hatte ihre knappe Unterredung belauscht.

Er stand auf, rannte zur Tür, erspähte aber durch das dichte Schneetreiben nichts als einen Schemen, der sich im Gestöber verlor. Es gab keine Fußabdrücke vor der Tür, die in die Richtung wiesen, in die der Unbekannte gelaufen war.

Narmora? Sollte sie es gewesen sein? Er kehrte in die Hütte zurück. Was hat das nun wieder zu bedeuten?

VIII




Das Geborgene Land, im Nordosten des

Königreichs Urgon, vor den Toren

des Reichs der Vierten im Braunen Gebirge,

6234./6235. Sonnenzyklus, Winter


Verstimmt stapfte Hauptmann Vallasin durch den stetig höher werdenden Schnee und hielt genau auf die Stellung des vordersten Postens zu. Er raffte den wärmenden Wollmantel enger um seine Lederrüstung. »Was ist?«, rief er schon von weitem, um sich einen sinnlosen Weg zu ersparen. »Neues?«

»Nein, Hauptmann«, brüllte der Soldat zurück. »Das Tor ist nicht zu bewegen.«

Sofort blieb Vallasin stehen, hob die Hand grüßend und kehrte noch schlechter gelaunt in sein Zelt zurück, wo ihn ein Feuer und ein heißer Tee erwarteten.

Das Ritual wiederholte sich seit mehr als vierzig Sonnenumläufen, ohne dass er etwas Neues zu hören bekam. Er ging zu dem Posten, der ihm sagte, dass sich nichts tue.

Er betrat seine Unterkunft, hängte den Mantel an einen Haken am Mittelpfosten des Zeltes und warf sich in den Feldstuhl. Sein Hilfsoffizier brachte ihm den Becher mit dem dampfenden Getränk. Trotz des Feuers herrschten wenig erfreuliche Temperaturen zwischen den dünnen Leinenwänden; der Winterwind blies unbarmherzig durch jede noch so kleine Ritze.

»Haben die...« Der Hilfsoffizier brach mitten im Satz ab, er sah am Gesicht des Hauptmanns, dass es nichts gab, worüber man sich freuen durfte.

»Es kann nicht angehen!«, brach es aus Vallasin zornig heraus. »Wir stehen mit zehntausend Mann vor den Toren eines unbewachten Zwergenreiches und schaffen es nicht, die verfluchte Tür aufzusprengen.«

Er trank von seinem Tee und schaute auf den Berg von Anweisungen, die ihm König Belletain inzwischen hatte zukommen lassen. Beinahe täglich erkundigte sich der Herrscher Urgons nach dem Stand der Mission, und jedes Mal musste ihm der Hauptmann einen Boten senden, der mit enttäuschender Nachricht an den Hof zurückkehrte.

Auf Dauer würde es sich nicht gut auf sein hart erarbeitetes Amt auswirken. Der wahnsinnige Belletain könnte bald auf den Gedanken kommen, einen anderen zum Hauptmann zu befördern und ihn wegen Unfähigkeit abzusetzen. »Es muss endlich gelingen!«

»Die Zwergenscharniere sitzen unerreichbar für unsere Mineure«, erinnerte ihn sein Hilfsoffizier. »Wir können die Tore weder aushebeln noch Keile darunter schieben.«

Vallasin hob einen Schrieb in die Höhe. »Ich weiß das. Erkläre das unserem König und den Männern da draußen, die in der Kälte hocken und denen das Blut gefriert.« Immer wütender werdend, stand er auf und lief zwischen Eingang und Hauptpfosten hin und her. »Siebenundvierzig sind mir schon erfroren! Siebenundvierzig! Und weshalb? Wegen eines verdammten Tors und einer gebrochenen Abmachung.«

Die Tore, so war es mit den Dritten vereinbart gewesen, hätten offen stehen müssen, damit der Einmarsch und die Suche nach dem Hort der Vierten schnell und reibungslos vonstatten ginge. Aber der Eingang zeigte sich unüberwindbar, trotzte Rammböcken und Keilen, und sogar ihre Pickel schlugen sich an dem Granit stumpf.

Verfluchte Warterei. Zuerst waren sie auf Anordnung von Belletain hierher marschiert, um sich für eine Eroberung bereit zu halten, dann tauchte das Entsatzheer der Dritten auf, somit standen schon zwei Heere vor verschlossener Tür. Plötzlich packten die Dritten ihre Siebensachen zusammen und verschwanden ohne Erklärung. Vallasin blieb nichts anderes übrig, als weiter auszuharren, mochte es noch so sinnlos sein. Befehl war Befehl.

Sie hörten Pferdegetrappel, das sich ihrem Zelt näherte.

»Bei Palandiell, das wird der nächste Bote sein, den uns Belletain schickt«, brauste Vallasin auf. »Wird er denn niemals müde, noch schlechtere Neuigkeiten zu lesen?«

Ein Bote betrat das Zelt, über und über mit einer dünnen Schneeschicht versehen; der Schal vor seinem Gesicht war in Höhe von Mund und Nase mit einer Eiskruste bedeckt, die Feuchtigkeit des Atems gefror in dem Wollstoff binnen weniger Augenblicke. Er nahm eine gesiegelte Lederrolle aus seiner Satteltasche und hielt sie dem Befehlshaber hin. »Für Euch, Hauptmann.«

Vallasin wies seinen Hilfsoffizier an, dem Reiter einen Tee einzuschenken, damit er sich aufwärmte, derweil öffnete er den Verschluss der Rolle und nahm das Papier heraus.

Ohne es zu lesen, wollte er es auf den Stapel legen und die bereits vorgefasste Antwort in die Transporthülle schieben, als er bemerkte, dass sein König dieses Mal mehr an ihn geschrieben hatte. Und es handelte sich nicht um seine Abberufung.

»Nanu?«, wunderte er sich laut. »Unser geschätzter König erteilt uns einen Marschbefehl. Wir verlassen das Braune Gebirge«, fasste er das Gelesene erleichtert zusammen und ließ die Unteroffiziere antreten, die sich bald darauf in seiner Unterkunft drängten.

»Meine Herren, König Belletain schreibt, dass sich große Dinge im Geborgenen Land tun. Er erklärt das Bündnis zwischen ihm und König Lorimbas Stahlherz für beendet, da er die vertraglich festgehaltenen Pflichten seitens der Dritten als nicht erfüllt betrachtet.« Er rollte das Blatt zusammen. »Für uns bedeutet das: Zelte abbrechen und Abmarsch. Morgen früh möchte ich aus der Eiskammer verschwunden sein.«

»Und wohin marschieren wir, Hauptmann?«, fragte einer der Unteroffiziere.

Vallasin deutete auf einen neuen Punkt auf der Landkarte. »Wir gehen in zügigem Marsch nach Süden, wie es Belletain von uns verlangt, und schwenken scharf ein. Dort wird unser Vorstoß nicht unbedingt erwartet, die Überraschung wird groß sein.«

»Schlecht für die Gegner«, lachte einer seiner Männer, und die anderen fielen mit ein.

»Und unser Vorteil«, bestätigte der Hauptmann und war erleichtert darüber, dass sich niemand gegen das Vorhaben stellte. Er selbst betrachtete es als schwierig, zumal sie sich über die eigenen Landesgrenzen hinweg bewegten, aber Prinz Mallen von Idoslân würde sicherlich nichts dagegen haben. Es wäre der kürzeste Weg. »Bereitet die Leute darauf vor, dass sie schnell sein müssen.«

Er schickte sie hinaus und setzte ein knappes Antwortschreiben an Belletain auf. Dieses Mal gab es für ihn keinen Zweifel daran, dass er und seine kleine Streitmacht bald Erfolge vorzuweisen hätten.

Sie durften nur nicht zu spät kommen.




Das Geborgene Land, Gauragar, zehn Meilen

vor der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreiches Lios Nudin, Porista,

6234./6235. Sonnenzyklus, Winter


Balyndis verdrängte das Dunkel um ihren Verstand. Sie hob die Lider und schaute sich um, erwartete, die Kuppel über sich zu sehen, die für sie alle Schönheit verloren hatte. Zu viel hatte sie in der Halle erleiden müssen. Wäre es ihr gestattet, so würde sie den Raum eigenhändig einreißen.

Doch sie schaute auf eine weiße Zeltwand, und es war gegen Mittag, wie ihr der Stand der Sonne verriet.

Sie drehte verwundert den Kopf und sah einen braunen Haarschopf, der auf ihrem Bett lag, hörte leise Atemgeräusche, die ihr sehr vertraut waren.

Tungdil? Behutsam streckte sie die Hand aus und berührte das Haar, streichelte es vorsichtig, um ihn nicht zu wecken. Er war wohl bei seiner Wache an ihrem Lager eingeschlafen. Vraccas hat meine Gebete erhört.

Sie hob die Lage aus mehreren Decken an und betrachtete die Brandmale auf ihrem Körper, die unter der Wundsalbe als rot schimmernde Flecken zu sehen waren. Narmora muss meine gebrochenen Knochen geheilt haben. Voller Verwunderung strich sie über die Partien, aus denen bis gestern ihre gesplitterten Gebeine herausgestanden hatten.

Tungdil schreckte aus seinem Schlummer hoch. Als er sah, dass sie aufgewacht war, legte sich ein Leuchten auf sein Gesicht, das auf die Zwergin gereifter, ernster wirkte als bei ihrem letzten Zusammentreffen. Was immer er in der Zwischenzeit erlebt hatte, es konnte nichts Gutes gewesen sein.

»Wie geht es dir?«, fragte er sie behutsam und umfasste ihre Hand.

»Die Maga hat Wunderbares vollbracht«, antwortete sie leise. »Ich habe beinahe keine Schmerzen mehr.« Sie zog ihn zu sich und umarmte ihn lange. Schweigend verharrten sie, bis er sich von ihr löste. »Ich stehe ewig in deiner Schuld.«

»Freunde schulden sich nichts«, lehnte er ab. »Wenn du noch meine Freundin sein möchtest, Balyndis. Ich habe mich benommen wie ein dämlicher Gnom, und darum kann ich dich nur um Verzeihung bitten«, begann er seine Rede, die er sich lange überlegt hatte. »Ich weiß nicht, ob es mein verletzter Stolz, Eifersucht oder ein anderes Gefühl waren, die mich so handeln ließen, doch ich bin mir darüber klar geworden.« Er drückte ihre Hand. »Ich wäre sehr froh, dein Freund zu sein.«

»Ich habe niemals aufgehört, dich als Freund zu sehen«, erwiderte sie, gerührt von seiner Ehrlichkeit. »So wird es immer bleiben.«

»Ja. So wird es immer bleiben«, wiederholte er glücklich und schaute in ihre Augen. Ihre Blicke verschmolzen in Liebe zueinander. »Du wirst dich übrigens auch bei Ingrimmsch und Boëndal bedanken müssen, und Furgas trägt ebenfalls einen großen Anteil an deiner Befreiung.« Rasch berichtete er von ihrem wagemutigen Ausflug in den Palast und dem Ausgang ihres Unternehmens.

Balyndis fuhr sich über den kahlen Schädel. »Diese Albin, die euch begleitete...«, sagte sie mit Wut in der Stimme. »Nach deinen Schilderungen denke ich, dass es dieselbe ist, die meine Begleiter und mich abfing und mich an den Baum band, wo die Avatare mich fanden.« Nun erzählte sie, wie es ihr ergangen war. »Nachdem die Albae verschwunden waren, dauerte es nicht lange, und ein Zwerg näherte sich mir. Ich war zu froh, einen von unserem Volk zu sehen, und verriet zu viel, bis mir sein merkwürdiges Verhalten auffiel und er sich als Avatar zu erkennen gab. Sie brachten mich nach Porista und versuchten, meinen Willen zu beugen.« Sie schwieg, ihren Augen füllten sich mit Tränen. »Doch Vraccas gab mir die Stärke, ihnen die Formel nicht zu verraten«, erzählte sie mit erstickter Stimme. »Lange hätte ich es nicht mehr ertragen, Tungdil«, schluchzte sie.

Er nahm sie in den Arm und streichelte behutsam ihren haarlosen Kopf, bis sie sich beruhigte. »Nun hast du es geschafft, Balyndis. Du bist sicher.« Er ahnte, dass Ondori den Angriff des Avatars genutzt hatte, um sich von ihnen abzusetzen. Sie hatte die Zwergin erkannt und befürchtet, dass sie nach Balyndisʹ Erwachen in Schwierigkeiten geriete, Waffenbruderschaft hin oder her.

»Was hat es mit Djerůns Rüstung auf sich?«, wollte sie wissen, und Tungdil erklärte es ihr. »Dann muss ich schleunigst zurück ins Graue Gebirge und noch mehr von diesem Metall herstellen«, beschloss sie ohne Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand.

»Wieso musst du dazu...«

Sie klopfte gegen den Panzer vor seiner Brust. »Diese Legierung ist ausschließlich mit dem Feuer der Esse Drachenbrodem herzustellen, Tungdil. Ich habe Tionium und Palandium miteinander verbunden, und nur ihre Glut vermag es, die beiden Metalle zu vereinigen.«

Er überschlug die Entfernung, die vielen hundert Meilen, das widrige Wetter und ihre geschwächte Verfassung. »Die Zeit wird nicht ausreichen«, kam er zu dem niederschmetternden Ergebnis. »Porista muss innerhalb von neun Umläufen fallen, oder dieses Wesen, das sie Eoîl nennen, bringt ungekanntes Verderben über das Geborgene Land.«

Sie schwieg und bedachte ihn mit einem traurigen Blick, weil sie ahnte, dass eine mehr als gefährliche Aufgabe auf ihre Freunde wartete. »Dann liegt es an dir und den Zwillingen, euch den Avataren zu stellen und sie zu besiegen.« Sie entdeckte eine Stelle an der Rüstung, die ihr nicht gefiel. »Wer hat das geschmiedet? Du?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Es blieb mir nicht viel Zeit«, entgegnete er, um ihre Rüge zu mildern.

Sie stand auf, warf sich die bereit gelegte, notdürftig gekürzte Menschenkleidung über, setzte sich eine Mütze auf und streckte ihre Hand nach seiner aus. »Komm.«

»Was hast du vor? Du musst dich...«, wollte er protestieren.

»Nein, wir müssen deine Schnitzer ausbessern«, fiel sie ihm lächelnd ins Wort. »Ruf die Zwillinge. Wir schmieden euch drei Rüstungen, dass die Avatare neidisch werden. Ich will nicht, dass es später einmal heißt, dass Zwerge in unvollkommenen Harnischen das Geborgene Land retteten.«

Er lachte, fasste ihre Hand und folgte ihr in die Feldschmiede. Unterwegs sammelten sie Boïndil und Boëndal ein, die Balyndis freudig in die Arme schlossen.

Die Hitze der Esse, der Umgang mit Hammer, Zange und Metallbeitel weckten die verborgenen Kräfte in der Schmiedin. Auch Tungdil genoss es, den Hammer auf dem Amboss tanzen zu lassen und Schlag für Schlag die letzten Makel aus den Rüstungen zu treiben.

Ingrimmsch stimmte zum Rhythmus der Hiebe ein altes Kampflied an, sein Bruder fiel mit ein, während sich Tungdil und Balyndis den Spaß erlaubten, immer schneller zu werden und aus dem getragenen Hymnus ein Lied voller Feuer und Tempo zu machen, bis die Zwillinge lachend aufgaben.

In diesen Stunden, umgeben von Wärme, Eisen und guten Freunden, vergaßen die vier, was ihnen bevorstand.

Bald hörten sie, dass die Zwerge in der Nähe der Feldschmiede das Lied aufgenommen und die Stimmen erhoben hatten.

Die Freien und die Ersten schmetterten die Strophen abwechselnd in rasantem Tempo und machten einen Wettstreit daraus, wessen Zunge zuerst ins Stolpern geriet.

Als auch ihre Lieder in Beifall endeten, vernahmen sie den tiefen Bass eines einzelnen Sängers, der durch den Lärm klagend zu hören war:


»Ein einsamer Stein im Schwarzen Gebirge,

wissend, dass es dennoch viele Steine um ihn herum gibt,

die ihm gleichen und doch verschieden sind.

Darf nicht nach ihnen schauen,

obgleich er es wünscht,

darf nicht nach ihnen rufen,

obgleich er es ersehnt,

darf nicht zu ihnen gehen,

obgleich er es begehrt,

sein eifersüchtiges Gebirge

hat es ihm verboten,

ihm,

dem einsamen Stein im Schwarzen Gebirge.«


Die gelöste Stimmung schwand auf der Stelle.

Tungdil hatte bemerkt, dass der Sänger aus den Reihen der Dritten stammte. Er musste an die Worte von Sanda denken, die angedeutet hatte, dass nicht alle Dritten Hass auf die übrigen Zwergenstämme verspürten.

Das eifersüchtige Gebirge, sann er vor sich hin. Damit war sicherlich Lorimbas und mit ihm jeder Herrscher der Dritten gemeint, die sich gegen eine Aussöhnung stemmten. Er bat Vraccas, dass er den Tag erleben durfte, an dem sich alle Zwerge des Geborgenen Landes begegnen konnten, ohne dass einer von ihnen um sein Leben bangen musste.

»Ein trauriges Lied. Gut, dass es vorüber ist, sonst hätte ich mich betrinken müssen«, murmelte Boïndil und legte die bearbeitete Beinschiene an. »Nun zwickt nichts mehr«, bestätigte er die Qualität der Arbeit.

»In zwei Sonnenumläufen wird alles fertig sein«, schätzte die Schmiedin. »Vorher müsst ihr den Avataren noch Gnade gewähren.«

»Von mir aus«, griente Boëndal, der sich an seiner Armschiene zu schaffen machte und sich voller Respekt wunderte, wie exakt die Zwergin schmiedete, obwohl sie alles andere als in bester Verfassung war. »Aber retten wird sie nichts mehr.«

»Es wird verflucht schnell heiß, wenn sie einen mit Magie bewerfen.« Ingrimmsch streichelte seinen zu Zöpfen geflochtenen Bart. »Ich werde ihn mit Wasser tränken, damit er mir nicht abflämmt. Das wäre ausgesprochen ärgerlich, wo ich ihn so sehr gepflegt habe.«

»Ah, hier seid ihr.« Rodario betrat die Schmiede. »Die lustigen Gesellen bereiten sich darauf vor, einmal mehr das Geborgene Land vor dem Einfluss finsterer Mächte...« Er hielt inne und legte den Zeigefinger gegen die Unterlippe. »Nein, eigentlich sind es keine finsteren Mächte. Wie erklärt man dem einfachen Volk, dass die Guten gegen die Guten kämpfen, um die Bösen zu beschützen?«

»Dir wird etwas einfallen«, zeigte sich Tungdil überzeugt. »Hat deine Gefangene noch etwas Wichtiges ausgeplaudert?«

»Nicht ausdrücklich. Aber mir fiel etwas ein.« Er nahm eine kleine Zange und spielte damit herum. »Lirkim hat erwähnt, der Eoîl sei der Meinung, dass ein Teil des Dämons, der Nudin zum Verräter an den eigenen Freunden machte, immer noch existiert.«

»Was?« Balyndis sah den Mimen überrascht an.

»Ich habe mir darüber auch meine Gedanken gemacht.« Tungdil deutete auf seine meisterlich geschmiedete, dennoch gewöhnliche Axt. »Wenn er Recht hat, brauchen wir unbedingt die Feuerklinge wieder, die sich noch immer in den Händen der Albae befindet. Aber ich gestehe, ich habe keine rechte Vorstellung davon, wie es dem Wesen gelang, auch nur ein Stück von sich zu bewahren. Ich habe es mit der Feuerklinge vernichtet, ihr alle habt es gesehen.«

»Seine Macht kann nicht groß sein, sonst hätte er sich längst wieder gezeigt. Das Tote Land hat seinen Einfluss verloren, nichts deutet darauf hin, dass das Böse, wie wir es von einst kennen, noch existiert. Mehr als das Schwarze Wasser ist nicht geblieben.« Rodario legte die Zange zurück. »Aber ich mache mir trotzdem Sorgen. Es wäre gut, wenn ihr den Eoîl lebend fangen könntet.«

Ingrimmsch lachte lauthals. »Er ist der Stärkste der verbliebenen Magi, hast du das vergessen?«

»Ich habe meine Avatara auch lebendig gefangen genommen. Ohne Wunderrüstung«, hielt er schnippisch dagegen und vermied es wohl wissend, die näheren Umstände der Eroberung zu beschreiben.

»Weshalb sollten wir ihn verschonen?«, hakte Boëndal diplomatischer als sein Bruder nach.

»Weil dieser Eoîl in der Lage ist, das bisschen Dämon zu erkennen«, rückte er mit der Sprache heraus. »Lirkim hat es mir gesagt.«

»Also doch eine Neuigkeit.« Tungdil dachte nach. »Dann hat der Besuch der Avatare auch eine gute Seite. Mithilfe des Anführers können wir den letzten Rest der Bedrohung ausfindig machen.« Er nickte Rodario zu. »Jetzt ergibt die Schonung des Eoîls Sinn.«

»Das hätte der Schwätzer doch gleich sagen können«, brummte Boïndil, drehte den Schleifstein und begann, seine Beile zu schärfen. »Und was machen wir dann? Zerren wir ihn an einer Kette hinter uns durchs Geborgene Land und warten darauf, dass er irgendwann auf etwas zeigt?«

»Ich vermute, dass sich der letzte Rest des Dämons an einer Stelle aufhält, wo Schwarzes Wasser oder ein Entseelter Wald zu finden ist.« Boïndil legte die Hände an den Gürtel. »Das ist doch wahrscheinlich, oder? Die Menschen haben berichtet, dass man dort wahnsinnig wird. Vielleicht ist dies das Werk des Dämons?«

»Zuerst nehmen wir Porista ein und schlagen die Avatare, danach kümmern wir uns um alles andere«, meinte Tungdil, nahm die fertigen Teile seiner Rüstung und machte sich auf den Weg zurück in seine Unterkunft, um sich zu stärken. Schmieden machte hungrig.

Später trafen sie sich in dem Besprechungszelt, wo Königin Xamtys sie mit guten Nachrichten erwartete.

»Glaïmbar, Balendilín und Gandogar haben ihre Reiche wieder besetzt und senden ihre Heere zur Unterstützung nach Porista. Prinz Mallen versucht, weitere Freiwillige aufzutreiben; er schreibt, König Belletain habe sich seiner Umnachtung sowie seines Leibarztes aus dem Stamm der Dritten entledigt und ihn um Erlaubnis gebeten, ein Heer durch Idoslân senden zu dürfen. Dennoch wird keiner von ihnen es schaffen, außer vielleicht Belletain mit seinen zehntausend Mann, rechtzeitig zu uns zu stoßen.«

»Zehntausend kommen gerade recht. Wir nehmen die Stadt ein«, sagte Tungdil entschlossen. »Furgas hat mir versprochen, die besten Belagerungsmaschinen in kürzester Zeit für uns zu bauen. In vier Sonnenumläufen werden wir mit dem Beschuss des feindlichen Heeres beginnen, um ihre Zahl vor dem eigentlichen Kampf zu reduzieren. Anschließend verschaffen wir uns Zutritt zur Stadt. Zwei Breschen genügen uns vollkommen, und wir kennen die Schwachpunkte Poristas.«

»Dabei hatten wir alles so schön aufgebaut«, ärgerte sich Rodario. »Hoffentlich treffen wir dabei nicht mein Curiosum.« Er ging zum Ausgang. »Ich werde noch einmal mit Lirkim reden.« Seine Hand schlug das schwere Fell zurück, das als dämmender Türvorhang diente. »Ich glaube, dass ich sie dazu bringen kann...«

Ein heller Lichtschein durchbrach die winterliche Dämmerung, eine dreckig graue Sonne schoss aus den Schneewolken herab und hielt auf das Lager der Zwerge zu.

Die erschrockenen Rufe der Wachen brachten Leben in die Zelte, die Zwerge stürzten mit Waffen und Schilden ins Freie, auch Narmora stand unter ihnen und reckte die Arme, um einen Zauber zur Abwehr zu sprechen.

Doch es gelang ihr nicht rechtzeitig.

Die Kugel färbte sich lediglich dunkelgrün und verlor etwas von ihrer Leuchtkraft, ehe sie mit Macht durch das Dach der Köhlerhütte fuhr; dann schlugen malachitfarbene Flammen so lang wie vier Speere aus den Fenstern und zur Tür hinaus, und die kleine Behausung brach brennend auseinander.

Eilig sprangen Zwerge herbei und schippten Schnee auf die brennenden Trümmer, um ein Übergreifen des Feuers auf die Zelte zu verhindern.

Rodario starrte in das Inferno, in dem niemand überlebt haben konnte. »Lirkim«, raunte er betroffen. Er brachte den Frauen, denen er begegnete, wahrlich kein Glück.


*

Der Eoîl hatte ihnen bewiesen, dass seine Stärke nicht zu unterschätzen und er im Stande war, Verrat selbst auf große Entfernung zu ahnden. Daher unternahmen sie alle Anstrengungen, die Wurfmaschinen noch schneller zu bauen. Furgas konstruierte sie so, dass sie große, mit Nägeln gespickte Holzklötze, halbe Baumstämme und Felsen zu schleudern vermochten. Petroleum oder Öl standen ihnen nicht zur Verfügung, daher musste das Gewicht der Geschosse ausreichen, die Feinde zu verletzen.

Die Späher der Albae berichteten, dass das Heer der Avatare sich vollends auf die Verteidigung Poristas einrichtete und nicht den Versuch unternahm, die Gegner in einer Schlacht vor den Mauern zu einer Entscheidung zu zwingen. Sie vermieden einen offenen Schlagabtausch und überließen es den Zwergen und Albae, den verlustreichen Angriff zu führen. Dann stiegen die Temperaturen unerwartet, und das Land wurde in dichten Nebel gehüllt. Keine Seite sah mehr viel.

Auch die Zwerge blieben nicht untätig.

Als geschickte Mineure gruben sie einen Tunnel bis in den Kanal, durch den Tungdil und seine Freunde gegangen waren, um Balyndis und Dorsa zu befreien.

Einige aus den Reihen der Kriegerelite der Dritten, so lautete der Plan, würden diesen Weg zusammen mit den Albae wählen und das Terrain für Tungdil, die Zwillinge und weitere Soldaten der Ersten und Freien bereiten. Im besten Fall gelang es ihnen, die Verteidiger völlig zu überrumpeln.

Derweil sollten ein anderer Teil des Heeres, Narmora und Rodario an zwei Stellen Scheinangriffe führen, um die Avatare annehmen zu lassen, die Zwerge gingen mit herkömmlichen Methoden an die Einnahme der Stadt heran.

»Wir konzentrieren den Beschuss auf die Tortürme sowie die Wehrgänge der Mauern«, schlug Furgas vor. »Damit halten wir die Opfer unter der Bevölkerung gering. Die Menschen haben schon genug unter der Anwesenheit der Fremden gelitten und werden es bei den bevorstehenden Kämpfen in den Straßen auch noch tun.«

Die Verbündeten waren sich einig.

Mit dem siebten Umlauf brach der große Tag an, der über das Schicksal des Geborgenen Landes entscheiden sollte.

Die Sonne tat sich schwer, durch die diesigen Wolken zu dringen. Es blieb dunstig grau ohne neuen Schneefall, aber mit den bekannten Nebelschleiern.

Tungdil verabschiedete sich von Balyndis, die wegen ihres Zustandes zurückblieb, mit einer langen, freundschaftlichen Umarmung. Selbst einem aufmerksamen Beobachter offenbarte sich erst auf den zweiten Blick die Tiefe ihrer wahren Gefühle.

»Wir sehen uns wieder«, versprach er ihr und sog tief ihren Geruch in sich ein. »Spätestens in der Ewigen Esse bei Vraccas.«

Sie schluckte schwer. »Der Göttliche Schmied wird dich beschützen. Du warst einmal ein Held, und du wirst wieder einer sein.«

»Das ist so sicher wie der Tod der Avatare«, meldete sich Ingrimmsch schmunzelnd zu Wort. »Er hat ja uns dabei, nicht wahr, Gelehrter?« Er und Boëndal reichten ihr die Hand, dann schlossen sie zu dem finsteren Heer aus Dritten und Albae auf.

»Sie passen fein zueinander«, stellte Ingrimmsch fest, als er sie angewidert betrachtete. »Schwarz sind ihre Seelen, schwarz wie die Tätowierungen der einen und die Rüstungen der anderen. Ich danke dir, Vraccas, dass es niemals ein Bündnis zwischen den beiden gegen uns gegeben hat.«

Einer nach dem anderen rutschte in den engen Tunnel hinab und kroch auf Händen und Knien vorwärts, was aufgrund der Rüstungen, die sie trugen, kein Vergnügen war. Mehr als einmal blieben sie an einer Wurzel hängen und schaufelten sich Dreck und kalte Erde unter die Lederkleidung.

Bald spürten sie die sanften Erschütterungen, die ihnen zeigten, dass die Belagerungsmaschinen ihre Arbeit aufgenommen hatten und die Soldaten der Avatare mit Steinen und Baumstücken bewarfen.

Jedes Zittern der Erde bedeutete einen Einschlag; lose Erde und größere Brocken lösten sich an der behelfsmäßig abgestützten Decke ihres niedrigen Schachtes. Auf Dauer würde er unter dem Beschuss einbrechen, auch ohne einen unmittelbaren Treffer abzubekommen.

Tungdil und die Zwillinge robbten ungerührt weiter, es nutzte ihnen nichts, wenn sie Angst verspürten, die ihre klaren Gedanken lähmte.

Schließlich gelangten sie in den Kanal, der sich bereits mit Albae und den Dritten gefüllt hatte.

»Ho, nun trägt er doch Abschaum in sich«, witzelte Ingrimmsch.

»Aber erst, seitdem du hier bist«, erwiderte einer der Dritten und bleckte die Zähne. »Seitdem stinkt es auch nach vollen Hosen.«

Boïndil wollte sich auf den Zwerg stürzen, aber Tungdil schob sich dazwischen. »Richte deinen Zorn gegen die Avatare, nicht gegen die, mit denen wir Seite an Seite kämpfen«, maßregelte er ihn. »Außerdem hast du damit angefangen, also wundere dich nicht. Wie man in einen Stollen hineinruft, so schallt es heraus.«

Fluchend ließ Ingrimmsch von seinem Vorhaben ab. »Von mir aus. Aber nur, weil ich gute Laune habe.«

Sie warteten, bis sich der Kanal mit Kriegern gefüllt hatte, erst dann gab Tungdil das Zeichen, die Klappe zu entfernen.

Es gelang ohne Schwierigkeit. Die Avatare nahmen nicht an, dass ihre Feinde ein zweites Mal den Weg wählten, den sie schon einmal benutzt hatten.

Die Albae machten den Anfang, fünfzig von ihnen glitten wie Schatten hinaus in die Gassen Poristas und sicherten die Umgebung. Kurz danach hörten sie einen leisen Pfiff.

Daraufhin setzen sich die Dritten in Bewegung, traten an die Oberfläche, verteilten sich auf dem Marktplatz und strömten dann auf den Palast zu, um jedes Hindernis, das sich mit Beilen, Morgensternen und Keulen aus dem Weg schaffen ließ, zu beseitigen.

Tungdil und die Zwillinge folgten ihnen.


*

Furgas beobachtete die Bahnen der Geschosse genau und korrigierte nach jedem Einsatz den Winkel der Justierung an den Maschinen, bis die Felsbrocken und Holzklötze dort niedergingen, wo er sie haben wollte. Der Nebel erschwerte ihm die Sicht, machte es ihm aber nicht unmöglich.

Sie verschonten die Häuser der Bewohner und krachten stattdessen in die Wachtürme, zerschmetterten Teile der Tore und rissen Lücken hinein, sie zerstörten Teile der Wehrgänge oder entvölkerten sie.

Die Gegner hatten nichts Derartiges zur Erwiderung zu bieten. Regelrecht hilflos mussten sie abwarten, bis der tödliche Regen endete und der eigentliche Sturm begann, bei dem sie endlich Mann gegen Mann kämpfen konnten.

»Die Avatare halten sich zurück.« Balyndis hatte sich nicht abbringen lassen, das Gefecht wenigstens von den in sicherer Entfernung befindlichen Maschinen aus zu verfolgen.

Furgas nickte erleichtert und gab das Zeichen für die nächste Salve.

Seile wurden gekappt, die Gegengewichte an den hölzernen Wurfarmen senkten sich ruckartig ab und beschleunigten die Steine auf der anderen Seite, die in hohem Bogen durch die Luft flogen. Ihr Ziel war es, das Dach der Wachtürme zu brechen und die Krieger, die darin Schutz suchten, zu erschlagen.

»Ich wundere mich die ganze Zeit über, dass sie Lirkim mit ihrer Zaubermacht vernichtet haben, es aber nicht für nötig erachten, ihren Leuten beizustehen.«

Die zeitaufwändige Nachladeprozedur, für die Muskelkraft benötigt wurde, begann, und Furgas war sich nicht zu schade, selbst mit Hand anzulegen und eine Winde zu bedienen. »Nicht, dass ich die Avatare auf dumme Ideen bringen möchte, aber diese Schleudern sind unverfehlbare Ziele.«

Die Zwergin schaute zu der 250 Schritt entfernten Mauer, in der sich ein sichtbarer Riss gebildet hatte. »Ich weiß, Furgas. Das bedeutet doch, dass sie sich mit für sie Wichtigerem als einer Schlacht beschäftigen.«

»Du denkst, sie sind gerade dabei, die Quelle zu ihren Gunsten zu manipulieren?« Er richtete den Blick auf die Häuserspitze, welche die Mauer an einigen Stellen überragte, doch der Dunst wollte sich noch immer nicht lichten. Weiter als bis zum Bollwerk Poristas sah er nicht. »Geh und sag es Xamtys, Gemmil und Narmora«, bat er Balyndis. »Sie soll entscheiden, wann wir den Angriff beginnen.«

Ein grün leuchtender Brandpfeil stieg hinter den Mauern Poristas auf und schimmerte sichtbar durch den Nebel. Die durch den Kanal eingedrungenen Albae gaben das verabredete Zeichen, dass sie mit dem Angriff auf die Verteidiger begannen. »Beschuss der Wehrgänge einstellen«, schrie Furgas. »Nur noch die Tore attackieren.«

Die Zwerge aus dem Stamm der Freien und Ersten, die sich mit den Schneebinden vor den Augen gegen das helle Licht der Rüstungen schützten, nahmen auf Geheiß ihrer Anführer die Sturmleitern auf und trabten auf die Mauern zu, um die Soldaten der Avatare in einen Zweifrontenkrieg zu stürzen.

Gleichzeitig begann auch der Sturm auf der anderen Seite der Stadt, wo Lorimbas und seine Dritten zusammen mit Rodario den Scheinangriff durchführten, um die Verteidiger noch mehr zu verunsichern.

Furgas betrachtete staunend die Masse an Zwergen, die sich auf Porista zubewegte. Sollte den falschen Avataren nicht ein echter Gott zu Hilfe kommen, würden sie diese Schlacht verlieren und damit für immer ausgespielt haben.

Er entdeckte die hoch gewachsene Gestalt Narmoras zwischen den Zwergen, sie trug ihre Rüstung und darüber einen tiefroten Umhang. Auch wenn sie dich nicht verehrt, Palandiell, so schütze sie, betete er voller Sorge. Sie hat es verdient.


*

Sie erreichten den Eingang zum Palast, ohne dass sich ihnen ein einziger Krieger in den Weg stellte.

Ich verstehe das nicht. Niemand will uns aufhalten. Oder erwartet uns dahinter die große Überraschung? Tungdil würdigte das Haupttor keines Blickes. Es wäre Unsinn, es mit Gewalt aufbrechen zu wollen, und darüber zu steigen wäre Selbstmord.

Die Schutzvorrichtungen gegen unliebsame Besucher funktionierten noch immer, und das bedeutete, dass jeder, der versuchte, über die Steine zu klettern, oben an der Spitze in einem unsichtbaren Band aus Magie hängen blieb wie eine Fliege im Spinnennetz. Die ausgeblichenen, gut sichtbaren Knochen derer, die es versucht hatten, brachten selbst die so von sich überzeugten Krieger der Dritten zur Einsicht.

Tungdil führte sie zur Nebengasse und weiter zur geheimen Pforte, die ihnen Furgas gewiesen hatte; dort wiederholte er die Formel mit der gleichen Betonung, die Ondori gewählt hatte. Dieses Mal gehorchte die Wand und schwang zurück, aber schon zischte ein Pfeil hindurch und drang dem neben Tungdil stehenden Dritten in die Schulter.

»Es wäre auch zu leicht gewesen«, brummelte Boëndal und presste sich an die Wand, um nicht als Nächster getroffen zu werden.

»Eine Herausforderung, mehr nicht«, gab Boïndil heiter zurück. »Hoffentlich warten hinter dem Schützen ein paar echte Kämpfer, denen ich meine Beile zeigen kann.«

Einer der Dritten legte vier Schilde übereinander, band sie mit einem Gürtel zusammen und machte sich bereit, durch den schmalen Durchgang zu schreiten. Hinter ihm stellten sich weitere auf, die sich in der gleichen Weise präparierten und auf der anderen Seite einen sicheren Pfeilfang für die Nachkommenden bilden wollten.

Sie handelten eigenständig, keiner fragte Tungdil danach, was sie unternehmen sollten. Wahrscheinlich würden sie Anweisungen von ihm auch nicht entgegennehmen, sondern setzten das in die Tat um, was ihnen Lorimbas aufgetragen hatte: alles zu tun, damit die drei Zwerge die Avatare erreichen und sie töten konnten.

»Bereit?«, fragte einer der Tätowierten Tungdil, der ihm mit einem Nicken antwortete. »Los.«

Sie stürmten hinein. Das Sirren von Pfeilen erklang, aber die dicken Platten hielten den Spitzen stand. Hinter ihrem Schutz aus Schilden drangen die Zwerge in den Garten vor, in dem sie von den Soldaten erwartet wurden.

Die Tücher mit den Sehschlitzen vor den Augen halfen gegen die Helligkeit, die zudem nicht mehr die gleiche Intensität besaß wie bei dem ersten Zusammentreffen. Die Zauberkraft, die in den Mondsteinen steckte, ließ aus unerfindlichen Gründen nach.

Die Dritten näherten sich den Schützen, um den Zweikampf zu eröffnen. Schon bald stellte sich heraus, dass ebenbürtige Gegner aufeinander trafen. Für einen gefallenen Soldaten rückten zwei in die Lücke nach, sie wehrten sich verbissen und mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Zwerge und ihr weiteres Vordringen in den Palast.

»Da!«, machte sie Ingrimmsch auf den zweithöchsten Turm aufmerksam. »Was ist das?« Er deutete auf das schwache Leuchten, das von der Spitze ausging. Genaueres sahen sie nicht, weil sie im Dunst verschwunden blieb, doch der Schein drang deutlich durch die Schwaden. »Sind die Avatare da oben? Was machen sie da?«

»Einer zumindest ist hier«, sagte eine Männerstimme vom Balkon herab. Sie wandten sich um und erkannten eine Lichtgestalt. Sie hob die Hände, und zwei gelbliche Flammenkugeln leuchteten vor ihr auf. »Und dieser Avatar wird euch Störenfriede vernichten. Ihr werdet nicht dafür sorgen, dass das Böse im Geborgenen Land bestehen bleibt.«

Die brennenden Sphären flogen heran und jagten mitten in den Pulk der Dritten.


*

Narmora gelangte über eine Leiter rasch auf die Mauer. Die Verteidiger warfen die Steine zu ungestüm nach ihr und erwischten sie nicht. Oben angekommen, nahm sie die Waffen von ihrem Gürtel. Eine davon sah aus, als wären zwei gebogene Sichelenden rechts und links an ein kurzes Mittelstück angesetzt worden. Die andere verfügte über gerade Klingen; die Schneiden waren auf den Innen- und Außenseiten geschliffen, ein korbartiger Metallschutz barg ihre Finger vor gegnerischen Attacken.

Sie brachte sich mit einem Sprung von der Zinne zwischen die Linien der Soldaten, unter denen sie schrecklich wütete. Nach dem ständigen Umgang mit Magie genoss sie es, endlich wieder zu kämpfen, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte.

Das Albaeblut in ihr verschaffte sich Bahn. Sie tauchte weg, schlug zu, schien für die Gegner an vielen Stellen gleichzeitig zu sein und bemerkte dabei mit Genugtuung, dass die Albae in ihrer Nähe über ihre Art zu kämpfen verwundert waren.

Die Zwerge brauchten etwas länger, bis sie auf den Wehrgängen angelangten. Sie bewegten sich langsamer und wurden damit zu einfacheren Zielen für die geworfenen Steine, aber sie gaben nicht auf und stürzten sich mutig ins Gefecht.

Doch die fremden Soldaten stellten sich auf die Kampfweise der Albae und der Zwerge ein und behaupteten sich hervorragend. Was zuerst nach einem schnellen Sieg ausgesehen hatte, verwandelte sich in ein übles Gefecht. Narmora griff nun doch auf Magie zurück, um den Verteidigern auf diese Weise Verluste zu bescheren.

Dabei blieb sie wachsam, rechnete stets damit, dass einer der Avatare erschien und sie attackierte. Aber sie ließen sich nicht blicken.

Der Nebel des Morgens wurde von einem eisigen Wind davongeweht. Als sie zur Palastanlage schaute, entdeckte sie auf einem der sandfarbenen Türme zwei schimmernde Gestalten, die sich auf dem breiten Balkon aufhielten.

Verfluchte Avatare! Sie führen etwas im Schilde! Sie wehrte das herannahende Schwert eines Angreifers mit der Linken ab und verletzte damit einen anderen gegnerischen Soldaten, ehe sie ihm die beiden scharfen Enden ihrer Waffe in den Bauch stach und ihm das Leben nahm, als wäre es das Einfachste von der Welt. »Xamtys!«, schrie sie hinüber zur Königin und deutete mit der bluttriefenden Klinge auf den Turm. »Kommt ihr allein zurecht? Ich muss nachsehen, was sie treiben!«

Die Zwergenkönigin zerschmetterte einem Krieger die Kniescheibe, und als er schreiend umkippte, traf ihn im Sturz ihre gezackte Keule gegen die rechte Schädelseite. Abrupt erstarb sein Schrei, und er kippte vom Wehrgang in die Tiefe. »Es ist ein bisschen mehr Arbeit, als wir dachten, aber Vraccas ist mit uns!«, gab sie zurück und winkte auffordernd. »Geht nur, ehrenwerte Maga. Wir schaffen es.«

Narmora machte einen Satz, drückte sich aus dem Sprung vom Brustharnisch eines Gegners ab, katapultierte ihn rücklings in die Waffen seiner Freunde und flog über die Köpfe der überraschten Feinde zur Treppe, die nach unten und in die Straßen Poristas führte.

Das ungute Gefühl, das sie verspürte, seit sie das Land betreten hatte, auf dem sich Magiefelder befanden, hatte sich verstärkt und wurde nun greifbar.

Etwas sog an ihr, schien nach dem verborgenen Malachit zu greifen, den sie eingebettet in ihrem Leib neben dem Herzen trug und der ihr Kraft verlieh. Schon allein deshalb, weil der Eoîl ihr Geheimnis erkennen und anderen verraten könnte, musste er sterben. Sie wollte sich nicht auf einen Streit mit Furgas und den Zwergen einlassen, die sicherlich fordern würden, dass sie den Splitter herausriss.

Das werden sie nicht erleben. Sie lief immer schneller durch die menschenleeren Gassen.

»Du darfst es nicht zulassen«, sagte Nudin, der plötzlich neben ihr herlief. »Du würdest alles verlieren, sogar dein Leben.«

Sie geriet ins Straucheln, wurde langsamer. »Du...?«

»Nein, nicht stehen bleiben, Narmora!«, bat er sie inständig. »Beeile dich. Sie werden bald damit beginnen. Bedenke, du bist zum Teil eine Albin, du gehörst zur Hälfte dem, was sie böse nennen, und diese Hälfte wird sicherlich vernichtet, wenn sie ihren Zauber sprechen. Ich wäre wieder allein. Die schöne Macht würde niemandem etwas nutzen.« Er veränderte sich, wurde durchsichtig und verschwand.

»Wo bist du?« Narmora stand ratlos zwischen den eng aneinander gebauten Häusern und drehte sich auf der Stelle.

»Ehrenwerte Maga! Da seid Ihr ja!«, rief jemand erleichtert nach ihr. Ein erschöpfter Bote näherte sich ihr vom anderen Ende des Sträßchens. »Rodario der Unglaubliche sendet mich, damit Ihr zu ihm kommt und den Dritten beisteht. Sie werden ansonsten aufgerieben. Die Übermacht im Norden ist zu stark.«

»Es geht nicht«, verweigerte sie kalt ihren Beistand. »Die Avatare stehen kurz davor, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Das Geborgene Land hat Vorrang vor dem Leben der Dritten, sag ihm das.«

Sie wandte sich um und rannte weiter, so schnell sie ihre langen Beine trugen. Nein, das Leben von Zwergentötern bedeutete ihr nichts. Ihr eigenes war in Gefahr. Ihr eigenes und das ihrer unschuldigen Tochter.


*

Tungdil handelte und vertraute dabei fest auf die Wirkung seines wundersamen Panzers.

Er sah die erste Kugel nahen und warf sich ihr in den Weg, Boëndal tat das Gleiche mit der zweiten.

Die Welt um ihn herum verschwand in heißem Weiß, es umloderte ihn, fast schien es durch die Sehschlitze dringen zu können, aber die Macht des Metalls und die Runen verhinderten, dass der glühende Hauch ihm das Augenlicht nahm.

Vraccas, ich bitte um die Kraft, es zu ertragen. Schneller als eine Axt den Arm eines Orks durchtrennte, stieg die Wärme in seinem Harnisch, sodass ihm der Schweiß über die Stirn lief, wo er beinahe sofort verdampfte. Dort, wo die Haare unter der Lederkappe hervorschauten und das Eisen des Helms berührten, stank es nach verbranntem Horn, wie er es vom Beschlagen der Pferde her kannte.

Das Ganze dauerte nicht länger als das aufbäumende Zischen einer glühenden Kohle, die ins Wasser fällt, doch für ihn währte es scheinbar ewig, bis er die Umgebung wieder erkannte.

Die Dritten um ihn herum lagen am Boden, einige der Pelze kokelten, aber niemand schien getötet worden zu sein.

»Ich schlage vor, wir erledigen ihn sofort, ehe er uns in unseren Rüstungen kocht wie Höhlenkrebse«, hustete Boëndal und klappte das Visier nach oben, um frische Luft zu schöpfen.

Sein Bruder befand sich bereits auf dem Weg ins Haus, er drosch zusammen mit den Dritten die letzten Wachen nieder und verschwand durch die Tür ins Innere. Tungdil und Boëndal folgten ihm, so schnell es ging. Die Verbesserungen ihrer Harnische machten die Krieger zwar beweglicher, doch das Gewicht blieb.

Sie setzten sich an die Spitze, erklommen die Treppe und hofften, den Avatar bald zu entdecken.

Der Avatar fand sie als Erster, wie sie an der heranwallenden Feuerwolke sahen.

Fauchend umspielte sie die drei Zwerge, jagte ihnen das Wasser aus allen Poren, aber sie vermochte es nicht, sie zu töten. Sie hörten ihn fluchen, dann sahen sie gerade noch den Zipfel einer Robe um die Ecke wischen.

»Er flüchtet!«, brüllte Ingrimmsch aufgebracht. »Ho! Und du willst ein Stück von einem Gott sein?« Er schleuderte ein Beil und nagelte das wehende Stück Stoff fest an den Schrank in der Ecke des Raumes.

»Du hast deine Waffe geworfen.« Boëndal lief an ihm vorbei, den Krähenschnabel zum Schlag ausholend, und bog um die Ecke.

Tungdil folgte auf dem Fuß. »Das kostet dich einen Sack Goldmünzen.«

»Nein. Ich habe zwei Waffen. Ich darf das!«, begehrte Boïndil auf und hetzte hinterher. »Lasst mir auch was von ihm übrig!«

Der fremde Magus, der ihnen nun in seiner Gestalt als schwarzhaariger Mann um die fünfzig Zyklen in einer schwarzen Robe gegenüberstand, wirbelte herum und richtete die Linke gegen Boëndal. Ein weißer Blitz zuckte aus seinem Mittelfinger und tanzte auf dem Metall herum.

»Sterbt endlich, Untergründige!« Er ließ den Strahl lange, sehr lange über die Rüstung lecken, denn anscheinend hatte er verstanden, dass die erhitzende Wirkung seiner Zauber den Zwergen mehr zu schaffen machte als die Kraft selbst.

Er behielt Recht.

Boëndals Finger öffneten sich langsam und widerwillig, die schwere Waffe fiel zu Boden. Beim nächsten Schritt knickte er zitternd ein und prallte hart auf den Marmor, ohne sich mit den Händen abzufangen. Entweder war er ohnmächtig geworden, oder...

»Was hast du mit meinem Bruder gemacht!?« Ingrimmsch warf sein zweites Beil, um den Avatar abzulenken, was ihm auch gelang. Der Strahl riss ab. Im Vorbeieilen packte er den Krähenschnabel und schwang ihn hoch über dem Kopf. »Du wirst sterben!«

Der Magus lenkte einen Blitz gegen Boïndil, vermochte jedoch auf die kurze Strecke nichts gegen ihn auszurichten.

Der Zwergenkrieger drehte sich mit einem zornerfüllten Schrei einmal um die eigene Achse und schlug dem überrumpelten Avatar den langen Dorn in den Bauch. Er führte den Hieb mit solcher Stärke, dass der Kopf der Waffe mehr als bis zur Hälfte in den Leib des Magus drang. Mit einem weiteren Schrei riss er den Krähenschnabel seitlich aus dem falschen Avatar.

Der Mann bekam keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen, zu stöhnen oder irgendeinen Laut von sich zu geben. Aufgeschlitzt stürzte er auf die Platten, Blut und Gedärme quollen aus der Bauchwunde.

Tungdil kniete neben Boëndal nieder, aus dessen Helmschlitzen der Übelkeit erregende Gestank von verbrannter Haut drang, heißer Dampf und weißer Qualm schlugen ihm entgegen, als er das Visier öffnete. Er fächelte den Rauch weg, um einen bangen Blick auf den Zwerg zu werfen, und erschrak.

»Bei Vraccas!« Boëndals Gesicht bestand aus einer Vielzahl von gefüllten und geplatzten Brandblasen und war vollkommen unkenntlich, nur gekräuselte Reste kündeten von dem einst stattlichen Bartwuchs. Er brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um zu verstehen, dass Boëndals ganzer Körper vermutlich so aussah. »Beweg dich nicht«, sagte er und erkannte am Zucken der wie roh aussehenden Lider, dass der Zwilling ihn verstand. »Sie werden dir Schnee bringen, um die Wunden zu kühlen.«

»Boëndal!«, sagte Ingrimmsch entsetzt, als er seinen Bruder sah. »Ich...«

»Geh«, kam es gequält zwischen den in Fetzen hängenden Lippen des Zwergs hervor. »Findet die anderen beiden. Aber begeht nicht den gleichen Fehler wie ich.« Er schluckte, wollte noch etwas sagen, schaffte es aber nicht.

»Weiter«, sagte Tungdil erbost. »Es bleibt noch einer für jeden.«

Boïndil erhob sich. »Ich nehme den Eoîl«, verkündete er seinen Anspruch.


*

Sie trabten durch den Palast und suchten den Durchgang, der sie in den zweithöchsten der sandfarbenen Türme brachte. Begleitet wurden sie von den verbliebenen dreißig Dritten; zwanzig Krieger waren gegen die Wachen im Garten gefallen oder durch die zweite magische Attacke des Avatars getötet worden.

Sie gelangten zügig vorwärts, doch weder der letzte gegnerische Magus noch der Eoîl oder deren Soldaten ließen sich blicken. Sie schienen Wichtigeres zu tun zu haben, als sich den Zwergen in den Weg zu stellen, und das wiederum beunruhigte die kleine Gruppe sehr.

Unvermittelt sprang die Gestalt eines Mannes vor ihnen auf den Gang, er war aus einem Seitenkorridor gekommen und hatte sich ihnen unbemerkt genähert. »Hab ich euch...«

»Stirb, Götterscherbe«, sagte Boïndil und holte aus, als er den Menschen trotz seines immer stärker werdenden Kampfwahns erkannte. »Der Schwätzer!« Er lenkte den Krähenschnabel gerade noch rechtzeitig aus seiner ursprünglichen Bahn, der Dorn fuhr in die Wand und sprengte ein Stück Marmor ab.

»Rodario? Was machst du hier?«, wollte Tungdil verwundert wissen. »Du solltest bei den Dritten bleiben und...«

Man sah dem Schauspieler an, dass er in den letzten Stunden einiges durchlitten hatte. Seine Robe wies etliche Schnitte und Blutflecken auf, die aber nicht von ihm stammten, sein Gesicht zierte ein blauer Fleck am rechten Jochbein, und er schwitzte furchtbar.

»Es gibt keine Dritten mehr«, hechelte er und lehnte sich schnaufend gegen die Mauer. »Sie wurden in einer mörderischen Schlacht aufgerieben. Die Soldaten hatten mehrere Hinterhalte gelegt, in die wir gelaufen sind, und Narmora kam nicht zur Unterstützung, obwohl ich sie darum gebeten hatte. Mir wurde gesagt, sie sei auf dem Weg in den Palast, und da bin ich nachschauen gegangen.« Er nahm seinen weiten Ärmel, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen, und blinzelte mehrmals. »Xamtys lässt ausrichten, dass sie die Feinde auf ihrer Seite in Schach halten, aber es wird sich bald ändern, wenn die Soldaten von der Nordseite dazustoßen.« Er schaute die Zwerge ungewohnt ernsthaft an. »Ich bin mir sicher, dass Narmora versuchen wird, den Eoîl zu vernichten, um ihnen den Anführer zu rauben. Wenn es ihr nicht gelingt, werden Balendilín, Glaïmbar und Gandogar bei ihrem Eintreffen nur noch unsere Leichen beweinen können.«

»Es ist also wieder alles offen.« Tungdil schaute den Gang entlang. »Kannst du uns zu dem zweithöchsten der Türme führen? Wir denken, dass der Eoîl und der letzte Avatar sich dort verbergen.«

Rodario grinste. »Sicherlich. Da wollte ich auch hin. Mitten in der Gefahr ist man meistens am sichersten. Deshalb verstecke ich mich so gern in Schlafgemächern meiner Liebschaften. Die Gefahr beginnt erst auf dem Weg nach draußen.« Er hob den Arm und deutete auf die breite Tür hinter ihnen. »Ihr seid daran vorbeigelaufen, Freunde. Er steht übrigens genau über der Quelle.«

Sie liefen zurück, die Dritten öffneten die Tür und sprangen sofort zur Seite. »Eine Bestie«, rief einer von ihnen Tungdil zu. »Sie haben eine Bestie beschworen, um den Aufgang zu sichern!«

Mit einem krächzenden Schrei durchbrach ein gewaltiger Körper die Tür und riss den hölzernen Rahmen aus seiner Verankerung. Die Marmorplatten an den Wänden rings um den Eingang des Turmes barsten, und aus der wallenden weißen Wolke schälten sich die Umrisse einer Kreatur, die ein wahnsinniger Magus erschaffen haben musste.

Sie ragte hinauf bis zur sechs Schritt hohen Arkadendecke, lief auf vier Beinen und hatte einen humanoiden Körper, auf dessen Rücken sich ein Paar gigantischer weißer Vogelschwingen entfaltete. Ihre vier langen Arme erlaubten ihr, Feinde selbst auf große Entfernung hinweg anzugreifen. Waffen trug sie keine; sie benötigte weder Schwert noch Axt, denn ihre klauenartigen Hände besaßen Krallen, die geschärft und so lang wie ein halber Zwerg waren.

»Dergleichen habe ich ja noch nie gesehen!«, stammelte Rodario, auf die lange, zahnbewehrte Schnauze des Wesens starrend, und wich zurück. »Kein Zweifel, hier sind die Qualitäten von Kriegern gefragt.«

»Und, Gelehrter?«, raunte Ingrimmsch Tungdil zu. »Was ist das für ein Ding? Wo ist seine verwundbarste Stelle?«

Die pupillenlosen blauen Augen im echsenhaften Schädel richteten sich auf die Zwerge zu ihren Füßen, eine gespaltene, indigofarbene Zunge streckte sich ihnen entgegen.

Tungdil konnte sich nicht entsinnen, in den Büchern seines Ziehvaters jemals etwas über eine derartige Kreatur gelesen zu haben. »Sie muss aus dem Jenseitigen Land stammen«, gestand er sein Nichtwissen ein. »Mehr weiß ich nicht zu sagen.«

Die Kreatur schlug kräftig mit den Flügeln, soweit es der Gang erlaubte. Der Wind riss heftig an ihnen, sie mussten die Schilde loslassen, weil sie die Zwerge umzudrücken drohten; Rodario wurde von den Böen überrascht und fiel zu Boden.

Nach diesem ersten, harmlosen Vorgeschmack auf ihre Kraft griff die Bestie an.

Zwei der langen Arme stießen blitzartig zu und packten die Köpfe zweier Krieger, deren Schädel und Helme wie Eierschalen in der Umklammerung brachen; zuckend fielen sie auf den Boden, während das Wesen ein befriedigtes Fauchen von sich gab.

Die Dritten verlangten danach, ihre gefallenen Krieger zu rächen, und setzten dem Wesen von mehreren Seiten gleichzeitig zu, aber es zeigte sich, dass die Krallen nicht nur scharf, sondern auch sehr beständig waren. Sie hielten dem Schlag einer Axt stand und erlaubten es der Kreatur, die Schläge abzuwehren, ohne Schaden davonzutragen.

»Wir warten, bis es genügend abgelenkt ist, und laufen an ihm vorüber«, entschied Tungdil. Der Kampf gegen das Wesen, das ihnen die Avatare auf den Hals gehetzt hatten, dauerte ihm zu lange. Er wollte den Feinden keinerlei Aufschub gewähren.

»Wie? Diese Herausforderung soll mir entgegen?« Boïndil konnte sich und sein heißes Temperament schwerlich zurückhalten.

»Der Kampf mit dem Eoîl wird dich dafür entschädigen.« Er rief Rodario zu sich und mahnte ihn, sich bereit zu halten. »Du wirst uns begleiten, die Dritten sollen sich mit dem Vieh herumschlagen. Uns fehlt dazu die Zeit.«

»Ich habe verstanden. Ich bin einmal mehr die Ablenkung. Seiʹs drum. Einer muss es ja tun.« Rodario klopfte sich den Dreck von seiner Robe und sprintete im nächsten Augenblick schon hinter den beiden Zwergen her, die eine Lücke zwischen dem titanischen Wächter und der beschädigten Tür entdeckt hatten.

Eine Kralle fuhr knapp an seinem Kopf vorbei, er duckte sich und überholte die Zwerge sogar kurz vor dem Durchgang in den Turm.

Aber das Wesen besaß genügend Schläue, um ihnen die Flucht zu erschweren. Es flatterte mit den Schwingen, der Wind verfing sich in der Robe des Schauspielers und trieb ihn rückwärts, geradewegs gegen Tungdil und Boïndil. Derart behindert sahen sie die eigentliche Attacke nicht kommen.

Der rechte untere Arm schnellte heran, die Hand mit den Krallen streifte Tungdils gepanzerte Schulter, wo sie fünf breite Kratzer hinterließ, danach bewegte sie sich mit unverminderter Wucht weiter und drosch auf Höhe des Schlüsselbeins gegen Ingrimmschs Harnisch. Einer der Nägel durchstieß das Metall; der Zwerg schrie voller Qualen und Wut auf, doch er besaß so viel Abgebrühtheit, dass er mit dem Krähenschnabel zuschlug. Der Sporn kappte das Klauenstück, das aus seiner Rüstung ragte.

»So leicht bin ich nicht kleinzukriegenn«, spuckte er dem Wesen vor die Füße. »Erst töte ich deinen Herrn, und dann komme ich zurück und stutze dir die Fittiche.«

Rodario und Tungdil zerrten ihn weiter und gelangten tatsächlich an den Fuß der breiten Treppe, die zur Spitze des Turmes führte.

Sie liefen einige Stufen hinauf, bis die Stiegen schmaler wurden und ihnen die Kreatur nicht folgen konnte, dann begutachtete Tungdil den geborstenen Nagel, der ein zwei Finger dickes Loch in Boïndils Schutz gebohrt hatte.

»Du blutest zu stark, wenn ich ihn aus der Wunde ziehe«, befand er. »Es wäre besser, wenn wir ihn drinlassen.«

»Es geht«, knirschte Ingrimmsch. »Es sind keine furchtbaren Schmerzen, die ich spüre. Das Leder hat verhindert, dass der Nagel sehr tief eindrang. Mehr als eine Fingerkuppe tief wird es nicht sein.« Er lächelte verzerrt. »Nur draufschlagen sollte niemand.« Er blickte skeptisch auf die gewundenen Trittsteine, die sich höher und höher schraubten und deren Überwindung selbst ohne Verwundung eine Herausforderung für die Gerüsteten bedeutete. »Das wird anstrengend.« Er setzte den Fuß auf die nächste Stufe und machte sich zusammen mit seinen beiden Begleitern an den beschwerlichen Aufstieg.

Der Turm war eine bauliche Meisterleistung.

Die Stiegen ragten direkt aus den Seitenwänden und endeten nach vier Schritten Breite; ein Mittelpfeiler existierte in dem runden, zehn Schritt im Durchmesser breiten Gebäude nicht, sodass in der Mitte des Turms ein durchgehendes Loch von zwei Schritt Breite blieb. Wer hier fehltrat, stürzte tief und lang. Trübes Tageslicht fiel in einem satten Strahl von oben herab und sorgte dafür, dass sie die Stufen gut sahen.

Rodario bemerkte unterwegs ein fingerdickes Seil, das in dem Schacht herabbaumelte und von der Spitze zu kommen schien. Welchen Zweck es erfüllte, blieb ihm schleierhaft, er hielt es auch nicht für so wichtig, dass er die Zwerge darauf aufmerksam machte. Es wird zu einem Gong oder etwas Ähnlichem gehören, den man von unten damit bedienen kann.

»Ich frage mich, warum man solche hohen Türme baut«, schimpfte Ingrimmsch keuchend, als sie mehr als zwei Drittel ihres Weges zurückgelegt hatten.

»Tut ihr das nicht auch?«, neckte ihn Rodario.

»Aber wir haben einen Grund. Es geht darum, einen Rückzugsort zu haben, der unmöglich einzunehmen ist. Aber das hier«, er klopfte mit dem Krähenschnabel gegen die Mauer, »taugt nicht dafür. Es gibt keine Plattformen, keine Vorratskammern. Ein sinnloses Gebäude.«

»Vergessen wir einmal nicht die überragende Aussicht, die man von dort oben genießt.« Der Schauspieler schwitzte nicht weniger als die Zwerge. »Die Magi und Magae haben von hier aus bestimmt den Verlauf der Gestirne betrachtet.«

»Aber gehe ich deshalb die vielen Stufen hinauf? Zum Sternegucken? Man muss alles mühselig hinaufschleppen«, blieb er störrisch. »Und kaum steht man oben, ist die Sonne aufgegangen.« Er blies die Backen auf. »Den Erbauer würde ich gern mal fragen, was er sich dabei gedacht hat.«

Sie gelangten an das Ende der Treppe und sahen, weshalb das Tageslicht hereinfiel, obwohl sich über ihnen eine geschlossene Decke befand. Drei Seitenfenster ließen die Strahlen der Sonne herein, ein Spiegel bündelte sie und lenkte sie exakt nach unten. An der Wand neben dem Spiegel befand sich eine Tür, die zur Balustrade führte. Rodario spähte hinaus, der kalte Wind wehte durch seine schwarzen Haare. »Die Kämpfe dauern an«, meldete er den Zwergen. »Und... wenn ich mich nicht sehr täusche, rückt ein weiteres Heer aus dem Norden an.« Er kniff die Augen zusammen. »Kann es sein, dass die Albae ein weiteres Kontingent entsendtet haben? Wer auch immer anrückt, er hat sehr dunkle Rüstungen.«

»Es wird Belletain sein.« Tungdil schob den Mimen zur Seite, um selbst einen Blick nach unten zu werfen. »Die Richtung stimmt, aber ich kann die Banner nicht erkennen.«

»Solange sie auf unserer Seite kämpfen, ist es mir gleich.« Boïndils Knie zitterten, er lehnte sich gegen die Wand. »Es geht gleich wieder«, beruhigte er sie.

Rodario sah die blutigen Stiefelabdrücke. Der Lebenssaft des Zwergs sickerte unter der Panzerung an ihm hinab, tränkte das Leder und drückte sich durch die Nahtstellen. Die Wunde war viel tiefer, als er sie glauben ließ. Er machte Tungdil darauf aufmerksam.

»Du bleibst hier«, sagte dieser zu Ingrimmsch, um seinen Freund von dem weiteren Abenteuer abzubringen. »Du nützt uns nichts, wenn du uns halbtot vor den Augen des Eoîls zusammenbrichst und dich zu einer leichten Beute für ihn machst.«

Aber da geriet er bei Ingrimmsch an den Falschen. »Ho, Gelehrter! Ich lasse mir es nicht entgehen, ihn zu zerpflücken.« Mit dem berühmten Eigensinn seines Volkes packte er den Krähenschnabel fester und schritt zum Ausgang. »Worauf warten wir noch? Mach dich nützlich und öffne die Tür, Schwätzer.« Er grinste zum Zeichen, dass er es nicht so abwertend meinte, wie es klingen mochte.

Rodario warf einen Blick auf den dünnen Draht, der quer über den Boden und durch ein herausgebrochenes Loch in der Mauer weiter nach draußen verlief. Die schmale Öffnung sah nicht so aus, als bestünde sie schon seit langem. Haben die Avatare dieses seltsame Stück Kordel nach oben gezogen? Er drehte sich zu Tungdil, als ihm ihr vorletzter Gegner zuvorkam.

Die Tür wurde aufgestoßen, und eine strahlende Gestalt erhellte das Turminnere mit ihrem Licht.

»Ich seid mir nicht entgangen«, begrüßte sie die Stimme einer Frau. Sie schuf einen gleißenden blauen Blitz, den sie gegen Ingrimmsch jagte. Der angeschlagene Zwerg wankte, die Wucht des Zaubers und die Schwäche, unter der er litt, waren zu viel für ihn. Die Avatara sah es und lachte. »Die Rüstungen werden euch nichts nützen. Ihr könnt den Eoîl nicht mehr aufhalten.«

Rodario sammelte all seinen Mut. »Ihr werdet auf der Stelle damit aufhören, und ich, Rodario der Unglaubliche, angehender Magus und Famulus von Narmora der Unheimlichen, verschone euer Leben.« Er rief sinnlose Silben und hob den Arm, betätigte den Flammenwerfer und spie der Avatara eine Ladung brennender Bärlappsamen entgegen.

Der Abwehrzauber, mit dem die Maga die Attacke aufzuhalten versuchte, hätte gegen einen wahren Spruch sicherlich gewirkt, aber der Angriff gründete nun mal auf keinerlei Zauber. So schossen die Flammen ungehindert auf die Maga zu, die erschrocken und voller Schmerz aufschrie.

Das beginnende Schimmern um die Frau herum endete, die Zwerge und Rodario sahen, dass ihre Haare brannten, auch Teile ihrer Robe hatten Feuer gefangen.

»Ha! Dagegen hattet Ihr kein Mittel, nicht wahr? Und nun spürt meine ganze Macht!« Der Schauspieler ließ sich nicht mehr bremsen, warf eine seiner Glasphiolen und traf die Gegnerin auf die Brust.

Die Phiole prallte von dem weichen Stoff ab, fiel auf den Boden und zerbarst. Schon tat ihnen die Maga den Gefallen, bei ihren Löschversuchen einen Schritt nach vorn und genau in die kleine Pfütze zu treten. Die freigesetzte Säure fraß sich qualmend durch die Ledersohle und weiter in ihren Fuß.

»Das nenne ich nützlichen Hokuspokus!« Boïndil schwang lachend den Dorn des Krähenschnabels und traf die Frau in die rechte Schulter. Mit einem Ruck zerrte er sie zu Boden, und schon stand Tungdil an seiner Seite und hob die Axt, um sie zu köpfen.

Die Maga handelte instinktiv.

Anstatt einen Zauber gegen die geschützten Zwerge zu wirken, entriss sie mit ihren unsichtbaren Kräften Tungdil die Axt und ließ sie hart gegen Ingrimmschs Kopf schnellen.

Boïndil entwich ein dumpfes Ächzen. Der Schlag zertrümmerte ihm zwar nicht den Schädel, warf ihn jedoch zur Seite, sodass er ungelenk auf den Hintern plumpste. Das Gewicht seines Harnischs drückte ihn weiter nach hinten, über die Kante der Treppe hinweg.

»Gelehrter! Ich...« Er ruderte verzweifelt mit den Armen und kippte schließlich von der Stiege in den Schacht in der Mitte des Turmes.

»Nein!« Rodario hechtete hinterher und versuchte, den Zwerg an seiner Rüstung zu packen, aber seine Hände griffen nur einen Lederriemen, der auf der Stelle abriss. Ungläubig sah er mit an, wie Boïndil in dem Lichtstrahl nach unten schoss, dabei kleiner und kleiner wurde, bis er verschwunden war.

Tungdil schlug der Maga mit dem Panzerhandschuh ohne Unterlass ins Gesicht, bis es sich in eine blutige Masse verwandelt hatte und sie sich nicht mehr rührte, dann zog er seinen Dolch und stieß ihn ihr ins Herz. »Könnte ich, so würde ich dich tausend Tode sterben lassen.« Mit Tränen in den Augen hob er die Axt auf und schlug mehrmals auf sie ein, als könnte er ihren Leib für den Verlust Ingrimmschs bestrafen.

Mit Blutspritzern auf dem Visier und im Gesicht erhob er sich und trat hinaus auf die Balustrade, um sich dem Letzten der selbst erkorenen Avatare zu stellen.

»Wo bist du, Eoîl?«, rief er laut und blickte sich um. Suchend ging er den halbrunden Vorbau entlang und hielt sich dabei dicht an der Wand des Turmes. Rodario folgte ihm.

Sie entdeckten die Lichtgestalt, die soeben einen funkelnden Diamanten mit dünnem Draht in eine Halterung aus graviertem Kristall einspannte und diese an einem der Fahnenhaken der Bannermasten befestigte.

»Ihr seid bis nach oben vorgedrungen?«, sprach sie zu ihnen mit einer warmen Stimme, die es ihnen unmöglich machte einzuschätzen, ob es sich nun um einen Mann oder eine Frau handelte. Ihre Finger aus Helligkeit zogen an der Schnur, die Einfassung surrte nach oben und tanzte im Wind, der eisig um die Bauten strich. »Dann habt ihr meine Anerkennung verdient. Doch wenn ihr verhindern wollt, dass ich dem Geborgenen Land das Böse austreibe, so werde ich euch vernichten.«

»Wie du und deine Freunde tausende von Unschuldigen vorher vernichtet habt?«, hielt Tungdil dagegen und ging langsam auf das Wesen zu. »Du kannst nicht für das Gute kämpfen, wenn du dich nicht um die Schicksale derer scherst, die deinen Weg der Zerstörung kreuzen.«

»Sie verstehen meine Beweggründe ebenso wenig wie du, Tungdil Goldhand. Ich denke in anderen Maßstäben, ich bin bereit, Opfer zu bringen, um das Übel gänzlich auszuradieren. Ihr nicht. Das macht euch zu den schwachen Kriegern, die ihr seid.«

»Dir ist nur an deiner eigenen Macht gelegen. Lirkim hat uns gesagt, dass ihr eigene Reiche errichten wolltet, ehe du sie getötet hast«, sagte Rodario.

»Lirkim ist tot?« Das Wesen klang überrascht. »Das wusste ich nicht.«

»Lügner! Du hast sie mit deiner Magie getötet!«

»Nein, habe ich nicht. Ich wollte sie befreien, sobald ich mein Ziel erreicht habe, weil sie mir wie auch die anderen gute Dienste geleistet hatte. Aber nun brauche ich sie nicht mehr. Ich habe ihnen versprochen, dass sie ihre eigenen Besitzungen erhalten, ja, aber ich habe nie danach gestrebt. Mir ging es einzig um die Ausrottung des Schlechten in seinen unterschiedlichsten Formen. Und ich bedauere es sehr, dass die Untergründigen nicht dazugehören.« Das leuchtende Oval, das sein Gesicht markierte, hob sich und schaute über sie hinweg. »Wenn ihr den Schuldigen für Lirkims Tod sucht, fragt sie. Sie kann euch Antwort geben.«

»Nicht umdrehen«, knurrte Tungdil dem Schauspieler zu, die Axt kampfbereit erhoben. »Das ist eine List.«

Rodario wagte dennoch einen kurzen Blick. »Narmora?«

IX




Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreiches Lios Nudin, Porista,

6234./6235. Sonnenzyklus, Winter


Die Halbalbin stand hinter ihnen. Ihre Augen hatten sich schwarz gefärbt, und in ihrem Gesicht zeichneten sich dunkle Linien ab. »Glaubt ihm kein Wort.« Sie schritt an ihnen vorbei, stellte sich seitlich von ihnen auf und sprach nur ein einziges magisches Wort.

Aus ihrem Mund flog ein dunkelgrüner Strahl, traf den Eoîl und riss ihn, der von der Attacke überrascht wurde, von den Beinen. »Die Spur deines Vernichtungswerks endet hier.« Sie hob die Hände, aus den Fingerspitzen zuckten malachitfarbene Blitze hervor und stürzten sich auf die Lichtgestalt.

Tungdil verfolgte das Geschehen gebannt. Ist es wirklich so einfach, den Eoîl zu besiegen? Er machte sich bereit, jederzeit mit seiner Axt angreifen zu können, auch Rodario hielt die letzte seiner Säurephiolen in der Hand, um sie notfalls gegen das Wesen zu schleudern.

Der Eoîl, eingeschlossen in einem knisternden grünen Geflecht aus magischen Energien, lachte. Er stand auf, und seine Schultern bebten vor Heiterkeit, während Narmora den Kopf senkte und sich offenbar noch weiter konzentrierte, um mehr Energien gegen ihn zu werfen.

Es kümmerte ihn nicht einmal.

In einer fließenden, anmutigen Bewegung hob er die Hand und berührte die Strahlen, die daraufhin in sich zusammenbrachen und ihn aus seinem Gefängnis entließen. »Du wirst deinen Freunden erklären müssen, woher deine Macht kommt«, sagte er milde. »Eine gewöhnliche Halbalbin wäre niemals in der Lage, Zauber von solcher Kraft zu sprechen. Aber du verbirgst ein Geheimnis vor ihnen. Sag es ihnen.«

»Schweig!«, schrie sie wütend und setzte zu einem neuen Spruch an, aber er schleuderte ihr eine apfelgroße Lichtkugel entgegen, die sie nicht abzuwehren vermochte. Das Geschoss drang in sie ein, sie brach schreiend auf die Knie und hielt sich mit beiden Händen die Brust.

»Du trägst ihn in dir«, stellte er mit Zufriedenheit fest. »Du gewährst dem winzigen Rest des Dämons in dir Unterschlupf, Halbalbin. Was werden deine Freunde sagen?« Er jagte eine weitere leuchtende Kugel in sie hinein, sie wand sich stöhnend. »Und warum hast du Lirkim getötet?«

»Wir glauben deinen Lügen nicht.« Tungdil lief langsam auf ihn zu. »Ich werde dich daran hindern, was immer du auch beabsichtigst. Das Geborgene Land darf keinen Schaden nehmen, und solange es ein Kind des Schmieds gibt, das atmen kann, wird es sich dir entgegenstellen.«

Der Eoîl drehte sich zu ihm, Narmora bedeutete für ihn keine Gefahr. »Weil mir dein Mut und deine Entschlossenheit imponieren, Untergründiger, schlage ich dir einen Handel vor, damit du siehst, dass wir auf der gleichen Seite stehen.« Er bückte sich und hob das Ende eines Drahtes auf. »Ich schwöre, dass das Geborgene Land keinerlei Schaden nimmt bei dem, was ich zu tun beabsichtige, und dass ich meinem Heer befehle, die Kämpfe einzustellen. Ich möchte lediglich die Macht der Quelle nutzen, um einen Zauber zu sprechen, dessen Wirkung bis in den letzten Winkel des Geborgenen Landes zu spüren sein wird. Alle diejenigen, die unrein sind, werden in dem Weiß vergehen. Ich sammele ihre schlechten Energien in diesem Stein«, sein Finger deutete an die Spitze des Fahnenmastes, »und wandele sie um, damit ich sie nutzen kann. Danach besitze ich genügend Macht, um mich den schrecklichsten Kreaturen des Bösen allein zu stellen.« Das leuchtende Oval richtete sich auf Tungdil. »Es wird nicht lange dauern, und danach ziehe ich weiter, Tungdil. Ich hinterlasse den Bewohnern des Geborgenen Landes eine gereinigte Welt. Keine Bestien, keine Albae, nichts, was den Keim des Schlechten in sich trägt, wird vor dem Stern der Prüfung bestehen. Ich kann keinen Nachteil für dich sehen.«

Tungdil räumte ein, dass der Vorschlag gut klang, dennoch konnte er dem Eoîl einfach nicht vertrauen. Er fragte weiter, um das Wesen besser einschätzen zu können. »Und was geschieht mit den Magiefeldern, wenn du die Quelle derart beanspruchst? Wird das Gefüge nicht auseinander brechen und große Teiles des Landes verwüsten? Wir haben Beben gespürt, die nichts Gutes verkündeten.«

»Wer nichts wagt, gewinnt auch nichts. Die Quelle wird mir ihre Macht schenken, ich habe endlich einen Weg gefunden, sie anzuzapfen, dank dieser Schmiedin. Sie verriet uns das Geheimnis des magieleitenden Metalls.«

»Nein! Sie widerstand deiner Folter!«

»Sie widerstand nicht. Sie wird sich nicht mehr an alles erinnern, nehme ich an. Die Schmerzen, die ich Kreaturen zufügen kann, stellen den Verstand auf eine harte Probe.« Der Eoîl schaute hinunter. »Seht, die Albae haben neue Truppen in die Schlacht geworfen. Sie kamen unter der Führung der Unauslöschlichen, ich spüre ihre finstere Ausstrahlung. Sie haben Angst, dass es mit ihnen zu Ende geht. Bald werden sie erfahren, dass sie ihren Namen zu Unrecht tragen.« Er wandte sich wieder Tungdil zu. »Nun, Untergründiger, kommen wir ins Geschäft, oder muss ich dich, das Heer und deine Freunde erst vernichten?«

Rodario wusste plötzlich, was das Wesen beabsichtigte. Der Draht, den sie gesehen hatten, bestand aus dieser Legierung, die Balyndis geschaffen hatte, und führte hinab bis zu dem Punkt, wo die magische Quelle ihre Energie freisetzte. Ich werde ihn ablenken. »Ich denke, wir können das nicht allein entscheiden, Eoîl.« Er machte ein paar Seitwärtsschritte und ließ das Fläschchen hinter seinem Rücken dort auf den Draht fallen, wo er aus der Wand kam. »Wir sollten die Könige der Menschen, die Elben und Zwerge fragen, denn schließlich geht sie die Sache ebenso an wie Tungdil. Ihr werdet verstehen, dass...«

Der Eoîl winkte in seine Richtung, woraufhin es den Schauspieler vom Boden hob und gegen die Turmwand schleuderte. Hart prallte er gegen die Mauer und fiel auf die Balustrade zurück, wo er benommen liegenblieb. »Niemand hat ihm gesagt, dass er sich einmischen soll. Nun, ich erwarte deine Antwort.«

»Nein. Ich kann es dir nicht erlauben.«

»Mut und Torheit liegen stets nah beieinander.« Er sagte eine magische Formel auf und richtete seine freie Hand beschwörend gegen den Himmel. Aber es tat sich nichts. Die Säure hatte den Draht durchgeätzt und die Verbindung zur Quelle unterbrochen.

»Mut und Torheit mögen meine Begleiter sein, aber ich werde dich damit besiegen!« Tungdil stürmte voran, die Axt schwang er schon im Laufen, damit sie möglichst viel Schwung erhielt.

Doch noch während er auf den Eoîl zurannte, wurde er von zwei Gestalten rechts und links überholt. Sie trugen schwarze, prachtvolle Rüstungen aus Tionium in der Art der Albae, ihre Köpfe waren unter aufwändig gearbeiteten Helmen verborgen, und sie schwangen ebenso filigrane wie tödliche Schwerter mit Klingen, die nicht breiter waren als ein Finger.

Während er sich noch über den unerwarteten Beistand wunderte, fuhr ihm ein harter Gegenstand von hinten zwischen die Füße. Er strauchelte und rollte sich auf den Rücken, um dem Feind zu begegnen.

»Du?« Er schaute auf das maskierte Gesicht Ondoris.

Sie nahm die Larve ab, lächelte kalt. »Lass die Unauslöschlichen die Arbeit tun, zu der du niemals im Stande gewesen wärst.« Sie schlug mit dem Ende ihres Kampfstabes zu und traf seinen Helm. Tungdils Kopf dröhnte wie eine Glocke, und durch das Scheppern hindurch hörte er ihre düsteren Worte. »Ich sagte es einst zu dir und tue es noch einmal: Sieh mich an. Dein Tod heißt Ondori«, übersetzte sie. »Ich nehme dir das Leben, Unterirdischer.« Zischend schnellte eine Klinge aus dem Ende ihrer Waffe und legte sich an seine Kehle. »Deine Seele mag gehen, wohin sie möchte.«


*

Von einem Blinzeln auf das nächste verlor der Kampf gegen den Eoîl für Tungdil jede Bedeutung; zuerst galt es, Ondori zu überwinden.

Sie stach zu, um die Klinge durch seine Kehle zu bohren; er aber rutschte zur Seite, so gut es ging, und spürte ein heißes Brennen rechts an seinem Hals. Warm lief das Blut hinab, er roch es, süßlich mit einer Prise Metall, die bei Zwergen stärker wahrzunehmen war als bei anderen Völkern.

Ondori trat nach ihm, als er sich wie ein unbeholfener Kavernenkäfer auf die Beine stemmte. Der Schwung schleuderte ihn in die Höhe, aber die Ausfallschritte, die er danach machen musste, brachten ihn gefährlich nah an die niedrige Brüstung des Balkons. Rechtzeitig genug drehte er sich um, um die Albin angreifen zu sehen.

»Ich verlange Rache für den Tod meiner Eltern, Unterirdischer.« Die Seite mit der Klinge ruckte vorwärts. Er wehrte sie mit der Axt ab, musste gleich darauf aber einen schmerzhaften Hieb des stumpfen Endes quer über das Helmvisier einstecken. Sein Kopf schnappte nach hinten, sein Genick knackte protestierend. Einem Menschen hätte der Schlag die Wirbel gebrochen, nicht jedoch einem zähen, hartnäckigen Zwerg.

»Du wirst ihnen folgen, Albin.« Er hackte mit der Axt nach ihr und rechnete damit, dass sie den Schlag mit der Stabmitte abfing, was sie auch tat. »Ich habe es dir auch schon einmal gesagt, und ich halte meine Versprechen.« Tungdil hakte das untere Ende seiner Waffe ein, riss die Albin näher zu sich heran und zog die Axt unvermittelt nach rechts.

Sein Plan ging auf. Ondori hatte sich so sehr darauf konzentriert, ihren Stab nicht loszulassen, dass sie die ungeschützten Finger ihrer Rechten nicht mehr schnell genug wegnehmen konnte. Die Schneide fuhr ihr bis zur Handmitte ins Fleisch, aufschreiend sprang sie zurück. Dunkles Blut rann auf den steinernen Boden.

»Ich werde aus deinen Knochen eine Skulptur zu Ehren meiner Eltern formen!« Zornig schleuderte sie den Kampfstab mit der Klinge voraus nach dem Zwerg und traf ihn ins rechte Bein. Tungdil prallte rückwärts gegen das Geländer und zog die Klinge heraus, was ihm mit Mühe gelang. Die Spitze hatte die Metallschiene durchschlagen und war bis auf den Knochen vorgedrungen. Er biss die Zähne so sehr zusammen, um nicht zu schreien, dass sie knirschten und zu zerspringen drohten.

Ondori nahm ihre Kurzwaffen, die denen von Narmora ähnelten, von der Gürtelhalterung und sprang auf ihn zu, um ihr Tod bringendes Werk fortzusetzen.

Zwischen dem Zwerg und der Albin begann ein hartes Duell. Beide fügten einander Wunden zu, ohne den anderen bezwingen zu können. Sie kämpften mit solcher Schnelligkeit und Unnachgiebigkeit, dass ihnen keine Zeit blieb, nach dem Gefecht zwischen den Unauslöschlichen und dem Eoîl zu sehen. Der winzigste Fehler bedeutete für einen von ihnen den Tod.

Tungdils Hinken wurde stärker, das Bein gehorchte ihm nicht mehr. Als Ondori mit beiden Waffen gleichzeitig nach ihm stach und der Druck zu groß wurde, knickte es einfach unter ihm weg und trug ihn in die Klinge der Albin hinein.

Die Waffe drang in die Naht zwischen der Vorder- und der Rückseite des Harnischs ein, durchstieß das Leder darunter und bohrte sich in die Rippen. Dem geschwächten Zwerg wurde schwarz vor Augen; durch den Schleier hindurch sah er den dunklen Umriss seiner Gegnerin, die ein weiteres Mal zuschlug.

Vraccas, sind es die Menschen und Elben nicht mehr wert, dass wir sie beschützen?, rief er in Gedanken seinen Gott an. Wende dich nicht von uns ab, ewiger Schmied, sondern stehe uns bei, damit wir deine Aufgabe erfüllen können. Er reckte Ondori die Axt entgegen, die sie mit einem wilden Lachen zur Seite fegte.

»Ein guter Gegner, aber nicht der beste«, höhnte sie. Mit einem Tritt ins Gesicht raubte sie ihm den letzten Widerstand, dann kniete sie sich neben ihn, und die Klinge ihrer Waffe presste sich unter dem Helm des Metalls hindurch gegen seine Kehle. »Stirb, Tungdil Goldhand.« Ihr entstelltes Gesicht war voller Erwartung; man sah ihr an, dass es sie gereizt hätte, ihre Schneiden langsam durch die Haut und in das Fleisch des Zwerges zu bohren, ihm dann ein, zwei Atemzüge der Erholung zu gönnen, nur um ihn erneut zu foltern und ihm die Schmerzen zuzufügen, die sie beim Tod ihrer Eltern empfunden hatte. Doch die Zeit blieb ihr nicht, und so würde sie den Mörder in aller Kürze maßlos leidvoll sterben lassen und sich an seinem Todeskampf weiden.

»Ich würde Sinthoras und deine Mutter jederzeit wieder töten«, sagte er mühsam; sein Mund fühlte sich nach dem Tritt taub und geschwollen an.

»Du wirst keinen Alb mehr töten.« Die Muskeln an Ondoris Oberarm spannten sich, der tödliche Stich stand kurz bevor.

Da krachte es laut. Teile des Turmdachs, Ziegelbröckchen und in kleine Stücke geborstene Holzbalken flogen durch die Luft und regneten auch auf Tungdil und Ondori nieder.

Ehe sie den Schreck überwunden hatten, entsprang über dem zweithöchsten Turm Poristas ein gleißend heller Stern.


*

Tungdil, der mit dem Rücken an der Balustrade lehnte und an der Albin vorbei einen guten Blick auf die Spitze des Turms hatte, sah, wie eine Säule aus Licht senkrecht nach oben in den grauen Winterhimmel stieg und sich zu einer zehn Schritt durchmessenden Kugel ballte. Nein! Der Eoîl hat es doch geschafft!

Die Energien stiegen aus dem Gewölbe des Palasts und rauschten pulsierend in sie hinein. Die magische Quelle pumpte ihre gesamte Kraft in die Sphäre, während der Boden unter Porista und damit auch der Turm ins Schwanken geriet.

Ich ahnte es. Es kann nicht gut sein, dass der Eoîl verändert, was von den Göttern so erschaffen wurde. Tungdil nutzte die Ablenkung, um Ondoris Handgelenk zu ergreifen und sie davon abzuhalten, seinen Hals aufzuschlitzen.

Sie rammte ihm den Ellbogen gegen den Helm, dann setzte sie ihr gesamtes Gewicht ein, um die Waffe in seinen Leib zu versenken. Beide zitterten, holten die letzten Reserven aus sich heraus, und es schien, als besäße die Albin mehr davon.

Die Schneide ritzte seinen Hals. Ondori schnaufte siegesgewiss. »Nichts wird dir helfen, dein unnützes Leben zu bewahren. Stirb endlich!«

Der neue strahlende Stern über den Dächern der Stadt saugte sich voll und voller, gierig verschlang er die rohe Magie, bis der Strahl zu flackern begann und erlosch.

Dann explodierte das Gestirn in einem einzigen, hellen Ton, klarer als das Klirren eines Hammers auf einem Amboss, lauter als grollender Donner und durchdringender als der Schrei eines kleinen Kindes. Es überschüttete Porista mit seinem Schimmer und badete die Menschen, Zwerge und Albae in seinem Licht.

Ondoris schwarze Augen wandelten sich, sie wurden zu reiner Helligkeit, während sich ihre Züge vor Grauen verzerrten. »Tion, ich flehe...« Ein silbrig weißes Schimmern drang aus jeder einzelnen Pore.

Tungdil konnte den Blick nicht von dem Schauspiel wenden, das darin gipfelte, dass sich schwarzer Dunst aus der Albin löste und nach oben schwebte. Von ihr ging plötzlich eine immense Hitze aus, sie öffnete den Mund zu einem tierhaften Schrei und zerfiel mit allem, was sie an sich trug und in den Händen hielt, zu Asche, die vom Winterwind davongewirbelt wurde.

Nun gewahrte Tungdil Narmora. Sie stand schwankend und kreischte gellend, während das Leuchten aus ihrem Brustkorb austrat. Bleiche Flammen schlugen daraus hervor, als bestünde sie in ihrem Innern aus Stroh. Sie verstummte und stürzte auf den Boden der Balustrade, während sie weiterbrannte.

Der Zwerg wandte erschüttert die Augen ab, ihr war mit irdischen Kräften nicht mehr zu helfen. Von den Unauslöschlichen und ihren Rüstungen entdeckte er nichts mehr. Hat der Eoîl die Wahrheit gesagt? Er zog sich an der Brüstung auf die Beine und lehnte sich auf die Begrenzung, um zu sehen, was in Porista geschah.

Aus den Energien des Sterns hatte sich unmittelbar nach der Detonation eine strahlenden Halbkugel geformt, die sich wie eine Glocke um die Palastanlage stülpte, sich gleichmäßig nach allen Seiten ausdehnte und dabei immer mehr Geschwindigkeit aufnahm. Sie durchdrang alles, wanderte durch Häuser und Tempel; Stein war ihr dabei ebenso wenig ein Hindernis wie Holz oder die Körper der Kreaturen.

Die Kämpfe in den Gassen und an den Toren hatten aufgehört. Alle Augen richteten sich auf die heranschießende Wand aus Licht.

Die ersten Albae wurden von ihr erfasst, durchdrungen und aufgelöst wie Ondori. Immer mehr von dem schwarzen Hauch stieg auf und sammelte sich um den Fahnenmast, wo der Eoîl den Stein in der kristallenen Fassung in die Höhe gezogen hatte. Die Schwaden kreisten anmutig um sich selbst, bildeten Schlieren und formten Nebelgespinste.

Die Albae, die sich noch vor den Toren der Stadt befanden, machten auf der Stelle kehrt und rannten in Todesangst davon; andere gaben ihren Nachtmahren die Sporen, um dem gnadenlosen Licht zu entkommen.

Doch nichts diente ihnen mehr als Schutz.

Tungdil sah, dass jeder Einzelne in der Reinheit verging und sich das Böse aus ihm löste, während die leuchtende Glocke sich weiter ausdehnte, bis ihre äußeren Ränder zu einem schwachen Schimmern am Horizont geworden waren. Von allen Seiten waberte schwarzer Dunst auf Porista zu, um sich über seinem Kopf zu sammeln.

Dann spürte er die Schläge, die durch den Turm liefen. Die Erde schüttelte sich erneut.

Der Zwerg richtete seine Aufmerksamkeit auf die Balustrade. Er sah Narmora zur Hälfte verkohlt auf dem Stein liegen, vor ihrem ausgebranntem Brustkorb lag ein grüner Edelstein. Also doch!

»Magie sollte verboten werden.« Rodario kam nach seinem Zusammenprall mit der Mauer und dem harten Boden wieder zu sich. Als er sich aufrichtete, entdeckte er Narmoras Leichnam und erschrak. »Bei Palandiell! Er... hat sie getötet!«

»Nein, das Böse in ihr hat sie getötet.«

Der Eoîl stand neben der Turmwand, seine Linke ließ den Drahtstummel los, der aus dem Mauerwerk ragte. Das Leuchten um das Wesen herum hatte aufgehört.

Nun offenbarte sich ihnen eine hoch gewachsene Frau mit langen, blonden Haaren, deren Gesicht zu schmal und zu hübsch für einen Menschen war. Sie hatte den schlanken Leib in eine weiße, makellose Robe gehüllt, ihre Linke hielt ein Schwert, an dem das dunkle Blut der Unauslöschlichen haftete. Kaum merklich standen die Spitzen ihrer Ohren aus den Haaren hervor.

»Ich erweckte den Stern der Prüfung.« Sie verneigte sich leicht vor Rodario und Tungdil. »Ihr habt vor ihm bestanden und nichts mehr von mir zu befürchten.« Ihre blauen Augen richteten sich auf die schwarze Wolke. »Das ist die Essenz des Schlechten, die sich bald in Gutes wandeln wird.« Sie lächelte versonnen.

Rodario stemmte sich in die Höhe, schaute zu Tungdil und versuchte zu erkunden, was sie als Nächstes gegen ihre Gegenspielerin unternehmen sollten. »Ihr seid... eine Elbin?«

»Ich bin eine Eoîl, unbefleckt, rein und höher als das minderwertige Blut der Elben«, lautete die herablassende Antwort. »Keiner von ihnen vermag es, an mich heranzuragen, denn ich bin von den Händen Sitalias berührt.«

»Gib der Quelle ihre Kraft zurück«, verlangte Tungdil unbeeindruckt. Die Schmerzen traten in den Hintergrund, Vraccas schenkte ihm neue Zuversicht, denn nun sah er eine greifbare Gegnerin vor sich: eine überhebliche Spitzohrin, die sich für etwas Besseres hielt und in ihrer Anmaßung unsägliches Leid über das Geborgene Land bringen würde. Dieser Hochmut passte zu ihrer Abstammung. »Tue es, bevor etwas Schlimmeres als nur ein schwaches Beben geschieht.«

Sie schüttelte den Kopf, die blonden Haare bewegten sich wie seidene Fäden. »Sie ist versiegt. Der Stern der Prüfung hat ihre Kraft verbraucht.« Ihr rechter Arm hob sich und deutete nach oben. Schwarze Schleier flogen aus allen Himmelsrichtungen auf die Stadt zu und verwandelten den trüben Winternachmittag in tiefste Nacht. »Das ist sein Werk.«

Die Oger aus Borwôl aus dem Nordosten Urgons, die Orks aus Toboribor aus dem Süden Idoslâns, die verbliebenen Albae aus Dsôn Balsur, die scheußlichsten Bestien, die in den hintersten Winkeln des Geborgenen Landes hausten, waren von dem Stern der Prüfung ausgetilgt worden. Von ihnen blieb nichts als das Böse ihrer Seelen, das nach Porista strömte.

Die ersten der unheimlichen Gespinste senkten sich herab, berührten die gläserne Fassung um den Edelstein. Sie leuchtete auf und sog die Schwaden an. Schlagartig erstrahlte der Diamant wie ein erblühendes Gestirn am Firmament. Die Umwandlung hatte begonnen.

Rodario humpelte an Tungdils Seite, selbst er hatte seine Heiterkeit eingebüßt. Narmoras Tod ging ihm sehr nahe, auch wenn er um ihre Taten wusste. »Was tun wir?«

Der Zwerg erinnerte sich. »Erinnerst du dich, was Lirkim sagte, als wir sie gefangen haben? Über ihre Zauberkunst?«, raunte er dem Schauspieler zu, der soeben Ondoris Kampfstab aufhob, um ihm zum Schein als Stütze zu gebrauchen.

»Sie sagte, dass die Energie für ihre Zauber in ihren Schmuckstücken gebündelt sei.«

Tungdil betrachtete die Eoîl, die zwei Ringe an den Fingern und ein Amulett um den dünnen Hals trug. »Ich frage mich, ob sie im Stande ist zu zaubern oder«, seine Augen wanderten zum Fahnenmast, »sie erst wieder über Macht verfügt, wenn der Stein sich aufgeladen hat.« Er nahm die Beinschiene ab und verband notdürftig seine Oberschenkelwunde. Es sollte den Eindruck erwecken, als hätten sie ihren Widerstand aufgegeben und sich mit den neuen Gegebenheiten abgefunden. »Wir warten, bis der Stein das Böse in sich aufgenommen hat. Ich möchte nicht, dass es durch unsere Schuld frei bleibt.« Er zurrte das Stück Stoff fest über dem Schnitt zusammen. »Wenn sie ihn holen will, greifen wir sie an.«

Ein neuerliches Zittern lief durch den Turm, die Steine ächzten unter der Belastung.

»Und dann?«, wollte Rodario wissen.

»Werden wir sehen, ob sie zaubern kann.«

»Nein, danach. Ich gehe davon aus, dass wir siegen«, grinste er schwach.

»Werfen wir den Stein in die Öffnung der Quelle, wenn es so etwas gibt, und warten, was sich tut.« Seine braunen Augen blickten voller Entschlossenheit. »Eine andere Lösung fällt mir nicht ein. Die Elbin wird ihre Macht nicht freiwillig abgeben, und eine einzige Kreatur allein darf nicht diese Stärke erlangen, die ihr der Stein geben wird. Wer könnte sie aufhalten, wenn sie ihren ohnehin angegriffenen Verstand vollends verliert?«

Rodarios Hände krampften sich um den Speer. »Keine Pülverchen mehr, keine Fläschchen, kein Lug und kein Betrug.« Er deutete auf seine leeren Taschen. »So soll es kommen, dass ich mich als echter Krieger bewähren muss. Wer hätte das gedacht?«

»Ein Ausgestoßener und ein Schauspieler retten das Geborgene Land. Wolltest du nicht schon immer eine ruhmreiche Rolle, Unglaublicher?«, versuchte Tungdil, ihn aufzuheitern.

»Bei Palandiell, was gäbe ich dafür, etwas mehr proben zu können«, seufzte Rodario. »Ich mache mir dabei weniger Sorgen um meine Textpassagen als um die Fechtszene. Das letzte Mal fiel ich kopfüber von der Bühne.«

Der Zwerg klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst es meistern.« Er blickte prüfend zum Himmel, wo sich die letzten Schlieren anschickten, in die Fassung und von dieser in den Stein zu sickern. »Wir tun so, als gingest du nach unten, um Hilfe für mich zu holen. Auf mein Zeichen hin greifen wir von zwei Seiten an. Einer von uns wird es schaffen, ihr den tödlichen Stich zu versetzen.« Sie reichten sich die Hände.

Rodario nickte. »Du bist zu schwer für mich«, sagte er laut. »Ich muss mir jemanden suchen, der dich nach unten trägt. Mit der Verletzung kannst du unmöglich laufen.« Der Mime gab einen überzeugenden verzweifelten Freund und einen noch überzeugenderen Verletzten, der ächzend und auf den Stab gestützt auf die Tür zuhinkte, die zu der Treppe nach unten führte.

Die Eoîl beachtete weder ihn noch Tungdil. Mit einem verklärten Ausdruck auf dem Gesicht und Augen, die so schön waren, dass es dem Zwerg Unbehagen bereitete, schaute sie auf den Stein, dessen Funkeln zunahm.

Es wurde heller, graue Schneewolken kehrten zurück und luden ihre weiße Fracht über den Dächern ab. Die dunklen Schleier über Porista waren verschwunden, das Böse hatte sich durch die kristallene Einfassung und die Runen zu magischer Energie geformt, gefangen in dem Diamanten.

»Es ist soweit.« Sie schritt auf den Fahnenmast zu. »Ich habe dir versprochen, das Geborgene Land zu verlassen, und das werde ich auch tun. Ich hinterlasse es euch gereinigt vom Bösen.«

Tungdil gab Rodario das Signal und setzte sich in Bewegung, um die Eoîl abzufangen.

»Lass die Finger von dem Stein«, sprach er warnend. »Die Macht ist zu groß für dich.«

Sie schaute ihn verwundert an, der Widerstand überraschte sie. »Also wünschst du doch mein Feind zu sein und zu sterben, Untergründiger?« Sie hob den linken Arm. »Ich erfülle dir gern deinen...«

Ein länglicher Gegenstand zischte durch die Luft, traf sie in die rechte Seite und schleuderte sie gegen die Brüstung. Rodario hatte den Stab mit der Klinge voraus geworfen und die Eoîl zu seinem eigenen Erstaunen getroffen.

»Ha!«, jubelte er, zog sein Kurzschwert und näherte sich ihr. »Von wegen göttlich. Wir haben deine Schwäche erkannt! Du besitzt keine Kraft, solange du den Stein nicht trägst, Elbin. Alle Energie steckt in ihm.«

Tungdil erreichte den Fahnenmast und kappte das Halteseil mit einem leichten Schlag. Die Fassung mitsamt dem Diamanten senkte sich in seine Hand. Schnell riss er die Kordel ab, an der der Stein am Haltehaken hing, und steckte ihn hinter seine Gürtelschnalle. »Du bekommst ihn nicht.« Er hinkte weiter, genau auf sie zu. »Und du bekommst auch keine Gnade für das, was du und deine Avatarfreunde den Menschen im Geborgenen Land angetan haben.«

Blut rann aus ihrem Mundwinkel und befleckte die reine, weiße Robe. Sie zog sich den Speer aus der Seite und erhob sich; ein hellroter Fleck breitete sich unterhalb des Einstichs aus. Jählings griff sie den Zwerg mit ihrem Schwert an, der ihren unglaublich schnellen Schlag mit Mühe parierte. Klirrend trafen Axtschneide und Schwertklinge aufeinander.

Ihr graziler Körper täuschte. Die Wucht hinter dem Hieb kam dem eines gestandenen Zwergs nahe, Tungdils angeschlagenes Bein gab schon wieder nach.

Glücklicherweise eilte Rodario herbei und schlug nach der Eoîl, die dem ungestümen Angriff mit einer leichtfüßigen Bewegung entging. »Wahrlich, Ihr seid schnell, aber es wird Euch...«

Ohne hinzusehen, stach sie mit ihrer Waffe blitzartig nach dem Mimen und jagte ihm den Stahl mitten in den Bauch. Rodario krümmte sich und schrie gellend, als sie das Schwert drehte und herauszog.

Tungdil aber hatte bereits zu einem Schlag ausgeholt.

Die Axt hielt dumpf surrend auf die verletzte Stelle der Gegnerin zu, die ihr Schwert augenblicklich zur Abwehr hob.

Die schmale Schneide zerbrach unter der Kraft des Hiebes, sie vermochte die Attacke nicht abzuwehren, und gleich darauf steckte die Axt bis zum schweren Kopf im Körper der Eoîl.

Der Zwerg hatte so viel Gewalt hineingelegt, dass sie seitwärts geschleudert wurde und gegen die niedrige Balustrade prallte. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel darüber.

Tungdil ließ den Griff seiner Waffe los, er wollte ihr keinen Halt bieten. Er schaute über den Rand des Geländers und sah, wie die Eoîl in die Tiefe stürzte.

Zweimal streifte sie dabei die sandfarbene Wand des Turms, Blutwolken sprühten auf, als ihr Fleisch von den Knochen geschält wurde. Letztlich zerschellte sie am Fuße des Bauwerkes, ihr dünner Leib wurde durch den Aufprall zerrissen.

Die Götter standen nicht auf deiner Seite, dachte der Zwerg erleichtert beim Anblick des zerstörten Körpers. Er berührte die Schließe, hinter der er den Diamanten trug.

»Ich wusste, warum ich mir Sorgen gemacht habe«, hörte er Rodario hinter sich stöhnen, der sich die Hände vor den Bauch hielt und die Blutung aufzuhalten versuchte. »Aber hier von der Bühne zu fallen, wäre schlimmer gewesen.«

Tungdil humpelte zu ihm, ein Blick genügte. »Es ist die linke Seite, die verletzt wurde. Der Stich ist weit genug unten, dass dir das Spitzohr deine wichtigen Organe nicht durchbohren konnte«, machte er ihm Mut. »Ich gehe und...« Er hörte Schritte und das Scheppern von Rüstungen, welche die Treppe heraufkamen. »Es ist noch nicht vorbei.« Der Zwerg stellte sich schützend vor den Verletzten, in seiner Not zog er den Dolch, um den Männern der Eoîl begegnen zu können.

Eine kleine, gerüstete Gestalt sprang aus der Türöffnung, den Krähenschnabel schwingend.

Als sie sah, dass es nichts mehr zu bekämpfen gab, stellte sie die Waffe auf den Boden, schob das Helmvisier quietschend nach oben und zeigte ihr furchiges, bärtiges Gesicht.

Vorwurfsvoll schaute sie zuerst auf Tungdil, dann auf den Dolch. »Was denn, Gelehrter? Hast du deine Axt etwa schon wieder geworfen?«


*

Die Zwerge hielten sich nicht mit langen Erklärungen auf.

Tungdil und Boïndil stiegen die Treppe nach unten, vorbei an dem Durchbruch, den das Wesen des Eoîl am Fuß des Turms geschaffen hatte, und gelangten tiefer in die Gewölbe des Palasts.

Ingrimmsch führte Tungdil, denn er wusste genau, wo sich der Ursprung der Quelle befand.

»Ich glaube, sie hat meinen Sturz aufgefangen«, berichtete er unterwegs. »Ich fiel lange und hatte Zeit genug, zu Vraccas zu beten, als ich plötzlich langsamer wurde und das Eisen um meinen Leib immer heißer wurde. Dann schwebte ich und glitt langsam wie eine Feder zu Boden.« Er deutete hinunter in die Schwärze. »Da unten, da muss die Quelle sein. Ich wäre genau in sie hineingefallen.«

»Die Rüstung hat dich wahrscheinlich gerettet«, mutmaßte Tungdil. »Balyndis wird stolz sein, wenn sie hört, was das Geborgene Land und wir ihr alles zu verdanken haben.«

Die Erde rumorte unter ihren Füßen. Dieses Mal hielt das Beben lange an, Steinstaub rieselte herab, die Mauer des Turmes zerrieb sich durch die ständigen Erschütterungen, und Tungdil glaubte, einen Riss in dem Bauwerk zu erkennen. Schon ging das Rütteln in ein beständiges Zittern über.

»Ist die Quelle sehr weit unten?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. Die Schmerzen in seinem verletzten Oberschenkel waren kaum mehr zu ertragen, doch er nahm sich Boïndil zum Vorbild, dem es mit seiner durchstochenen Schulter nicht besser erging.

»Es sind schon einige Stiegen. Ich habe lange gebraucht, bis ich wieder bei euch war«, gab er zurück. »Ich sagte doch, dass der Turm mangelhaft gebaut ist.« Er dachte dabei an die flaschenzugähnlichen Aufzüge, wie sie die Ersten im Roten Gebirge konstruiert hatten. Damit wäre es möglich gewesen, den Höhenunterschied in wenigen Lidschlägen zu überbrücken. »Die Magi sind sicherlich hinaufgeflogen«, brummte er und stützte seinen Freund.

Sie gelangten auf den mit Teppichen ausgeschlagenen Boden des Gewölbes. Genau in der Mitte war eine Aussparung, wo mystische Zeichen auf dem Stein prangten. Tungdil hatte mit einem Loch, einer Vertiefung oder irgendeiner Einfassung gerechnet, wie man es bei einer Quelle erwartete. Anscheinend verhielt es sich bei Magie anders als bei Wasser.

Ingrimmsch schaute skeptisch auf die kahle Stelle, hielt prüfend die Hand darüber, doch es geschah nichts. »Sie tut nichts mehr.«

Der Zwerg nahm die Kristallfassung mit dem Diamanten heraus. »Hoffen wir, dass wir es rückgängig machen können.« Bedächtig legte er sie auf den blanken Stein zwischen den Symbolen und Runen, dann warteten sie gespannt.

Das Rütteln ließ nicht nach, es verstärkte sich sogar. Sie vernahmen, wie das Fundament des gewaltigen Turms um sie herum bröckelte, Steine fielen aus der Gewölbedecke und polterten hernieder.

»Es wird nicht mehr lange halten.« Boïndil fuhr mit den Fingern über die Mauer. »Wenn er einbricht, reißt er die anderen Türme und die Kuppelhalle mit sich. Wir müssen raus, Gelehrter.«

Tungdil starrte auf die Runen an der Quelle, die weder aufleuchten noch blinken wollten; auch die Einfassung um den Diamanten verhielt sich unauffällig. Vielleicht muss der Kristall zerstört werden.

»Gib mir den Krähenschnabel«, verlangte er von dem Zwilling. Mit der stumpfen Seite der Waffe nahm er Maß und schlug mit aller Kraft auf die Fassung, die in hunderte kleiner Stückchen barst. Der Diamant zeigte sich unversehrt, es regte sich aber nichts in seinem Inneren. »Verdammt!«, schrie Tungdil. »Verfluchte Quelle, erwache zum Leben!« Er drosch ein zweites Mal zu. »Erwache, hörst du!?«

Nach dem dritten Schlag gab der Zwerg auf. Was auch immer man benötigte, um sie dazu zu bringen, ihre Kraft fließen zu lassen, er kam nicht darauf.

Das Beben wurde stärker.

Ingrimmsch packte ihn an der Schulter. »Raus«, befahl er. »Der Turm wird gleich einstürzen.«

Tungdil nahm den Diamanten. Zusammen verließen sie das Gewölbe und liefen durch den verlassenen Palast, so schnell es ihnen ihre Verwundungen und ihr geschwächter Zustand erlaubten.

Sie kamen an der seltsamen Kreatur vorbei, die erschlagen und von toten Dritten umringt auf dem Marmor lag, sie passierten tote Soldaten, die den Avataren gedient hatten, nur von den Albae fehlte jede Spur.

Keuchend eilten sie die breite Freitreppe des Palasts hinab in den Vorhof, wo sie auf Rodario stießen, der von ein paar Zwergen auf einer Trage in Sicherheit gebracht wurde.

Das Tor ließ sich mühelos öffnen, ohne die magische Quelle verloren die Schutzrunen ihre Wirkung. Auch die Skelette derer, die über die Mauer klettern wollten und an den unsichtbaren Mächten hängen geblieben, verdurstet und gestorben waren, waren hinuntergefallen. Alle Magie war aus Porista gewichen.

Ein neuerliches wütendes Beben versetzte dem zweithöchsten Turm den Todesstoß.

Sie wandten sich um, um den Niedergang des einst so glanzvollen Palasts zu verfolgen. Das Bauwerk schwankte wie eine Ähre im Wind; es legte sich so weit zur Seite, dass die Mauern nicht mehr hielten und das obere Drittel abbrach.

Die Spitze mit der schweren Balustrade schlug gegen den höchsten der Türme und riss ihn ein; er fiel in sich zusammen, die Trümmer prallten gegen den Palast und zerschlugen das große Kuppeldach, während die sandfarbenen Türme einer nach dem anderen umstürzten.

Die aufsteigenden Staubwolken nahmen den Zwergen die Sicht und rollten wie eine hellbraune Wand heran. Steinsplitter flogen nun auch bis zu ihnen, und das Geräusch berstender Steine wollte nicht mehr enden.

Sie gingen hinter der Palastmauer in Deckung und warteten, bis die Zerstörung ein Ende hatte. Staub umschloss sie trüber als dickster Nebel und verklebte Augen und Nase. Wer sich kein Tuch vors Gesicht hielt, begann laut zu husten und zu keuchen.

Endlich beruhigte sich die Erde unter ihnen wieder, das Rütteln hörte auf.

Tungdil wischte sich den Dreck aus den Augen und langte in den Schnee, um sich damit den Staub aus dem Gesicht zu waschen. Welch eine Zerstörung.

Die gesamte Anlage war zu einem einzigen Ruinenfeld geworden, nichts erinnerte mehr an die einstige Pracht. Tonnen von Steinen hatten sie zerschlagen, das Wissen aus tausenden von Sonnenzyklen unter sich begraben und vernichtet. Es schien, als hätte die sterbende Quelle beschlossen, dass es ohne Magi und Magae weder magisches Wissen noch den Palast geben dürfe. Porista und das Geborgene Land blieben ohne Zauberkundige zurück.

Gedankenverloren umfasste Tungdil den Diamanten in seiner Tasche. Was mache ich nun mit dir?

Zahlreiche Schritte näherten sich; die Zwerge hörten das vertraute Klimpern von Kettenhemden, und aus den letzten Schmutzschlieren traten Xamtys und ihre Krieger Seite an Seite mit Gemmil und seinen Streitern. Tungdil erkannte Balyndisʹ strahlendes Gesicht neben der Königin.

»Vraccas sei gepriesen, ihr lebt!«, rief sie glücklich. Sie hatte die Schlacht mit kleineren Blessuren überstanden, an den Zacken ihrer Keule klebte das Blut der Feinde. »Als wir die Türme fallen sahen, befürchteten wir das Schlimmste.«

»Vielleicht ist das Schlimmste geschehen, und wir befinden uns an der falschen Stelle, um es zu sehen«, gab Tungdil düster zurück. Dennoch freute er sich bei allem Übel um ihn herum, die Schmiedin zu sehen.

Sie kam an seine Seite und drückte ihn vorsichtig an sich. »Wir haben die Streitmacht der Avatare besiegt.«

»Und wir haben die Avatare besiegt«, sagte Rodario hüstelnd. »Tungdil und ich. Ein großartiges Schauspiel. Stellt euch vor, der Eoîl war eine...«

»... Nebelgestalt«, fiel ihm Tungdil ins Wort. »Der Eoîl war eine Nebelgestalt, ähnlich wie der Dämon, der Nudin zum Verräter machte«, wiederholte er mit bestimmtem Tonfall, um dem Mimen zu bedeuten, nichts von der Elbin zu verraten. Er fürchtete, dass ansonsten die ohnehin gespannten Beziehungen zwischen seinem Volk und den Elben durch die Neuigkeit einen weiteren Riss bekommen könnten und die Elben auch bei den Menschen in Verruf gerieten. Für so manchen reichte es aus, wenn nur ein einzelner Vertreter einer Rasse oder eines Volkes etwas Schreckliches tat, um alle dafür strafen zu wollen.

Xamtys bemerkte sehr wohl, dass Rodario etwas anderes hatte sagen wollen. »Und wie habt ihr ihn ohne die Feuerklinge besiegen können?«

»Er beging den Fehler, menschliche Gestalt anzunehmen und sich dadurch verwundbar zu machen«, sprang der Schauspieler ein, der die Absicht hinter Tungdils Lüge erahnte. »Ein furchtbarer Kampf, aber letztlich lenkte ich ihn mit einem Stich ab, und unser neuerlicher Held Tungdil Goldhand verpasste ihm den vernichtenden Schlag.«

Der Staub lichtete sich, Schnee fiel wieder auf sie herab und drückte den Schmutz zu Boden. Er klärte die Luft und erlaubte es ihnen, frei zu atmen.

Xamtys warf Tungdil einen abschätzenden Blick zu, sagte jedoch nichts. Es gab keinen Grund, seine Worte vor den Augen und Ohren der stolzen Zwerge in Zweifel zu ziehen. »Ich schlage vor, ein Teil kehrt in unser Lager zurück und versorgt die Verletzten«, meinte sie stattdessen mit einem Fingerzeig auf die Wunden von Boïndil, Tungdil und Rodario. »Der Rest birgt unsere Toten.«

Tungdil setzte sich, gestützt von Balyndis, in Bewegung, als sein Fuß auf etwas Kleines, Hartes trat.

Ohne genau zu wissen, warum er es tat, bückte er sich und langte in den Schnee, um nach dem Gegenstand zu suchen. Er wühlte in dem Weiß herum und bekam einen fingerlangen Splitter zu fassen; er war grün, teilweise schwarz verfärbt, und gefrorenes Blut haftete daran.

Der Malachit, den Narmora in sich trug! Rasch steckte er ihn ein, ohne jemandem von seinem Fund zu berichten. »Nichts«, sagte er zur Schmiedin. »Ich dachte, ich wäre auf etwas getreten.«

In der Stadt hatte sich bereits herumgesprochen, dass der Kampf ausgestanden war.

Während sie durch die Gassen Poristas schritten, wurden hinter den Scheiben der Häuser die erleichterten Gesichter der Einwohner sichtbar. Bald öffneten sich die Türen, und die Menschen traten mit freudigen Minen heraus. Sie klatschten den Zwergen zu, ließen sie hochleben, man brachten ihnen zu essen und etwas Heißes zu trinken, sodass aus der Rückkehr ins Lager ein unvorhergesehener Triumphzug der Avatarenbezwinger wurde.

Die Zwerge nahmen die Gaben dankend an. Auch wenn es nicht in ihrer Art lag, überschwängliche Freude vor Fremden zu zeigen, legte sich auf die bärtigen, erschöpften Gesichter ein zufriedenes Lächeln.

Weniger zurückhaltend präsentierte sich Rodario, der von seiner Trage aus majestätisch winkte und sehr darauf bedacht war, gesehen zu werden.

»Liebe Leute, bald werdet ihr auf der Bühne erleben können, wie der Eoîl sein Leben gegen den tapferen Zwerg und mich, den Unglaublichen Rodario, verlor«, rief er laut. »Lang leben die Zwerge und lang leben die Menschen von Porista!« Seine Worte wurden mit neuerlichen Begeisterungsrufen quittiert. »Eine bessere Werbung für mich und das Curiosum kann es gar nicht geben«, raunte er dem kopfschüttelnden Ingrimmsch zu.

Tungdil überlegte bei der Rückkehr ins Lager, was er Xamtys und den Königen erzählen sollte. Der Eoîl wird, wenn es nach mir geht, auf ewig ein Dämon bleiben. Rodario und ich kennen die Wahrheit, die schädlicher wäre als die Lüge. Dass er den unglückseligen Malachit besaß, wollte er auf alle Fälle verschweigen, von dem Diamanten würde er ihnen dagegen berichten. Es galt, eine Lösung zu finden, um den machtvollen Stein vor dem Zugriff Unwürdiger zu schützen.


Auf dem freien Feld vor Porista offenbarten sich den Zwergen die Auswirkungen des Bebens.

Die verschneiten Felder waren von breiten, dunklen Spalten durchzogen, die Erde hatte sich an manchen Stellen geöffnet und alles verschlungen, was sich darauf befunden hatte. Glücklicherweise war das Heerquartier der Zwerge verschont worden; ein Spalt schlängelte sich exakt zwischen den Zelten hindurch, als wollte er keines von ihnen in die Tiefe reißen.

»Wir haben keine allzu schweren Verluste erlitten«, berichtete Balyndis, als Tungdil sich auf Geheiß eines Heilers auf eine Liege bettete und seine Wunden versorgt wurden. Die Schmiedin gab sich Mühe, ihn von den kommenden Schmerzen abzulenken. »Die Albae haben uns einen großen Teil der Arbeit abgenommen. Aber an der Nordseite, wo die Dritten angriffen, gab es ein Massaker. Die Streiter der Avatare rechneten dort mit unserem Hauptangriff, und obwohl es gute Krieger sind, überstanden sie die Attacken nicht. Nur eine Hand voll blieb übrig.«

Der Heiler entfernte den Verband und drückte die Wundränder auseinander, um in den Schnitt zu schauen.

»Salfalur?«, knurrte Tungdil und unterdrückte den Schrei.

Sie schüttelte den Kopf. »Er und Lorimbas fielen beim Rückzug, so berichteten uns die Überlebenden. Wir werden ihre Leichen suchen.«

Erleichtert und enttäuscht zugleich atmete er auf. Damit war der Mord an seinen leiblichen Eltern zwar gerächt, aber leider nicht von ihm. Auch der Tod Myrs wurde Salfalur nicht so vergolten, wie er es verdient hätte. »Aber er ist tot. Ich hoffe, dass ihre Seelen in der Ewigen Schmiede seine Vernichtung feiern.«

Balyndis gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Das werden sie sicherlich.« Für einen Augenblick herrschte wieder ein Gefühl von Vertrautheit zwischen ihnen, es war Liebe, die sie verband und ewig miteinander verbinden würde.

Das Fell am Eingang des Heilerzeltes wurde nach hinten geschlagen. Furgas stürmte herein und blickte sich um, dann entdeckte er Tungdil und eilte auf ihn zu. Seine Augen waren gerötet, so als hätte er geweint.

»Tungdil! Ich bin froh, dich lebend zu sehen.« Sie reichten sich die Hände. »Man sagte mir, dass du mir vielleicht berichten könntest, was aus Narmora geworden ist«, begann er mit belegter Stimme. »Ich habe sie in der Stadt nirgends finden können, sie hatte das Tor beim Angriff verlassen und...« Eine Träne sickerte aus seinem Augenwinkel, lief die Wange herab, seine Unterlippe begann zu zittern. »Was ist mit ihr?«, raunte er erstickt. »Muss ich nach meiner Tochter nun auch noch meine Gemahlin begraben?«

Dem Zwerg wurde eiskalt. Der Stern der Prüfung! Er hat auch mit der kleinen Dorsa kein Mitleid gezeigt. Eine schreckliche Wut auf die Eoîl stieg in ihm hoch. Auch wenn Dorsa einen Anteil Albaeblut in sich getragen hatte, war das süße Geschöpf doch bisher niemals in der Lage gewesen, Schlechtes zu tun.

»Sie starb, als sie sich der Eoîl entgegenstellte.« Er wollte, dass Furgas Narmora als Heldin in Erinnerung behielt. »Sie tat alles, um eure Tochter vor dem Stern der Prüfung zu bewahren, aber der Macht der Eoîl war sie nicht gewachsen. Auch wir haben es vergeblich versucht.«

Furgas stieß einen verzweifelten Schrei aus und barg das Gesicht in den Händen. Laut erklang sein Weinen, und es schnitt tief in Tungdils Seele. Ihm stieg das Wasser in die Augen; auch Balyndis konnte ihr Mitgefühl nicht unterdrücken, sie nahm den Mann in den Arm, der den Sieg über die Avatare wohl am bittersten von ihnen bezahlt hatte.

»Wofür?«, fragte er gedämpft. »Wofür haben wir all das unternommen, Tungdil?« Er nahm die Hände weg und schaute den Zwerg hadernd an. »Wir haben gekämpft, weil wir dachten, das Geborgene Land ginge gegen sie verloren.« Er sprang auf und zeigte auf den Ausgang. »Aber es ist nichts Schreckliches geschehen! So viele Tote wegen nichts und wieder nichts! Sie haben uns das Böse vom Hals geschafft, und wir haben uns ihnen in den Weg gestellt, anstatt uns mit ihnen zu einigen. Wir hätten das alles vermeiden können!« Er sank auf den Stuhl. »Und Narmora und Dorsa würden noch leben«, flüsterte er.

»Furgas, deine unsägliche Trauer und der Verlust blenden deinen Verstand«, versuchte Tungdil, den Mann zu beruhigen. »Sie hätten den Stern der Prüfung...«

»Nein! Wir hätten ihnen den Weg nach Toboribor, nach Borwôl und zu den anderen Bestien auf Straßen weisen können, die ungefährlich für uns waren, und sie hätten sie mit ihrem Heer niedergeworfen, ohne diesen verfluchten Zauber zu nutzen, der mir Kind und Weib raubte«, fuhr er aufgebracht dazwischen. »Aber wir haben sie angegriffen.« Er stand auf, musterte den Zwerg hasserfüllt. »Wir haben sie angegriffen wegen euch. Ich habe auf den Rat deines Volkes vertraut, Tungdil, wie viele andere Menschen im Geborgenen Land. Dieses Mal war ich schlecht beraten. Palandiell soll mich von nun an vor euresgleichen behüten.«

Furgas wandte sich abrupt um und achtete nicht auf die Rufe von Tungdil. Voller Zorn verschwand er aus dem Heilerzelt.

»Lass ihn«, empfahl ihm Balyndis. »Er hat zu viel verloren, als dass er jetzt zur Vernunft kommen könnte. Gib ihm Zeit.«

Der Heiler machte mit einem Räuspern auf sich aufmerksam. »Du hast einen Splitter des Speers, der dich traf, im Knochen stecken. Ich muss ihn entfernen«, sagte er und reichte ihm einen lederumwickelten Eisenbeißklotz. Tungdil wollte ihn zuerst ablehnen. »Nimm ihn. Es wird wehtun.«

Also schob er ihn sich zwischen die Zähne. Balyndis hielt seine Hand, als die Gehilfen des Heilers die Wundränder mit gebogenen Haken auseinander zogen, damit er besser an den Knochen gelangte. Als sich die Backen der Zange um das Metallstück schlossen und der Heiler zu zerren begann, schwanden seine Sinne. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt zuzubeißen.




Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreiches Lios Nudin, Porista,

6234./6235. Sonnenzyklus, Winter


Die Bewohner Poristas entdeckten in den Gräben, welche die Beben gerissen hatten, doch noch etwas Gutes. Auf diese Weise ersparten sie sich die Mühe, den gefrorenen Boden aufzuhacken, um die vielen Leichen zu beerdigen.

Die toten Soldaten der Avatare wurden ohne Zeremonie in die Risse geworfen; zum Schließen der Massengräber nutzten die Städter den geröllartigen Schutt, der von der zusammengebrochenen Palastanlage stammte.

In eigenen, weit abseits von den Menschen gelegenen Gräben fanden die gefallenen Zwerge ihre letzte Ruhestätte. Seite an Seite lagen nun die Ersten, die Freien und die Dritten, vereint im Kampf und nun im Tod. Zum ersten Mal herrschte Frieden zwischen den Stämmen, und Tungdil war sich sicher, dass in der Ewigen Schmiede Platz für alle Zwerge war, die sich nichts vor Vraccas hatten zuschulden kommen lassen.

Boëndal Pinnhand aus dem Clan der Axtschwinger vom Stamm der Zweiten kehrte als Held in seine Heimat, das Blaue Gebirge, zurück - allerdings anders, als es sich Tungdil und alle anderen Zwerge für ihn gewünscht hatten. Boëndal überstand seine schweren Brandwunden nicht, auch wenn die Heiler alles versucht hatten, um die Flamme seiner Lebensesse zu bewahren.

Sie ließen ihm die kostbare Rüstung, um seine Größe als Krieger zu unterstreichen, hievten ihn auf einen Schild und trugen ihn in einem Ehrenzug durch das Feldlager, durch die Gassen und Straßen Poristas, ehe Ingrimmsch und eine Abordnung der Ersten mit seinem Leichnam nach Süden aufbrachen.

»Ich werde ihn nicht in dieser Erde verscharren«, beharrte ein gebrochener, niedergeschlagener Boïndil. Der Verlust traf ihn schwer, ein Teil von ihm selbst war gestorben. »Es war sein Wunsch gewesen, an der Hohen Pforte begraben zu werden, damit er Wacht hält über das Geborgene Land und nichts Böses Einlass findet.«

Tungdil beugte ergriffen das Haupt vor dem toten Freund, berührte voller Gram die kalten, verbrannten Finger und schämte sich seiner Tränen nicht. Verzeih, wenn ich dich nicht begleite. Es sind noch dringende Dinge zu erledigen, aber ich werde dein Grab besuchen und dir gute Kunde bringen. Dann nahm er Boïndil in den Arm. Sie weinten um den Bruder, um den Gefährten, mit dem sie so viel erlebt hatten.

»Wer wird mich zurückhalten, wenn ich der Raserei zu erliegen drohe?«, schluchzte der einsame Zwilling. Salzige Tränen perlten über seinen schwarzen Bart und froren zu einer einzigen, klaren Perle.

»Ich werde bald zur Stelle sein«, gab Tungdil erstickt zurück »Wir werden so manchen Humpen auf Boëndal leeren, werden uns an ihn erinnern und ihn vor uns sehen, wie er zusammen mit Sanda und all denen feiert, die im Kampf gegen das Böse gefallen sind. Vraccas hat seiner Seele sicherlich einen angemessenen Empfang bereitet.«

Sie drückten einander, dann gab Ingrimmsch das Zeichen zum Aufbruch. Äußerst nachdenklich kehrte Tungdil in seine Unterkunft zurück, wo ihn ein trauriger Rodario erwartete.

»Er ist weg«, seufzte er.

»Ich weiß, ich habe mich eben von ihm verabschiedet«, gab der Zwerg zur Antwort, doch der Mann winkte ab.

»Nein, nicht Ingrimmsch. Furgas. Mein Magister technicus ist auf und davon, ohne mir oder irgendjemandem etwas davon zu sagen.« Hilflos hob er die Schultern. »Was mache ich denn nun?«

Tungdil schenkte sich Tee ein und reichte seinem Besucher ebenfalls einen Becher. »Angst um dein Curiosum?«

»Vergiss doch das Curiosum, Tungdil«, wehrte er empört ab. »Ich mache mir Sorgen um meinen Freund Furgas. Sicher bange ich auch ein wenig um den technischen Firlefanz, aber meine Unruhe gilt allein ihm.« Er nippte am Tee. »Was ihm widerfuhr, ist grausam. Erst liegt er in einer Giftstarre, die ihm Andôkais Intrigen beschert haben, dann erfährt er, dass er seinen Sohn verloren hat, und nicht einmal einen halben Sonnenzyklus später muss er an einem einzigen Umlauf sein verbranntes Kind beerdigen und um seine Gemahlin weinen, deren Reste wir im Schutt niemals finden werden.« Er seufzte ein weiteres Mal und noch schwerer. »Kann man das aushalten, ohne an den eigenen Tod zu denken? Wenn er sich etwas antut?«

»Glaube ich nicht.« Tungdil gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen. »Wollte er sich das Leben nehmen, so würde er es in Porista tun, wo alles unter der Erde liegt, was ihm etwas bedeutet hat. Er wird auf Reisen gegangen sein, um mit sich ins Reine zu kommen.«

Rodario dachte über die Erklärung nach und klammerte sich daran. »Deine Version gefällt mir wesentlich besser als meine. Ich schließe mich dir an, Held von Porista.«

»Soll ich dir etwas sagen, Rodario? Ich habe das Heldendasein satt«, gestand ihm der Zwerg müde. »Als ich Furgas das letzte Mal sah, sagte er Dinge im Zorn, die mich zum Grübeln brachten.« Er wiederholte die Worte des Freundes, dann nahm er einen Schluck vom Tee. »Und ich glaube, er hatte Recht«, fügte er leise an.

»Denkst du?« Der Schauspieler betrachtete den Dampf, der gegen die Zeltdecke stieg. »Wir hätten die Avatare gewähren lassen sollen? Er hat wohl vergessen, dass ihr kurzer Zug nach Dsôn Balsur fünf Städten den Untergang brachte. Das waren allein schon vierzigtausend Menschen, sagte man uns. Wie viele hätten noch ihr Leben verloren, wenn sie nach Borwôl und Toboribor gereist wären? Und was wäre geschehen, wenn die falschen Avatare ihr eigentliches Ziel erreicht hätten? Lirkim sagte, dass ein jeder von ihnen mehr als ein Kaiser sein würde, und du kannst dir an den Fingern abzählen, wie die Tage im Geborgenen Land geworden wären, wenn einer von ihnen über uns regiert hätte.« Er trank von dem Tee. »Nein, Tungdil. Wir haben das einzig Richtige getan. Wir haben nicht nur unsere Heimat, sondern auch die Menschen im Jenseitigen Land vor den Plänen der wahnsinnigen Magi und Magae gerettet, von der Eoîl will ich erst gar nicht anfangen.« Rodario nickte Tungdil lächelnd zu. »So sehr ich meinen Freund schätze, mit seinen Vorwürfen hatte er Unrecht. Die Zwerge - und vor allem du - haben sich Verdienste erworben, die mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen sind.«

Leiser Applaus ertönte vom Eingang her. Die versammelten Zwergenkönige Balendilín, Glaïmbar, Gemmil, Xamtys und Gandogar klatschten, Prinz Mallen stimmte in die Anerkennung für Tungdil mit ein.

»Wahrlich, ich höre einen Schauspieler zum ersten Mal die Wahrheit verkünden«, sagte der blonde Ido ohne eine Spur von Spöttelei. »Die Menschen in allen Königreichen sollen erfahren, was die Kinder des Schmieds getan und geopfert haben.«

Tungdil schaute auf die Gesichter der Königin und der fünf Könige, die mit ihren Heeren angekommen waren. Er empfand keine echte Freude, sie zu sehen. »Die Freien und die Dritten haben sich geopfert, auch die Ersten standen uns bei, als es gegen die übermächtigen Feinde ging«, berichtigte er das Lob. »Die anderen folgten einem zaudernden Großkönig, der die Augen vor dem verschloss, was ich ihm vorlegte.«

Gandogar neigte sein Haupt. »Du tust Recht daran, mich zu tadeln. Ich habe meine Schwäche erkannt, und Vraccas ist mein Zeuge, dass es sich von nun an nicht mehr wiederholen wird.«

Er trat ins Zelt, die anderen folgten ihm, suchten sich Sitzgelegenheiten. Es gab einiges zu bereden, und selbst Mallen sah so aus, als brenne ihm etwas auf der Seele.

»Tungdil Goldhand, ich möchte dich bitten, mein Berater zu sein«, sagte Gandogar getragen. »Wer es sich erlauben kann, die Ohren vor deinem Rat zu verschließen, ist ein Narr und kobolddumm.«

Es behagte Tungdil sehr, dass der Großkönig der Zwergenstämme ihn, einen Dritten, einen Ausgestoßenen, einen Findelzwerg und dennoch zweifachen Helden an seiner Seite wissen wollte. Aber es gab für ihn gewisse Dinge zu erledigen, ehe er diese Position annehmen durfte, und das sagte er Gandogar offen. Der Großkönig stimmte der Bedenkzeit zu.

»Ich bringe Euch Nachricht, von der ich nicht weiß, ob sie Euch freut oder wütend macht«, begann Mallen mit ernster Miene. »Als mich König Belletain bat, ihn mit seinem Heer durch mein Königreich ziehen zu lassen, ahnte ich nicht, was er beabsichtigte. Im Glauben, er eilte euch nach Porista zu Hilfe, sagte ich ihm uneingeschränktes Marschrecht durch Idoslân zu.« Seine Augen wanderten über die Gesichter der gespannt wartenden Zwerge. »Es hat seinen Grund, weshalb sein Heer die Stadt niemals erreichte.« Er holte tief Luft. »Es wandte sich nach Osten. Gegen das Schwarze Gebirge.« Er nahm einen zerknitterten Brief unter seinem Gewand hervor. »Als ich merkte, dass sein Heer in die falsche Richtung vorrückte, verlangte ich eine Erklärung für sein Tun. Er schrieb mir daraufhin, dass König Lorimbas für den Bruch eines Vertrages mit ihm bezahlen müsse und er die Gelegenheit nutzen wolle, sich an den Schätzen der Dritten zu laben, da ihm der versprochene Hort der Vierten nicht überantwortet worden war.« Er gab den Schrieb an Gandogar weiter, damit er diese Unglaublichkeit mit eigenen Augen las. »Es gab ein Bündnis zwischen Belletain und Lorimbas. Gegen Euch, Großkönig Gandogar, und Euren Stamm.«

»Ist er immer noch dort?«, fragte Xamtys, da Gandogar die Sprachlosigkeit gefangen hielt.

Mallen verneinte. »Ich sandte Späher aus, die mir berichteten, dass sie durch das offene Tor ins Reich der Dritten schreiten konnten, ohne dass ihnen der Zutritt verwehrt wurde. In den Gängen und geplünderten Hallen fanden sie die erschlagenen Körper von Zwergen, Zwerginnen und ihren Kindern. Das Heer Belletains übte auf Geheiß des Königs furchtbare Rache.«

»Keine Überlebenden?« Tungdil hörte die Worte, fand sie jedoch so erschreckend, dass er sie nicht glauben wollte.

»Bestimmt haben sich einige von ihnen verbergen können, das Reich ist ebenso weitläufig wie eines der unseren«, schätzte Xamtys, die aber stutzte, als sie den Einspruch Mallens vernahm.

»Meine Späher berichteten von zahlreichen eingestürzten Stollen. Die Beben«, sagte er zu Erklärung. »Ich möchte nicht ausschließen, dass es noch Dritte gibt, aber ihre Zahl wird gering sein.«

»Sie sind beinahe gänzlich ausgerottet«, sagte Tungdil leise. Als ich mir wünschte, dass Zwerge einander ohne Angst im Geborgenen Land begegnen können, meinte ich es nicht so, dachte er bestürzt. Er schaute zu Gandogar. »Auch wenn ich noch nicht dein Berater bin, empfehle ich, so schnell wie möglich ein kleines Heer in den Osten zu senden, um das Tor zu sichern, bevor Bestien Wind davon bekommen, dass es kaum mehr Bewacher gibt.«

»Die Dritten werden die Hilfe sicherlich annehmen. Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Es kann der Anfang eines neuen Zeitalters unserer Völker sein«, sagte Gemmil überzeugt. »Eines friedlicheren Zeitalters. Diejenigen der Dritten, die den schrecklichsten Hass gegen unser Volk in sich trugen, sind tot und liegen vor Porista begraben.«

»Und ich«, sagte Mallen, »werde die Herrscherinnen und Herrscher vom unverzeihlichen Verrat Belletains in Kenntnis setzen. Wir können es ihm nicht durchgehen lassen. Wer weiß, was der Wahnsinnige als Nächstes unternimmt und ob er nicht noch einen Krieg mit den Fünften anzettelt.« Die Zwerge bekundeten lauthals ihre Zustimmung.

»Ich muss euch noch etwas zeigen. Ich habe lange überlegt, ob ich es euch offenbaren soll, denn umso weniger davon wissen, desto besser.« Tungdil langte unter seine Rüstung, zog das kleine Ledersäckchen hervor, in dem er den Diamanten aufbewahrte, und legte ihn vor Mallen und den Zwergen auf den Tisch. »Doch ihr seid die Könige, die Edelsten eueres Volkes und habt ein Recht darauf, es zu erfahren.« Er strich über den Stein. »Das ist die neue und einzige Quelle magischer Energie im Geborgenen Land«, erklärte er ihnen. »Der Eoîl hat darin für einen Magus unermessliche Macht gespeichert, ehe wir ihn vernichtet haben.«

»Du ihn vernichtet hast«, berichtigte Rodario ihn leise und mit einem Lächeln.

Sie betrachteten den wunderschön geschliffenen Stein, dessen Wert Gandogar am besten von ihnen einzuschätzen verstand.

»Es ist ein Meisterwerk. Der Diamant kann nur von der Hand eines Zwergs bearbeitet worden sein. Aber mir ist nichts von einem solchen Glanzstück bekannt, das aus unseren Werkstätten stammen könnte. Auch die Art, wie er geschliffen wurde, habe ich noch nie gesehen.« Er nahm ihn ehrfurchtsvoll auf und hielt ihn vor die Flamme einer Kerze. Das Licht brach sich in den Facetten, sie versanken in der makellosen Schönheit und wollten sich nicht mehr satt daran sehen.

»Der Eoîl sprach mehrmals von den Untergründigen.« Tungdil brach das Schweigen im Zelt. »Ich nehme an, dass er den Diamanten von den Zwergen im Jenseitigen Land erhielt.« Gandogar reichte den Stein an ihn zurück.

»Dieser Diamant gibt einem Magus unermessliche Kraft?« Mallen zog ein besorgtes Gesicht. »Auch wenn wir die Einzigen sind, die davon wissen, benötigt er unermesslichen Schutz.«

»Und viele Brüder.« Tungdil schaute zu Gandogar. »Du hast den Stein gesehen, und ich habe«, er stand auf, ging zu seinem Arbeitspult und nahm ein Blatt Papier, »eine Zeichnung angefertigt. Sie beinhaltet die Maße des Diamanten, den genauen Schliff. Mein Vorschlag ist, dass wir Abbilder anfertigen und sie im ganzen Geborgenen Land verbergen. Jeder König und jede Königin, gleich ob es ein Mensch, ein Zwerg oder ein Elb ist, wird einen erhalten und ihn verteidigen, als wäre es der echte Diamant. Umgebt ihn mit Mauern, Fallen, Kriegern, aber er muss gehütet werden.« Für seinen Einfall erntete Tungdil großen Beifall.

»Woher wissen wir denn, wo sich der Stein des Eoîls befindet?«, fragte Xamtys.

»Niemand wird es wissen. Das ist das Beste«, gab Tungdil zur Antwort. »Sobald Gandogar uns berichtet, dass die Kopien fertig sind, treffe ich mich mit ihm und gebe mein Original in einen Beutel mit den Fälschungen. Der Inhalt wird gemischt, und danach verteilen wir die Steine mittels Boten auf gut Glück an die Königreiche. Jeder von euch kann ihn besitzen, ihr werdet sie nicht unterscheiden können. Ihr nicht, ich nicht und auch kein anderer, der durch einen widrigen Zufall davon erfährt und danach trachtet.« Er schaute sie verschwörerisch der Reihe nach an. »Niemand außer uns, den Menschenherrschern und Liútasil darf von dem Stein erfahren. Er wird das größte Geheimnis des Geborgenen Landes sein.«

Balendilín rieb sich den Bart. »Und wie lange, Tungdil? Ohne den Stein wird es weder einen Magus noch eine Maga geben, da sie die Energien benötigen, die darin schlummern.«

»Ich weiß es nicht. Es mag eine Zeit anbrechen, da wir die Steine einem Menschen, einem Elben oder einem Zwerg anvertrauen, damit er die Linie der Maga und Magi neu begründet. Er wird herausfinden, welcher Diamant der rechte ist.« Er packte den Stein zurück in den Beutel und verstaute ihn an seinem alten Ort. »Aber ich denke, dass es besser ist, wenn wir in den kommenden Jahren ohne Magie auskommen.« Niemand widersprach ihm.

Als Nächstes berieten sie darüber, ein gemeinsames Kontingent zusammenzustellen, das in den Osten aufbrechen würde, um die überlebenden Dritten aus den eingebrochenen Stollen zu befreien und den Durchgang ins Geborgene Land zu sichern. Da die Tunnel, in denen die Loren fuhren, durch das Beben vollends unbrauchbar geworden waren, standen den Zwergen für die Zukunft lange Märsche bevor, wollten sie sich zwischen den Gebirgen hin und her bewegen.

Spät in der Nacht hob man die Versammlung auf, die Herrscherin und die Herrscher kehrten zu ihren Heeren zurück. Mallen verließ die Unterkunft als Erster, danach folgten die anderen, bis nur noch Glaïmbar und Tungdil übrig blieben.

Der König kam näher und streckte ihm die Hand hin. »Meinen ewigen Dank, Tungdil Goldhand. Nach meinem Leben am Grauen Gebirge hast du nun das meiner Gemahlin gerettet, als du sie aus den Fängen der Avatare befreitest.«

Tungdil schlug ein, der Hass gegen den König der Fünften bestand nicht länger. Nach all dem Leid und den vielen Toten hatte er schlichtweg keine Lust mehr, Kraft auf ein schlechtes Gefühl zu verschwenden. »Ich habe meine beste Freundin vor dem Tod bewahrt. Nichts hätte mich aufhalten können.«

»Wenn ich dich nach deinem sehnlichsten Wunsch fragte, den ich dir erfüllen könnte, was würde ich wohl hören?«, fragte Glaïmbar gefasst und schaute ihm in die braunen Augen, um jede Lüge sofort zu erkennen.

»Ich würde dich bitten, Balyndis freizugeben, damit sie zu dem Zwerg gehen kann, dem sie ihr Herz geschenkt hat«, sagte er wahrheitsgemäß. »Aber ich weiß, dass du es nicht kannst, deshalb wirst du es niemals von mir hören.« Er drückte die Finger des Königs. »Daher wünsche ich mir, dass du auf sie Acht gibst, sie ehrst und sie niemals unglücklich machst.«

Glaïmbar schüttelte beeindruckt den Kopf. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich bewundere, Tungdil?« Er wandte sich zum Gehen. »Du hättest der König der Fünften sein sollen, nicht ich«, sagte er über die Schulter, und es war aufrichtig gemeint; dann trat er hinaus.

Tungdil nahm die Augen nicht vom Ausgang, er dachte nach. »Wenn ich es gewollt hätte, Glaïmbar, wäre ich es geworden«, antwortete er lächelnd und goss sich einen frischen Tee ein.

Nach dem Trunk wollte er früh zu Bett gehen. Es standen lange Reisen an, die ihn zuerst nach Âlandur und von dort aus nach Dsôn Balsur führen würden, ehe er ins Reich der Vierten marschierte, um den Stein des Eoîls unter die Fälschungen zu geben. Bis zum Frühjahr würden seine Füße reichlich Schnee, Matsch und Erde unter sich spüren.

Er musste lächeln, als er das entsetzte Gesicht Rodarios vor sich sah, nachdem er ihm eröffnet hatte, dass er allein ins Reich der Albae gehen wollte.

»Warum, bei allen guten Göttern, willst du an den schrecklichen Ort? Dich vergewissern, dass der Stern der Prüfung auch den Letzten von ihnen vernichtet hat?«, hatte er ihn gefragt.

»Nein. Ich will wiederhaben, was mir die Albae raubten«, hatte er dem Schauspieler geantwortet.

Am Tee nippend, ging er zu seinem Feldbett und legte die schweren Pelze ab, um unter die Decke zu schlüpfen.

Bevor er einnickte, legte er einige Scheite in den tragbaren Ofen und heizte ihn ordentlich ein, damit die Kälte der Nacht nicht in sein Zelt kroch. Es ist meine Pflicht, die Sache zu Ende zu bringen, dachte er, während er in den Schlaf sank.

X




Das Geborgene Land, Elbenreich Âlandur,

6235. Sonnenzyklus, Spätwinter


Tungdil blinzelte zu den hohen Wipfeln hinauf, die sich unter der Last des Schnees bogen, sich aber beharrlich weigerten, unter der weißen Last zu brechen. Die Kraft der Sonne hatte in den letzten Umläufen zugenommen, hier und da rutschte der Schnee bereits von den Ästen und Zweigen.

Der Frühling streckte seine Hand nach dem Geborgenen Land aus. Bald würde die Natur zu neuem Leben erwachen. Es war die Zeit, die Frala, die Magd in den Diensten seines Ziehvaters Lot-Ionan, am meisten gemocht hatte.

Ich habe viele tote Freunde, fiel es dem Zwerg einmal mehr schmerzhaft auf, während er seinen Weg zwischen den Stämmen der mächtigen Bäume fortsetzte.

Bei seinem letzten Besuch in Âlandur waren er und seine Freunde sehr unfreundlich von den Elben begrüßt worden; dieses Mal ließen sie sich gar nicht blicken.

Unbehelligt wandelte er seit zwei Umläufen auf dem schmalen Pfad immer tiefer in das waldreiche Reich von Liútasil, dem Elbenfürsten mit den dunkelroten Haaren, die in der Sonne wie schwerer Wein schimmerten.

Es schien, als hätte man seine Gedanken gehört.

Der Pfad mündete auf eine Lichtung, auf der ein großes Zelt stand, dessen Wände aus grünem Samt gearbeitet zu sein schienen. Vor dem Eingang hielten vier Elbenkrieger Wache, und aus dem Eingang trat ein in festliche Gewänder gehüllter Liútasil; mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen ging er auf Tungdil zu und reichte ihm die Hand.

»Ich beglückwünsche dich, Tungdil Goldhand. Die Nachricht von deiner grandiosen Tat in Porista eilte dir voraus.« Er ging einen Schritt zur Seite und hielt ihm den Durchlass ins Zelt auf. »Wir haben deine Ankunft bemerkt und wollen dir eine Erholung gönnen.«

Der Zwerg verneigte sich leicht vor dem höchsten Elben. »Meinen Dank.« Er betrat das Innere der Unterkunft und staunte über die Schönheit der Einrichtung.

Wo die Menschen und Zwerge einfache Holzstützen und Streben errichteten, um die Stoffbahnen zu spannen und zu halten, benutzten die Elben verzierte Pfeiler aus duftendem Holz, in die auf kunstvolle Weise Runen und Jagdszenen geschnitzt worden waren. Auf Tungdil machte es den Eindruck, als wäre das Zelt für die Ewigkeit und nicht für kurze Zeit errichtet worden. Von den Deckenstreben hingen verzierte Öllampen, die für warmes Licht sorgten, und es roch weder nach Talg noch nach Ruß. Zwei Öfen sorgten für behagliche Wärme.

In der Mitte hatte Liútasil einen Tisch aufbauen lassen, an dem zwei Stühle standen. Darauf warteten dampfende Speisen gekostet zu werden.

»Setz dich und stärke dich nach deinem langen Marsch«, bat ihn der Elb. »Bist du gekommen, um mir und meinem Volk Vorwürfe zu machen, weil wir uns nicht an dem Kampf beteiligt haben?«

Tungdil warf den schweren Mantel ab, unter dem er die Rüstung trug, die ihm im Kampf gegen die Avatare von großem Nutzen gewesen war. Er nahm sich von dem heißen, mit Tannennadellikör gewürzten Bier und genoss es, etwas Warmes in den Magen zu bekommen. Die Elben schienen das Bier für ihn gebraut zu haben, es schmeckte herrlich malzig und keineswegs lieblich, wie man es von ihnen hätte erwarten können.

»Es war mehr die Neugier, die mich trieb. Niemand wird euch Vorwürfe machen. Ihr hättet zusammen mit den Albae an einer Seite kämpfen müssen, und das wäre euch wohl niemals in den Sinn gekommen«, sagte er ruhig. »Das ist die Erklärung, die sich die Menschen selbst gegeben haben. Mein Volk schob es auf das wiedererwachte Misstrauen, das seit der Schlacht vor Dsôn Balsur zwischen unseren Völkern herrscht, und war erleichtert, dass sich die Elben nicht blicken ließen. Als Prellbock zwischen Albae und Elben zu stehen lässt den stärksten Zwerg wie auf glühenden Kohlen sitzen.« Er füllte sich seinen Teller mit den Gerichten, deren Anblick er nicht einmal kannte. Liútasil tat es ihm nach und hörte aufmerksam zu. »Wenn ich es recht bedenke, war es für die Kampfkraft bei Porista nur gut, dass die Elben Âlandurs nicht erschienen sind.« Er schob sich einen Bissen in den Mund, von dem er annahm, dass es sich um Fleisch handelte. Zu seiner Erleichterung schmeckte es auch danach.

Der Elb bemerkte sehr wohl, dass Tungdil nicht mit seinen Ausführungen zu Ende war. »Nun?«, machte er gespannt. »Du denkst etwas anderes?«

»Ja, das tue ich.« Tungdil sah ihm in die Augen. »Ich nehme an, den wahren Anlass zu erahnen. Ihr habt nicht eingegriffen, weil Ihr von der Eoîl wusstet«, unterstellte er dem Fürsten. »Rodario und ich werden niemandem von der Elbin erzählen, welche die vermeintlichen Avatare anführte. Es sollen keine neue Feindschaften entstehen.« Er beobachtete, wie sein Gegenüber dies aufnahm. Dessen ertapptem Gesicht nach zu schließen hatten seine Vermutungen ins Schwarze getroffen. »Aber mir, Fürst Liútasil, schuldet Ihr die Wahrheit. Was war diese Eoîl?«

Der Elb ließ die Gabel sinken, mit der er sich eben noch ein Stück Fleisch in den Mund hatte schieben wollen. »Ja, Tungdil, deine Ahnung trügt dich nicht. Niemals hätten meine Krieger zu den Waffen gegriffen, um gegen die Eoîl in die Schlacht zu ziehen. Sitalia weiß, was es mich gekostet hat, sie dazu zu bringen, abzuwarten und nicht nach Porista zu reiten, um ihr beizustehen. Letztlich ließen sie sich nur überzeugen, weil sie zusammen mit den Menschen, die ihr folgten, zu viel Leid über das Geborgene Land gebracht hatte.«

»Dann war es wirklich eine Elbin? Kam sie aus Âlandur?«

Liútasil schob den Teller von sich und schenkte sich Gewürzwein ein. »Nein, die Eoîl haben keinen festen Ursprung, kein Reich, zu dem sie gehören. Sie sind ein Mythos, Tungdil, ein Teil unserer Legenden.« Nach einem langen Schluck hob er an zu erzählen:


»Sitalia, die Tochter Palandiells, schuf unsere Vorfahren aus Licht, reiner Erde und Morgentau.

Sie lehrte unsere Vorfahren die Künste des Heilens, die Natur und das Leben zu verstehen. Sie verlangte Ehrfurcht vor allem, was lebte und keinen Gefallen an sinnloser Zerstörung fand. Musik, Tanz, Gedichte, Malen, Bildhauerei, Erzählungen wurden unsere Künste, Krieg und Not waren uns damals fremd.

Aber die Menschen und Zwerge verstanden unser Streben und Tun nicht. Sitalia sah, wie unglücklich unsere Vorfahren waren, und schuf für sie Länder, in denen sie sich wohl fühlten. Dorthin zogen sie sich zurück. Die Ältesten von ihnen, die Ersterschaffenen, wurden von Sitalias Hand zweifach berührt und zu ihren Lehrern erhoben. Sie standen über den anderen Elben.

Tion das Zweigeschlecht langweilte das Treiben sehr. Weil seine Göttergeschwister nur freundliche Wesen formten, widmete es sich allem Abscheulichen. Es vergrub das Abscheuliche unter der Erde, damit es aufgehe wie die Saat und bei Dunkelheit hervorkomme, Orks, Oger, Trolle, Kobolde, Bogglins, Riesen und Schlimmeres. Manche Saat ging nicht auf und blieb im Boden, wo sie gelegentlich von Zwergen und Goldgräbern, Salzbauern und Bergleuten entdeckt wird.

Tion gab dem Abscheulichen auch Flügel und warf es in die Luft, damit es von den Winden aufs Geratewohl verteilt werde.

Nicht nur das.

Tion vergiftete das Wasser vieler Seen. Jeder und jede, die daraus tranken, verloren ihre Freundlichkeit. So gelangten Neid, Hass, Gier und Wollust in die Herzen der Wesen. Und es stach allen Wesen einen Dorn ins Fleisch, den es Alter nannte, sodass sie nicht ewig leben konnten.

Sitalia bemerkte den Dorn und zog ihn bei den Elben, die sie als Erste erschaffen hatte, rasch heraus, ehe er festwuchs. So entstanden die Eoîl.«


Liútasil leerte sein Glas. »Du versteht, weshalb kein Angehöriger unseres Volkes die Waffe gegen sie führen würde? Sie leben ewig, seit der Erschaffung durch die Göttin Sitalia. Sie sind unsere Lehrer, reisen umher, bekämpfen Tion in all seinen Formen. Sie sind uns heilig und werden von uns verehrt«, sprach er achtungsvoll. »Sitalia hätte uns vernichtet, wenn wir gegen eine Eoîl ins Feld gezogen wären.«

Tungdil nickte, von der Antwort nicht vollauf befriedigt, und aß weiter. »Verdiente sie diese Verehrung? Sie hatte keine hohe Meinung von den Elben. Sie sprach davon, dass Ihr minderwertig wäret.«

Der Elb lächelte rücksichtsvoll. »Aus ihrer Sicht macht uns der Makel des Alters ihnen gegenüber geringer. Die Eoîl leben so lange sie möchten.«

»Oder so lange man sie lässt«, fügte der Zwerg hinzu und meinte es aufrichtig, ohne Hohn. »Sind alle Eoîl wie sie? Wie kommt es, dass das Geborgene Land niemals etwas von ihnen gehört hat?«

»Warum sollte es etwas von ihnen hören?«, hielt Liútasil dagegen. »Sie haben mit den Menschen und Zwergen nichts zu schaffen, und wir reden üblicherweise nicht mit Außenstehenden über unsere Ältesten. Wozu auch?« Er goss sich von dem Wein nach. »Nein, es sind nicht alle Eoîl so wie diejenige, gegen die du angetreten bist. Ich kenne zwei, und sie haben sich darauf beschränkt, die besten Sänger und Maler Âlandurs zu unterrichten, um sie in die höchsten Weihen der Kunst einzuführen. Ihre Gedanken waren vollkommen unschuldig und frei von Gewalt.«

Tungdil hatte mit weniger Geduld gerechnet und freute sich über die Offenheit seines Gegenübers. »Diese Eoîl beherrschte die Magie wie kein Magus und keine Maga des Geborgenen Landes«, setzte er zu einer neuen Frage an. »Die magische Quelle in Porista ist nun zwar versiegt, dennoch möchte ich wissen, ob die Elben in der Lage sind, diese Künste zu nutzen, Fürst. Wer weiß, was dem Land als Nächstes droht, und vielleicht findet sich in den Reihen Eures Volkes der nächste...«

»Nein.« Liútasil schüttelte den Kopf. »Nein, Tungdil. Ich kann es dir mit Gewissheit sagen: Es gibt keinen Elben in Âlandur, der die Veranlagung in sich trüge, ein Magus oder eine Maga zu werden. Sitalia bedachte uns nicht mit dieser Gnade. Das war einst anders.«

»Ihr seid Euch sehr sicher.«

»Ich warte schon sehr lange darauf, einen magiebegabten Elben oder eine solche Elbin zu finden«, gestand er ihm. »Jede Auffälligkeit an einem Neugeborenen würde mir sofort gemeldet. Doch es hat sich nichts getan. Nicht jetzt und nicht in den letzten vierhundert Zyklen. Nun, wo die Albae vernichtet sind, brauchen wir auch keinen Magus mehr, der uns gegen sie beistünde.« Der Elb lachte. »Ich weiß nun, warum du deinen Namen Gelehrter trägst. Du möchtest alles wissen.«

»Nicht alles. Damit wäre mein Leben zu langweilig.« Der Zwerg trank von seinem Bier und wählte eine seltsam anzuschauende Frucht von einer Platte aus, die nach Beeren und Minze schmeckte. »Wo wir vorhin von Unsterblichkeit gesprochen haben: Was hat es mit den Unauslöschlichen auf sich? Ich habe sie auf dem Turm gesehen, sie kämpften gegen die Eoîl und waren plötzlich verschwunden.« Er neigte sich nach vorn. »Sind auch sie unsterblich wie die Eoîl? Wurde auch ihnen der Stachel des Alters entfernt?«

Dieses Mal sah Tungdil, dass Liútasil die Antwort kannte, sich aber nicht bereit zeigte, sie ihm zu geben. Elben und Albae verband mehr, als es dem stolzen Volk aus den Wäldern Âlandurs recht war. Er entsann sich, was Narmora vor ihrer Veränderung durch den Malachit beherrscht hatte. »Die Albae können Feuer über große Entfernung durch die Kraft ihrer Gedanken auslöschen, sich lautlos bewegen, sie hinterlassen keine Spuren, und sie werden eins mit der Dunkelheit.« Ihn beschlich ein unschöner Gedanke. »Vermögen sie es vielleicht, Magie zu wirken? Wahre Magie?«

»Worauf willst du hinaus?« Der Elb verstand seine Frage nicht.

»Wäre es den Unauslöschlichen möglich gewesen, sich mittels Magie vom Turm an einen Ort zu begeben, an dem sie vor dem Stern der Prüfung in Sicherheit wären?«, brachte es der Zwerg auf den Punkt.

Liútasil erwiderte den Blick, senkte die Augen nicht. »Ich kann dir zu den Herrschern der Albae nichts sagen, Tungdil. Sie sind uns ebenso ein Mysterium wie allen anderen Völkern des Geborgenen Landes.« Er stockte. »Doch sind deine Überlegungen vermutlich nicht die falschesten, was die Magie angeht«, wich er ins Unklare aus. »Aber ich bezweifle, dass sie dem Stern der Prüfung entrannen.« Er hob sein Gefäß. »Trinken wir auf ihren Untergang.« Humpen und Glas stießen miteinander an.

Der Zwerg ließ es gut sein. Mehr würde er nicht erfahren, der Elb gab ihm mit seinen vagen Auskünften zu verstehen, dass er sich auf einem zu persönlichen Gebiet befand. »Niemals wird das Geheimnis der Eoîl von mir verraten werden, Liútasil«, versicherte er ihm. »Aber eines möchte ich aus Eurem Munde hören: Was werdet Ihr tun, wenn sich ein neuer Eoîl aufmacht und das Geborgene Land bedroht?«

Der Elb legte die Fingerspitzen zusammen. »Nichts, Tungdil Goldhand. Alles andere wäre Frevel.« Er nahm das Besteck zu Hand und setzte sein Mahl fort.

Schweigend genossen sie die ausgesuchten Köstlichkeiten, danach erzählte der Zwerg von der Schlacht und dem Tod zahlreicher Freunde und Feinde, dem Untergang der Dritten und der Macht, die dem Edelstein gebündelt innewohnte; dass er nach Dsôn Balsur ging, verschwieg er ihm, und sagte stattdessen, er reise ins Braune Gebirge.

Ehe der Elbenfürst ihn allein im Zelt zur Nachtruhe zurückließ, versprach er ihm, den Diamanten, den er bekommen sollte, sorgsam zu verwahren. Er reichte Tungdil einen kleinen Rucksack. »Darin findest du eine Leinwand, die Wind, Regen, Sonne, Schnee und Kälte trotzt. Sie wird deine Rasten auf deinen Wanderungen angenehmer machen, fast, als wärest du in einer trockenen Halle im Herzen des Gebirges«, verabschiedete er sich. »Ich bete zu Sitalia und unseren Ahnen, dass sie dir Gnade gewähren und dich nicht wegen des Todes der Eoîl zur Rechenschaft ziehen.«

Sie schüttelten sich die Hände, der Elb ging hinaus. Tungdil leerte das Gewürzbier. Ich habe eine unsterbliche Elbin vernichtet. Er rülpste halblaut und grinste. Ingrimmsch würde jetzt sagen, dass sie eben doch sterblich gewesen ist.




Das Geborgene Land, das einstige Dsôn Balsur,

6235. Sonnenzyklus, Frühjahr


Tungdil ließ die Schneise, welche die Menschen in den Wald gebrannt hatten, hinter sich, marschierte auf seiner Wanderung an der Festung inmitten der Ebene vorbei und erreichte schließlich den obersten Rand des gewaltigen Kraters, den ein erzürnter Gott mit seiner Faust hineingeschlagen hatte. So wirkte es zumindest auf den Zwerg.

Zu seinen Füßen breitete sich das verlassene Dsôn aus, die Hauptstadt des entvölkerten Albaereichs. Niemals war ein Zwerg vor ihm so tief vorgedrungen, dazu noch ohne einen einzigen Schlag führen zu müssen. Niemals war überhaupt jemand so weit vorgedrungen.

Das einzig Beschwerliche waren bislang das Ziehen in seinem Bein, in dem die Klinge gesteckt hatte, dann die morastigen Wege, auf denen seine Stiefel bis zu den Waden einsanken, und das hüfthohe Gras, das sich ihm entgegenstemmte. Ansonsten scherte sich niemand um den Zwerg.

Er fand keinerlei Anzeichen auf die Albae, obwohl er fest damit gerechnet hatte, auf ein paar Überlebende zu stoßen oder einen der gefürchteten schwarzen Pfeile in den Leib geschossen zu bekommen. Doch es blieb ruhig und einsam. Der Stern der Prüfung hatte anscheinend alle ausgerottet.

Der Anblick der fremdartigen Baukunst der Albae versetzte ihn in Staunen. Sie hatte nichts mit dem Stil der Elben gemein, und die allgegenwärtige Düsternis wirkte bereits von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus auf sein Gemüt.

Das schrecklichste Bauwerk erhob sich auf dem Berg in der Mitte des riesigen Kraters: ein fahler Turm aus Knochen, der wie eine Nadel in die Wolken stach. Er konnte sich denken, wo er sein Eigentum zu suchen hatte.

Vraccas, halte deine Hand über mich. Tungdil begann mit dem Abstieg in die Dunkelheit.

Sobald er in den Schatten trat, sank die Temperatur unangenehm und verstärkte das schauerliche Gefühl in seinen Eingeweiden. Der befremdliche Ort belegte ihn mit unerklärlichem Grauen, die Axt ließ er nicht mehr los. Seine Sinne waren bis aufs Äußerste gespannt, er horchte auf jedes noch so kleine Geräusch, vernahm das Säuseln des Windes, der um die seltsam verwinkelten Dächer wehte, das Klappern loser Fensterläden, das Quietschen von Metall, das Knarren von Holz.

Er gelangte in den Kraterkessel und ging auf den mit weißen Kügelchen aufgeschütteten Wegen entlang. Das Rascheln unter seinen Stiefeln empfand er als unbotmäßig laut. Jeder Schritt, den er tat, kostete ihn Überwindung. Gelegentlich stoben graue Wolken von den Dächern und Wegen auf; Asche ließ sich auf ihm nieder, als wollten ihn die Überbleibsel der vernichteten Albae an seinem Vordringen hindern.

Da habe ich gegen Orks, gegen Bestien und gegen eine Eoîl gekämpft, und nun jagt mir das tote Dsôn mehr Angst ein als alle bisherigen Gegner zusammen, wunderte er sich insgeheim, spähte nach rechts und nach links und ließ keine Seitengasse aus den Augen, stets bereit, sich zu verteidigen.

Je länger er lief, umso mehr stellte er fest, dass er sich verschätzt hatte. Die Stadt der Albae war riesig; erst gegen Abend gelangte er an den Fuß des Berges und erklomm die Stufen. Keuchend drückte er sich von der letzten Stufe ab, als die Sonne hinter dem Kraterrand verschwand und Dsôn in vollkommene Schwärze verfiel. Nur der Turm aus Gebeinen erstrahlte blutrot im Abendschein, während unter Tungdil Runen, Symbole und Zeichen in den Hauswänden und an den Dächern zu leuchten begannen.

Seine Härchen im Nacken und auf den Armen stellten sich auf. Sind etwa die Seelen der Albae zurückgekommen? Angriffsbereit wartete er ab, doch außer dem Leuchten tat sich nichts.

Der Wind verstärkte sich. Anscheinend machte sich der Gott Samusin einen Spaß daraus, ihn weiter zu erschrecken.

Die Böen fuhren zwischen den ausgeblichenen Gebeinen des Turms hindurch, und so manches Mal entstand dadurch ein einzelner, klagender Ton wie ein Schrei desjenigen, dessen Gebeine keine letzte Ruhe gefunden hatten. Klagend glotzten die leeren Augenhöhlen aus den verwitterten Schädeln auf ihn herab. Alles in Tungdil sträubte sich dagegen, dieses Gebäude zu betreten.

Mit pochendem Herzen ging er auf den Eingang zu, schritt durch die angelehnte Tür und erkundete den Turm.

Sein Inneres bestand aus Holz und Stein, die Knochen dienten offenbar als Verkleidung und Zier und als Zurschaustellung von Macht. Dennoch, Tungdil wusste, dass die Gemälde, an denen er vorbeilief, nicht mit gewöhnlichen Farben gemalt worden waren und dass es sich bei dem Untergrund nicht um Leinwand handelte. Den vollendeten Umgang mit Pinsel und Farbe beherrschten die Albae wie ihre elbischen Verwandten, jedoch setzten sie ihr Talent viel grausamer um. Unvorstellbar grausamer.

Weit hinter ihm ertönte ein Geräusch. Eine schwere Tür war zugefallen, laut hallte das Rumpeln durch die hohen Gänge, ein Luftzug brachte die letzten Öllampen, denen der Brennstoff nicht ausgegangen war, zum Flackern.

»Wer da?«, rief er, wandte sich um musste schlucken. »Ist da jemand?« Natürlich bekam er keine Antwort.

Das Unbehagen wollte nicht mehr von ihm weichen. Endlich stand er vor einer hohen Tür aus Tionium mit albischen Schriftzeichen, die er nicht übersetzen konnte. Wo denn, wenn nicht hier?

Er trat sie auf und schaute in den Raum aus dunklem Marmor dahinter. Das saalartige Zimmer war geschmückt mit bizarren Skulpturen aus Knochen der unterschiedlichsten Kreaturen, mal bemalt, mal unbemalt, mit Draht aus Gold und Tionium umwickelt, mit Edelsteineinlagen und Aufsätzen versehen. Etliche Bilder und Mosaiken sowie die rätselhaftesten Waffen zierten die Wände. In der Mitte führten Stufen hinauf zu einem Doppelthron. Die Sitze waren verwaist.

Das Blitzen von Diamanten machte Tungdil auf sein Ziel aufmerksam.

An der Wand hinter dem Thron war sie aufgehängt worden, achtlos und lieblos, für die Albae ein nutzloses Ding, das schön anzusehen war und einen Erfolg über die Zwerge bedeutete.

Er näherte sich ihr und streckte die Hand nach ihr aus. »Da bist du ja.« Ein kurzer Ruck, und die Feuerklinge befand sich wieder in seinem Besitz. Der Zwerg reinigte sie mehr symbolisch, als er mit dem Ärmel über den Axtkopf wischte, vollführte zwei Probeschläge und spürte dabei ihre Ausgewogenheit. »Keiner wird dich mir jemals wieder nehmen«, versprach er ihr wie einer Geliebten. »Ich habe eine Aufgabe für dich.«

Er griff in die Tasche, zog den Malachitsplitter hervor, während er sich dem Thron näherte, und legte ihn auf die dritte Stufe. Was auch immer in diesem letzten Überbleibsel von Nôdʹonn, dem Dämon oder einer anderen bösen Macht gesteckt hatte und den Stern der Prüfung überstanden haben sollte, es würde sogleich vergehen.

Tungdil hob die Waffe, nahm Maß und schwang sie einmal über den Kopf, um mit aller Kraft zuzuschlagen.

Die Diamanten entflammten wie einst im Schwarzjoch, als er sich Nôdʹonn und dem Dämon gestellt hatte. Die Feuerklinge zog einen leuchtenden Schweif hinter sich her und traf auf den grünen Edelstein. Die Schneide zersprengte ihn, er platzte knisternd auseinander, die Splitter sprangen über den schwarzen Marmor und verteilten sich.

Damit habe ich diese Aufgabe vollends erfüllt, Vraccas. Tungdil fühlte sich erleichtert, den letzten Rest des Bösen, dem wohl auch Narmora anheim gefallen war, ausgemerzt zu haben.

Eine letzte Pflicht wartete auf ihn.

Er nahm die Öllampen aus den Halterungen und warf sie gegen die Wände; die Reste des Brennstoffs tränkten das Holz, die Bilder, die Skulpturen. Danach entzündete er das Öl und beobachtete, wie sich die Flammen hungrig darüber hermachten.

Der Zwerg verließ den Thronsaal und begab sich zum Ausgang des Turmes. Unterwegs legte er ein Feuer nach dem anderen. Das Gebäude sollte ausbrennen und zusammenstürzen, das hatte er sich fest vorgenommen. Ganz Dsôn würde in einem Feuersturm vergehen, ehe ein Mensch, ein Elb oder ein Zwerg hierher kamen.

Tungdil verließ den Turm und sah bereits die Flammen an einigen Stellen herausschlagen. Er spürte die Müdigkeit in den Beinen, die vielen Meilen, die er gelaufen war, aber nichts würde ihn dazu bringen, eine Nacht in der Stadt der Albae auszuharren.

Seine letzten Kräfte aufbietend, stieg er die Treppe hinunter, wanderte auf der breiten Straße zum Kraterrand und zündete ein Gebäude nach dem anderen an.

Als er den Aufstieg erreichte, brannte ein Drittel Dsôns. Der Wind, den Samusin gesandt hatte, um seine Sinne zu narren und sein Herz mit Furcht zu belegen, fachte die Feuersbrunst weiter an.

Der Turm der Unauslöschlichen gemahnte an eine riesenhafte Fackel. Brennende Stücke brachen aus ihm heraus, stürzten den Berg hinab und schlugen in den darunterliegenden Häusern ein. Und so breitete sich das Feuer immer weiter aus.

Tungdil setzte sich und beobachtete zufrieden, wie der Turm Funken stiebend in sich zusammensackte; das Bersten der Balken war trotz des prasselnden Feuers herauszuhören. Schreie hatte er bislang keine vernommen.

Nun geht das Böse wirklich aus dem Geborgenen Land. Niemand kommt, um es vor dem Untergang zu bewahren, freute er sich, dann stemmte sich auf die müden Beine und kämpfte sich den steilen Weg hinauf, damit er bei Sonnenaufgang das erlösende Tagesgestirn erblicken würde und die Düsternis Dsôn Balsurs vergessen könnte.

»Die Toten«, sagte eine dunkle Stimme vor ihm auf dem Pfad; ein schwarzer, gedrungener Umriss hob sich vor dem Sternenhimmel ab und schwang eine Waffe gegen ihn, »verlangen Rache.«

Erschrocken riss Tungdil die Feuerklinge hoch, aber die Wucht hinter dem Schlag konnte er nicht aufhalten.

Ein schwerer Gegenstand prallte gegen den Stiel, drückte sich mitsamt der Waffe gegen seinen Körper und schleuderte ihn rücklings zu Boden. Tungdil schlitterte mehrere Schritte weit den abschüssigen Weg hinab; der glitschige Untergrund begünstigte seine ungewollte Rutschpartie, und er verlor den Helm.

Als er sich aufrichtete, sah er seinen Feind vor sich auftauchen. Wegen des Feuers in dessen Rücken erkannte er nicht, um wen es sich handelte. Zu klein für einen Alb, zu groß für einen Zwerg.

Wieder surrte die gegnerische Waffe heran; dieses Mal sah er den übergroßen Kriegshammer und bemühte sich nicht einmal mehr, den Schlag parieren zu wollen. Er ließ sich fallen, damit der schwere Kopf an ihm vorbei schoss. Aufhalten würde er ihn nicht.

Nur ein Mann, den er kannte, hatte solch eine Waffe gebraucht. Aber er ist tot. Er fiel bei Porista.

Tungdil zog die Axt durch den Schlamm, hackte nach dem rechten Knöchel des Angreifers und traf, wie er am Widerstand und dem Aufstöhnen hörte. »Salfalur?«

Er bezahlte seinen kleinen Erfolg mit einem Hammerschlag auf die Brust. Hätte er ein Kettenhemd getragen, wären ihm alle Rippen zersprungen, doch der massive Harnisch bewahrte ihn vor dem Tod.

»Ganz recht, Tungdil. Salfalur, den ihr bei Porista für tot gehalten und begraben habt«, bekam er zur Antwort. »Ich habe dir gesagt, dass ich dich töten werde, wenn alles vorüber ist.« Der Hammer flog heran und zielte auf den Kopf des Zwergs, der seinen Schädel im letzten Moment wegzog. Dreck spritzte auf und ihm ins Ohr, hastig kroch er rückwärts, um sich an der Felswand hochstemmen zu können. »Nichts kann mich davon abhalten, auch wenn es nicht leicht war, dich aufzuspüren.«

Tungdil gelang es aufzustehen, dann sah er den Dritten vor sich. Er hielt den Kriegshammer mit beiden Händen, die zuckenden Flammen machten die Tätowierungen in seinem Gesicht lebendig. Er sparte sich jedes Wort. Zwischen ihnen gab es nichts zu verhandeln, Nachsicht würde keiner von ihnen üben.

Bevor Salfalur ihm zusetzen konnte, attackierte Tungdil ihn. Die Feuerklinge gab ihm die Zuversicht, als Sieger aus diesem Zweikampf hervorzugehen, auch wenn sein ausgelaugter Körper eine ganz andere Botschaft sandte.

Der Dritte parierte den Schlag mit dem Griff seines Hammers, ließ eine gepanzerte Hand los und drosch sie Tungdil ins Gesicht.

Die Eisenspitzen auf den Knöcheln rissen üble Wunden, Sterne tanzten ihm vor den Augen, aber er ließ die Waffe nicht los, auch nicht nach dem zweiten Schlag mit der Faust, dem er einfach nicht ausweichen konnte. Salfalur hatte sein linkes Auge verletzt; ein heißer Schmerz zuckte hinauf zu seinem Verstand, Blut quoll aus der Braue darüber und raubte ihm die Sicht.

Mit einem Wutschrei drückte er die Feuerklinge ruckartig nach vorn und rammte sie seinem Widersacher unterhalb der Kehle durch die Panzerung.

Salfalur ließ von ihm ab und sprang zurück, nur um den Hammer zu schwingen und ihn gegen Tungdil zu schmettern. Wieder traf er ihn gegen die Brust, die Rüstung wurde verbogen und wölbte sich nach innen, sodass sie ihm das Atmen schwer machte. Salfalurs Körperkraft und das Gewicht der Waffe schleuderten ihn auf ein Neues mehrere Schritte weit nach hinten, er strauchelte, fiel auf die Straße und japste nach Luft.

Er hörte die eiligen Schritte des Dritten, der nachsetzten wollte. Schon sah er ihn, angestrahlt vom Schein der Flammen, und er wirkte wie ein wesenhaft gewordener Funke in einer Schmiede, der sich den Hammer des Meisters gegriffen hatte und auf seinen Schöpfer losging. Sein Gesicht war eine Maske des Zorns.

Der Anblick weckte in Tungdil den Widerstand gegen das bevorstehende Ende.

Ich werde hier nicht enden. Nicht in Dsôn. Trotzig stemmte er sich mit Hilfe der Feuerklinge in die Höhe, packte sie unten am Stiel, hielt sie seitlich vom Körper weggestreckt und verfiel in leichten Trab, alle Schmerzen, die er dabei empfand, missachtend.

Brüllend hielten sie aufeinander zu, jeder wollte den anderen mit einem einzigen Schlag vernichten.

Sie trafen aufeinander, die Waffen schnellten vor und stießen hell klirrend zusammen, verhakten sich und wurden durch die immense Kraft, mit der sie geführt worden waren, beiden Streitern aus den Händen gerissen.

Die Feuerklinge flog nach rechts, der Hammer nach links. Tungdil wankte los, um die Axt zu holen, auch Salfalur hechtete nach seinem Hammer.

Tungdil erreichte seine Waffe, hob sie auf und wandte sich um, damit er den Dritten nicht aus den Augen verlor, als ihm auch schon der Hammer ein drittes Mal gegen die Mitte seines Leibes prallte. Salfalur hatte ihn geworfen.

Die Rüstung verformte sich noch mehr und gab den Druck der Waffe weiter, sein Brustbein brach und bereitete ihm höllische Schmerzen. Wie ein plumpes Insekt fiel er auf die Straße. Seine Sinne schwanden, ihm wurde eisig kalt, obwohl das Flammeninferno um ihn herum tobte und ihn mit Wärme überschüttete.

Stiefelschritte näherten sich ihm. »Da liegt er, der Verräter an seinem eigenen Stamm. Dafür hat es sich gelohnt, mich aus dem Dreck zu wühlen und dir die vielen Meilen zu folgen.« Der breite Schatten des Dritten fiel über ihn. »Der Tod ist nicht qualvoll genug für dich, Tungdil. Aber er bereitet mir Befriedigung. Myr ist gerächt.«

»Du wirst der letzte Zwergentöter sein«, presste Tungdil röchelnd hervor. »Dein Stamm ging unter, du wirst einsamer sein, als ich es jemals war.«

Salfalur kniete sich neben ihn auf die Straße. »Ich bin nicht der Letzte, Tungdil. In allen Stämmen und Clans sitzen unsere Augen und Ohren, die niemals in Verdacht gerieten, zu den Nachfahren unseres Stammvaters Lorimbur zu gehören. Wenn sie meinen Ruf vernehmen, sammeln sie sich zu hunderten unter meiner Führung, und wir gründen den Stamm der Dritten neu. Das Schwarze Gebirge wird nicht lange in der Hand deiner Freunde sein.« Er packte Tungdils Kinn. »Doch du wirst nicht mehr erleben, wie wir sie aus unserer Heimat werfen und die Fehde fortführen. Ohne deine Blutlinie. Folge deinem Vater und deiner Mutter ins Jenseits.«

Der Zwerg riss sich zusammen, die Ohnmacht rückte immer näher. Noch durfte er dem erzwungenen Schlaf nicht erliegen. »Du hast eine Sache nicht beachtet«, stöhnte er undeutlich, weil ihm der Dritte den Kiefer quetschte und ihm beim Sprechen hinderte.

Der kahle, tätowierte Schädel näherte sich ihm, die braunen Augen schauten ihn beinahe belustigt an. Ein brennendes Haus brach hinter ihm zusammen; die aufsteigenden Funken schienen seinen Kopf zu umspielen und verliehen ihm eine dämonische Aura. »Was könnte ich nicht beachtet haben? Du liegst im Staub und wirst an deinen Verletzungen sterben.«

»Ein Zwerg«, keuchte er angestrengt, »wirft niemals seine Waffe, wenn er nur diese eine mit sich trägt.« Er bäumte sich abrupt auf. Seine Rechte, welche den Griff der Feuerklinge nicht preisgegeben hatte, schlug mit aller verbliebenen Kraft zu und hieb dem überrumpelten Salfalur die Schneide auf Höhe der Schläfe senkrecht in den Kopf. Sie gelangte bis zur Mitte des Gesichts, ehe sie im Knochen stecken blieb.

Salfalur stürzte wie von einem Pfeil in den Lebensnerv getroffen nieder, sein Leib zuckte im Todeskampf und wollte sich weigern zu sterben, doch die glasigen, sich mit Blut füllenden Augen bewiesen Tungdil, dass es keine Seele mehr in ihm gab.

Ingrimmsch war ein guter Lehrmeister. Tungdil blieb liegen, unfähig, sich zu rühren, einzig aus Schmerz bestehend.

Den Blick auf die Sterne gerichtet, eine Hand am Stiel der Feuerklinge, wartete er im sterbenden Dsôn auf seinen Tod.


*

Aber der Tod kam nicht über ihn.

Er lag auf der Straße, hörte das Knacken des Feuers, das allmählich um ihn herum leiser wurde und sich Nahrung in anderen Teilen der Stadt suchte.

Der Zwerg spürte, dass der Tod um ihn herumstrich, lauernd, wie ein Aasfresser auf Beute hoffend, aber etwas vertrieb ihn.

Die Schmerzen in seinem Körper ließen nach, und als die Sonne über den Kraterrand stieg, waren sie kaum mehr spürbar und erlaubten ihm, in einen erholsamen Schlaf zu fallen, ohne dass er fürchten musste, nicht mehr zu erwachen.

Irgendwann hob er seine Lider, das helle Gestirn war kaum weiter gewandert. Hungrig aber ausgeruht richtete er sich auf, so gut es ihm seine verbeulte Rüstung erlaubte, dann löste er die Riemen und legte den Harnisch ab.

Behutsam drückte er auf seiner Brust herum. Die Knochen saßen an der richtigen Stelle, der Schmerz blieb aus. Dabei berührte er die Stelle, an der er das Säckchen mit dem Diamanten verborgen hatte. Er zog ihn aus der Hülle und hielt ihn gegen das Licht.

Verdanke ich mein Leben deinem Wunder, Vraccas, oder dem Stein? Er schaute nach dem Leichnam Salfalurs, der sich bereits stark zersetzt hatte. Vögel und Maden hatten in seinem Gesicht ganze Arbeit verrichtet, der Körper war von den Faulgasen aufgebläht, die ihn zu einem grotesken Zerrbild des Kriegers machten. Wie lange habe ich geschlafen? Er erhob sich und erschrak.

Dsôn bestand nicht mehr.

Während seines Schlummers waren die hölzernen Bauten bis auf das letzte Haus verbrannt und zu Asche geworden. Auf dem Berg erinnerten lediglich steinerne Fundamente an den grausigen Turm aus Gebeinen.

Nirgends stiegen Qualmwolken auf, er hörte kein letztes Knistern mehr. Als er den Finger erprobend in einen Aschehaufen steckte, fühlte sie sich kalt an.

Tungdil raffte die verbogenen Rüstungsteile an sich und eilte den Weg hinauf, der inzwischen getrocknet war. Noch immer wunderte er sich darüber, dass er keine Beschwerden spürte. Er entschloss sich dazu, dass es Vraccas gewesen war, der seine Lebensesse nicht hatte verlöschen lassen. Ein Zwerg und Magie. So weit wird es niemals kommen.

Als er den Rand des Kraters erreichte, blickte er auf ein von Süden heranrückendes Heer aus Menschen und Elben, die, beunruhigt von dem Rauch, in Dsôn Balsur nach dem Rechten sehen wollten. Die Sonne brachte die Banner zum Leuchten und die Panzer zum Funkeln.

Zu spät. Ich habe alles getan, was getan werden musste. Er zog es vor, ihnen nicht zu begegnen, sondern sogleich den Weg nach Nordosten ins Braune Gebirge zu Gandogar einzuschlagen.

Es wurde ein langer Marsch.

Der Zwerg genoss die Einsamkeit, er dachte viel nach. Über die beiden Zwerginnen in seinem Leben und wie es geendet hatte, über das Schicksal der Dritten, über seine Zukunft und wo er sie verbringen wollte. Bei den Freien? Bei den Fünften? Als Berater an Gandogars Seite?

Während er die Grenze zum hügeligeren Königreich Urgon überschritt, reifte in ihm mehr und mehr ein Entschluss.


Tungdil gelangte auf seinem Marsch tiefer ins Königreich, das sich darauf vorbereitete, einen neuen Herrscher zu krönen, denn Belletain war abgesetzt worden, wie er unterwegs in den Gasthöfen erfuhr, in denen er einkehrte. Seine Untertanen standen nicht mehr hinter ihm, die Nachricht vom Verrat an den Vierten kostete ihn das Mitleid und damit sein Amt.

Der Zwerg genoss es, sich wieder in der Gesellschaft der Menschen zu bewegen. Alles erinnerte ihn an die guten Zeiten bei Lot-Ionan, als er nichts weiter gewesen war als einfacher Zwerg mit einem Hang zu Büchern und einer geschickten Schmiedehand.

Er überquerte die steilen Gebirgspässe Urgons, die eine Herausforderung an seine Ausdauer und seine Trittsicherheit darstellten, erklomm Gipfel und stieg in grüne Täler, bis er vor den Toren des Braunen Gebirges stand. Unverzüglich brachten ihn die Wächter zu Gandogar.

Die Vierten stellten ihr Talent, was das Schleifen, Schneiden und Bearbeiten von Gemmen und edlen Steinen anging, stolz und offen zur Schau. Die Gänge waren geschmückt mit Bildern, die sich aus den unterschiedlichsten Halbedelsteinen und Edelsteinen zusammenfügten, blutrote Rubine, tiefblaue Saphire, moosgrüne Smaragde, schwarze Turmaline, rosafarbene Rosenquarze, kunstvoll bearbeitete Achatscheiben... allem Anschein nach gab es keinen Fleck im Reich der Vierten, an dem es nicht glänzte oder schimmerte.

Verstaubt, den Schmutz Gauragars und Urgons auf den Schultern und an den durchgelaufenen Stiefelsohlen, trat er vor den Großkönig und beugte den von der Sonne gebleichten Schopf.

Gandogar, der auf einem Thron aus Bergkristall saß, machte einen äußerst erleichterten Eindruck. »Endlich, Tungdil Goldhand! Vraccas hat meine Gebete vernommen und dich wohlbehalten zu uns geführt. Wie ist es dir ergangen?« Er bedeutete ihm, sich auf den Stuhl zu setzen, und man brachte dem Zwerg schnell etwas zu essen und zu trinken gegen den ersten Hunger und Durst. »Salfalur ist nicht tot«, fuhr der Großkönig fort. »Er tauchte in Porista auf und erschlug ein Dutzend unserer Leute, dann verschwand er. Wir fürchteten schon, er...«

Tungdil hatte den Humpen Bier in einem Zug geleert. »Er ist tot, Großkönig«, unterbrach er ihn. »Er fand mich, und wir kämpften in Dsôn.« Er zog die Feuerklinge aus dem Futteral, klopfte gegen den Axtkopf. »Ich habe mein Eigentum wieder, das mir die Albae gestohlen hatten. Ich fand es in einem furchtbaren Turm und nahm es mir. Danach...«, hob er an, doch dann entschied er sich, den genauen Hergang des Duells mit Salfalur für sich zu bewahren. »Nun, danach wanderte ich zu dir.«

»Du hast lang gebraucht, Tungdil. Die Sonnenumläufe reihten sich aneinander, ohne dass wir eine Nachricht von dir erhielten. Der gesamte Frühling verstrich.«

Der Zwerg verbarg seinen Schrecken. »Ich habe mir Zeit gelassen, Urgon ist so ganz nach dem Sinn unseres Volkes... Dann sind die Abbilder des Diamanten wohl bereits angefertigt?«, lenkte er das Gespräch in eine andere Bahn.

»Deine Zeichnungen waren ganz ausgezeichnet.« Gandogar rief seinen Gemmenmeister herbei, der die Edelsteine auf einem mit schwarzem Samt bezogenen Kristalltablett hereinbrachte. Wie an einer Schnur aufgezogen, lagen sie dort aufgereiht. Tungdils ungeübtes Auge konnte sie nicht auseinander halten. Einer glich dem anderen bis in die Facette.

Er nahm den echten Edelstein heraus und legte ihn darunter. »Die Täuschung ist vollkommen«, gestand er. Er zählte und kam auf vierzehn Kopien. »Eine ist zu viel«, stellte er fest. »Sieben Menschenreiche, fünf Zwergenreiche und ein Elbenreich machen zusammen dreizehn.«

Der König der Vierten betrachtete die Schmuckstücke, nickte ebenso wie sein Gemmenmeister. »Niemand wird sie durch bloßen Anblick unterscheiden können«, stimmte er ihm zu. »Und es ist keine zu viel, Tungdil. Wir haben beschlossen, dass auch du ein Abbild erhalten sollst, nicht nur die Könige des Geborgenen Landes und der künftige König der Dritten. Diese Ehre hast du dir sicherlich doppelt und dreifach verdient. Wenn du aber diese Verantwortung nicht tragen möchtest, werfen wir eines der Abbilder in die Esse.«

»Nein«, kam es sofort aus seinem Mund. »Ich fühle mich geehrt.«

Gandogar hob eine Ecke des Samttuches nach der anderen an und hielt sie fest; die Steine rutschten in die dadurch entstehende Kuhle und mischten sich. Schon jetzt hätte Tungdil nicht mehr sagen können, welcher Diamant derjenige mit der magischen Energie war. Aber der Großkönig fasste die Zipfel fester, schüttelte das Tuch, die Diamanten sprangen vor den Augen der Zwerge verborgen klackernd auf und ab, dann ließ er ein Ende los, und sie kullerten auf das durchsichtige Tablett zurück. »Ruft die Boten«, befahl er laut.

Die Tür des Thronsaals öffnete sich, herein kamen ein Elb, sieben Menschen und vier Zwerge. Nacheinander traten sie nach vorn und wählten sich einen Diamanten. Manche griffen sofort zu, andere ließen sich Zeit, als gäbe sich ihnen der echte Stein zu erkennen.

Als noch zwei übrig waren, hieß Gandogar seinen Gemmenmeister, sich zu Tungdil zu begeben. »Ich lasse dir die Wahl«, sagte er.

Tungdil langte zuerst nach dem rechten, zögerte und entschied sich dann doch für ihn.

Gandogar strich den letzten ein. »Nun kehrt zu euren Königen zurück und bringt ihnen mein Geschenk zu Ehren des neuen Friedens im Geborgenen Land«, wandte er sich an die Boten und hielt seinen Diamanten in die Höhe. »Richtet ihnen meine Worte aus: So, wie sich die Steine gleichen, sollen unsere Gedanken zukünftig im Einklang sein und unsere Herzen zum Wohl unserer Heimat schlagen. Kommen Zweifel an der Gemeinschaft unserer Völker auf, sollen sie den Stein betrachten und sich erinnern.« Er wies zur Tür, die Menschen, Zwerge und der Elb verneigten sich und verließen die Halle. Rumpelnd schlossen sich die Flügel.

»Da du nun zu mir gekommen bist und vor mir stehst, möchte ich wissen, ob du dir mein Anerbieten überlegt hast, Tungdil.« Der Großkönig deutete auf den Platz neben seinem Thron. »Möchtest du mein Berater sein?«




Das Geborgene Land, Idoslân,

6235. Sonnenzyklus, Sommer


Seine Füße bewegten sich von selbst auf der Straße, die er wohl mehr als einhundert Mal entlanggegangen war. Tungdil näherte sich einem vertrauten, traurigen Ort.

Der Sommer bescherte den Menschen Idoslâns die besten Ernten, Gemüse und Getreide sprossen in Hülle und Fülle aus den Ackerböden, die Bäume standen in voller Blüte und lockten die Bienen an. Ein warmer Wind strich über die satten, grünen Wiesen, auf denen das Vieh weidete. Große Kuhaugen glotzten dem Wanderer hinterher, ehe das Gras wieder wichtiger für das Tier wurde.

Es hat sich nichts geändert. Der Zwerg schritt um die letzte Biegung und blieb stehen. Vor sich sah er das zerschlagene Eingangstor, das in den Stollen Lot-Ionans führte. Unter Gebüschen entdeckte er rostende Rüstungen. Eisen und abgenagte Knochen, mehr war von den Orks nicht geblieben, auf die er und die Zwillinge damals getroffen waren. Es hat sich doch vieles geändert.

Orks gab es keine mehr. Ihre Knochen waren der letzte Beweis dafür, dass sie Idoslân heimgesucht hatten, doch der Stern der Prüfung hatte ihren schwarzen Seelen ein Ende bereitet. Prinz Mallen hatte eine Expedition in die Höhlen Toboribors gesandt, die sich durch die heißen Gänge gequält hatte, ohne eines der Scheusale zu entdecken.

Das Geborgene Land hat seine Geborgenheit teuer erkauft. Tungdil dachte an die vielen toten Freunde, an das Grab Boëndals an der Hohen Pforte, das er besucht hatte und an dem er zusammen mit Ingrimmsch in Tränen ausgebrochen war. Boïndil hatte jeglichen Wahn verloren, die einst irren, stets weit aufgerissenen Augen waren normal geworden und erinnerten ihn an die des Bruders. Auch seine Art zu sprechen war nun besonnener. Der Tod verändert auch die Lebenden.

Tungdil näherte sich dem dunklen Eingang, stieg über die Trümmer des Tores hinweg und betrat den kühlen, nach Erde riechenden Gang dahinter.

Er kam nicht weit, noch immer war der Stollen größtenteils eingestürzt. Sie hatten damals, als sie gegen die Orks fochten, die Stützbalken eingeschlagen, um die Übermacht in ihrem Rücken zu verschütten. Das tonnenschwere Geröll bildete einen Wall, durch den er sich graben musste, um in die alte Behausung seines Ziehvaters zu gelangen.

Unbewusst berührte er das zerschlissene Halstuch, das er an seinem Handgelenk trug. Es war ein Andenken an Frala, die junge, freundliche Magd, die ihm wie eine Schwester gewesen war und die hier mitsamt ihren Töchtern Sunja und Ikana von den Orks umgebracht worden war.

Er schluckte schwer, der Kloß in seinem Hals saß fest. Die Traurigkeit ließ sich nicht so einfach bezwingen. Es wird Zeit, dass ich aufräume.

Tungdil begann mit seiner harten Arbeit. Ein Sonnenumlauf folgte dem nächsten, während sich der Zwerg mit Spitzhacke und Schaufel vorwärts grub, neue Stützbalken einsetzte und das Geröll hinauskarrte. Die zerschmetterten Überreste der Orks warf er auf einen großen Haufen, den er anzündete, um sie zu Asche zu verbrennen, die der Wind verwehte. Einen Schädel behielt er als Zeichen des Triumphes und der Mahnung zurück.

Schließlich erreichte Tungdil sein Ziel: Er gelangte in den Teil des Stollens, der nicht eingestürzt war. Die Bohlen sahen stabil aus, und so wagte er eine Erkundung.

Gelegentlich fand er noch Skelette von Orks. Sie waren zwar dem niederhagelnden Gestein entkommen, hatten aber wohl keinen Ausgang mehr gefunden und waren elend zu Grunde gegangen. Den gebrochenen Knochen nach zu urteilen, mussten sie sich gegenseitig erschlagen haben, um an Fleisch zu kommen. Lediglich ein Skelett trug keine Zeichen eines Kampfes. Dein Sieg über die anderen hat dir nichts gebracht. Verhungert bist du dennoch.

Der Zwerg schleppte auch ihre Skelette hinaus und entfachte ein weiteres Feuer, um sie restlos zu vernichten; danach suchte er die Überreste der Menschen, die mit ihm hier gelebt hatten. Außer einer Ansammlung von kleinen und großen Gebeinen war nichts von ihnen geblieben.

Er begrub sie auf einer Anhöhe gegenüber dem Eingang des Stollens. Aus einem der großen Felsbrocken meißelte er ihnen einen Grabstein und schmiedete ihre Namen in Eisen, die er in den Stein schlug.

Nach dem letzten Hieb setzte er sich, betrachtete die Hügel Idoslâns, die Siedlungen der Menschen, die einen nie gekannten Frieden genossen, und wischte sich den brennenden Schweiß aus den Augen, in den sich Tränen gemischt hatten.

So erkannte er die Zwergengestalt, die den Pfad entlangkam, sich umschaute, ihn entdeckte und den Hügel hinaufstieg.

Er erhob sich, um den Besuch zu begrüßen. Lange schloss er Balyndis in die Arme. »Es ist schön, dich zu sehen. Haben sie dich geschickt, damit du mich überzeugst, zu einem der Stämme zurückzukehren?«, fragte er sie belustigt. »Gandogar hat sich vielleicht gedacht, dass ich deinen Bitten eher erliegen würde als seinen.«

Die Schmiedin ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und sank ins Gras. Sie ächzte, rieb sich die Fußgelenke. »Ich hätte mir unterwegs doch ein Pony kaufen sollen. Der Marsch zieht sich.« Ihr Blick richtete sich auf den Grabstein, stumm drückte sie Tungdil ein weiteres Mal an sich. Sie musste nichts sagen.

Gemeinsam betrachteten sie den Zug der Wolken, wie sich der Himmel von hellem zu dunklem Blau verfärbte und die ersten Sterne aufblinkten.

»Ich soll dir Grüße ausrichten«, sagte Balyndis nach einer Weile. »Es sind zu viele, um sie einzeln zu nennen. Denke einfach an alle Freunde, die du dir gemacht hast. Und Rodario lässt ausrichten, dass du ihm noch einen Witz schuldest.« Sie grinste. »Der, in dem der Ork den Zwerg nach dem Weg fragt.«

Tungdil lachte auf. »Oh, den hatte ich glatt vergessen.« Er schwieg. »Wenn du zum Großkönig zurückkehrst, Balyndis, richte ihm aus, dass ich nicht weiß, wie lange ich hier bleiben werde«, sagte er nachdenklich. »Ich kann mich nicht entscheiden, wohin ich gehöre. Mein Herz schlägt für die Zwerge, ebenso schätze ich die Nähe der Menschen, die in ihrem Tun freier sind als mein Volk. Ich denke mehr wie ein Mensch denn wie ein Zwerg, das wurde mir immer stärker bewusst.«

»Und was ist mit den Freien?«

»Nach Goldhort bringt mich nichts mehr zurück. Zu viele Erinnerungen, die mir nicht gefallen.« Er schaute sie an. »Wenn ich weiß, was ich möchte, lasse ich es ihn wissen. Vielleicht gehe ich auch ins Jenseitige Land und forsche nach denen, die ihre Runen in den Fels schlugen. Wenn Gandogar meinen Rat benötigt, bin ich jederzeit für ihn da.«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Es ist tragisch. Da haben die Kinder des Schmieds einen wahren Helden in ihren Reihen, und er hadert mit sich selbst, anstatt in ihren Hallen zu leben und sich als Berater des Großkönigs weiteres Ansehen zu verdienen.« Sie hob den Kopf und schaute zu einem besonders hell leuchtenden Stern. »Vielleicht gehört das zu einem Helden dazu. Dass er hadert. Es bewahrt ihn davor, sich allzu übermächtig zu fühlen.«

»Erzähl mir Neuigkeiten aus unserem Volk«, bat er sie. »Ich möchte auf andere Gedanken gebracht werden.«

Die Zwergin dachte nach. »Es ist friedlich geworden, Tungdil. Die Überlebenden der Dritten haben sich uns angeschlossen. Die Zeit des Hasses ist vorbei. Das Schwarze Gebirge wird aus einem Bündnis aus allen fünf Zwergenreichen gehalten.«

Er schwieg, biss sich auf die Lippen, um nicht Salfalurs Worte zu verraten. »Was ist mit den Freien?«

»König Gemmil entschied, dass sie das bleiben, was sie sind: frei. Sie kehrten in ihre unterirdischen Städte zurück und werden weiterhin jeden Zwerg aufnehmen, der zu ihnen kommt«, erzählte sie. »Es ist besser so. Eine Vermengung wäre nicht gut gegangen. Aber wir werden in Handel miteinander treten.«

»Was noch?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Nichts. Alles geht seinen alten Gang, nur dass es keine Bestien mehr gibt, die uns im Geborgenen Land zu schaffen machen. Sogar die Schwarzen Wasser haben sich in klare Seen verwandelt, der letzte Keim des Bösen wurde vernichtet.« Sie seufzte. »Es ist eigentlich zu schön, um wahr zu sein.«

Tungdil sah den Malachit vor seinem inneren Auge zerspringen. Nichts ist mehr übrig, was Gefahr bedeutet. »Dann liegt es an den Zwergen, dafür zu sorgen, dass es so bleibt.«

Balyndis zögerte. »Es gibt ein... Gerücht. Angeblich ist das Geschenk, dass Gandogar an Königin Isika von Rân Ribastur sandte, nicht angekommen. Man fand weder den Boten noch die Eskorte, die den Diamanten beschützen sollte.«

»Wie konnte das geschehen?«, sagte der Zwerg kopfschüttelnd. »Es sind... wichtige Geschenke!«

»Räuber, Tungdil. Isika hat ihre Leute ausgeschickt. Früher oder später werden die Verbrecher gefasst, ein solcher Stein bleibt nicht lange im Verborgenen.«

Er zwang sich zur Ruhe. Jetzt waren andere an der Reihe, er hatte vom Heldentum vorerst genug. »Und wie geht es dir? Was macht das Reich der Fünften?«

»Wir haben vieles erreicht. Es erblüht in neuer Pracht, und du wärst stolz auf das, was durch dich auf den Weg gebracht wurde.« Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lachen. »Du wärst stolz, und Giselbart Eisenauge wäre es auch. Glaïmbar gibt sich alle Mühe, ein guter König zu sein, und er wird es werden.«

Tungdil sog die Luft ein. »Ist er auch ein guter Ehemann?«

Sie schluckte. »Er war es«, wisperte sie.

Er fuhr aufgeregt herum, starrte sie an. »Wieso...?«

»Er hat mich freigegeben«, antwortete sie mit zitternder Stimme. »Eines Morgens nahm er mich in den Arm, sah mich ernst an und sagte, dass er mich von seiner Seite entlässt und den Ehernen Bund aufhebt.« Sie rang mit der Fassung. Tungdil erkannte Unsicherheit, Glück und Angst zugleich in ihrem liebreizenden Antlitz und konnte nicht fassen, was er da hörte. »Ich fragte ihn, wieso. Ob ich ihm eine schlechte Gattin gewesen sei.«

»Und was antwortete er?«, sagte er rau, seine Kehle war trocken.

»Er antwortete, dass er jemandem versprochen habe, mich niemals unglücklich zu machen. Und das gelänge ihm nicht, wenn er mich hielte. Ich solle mir einen Gatten suchen, den ich liebte.« Sie barg ihr Gesicht in den Händen, weinte vor Erleichterung. »Ich habe mir jede Nacht gewünscht, dass ein Wunder geschehen möge, das uns, Tungdil, wieder zusammenbringt. Ist es ein Unrecht, dass ich mich nun, wo es eingetreten ist, darüber freue?«

Vraccas, damit gibst du mir das Wichtigste in meinem Leben wieder! Alles um ihn herum sang und freute sich, er wollte laut rufen, wollte schreien, so viel Freude empfand er bei ihren Worten. Aber er beherrschte sich, streichelte ihr kurzes Haar, das nachgewachsen war, und drückte ihre Hände nach unten. Erleichterung lag auf ihren tränennassen Zügen.

»Nein, es ist kein Unrecht«, beruhigte er sie und nahm sie in den Arm. Im Stillen dankte er Glaïmbar und zollte ihm Respekt vor der Größe, die er bewiesen hatte. Er küsste sie, schob sie behutsam von sich und kniete sich vor ihr hin. »Balyndis Eisenfinger aus dem Clan der Eisenfinger vom Stamme Borengars, möchtest du dein restliches Leben, und wenn es tausend Sonnenzyklen währt, mit mir verbringen und den Ehernen Bund eingehen?«

Balyndis trocknete sich die Tränen. »Mein Herz ist ihn schon lange mit dir eingegangen und hat ihn niemals gelöst, Tungdil Goldhand. Es gehört dir auf ewig.«

Sie umarmten einander, drückten sich und spürten die tiefe Verbundenheit miteinander, die nun nichts mehr zu stören vermochte, während der Mond hinter dem Hügel emporstieg und Idoslân in eine Welt aus Silber verwandelte.


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