DER MOLOCH Roman von Jakob Wassermann Dritte und vierte Auflage neu bearbeitet

Frau Ansorge

Erstes Kapitel

Zwischen Podolin und Lomnitz, wo sich die Ebene aus einer flachen Mulde zu einem unscheinbaren Hügelchen erhebt, lag der Ansorge-Hof. Das Wohngebäude lehnte mit der Rückseite gegen die wilden Hecken, die den weitläufigen parkartigen Garten begrenzten. Das Haus, mit den weißgekalkten Mauern tief in die Erde gebohrt, erschien durch eine zum Tor führende Steintreppe und durch die zopfigen Verzierungen um die Fenstervierecke als ein Mittelding zwischen Bauern- und Herrenhaus. Das überhängende Ziegeldach leuchtete wie eine mächtige Kapuze brennend rot über die Landschaft. Vom Dorf war nur der Kirchturm zu sehen, denn unvermutet, durch eine Laune der Natur, erhebt sich bei Podolin ein schroffer Erdhügel, der den träg einherziehenden Fluß zwingt, ihm in weitem Knie auszuweichen. Podolin selbst liegt auf der sanfter abfallenden Seite des Hügels, ist aber gegen Süden bis hart an den Fluß herangebaut, so daß die Hauptstraße des Dorfs nahezu die Gestalt eines S hat. Ringsumher dehnt sich wellig-ebenes Land, das nicht allzu reichlich mit Baum und Busch bedeckt erscheint.

Zwischen dem Dorf und dem Ansorge-Hof breitete sich ein häuserloser, öder Erdstrich. Nur ein großer Zimmerplatz lag am Flußufer und von ihm strömte Sommer und Winter der Geruch frisch behauener Baumstämme aus.

Die meisten Leute in der Gegend erinnerten sich genau des Tages, an welchem Frau Ansorge in einer altertümlichen vierschrötigen Kutsche von der Ostrauer Straße her ins Dorf eingefahren war, begleitet von ihrer Dienerin Ursula, die den fünfjährigen Arnold auf den Knien hielt. Der damalige Bürgermeister hatte die Frau hinüber geführt auf den Hof, der seit mehr als hundert Jahren einem ehemals reichen und nun zu grunde gegangenen Bauerngeschlecht gehört hatte. Bald begann eine ruhige, doch unablässige Geschäftigkeit das Aussehen des verwahrlosten Gutes zu verändern. Stall und Scheune wurden in Stand gesetzt, Zäune aufgerichtet, der versandete Brunnen wurde tiefer gegraben, der Viehstand verbessert, neue Möbel, neue Pflüge, neues Gesinde beschafft und das Wohnhaus erhielt ein neues Dach.

Drei Monate früher hatten Frau Ansorges Wünsche noch andern Lebenszielen gegolten, als in der mährischen Einsamkeit Ruhe vor der Welt zu suchen. Sie hatte die Vergnügungen der Geselligkeit und alle jene Freuden geliebt, welche ihr der Reichtum ihres Mannes verschaffen konnte. Alfred Ansorge war einer der großen Kohlenwerksbesitzer des Ostrauer Reviers gewesen. Allerdings hatten ihn seine Geschäfte gezwungen, einen großen Teil des Jahres in der traurigen, rußigen Stadt zuzubringen, aber desto schöner war dann der Gegensatz zu der in Wien, im Gebirge oder auf Reisen verbrachten Zeit. Von einer solchen Reise kehrte die Familie, Mann, Frau und Kind, anfangs Dezember nach Ostrau zurück. Die Winternacht, der sie entgegenfuhren, besiegelte das Schicksal der drei Menschen. Eine Viertelstunde vor dem Ziel lief der Eisenbahnzug auf ein falsches Geleise und prallte in vollem Rasen gegen einen aus Schlesien kommenden Personenzug. Dieselben zusammenprasselnden Wagenteile, die dem entsetzt auffahrenden Mann den Kopf zermalmten, waren der Frau zum Schutz geworden und hatten sie und den Knaben umgeben wie die Bretter eines Sarges. Als man sie befreien konnte, lag das Kind unversehrt zwischen ihren zu einem Bett erweiterten Schenkeln. Nur ihre Augen zeigten, was in ihr vorgegangen war, als sie in dem Verließ gelegen, das Brausen des Windes im Ohr, der Rettung ungewiß, ungewiß auch was mit dem Knaben sei. Vierzehn Tage lang vermochte sie nicht zu gehen, zu reden und zu hören. Ihre Seele schien erfroren, schien nichts mehr aufzubewahren als die furchtbaren Laute dieser Stunde, die am Rande des Lebens und am Anfang des Todes lag. Doch wie das Wasser unter der Eisdecke des Stromes fließt, trieb ihr dunkler Wille einer neuen Form des Lebens zu.

Der Anwalt Borromeo aus Wien, ein Bruder Frau Ansorges, ordnete die Hinterlassenschaft des Mannes, wohnte dem Begräbnis bei und nahm den Knaben in seine Obhut. Bald wurde Frau Ansorge innerlich und äußerlich ruhig; sie vermochte sich mit den laufenden Geschäften zu befassen und bekundete sogar eine eindringlichere Teilnahme als der geschäftsgewohnte Bruder. Sie sorgte für die beste Verzinsung des Kapitals, nachdem alle liegenden Gründe veräußert waren, und kaufte, ohne ihren Vorteil zu übersehen, das Gut bei Podolin, dessen Weltentlegenheit ihre Wahl sehr beeinflußt hatte.

Ihr Fuß wurde vorsichtig im Schreiten wie der eines Blinden. Sie tat keinen unnotwendigen Schritt und vermied jede überflüssige Bewegung. Sie haßte alles Fahrige, Eilige, alles Springen, Laufen und Tänzeln. Was auf Rädern lief und nur entfernt einer Maschine ähnlich sah, erregte ihren Abscheu. Im Hause durften keine Wanduhren ticken, vor den Fenstern mußten Büsche gepflanzt werden, denn sonderbarerweise konnte sie weder den Anblick der Horizontlinie, noch den der langhinlaufenden Straße ertragen. Spiegel und Bilder liebte sie nicht; nichts was an der Wand oder an der Decke hing. Ihr Bett lag flach und knapp über den Dielen.

In solchem Kreis des Ruhens wuchs Arnold empor. Auf dem Grunde eines schwarzen Unheils malte sich wie etwas Rosiges sein junges Leben. Die beharrende Furcht der Mutter war eine Schranke um ihn, aber eine unsichtbare. Nicht etwas Nennbares und Wechselndes, sondern ehern und unablässig als Naturkraft wirkend, bildete sie die Quelle seiner Gewohnheiten; sein Herz blieb rein von Unfrieden, auch hatte er nichts von der Zuchtlosigkeit, die durch regellose und eifersüchtige Geselligkeit entsteht.

Er zeigte als Kind oft ein verstocktes, ja grämliches und mürrisches Wesen. Mit zusammengezogenen Brauen und seltsam gespreizten Schrittchen stapfte er herum wie ein kleiner Bär. Dies reizte natürlich die Leute auf dem Hof zum Lachen; besonders Ursula äffte Arnolds Gebaren nicht ohne Bosheit nach. Das empörte den Knaben zu unbändigem Zorn; denn für die Neckereien der Erwachsenen besaß er damals und auch später nicht das geringste Verständnis; sie erschienen ihm als ein durchaus unrechtmäßiger Eingriff in seine persönliche Freiheit. Mit schiefem Blick und zwischen die Schultern eingezogenem Kopf stand er bei solchen Gelegenheiten da, und wenn der feindliche Spott kein Ende nehmen wollte, zog er die Lippen auseinander, jappte jähzornig, machte zwei Fäuste, die er gleich Puffern links und rechts an der Brust hielt, sprang auf den Plagegeist los und biß und schlug. Doch solche Zornwütigkeit zeigte sich mit den Jahren immer seltener, und statt ihrer stellte sich eine verächtliche Blick- und Wortsparsamkeit ein, die dem Bewußtsein der Körperkraft entsprang und gar possierlich wirkte.

Die Verlorenheit des Aufenthaltes entzog Arnold jedem Bildungszwang. Durch die weitgehenden Verbindungen Friedrich Borromeos bildete die Militärpflicht Jahre voraus keine Sorge mehr für Frau Ansorge. Sie selbst lehrte ihn lesen und schreiben. Um ihn auch weiterhin unterrichten zu können, studierte sie Tag und Nacht mit wahrer Wut und so wurde sie seine Lehrerin in Sprachen, Geschichte, Geographie und den niederen Fächern der Mathematik. Ihn im Dunkel der Unwissenheit zu lassen, darin sah sie keine Sicherheit. In seinem fünfzehnten Jahr besaß er die Durchschnittsbildung der jungen Leute seines Alters. Er hatte keinen Ehrgeiz in geistigen Dingen und fand Vergnügen an körperlicher Arbeit. Die Mutter wünschte ihn mittelmäßig und so am meisten geschützt gegen die Stürme des Schicksals. Der Anschein befriedigte sie.

In der drängendsten Zeit der aufwachenden Mannbarkeit verriet sich an ihm eine unruhige Überschwänglichkeit und Phantasterei, die seiner Natur im Innersten fremd war. Da kam es vor, daß er während einer ganzen Sommernacht sich in den Wäldern herumtrieb, nach den Sternen starrte, in die Erde hinein horchte und mit eigentümlicher Angst den Aufgang der Sonne erwartete. Ein andermal entfernte er sich in der Früh und kam erst am zweiten Tag zurück. Vierzehn Stunden war er gegangen, um zu erfahren, was hinter dem Wald, hinter den Hügeln der Ferne lag, und traurig hatte er den Heimweg angetreten, als immer wieder dieselben Äcker und Wiesen, dieselben unansehnlichen Häuschen an derselben Straße erschienen waren.

Bald verging das aufgeregte Wesen wieder und kehrte sich fast in sein Gegenteil, so daß Arnold den Eindruck eines mürrischen und phlegmatischen Burschen machte. Ohne sichtbare Freude der Wahrnehmung, ja sogar ohne Frohsinn, ließ er Sommer und Winter und wieder Sommer und Winter vorbeiziehen, denn dieser Wechsel und nicht die Ereignisse der Welt war für ihn das bedeutendste Schauspiel auf dem Zifferblatt der Zeit, das er mit trockener Selbstgenügsamkeit verfolgte. Er war träg und schwieg gern aus Trägheit, auch gegen die Mutter. Es bestand zwischen ihnen kein gefühlvolles Streben nach Annäherung, auch keine geheimnisvolle Abgeschlossenheit. Jeder schien in einem eigenen Land, nach eigenen Gesetzen zu leben. Die Einfachheit der Tage und der Beschäftigungen bestimmte den Charakter ihres Verhältnisses. Arnold war nie trotzig oder aufgeblasen gegen die Mutter, aber sie war für ihn mehr eine ältere Genossin als eine Achtungsperson. Später zeigte er in den kurzen Gesprächen mit ihr gern eine spöttische Aufmerksamkeit, die ihm nicht übel zu Gesichte stand und die Frau Ansorge vielleicht nur darum ein wenig ängstigte, weil sie etwas an sich hatte, was wie ein Zeichen geistiger Überlegenheit aussah. Aber die Sache war einfach die, daß Arnold nicht mehr ausschließlich die Mutter, sondern auch die Frau in ihr erblickte, die er, in komischem Männlichkeitswahn, sich untergeordnet glaubte.

Die Beziehung zwischen den Geschlechtern war nie ein schwüles Mysterium für ihn gewesen. Seine früh erwachte Sinnlichkeit, abgelenkt durch körperliche Arbeit, hatte keinen Anlaß zu dunklen Träumereien gefunden. Als er mit sieben Jahren zum erstenmal das Belegen einer Stute mit ansah, da begriff er das gewaltige Weben, welches scheinbar aus dem Nichts eine neue Kreatur erschafft. Obwohl sich sein Blick langsam für dergleichen Schauspiele abstumpfte, so vergaß er doch niemals den herrlichen Anblick des sich bäumenden Hengstes, sein schaumtriefendes Maul, die geblähten Nüstern, die feurig lohenden Augen, die schweißbedeckte dampfende Haut.

Nun war er zwanzig; es ging auf den Sommer zu und ein wunderliches Drängen und Wühlen meldete sich bisweilen in seinem Innern. Oft war es, als ob das Herz aufgeschwellt wäre durch einen schrecklichen Überschwang zielloser Kräfte, die des Nachts, in einem Traum etwa, den eigenen Körper, in dem sie wohnten, zu erschüttern und zu verwunden trachteten.

Da heiratete die Kleinmagd auf einen fremden Bauernhof fort, und die neuankommende war in ihrer Art eine Schönheit, braun wie eine Kastanie, frisch und voll Rasse. Sie war aus dem Polnischen und hieß Salscha. Als Arnold sie gewahrte — sie stand am Brunnentrog und wusch, ihre Bewegungen hatten etwas Rauhes und Herausforderndes — da besann er sich lange, schaute gegen das sonnebeschienene Gelände und blinzelte mit den Augen. Aber er konnte nicht helfen, es zog ihn hin. Er machte nicht viel Umstände; als er vor Salscha stand, fragte er einfach, ob sie ihn haben wolle, und zwar hatte er dabei einen strengen Ton und sah finster aus, als fordere er etwas, das ihm seit langem gehörte und unrechtmäßig vorenthalten war. Die Magd lachte und ließ ihn stehen. Aber zwölf Stunden darauf war sie die seine. Ohne zu schleichen, ohne Belauern und Überlisten, das war seine Sache nicht, nahm sie Arnold und war bei ihr nachts in der Kammer oder mittags im Heu, wenn alles auf dem Hof unter der senkrechten Sonne schlief. Kurze Zeit glaubte Salscha guter Hoffnung zu sein, doch damit war es nichts. Und als die Glut des Sommers abnahm, verschwand plötzlich Arnolds hastiges Liebesfeuer und Salscha war ihm nichts mehr denn ein leeres Gefäß, dessen Inhalt er hatte trinken müssen, um den eigenen Körper vor Verderben zu bewahren. Sein Herz wurde wieder ruhig.

Zweites Kapitel

Das Laub zeigte schon alle herbstlichen Farben. Gelb, violett, purpurn und zinnoberrot wogte es in der abendlichen Luft. Ferne Waldstände glichen einem Girlandenbehang in der tiefen Sonne, der Arnold langsam entgegenging. Aus der Ebene ertönte bäuerlicher Gesang, vom leise sausenden Oktoberwind bald verweht, bald überdeutlich gemacht. An einem Tümpel in den Wiesen stand Maxim Specht, der Podoliner Lehrer, und plätscherte mit einem Baumzweig im Wasser. Bisweilen blickte er gegen den Ansorge-Hof, als ob er von dort jemand erwarte. Er war erst seit zwei Monaten in Podolin; Arnold hatte noch nicht mit ihm gesprochen.

An der Zauntüre des Hofes angelangt, lehnte sich Arnold lässig an den Pfosten und betrachtete die ruhig vorbeitrippelnden Hühner, die sich langsam nach ihrer Schlafstätte in der Scheune aufmachten und bisweilen leise gackerten, als ob sie einander gute Nacht wünschten. Draußen schob sich Maxim Spechts Gestalt schwarz und scharf zwischen die Ebene und den flammenden Himmel.

Kleiderrauschen veranlaßte Arnold, sich umzudrehen. Zu seinem Erstaunen bemerkte er zwei Frauen, die aus dem Tor tretend, an ihm vorübergingen. Die eine der beiden, ein junges Mädchen, lächelte verlegen und verschmitzt mit halbabgewandtem Gesicht. Während er ihnen nachschaute, kam der Lehrer voll Eile den beiden Frauen entgegen und schlug mit ihnen die Richtung nach dem Dorf ein.

Als Arnold in die Stube trat, fragte er, wer dagewesen sei. Frau Ansorge wandte ihm langsam das Gesicht zu, das so viele Falten zeigte wie ein Baumblatt Adern. »Sie machen Besuche,« erwiderte sie vorsichtig, »Nachbarsvisite; sie glauben, das muß so sein. Sie haben das Haus des verstorbenen Michael Becker geerbt und sind nach Podolin übersiedelt. Hanka heißen sie.«

Ursula brachte das Abendessen, und Arnold setzte sich hungrig zu Tisch. Seine Wißbegierde war befriedigt. Er bemerkte nicht, daß die Mutter durch die neuen Ansiedler nachdenklich geworden war, denn ein neuer Mensch war ihr eine neue Gefahr. Der Pfarrer, der Doktor, die Post- und Gerichtsbeamten waren außer den Bauern die einzigen, die man hier zu Gesicht bekam.

Kaum war die Lampe angezündet, als es an die Tür klopfte und Maxim Specht eintrat. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung,« sagte er gewandt und liebenswürdig, »das Fräulein hat einen Schal hier vergessen.« Er lächelte, wobei das Liebenswürdige, Gesellschaftliche noch stärker hervortrat und daneben etwas Überlegenes wie bei jemand, der zu beobachten fähig ist und sich dessen freut.

Das Tuch hing über einem Stuhl, und Arnold gab es dem Lehrer. »Es ist sehr gelb, das Ding,« meinte er lachend. Er schnupperte und steckte die Nase in den gestrickten Stoff. »Pfui!« rief er.

»Es ist parfümiert,« sagte Specht verwundert. »Finden Sie das schlecht?« Er sah Arnold an wie einen jungen Bären, dessen Kraft und Dressur zu allerlei geschäftlichen Unternehmungen locken. Er hatte in Podolin viel reden hören von dem Leben auf dem Ansorge-Hof. Arnold seinerseits betrachtete das Gesicht des Lehrers, das im vollen Lampenlicht ihm zugewandt war, mit spöttischer Aufmerksamkeit. Er empfand Mißtrauen und zugleich eine unklare Regung der Kameradschaft.

Dem Lehrer, der den abweisenden Blick Frau Ansorges auf sich ruhen fühlte, geboten Takt und Bescheidenheit, sich zu entfernen. Mit einer leichten Bewegung warf er das gelbe Tuch über die Schulter, verbeugte sich galant und wünschte gute Nacht.

Drittes Kapitel

Vor Aufgang der Sonne erwachte Arnold. Als er gewaschen und angekleidet war und in den Stall hinüberging, leuchtete schon der frühe Tag. Er liebte diese Stunde, besonders jetzt, in der Oktoberklarheit und -frische. Die Waldränder am Horizont waren rosig bemalt. Die Rinder wurden zur Tränke geführt, und sie blökten freundlich.

Ehe Arnold nach Podolin ging, wo er mit dem Fleischer Uravar wegen einer Kuh unterhandeln sollte, kehrte er ins Haus zurück, um zu frühstücken. Er fand Elasser, einen Hausierer aus dem Dorf, bei Frau Ansorge. Der Jude kam jeden Monat zwei- bis dreimal, um Stoffe und Wolle, auch sonstige Gegenstände für den Haushalt zu verkaufen.

Elasser begrüßte Arnold knixend, während er Stirn und Glatze, die trotz des kühlen Morgens schon schweißbedeckt waren, mit einem blauen Tuch trocknete. Sein langhängender brauner Bart verhüllte fast den Ausdruck eines ziemlich gutmütigen Gesichts. Er steckte das Geld, das er empfing, mit liebevoller Sorgfalt in einen schmutzigen alten Lederbeutel, huckte seinen ansehnlichen Pack auf den Rücken, grüßte ehrerbietig und ging.

Arnold trank seinen Topf Milch und sagte: »Ich geh’ jetzt ins Dorf.«

Der Weg wurde leicht in der windstillen und würzigen Luft. Die Welt atmete Frieden. Indem Arnold rege vorwärts schritt, fühlte er sich gelaunt, tagelang zu wandern. Er hob einen dicken Ast auf, der am Wege lag, brach ihn entzwei wie ein Rohr und warf die Stücke in den Fluß, dessen mühselig hinfließendes Wasser nichts von der Reinheit des Himmels wiedergab.

Podolin streckte sich lang hin. Die Häuser, arm und schmutzig, entfernten sich nur an einer Stelle von der Straße und bildeten, den Hügelrücken hinan, einen weiten Platz, an welchem die Kirche, das Pfarrhaus, die Schule, die Post und das Gerichtsgebäude standen. Uravar wohnte am Eck hoch oben. Als Arnold in den Laden trat, erblickte er den jüdischen Hausierer, hektisch rot im Gesicht, mit leidenschaftlichen Geberden auf den Metzger einsprechend. Uravar hockte nachlässig, die Hände in den Taschen, auf der Kante des langen Tisches, der mit Blut und Fleisch bedeckt war, knirschte mit den Zähnen und lachte. Sein bartloses Gesicht war rot und glänzend wie das rohe Fleisch; am Kinn hatte er eine Warze mit fünf langen Haaren, welche aussah, als ob beständig eine Kreuzspinne auf seine Lippen zukröche.

»Wenn Sie mir nicht geben wollen mein Geld,« sagte der Hausierer, »werd’ ich Ihnen verklagen bei Gericht.«

Uravar schlug sich auf die Schenkel und zeigte die blendend weißen Zähne. »Judd, geh furt, sonst holl ich Hund,« sagte er und warf einen beifallhaschenden Blick auf Arnold, der still auf der Schwelle stand.

Elasser wurde erregt. »Ich fürcht’ mich nicht vor Ihrem Hund,« antwortete er. »Ich fürcht’ mich nicht einmal vor Ihnen, wie soll ich mich vor Ihrem Hund fürchten. Geben Sie mir mein Geld und die Sach’ hat sich gehoben.« Sein Gesicht sah fahl aus, und die Augen fielen kummervoll und ermüdet in ihre Höhlen. Rettungsuchend blickte er an Arnold vorbei auf den öden Platz, als Uravar sich von seinem Sitz herabschnellte und mit ausholenden Schritten auf ihn zuging. Er packte Elasser mit beiden Armen um den Leib, hob ihn empor und schleppte ihn gegen die Türe. Aber zwei Hände klammerten sich mit solcher Kraft um seine dicken Schultern, daß die Schlüsselbeinknochen krachten und zurückgedreht wurden. Mit einem Wutgebrumm ließ Uravar den Juden zur Erde gleiten, drehte sich schwerfällig um, den Kopf geduckt und blickte Arnold, der ihn nun losgelassen hatte, tückisch an. Arnold erwiderte den Blick mit solcher Ruhe, daß der brutale Mensch fast demütig den Kopf duckte und das Kinn herabzog, wodurch die Kreuzspinne mutlos zusammenschrumpfte.

Elasser huckte keuchend seinen Pack auf. »Der Herr wird dafür zu büßen haben,« sagte er, auf Uravar deutend. »Einem Besoffenen und einem Heuwagen muß man ausweichen, heißt es. Aber gegen Gewalttätigkeiten sind da die Gerichte.« Er nickte Arnold zu und verließ den Laden.

Angewidert und nicht imstande mit dem Fleischer zu reden, trat Arnold auf den Platz hinaus und sah gedankenvoll hinunter, die Augen gegen die blendende Sonne mit der Hand beschirmend. Trotzdem kam es ihm vor, als sei der Sonnenschein trüber geworden.

Hinter den Kindern, die jetzt dem gegenüberliegenden Schulhaus entströmten, wurde Maxim Specht sichtbar. Er schritt ohne weiters auf Arnold zu und sagte mit anerkennendem Ausdruck: »Sehr schön, sehr gut. Ich habe vom Fenster aus zugesehen. Endlich einmal hat dieser Kerl eine Lektion erhalten.« Er lachte meckernd, wobei seine Augen ganz klein wurden und freundschaftlich glänzten. Dann lud er Arnold ein, ihn ein Stück Wegs zu begleiten; oft schon hätte er sich eine nähere Bekanntschaft gewünscht, sagte er. Obwohl sein Anzug ärmlich war, sah er darin adrett aus; im Gespräch war er ungezwungen und zugleich zurückhaltend. Er war sehr neugierig in bezug auf alles, was Arnold betraf.

»Wie können Sie denn das aushalten hier, das eintönige Leben?« fragte er. »Was tun Sie denn den ganzen Tag über?«

Arnold gab, so gut er konnte, Auskunft.

»Sie sind also eine Art Verwalter auf dem Gut Ihrer Frau Mutter?« meinte Specht. »Und wird Ihnen das nicht langweilig?«

»Langweilig? Nein; langweilig ist es nicht!«

»Waren Sie nie in der Stadt?«

»Nein.«

»Überhaupt noch nicht? Wie merkwürdig! Dem Äußern nach sind Sie doch ein Städter. Ihre Sprache, Ihr Gesicht, Ihr Benehmen, alles ist wie bei einem Städter. Sehr merkwürdig!«

»Ist denn das so etwas Besonderes, ein Städter?« erkundigte sich Arnold.

»Na, etwas Besonderes … das will ich nicht gerade sagen. Aber wenn Sie die Stadt noch nicht kennen, da steht Ihnen ein großer Genuß bevor. Haben Sie noch nie Sehnsucht danach gehabt? Nein! Wie merkwürdig! Ich sage Ihnen, es ist etwas Herrliches um so eine große Stadt. Theater, Konzerte, reiche Leute, schöne Damen, Paläste, Kirchen, kolossale Straßen und abends ein Lichtermeer! Das können Sie sich nicht vorstellen. Es ist wie ein Traum. Hier versumpft man ja, glauben Sie mir.«

Verwundert schüttelte Arnold den Kopf. Da es ihm zu heiß wurde, zog er seine Lodenjacke aus, wobei er stehen blieb und den Lehrer durchdringend und verständnislos anschaute.

Sie waren gegen die Nordseite vors Dorf gekommen. An der Straße lag eine Art Meierhof: ein schmuckes Wohnhaus, Stall, Scheune, alles sauber und neu umzäunt. Wie eine appetitliche Speise auf dem Teller lag das kleine Gut in der Ebene. Unter dem Haus stand ein junges Mädchen, auf den Lippen ein Kinderlächeln. Als Specht sich von Arnold verabschiedet hatte, schlug sie den gelben Schal fester um Brust und Schultern und ging dem Lehrer entgegen.

Viertes Kapitel

Es war Nachmittag; Arnold saß am Fluß und schaute ruhig nach der Angelschnur, die sich in weitem Bogen zum Wasser senkte. Er hatte das Hemd über der Brust geöffnet; es war ungewöhnlich schwül geworden. Nicht das kleinste Fischlein wollte sich verbeißen; den schwarzen Fluß kräuselte keine Welle. Der Himmel hatte sich umzogen; über den schlesischen Wäldern lag ein Wetter.

Salscha, vom Dorf herkommend, blieb neben Arnold stehen und fragte ihn, was er mit dem Fleischer Uravar gehabt habe, der schimpfe wie ein Teufel auf ihn.

Arnold brummte etwas vor sich hin.

Weshalb er sich da hineinmische, fuhr das Mädchen fort, dem Juden werde er ja doch nicht zu seinem Recht verhelfen können.

»So? warum denn nicht?« fuhr Arnold auf.

Na, die Juden seien eben keine rechten Menschen, sie behexten das Vieh und zu Ostern schlachten sie Christenkinder.

»Dumme Gans,« murmelte Arnold verächtlich. »Der Jud ist arm, hat neun Kinder zu Haus und wenn er zu Gericht geht, wird er auch sein Recht bekommen.«

»Natürlich, als ob das Recht bei den Gerichten so billig wäre!« höhnte Salscha.

Arnold zuckte die Achseln und schwieg.

Salscha setzte sich auf einen Stein neben Arnold, die Knie unter den Röcken weit voneinander, die Augen nicht von ihm wendend. Weit und breit war kein Mensch zu sehen; eine Viertelstunde der Liebe schien erwünscht. Aber endlich merkte sie die Kälte Arnolds. Mit bösem Blick schielte sie nach der Angel, stand auf und ging. Lange noch hörte Arnold ihr gleichmäßiges und erzürntes Trällern über die Wiesen klingen.

Arnold schnellte die Angel aus dem Wasser und machte sich auf den Heimweg, da der Regen nahte. Über Podolin wetterleuchtete es. Er schulterte die Rute und schritt fest über den dürren Ackerboden. Frau Ansorge saß bleich in der Mitte des Zimmers, als er eintrat, denn sie fürchtete Gewitter, besonders die des Herbstes.

Aber die Wolken verzogen sich wieder.

Arnold erzählte, daß ihn der Lehrer in Podolin angesprochen und ihm mit allerlei wunderlichen Ausdrücken von dem Leben in der Stadt vorgeschwärmt habe.

Frau Ansorge runzelte finster die Stirn. »Der Windbeutel«, sagte sie; »er soll seine frischgebackene Weisheit für sich behalten.«

Sie stellte sich ans Fenster und blickte gegen den Himmel, wo ein Regenbogen stand.

»Komm einmal her, Arnold,« sagte sie.

Arnold trat an ihre Seite.

»Siehst du den Regenbogen? Jetzt steht er schön und groß vor dir. Kommst du zwischen Gassen und Häuser, so bleibt nicht mehr viel von ihm übrig. Und so viel deine Augen davon verlieren, so viel Glück und Ruhe verlierst du selber. Und die Stadt, das ist nichts andres als eine Unmenge von Gassen und Häusern. Sie verwirren dich nur, die Windbeutel, sie sind leer wie gedroschenes Stroh.«

Fünftes Kapitel

Hankas, die neuen Bewohner von Podolin, hatten Besuch. Der Bruder von Agnes Hanka, Alexander, war aus Wien gekommen. Er wollte nur drei Tage bleiben; Erbschaftsangelegenheiten waren zu besprechen. Auch wegen Beate kam er, die seine Schutzbefohlene war. Agnes hatte sie einst auf seinen Wunsch zu sich genommen. Vor Jahren hatte er die arme Waise den Händen böswilliger Verwandten entrissen, der Familie seines Gutsinspektors in Böhmen. Alexander Hanka, den alle Welt für die Vernunft und Hausbackenheit selber hielt, hatte damals phantastische Pläne gefaßt. Ein Ideal schwebte ihm vor: ein von der Gesellschaft losgelöstes Weib, innerlich frei und kräftig, unverblendet und natürlich, das er für sich, für ein von der Gesellschaft losgelöstes Leben auferziehen wollte. Seitdem waren acht Jahre verflossen, und er sah auf sein ehemaliges leichtgläubiges Ich etwas gelangweilt herab. Beate selbst fand diese gleichmütige Gesinnung sehr bequem. Wer nicht dankbar zu sein braucht, ist wenigstens ehrlich; sie schätzte den Beschützer, denn sie wußte, was sie an ihm hatte, und war zutraulich gegen ihn.

Als Doktor Hanka in Podolin ankam, stand die Sonne schon tief im Westen. Harzgeruch würzte die Luft, Bauern gingen vorbei und grüßten. Am Rain weideten Kühe und blickten mit Ruhe und Mißbilligung auf den städtischen Ankömmling.

Agnes und Beate waren nicht zu Hause. Hanka erfuhr, daß seine Schwester beim Pfarrer, Beate man wisse nicht wo sei. Damit gab er sich zufrieden, setzte sich auf die Bank vor dem Haus, rauchte, schlug die überaus langen Beine übereinander und wartete. Die Stille und der große Himmel, dessen Anblick in solchem Umfang ihm ungewöhnlich war, ließen ihn seine anfängliche Verdrießlichkeit über den Landausflug vergessen.

Während er noch in Nachdenken versunken war, es fing schon an zu dämmern, klang ein überraschtes Ach an seine Ohren. Beate stand hinter ihm und mit ihr war Maxim Specht gekommen. Beate, indem sie eine ungeschickte Tanzstundenhöflichkeit annahm, machte die beiden Männer miteinander bekannt. Der Lehrer und Beate sahen belustigt und aufgeräumt aus. Mit offenbarem Vergnügen an seinem Talent, Erlebtes wiederzugeben, erzählte Specht, daß sie auf der Lomnitzer Straße Arnold Ansorge begegnet seien und sich sehr gut dabei unterhalten hätten.

»Er fragte, ob ich schon einen Liebhaber hätte,« platzte Beate lachend heraus.

»Nicht was er sagt, ist so amüsant,« erklärte Specht, »sondern wie er zuhört, wie er verwundert ist, wie er jedes Wort bedenkt. Er ist nicht dumm.«

»Wer ist Arnold Ansorge?« fragte Hanka kühl, dem die Art Spechts nicht sympathisch war. Indes kam auch Agnes Hanka. Bruder und Schwester begrüßten einander herzlich, Alexander mit der ihm eigenen Gravität und spöttischen Zurückhaltung, Agnes mit einem Ausdruck unbegrenzter Hochachtung vor dem Bruder. Da sie schwerhörig war, redete sie wenig, aus Furcht, mißzuverstehen und aus noch größerer Furcht, denjenigen allzusehr zu bemühen, mit dem sie sich unterhielt.

Alle vier gingen ins Haus. Specht verabschiedete sich bald. Sein Taktgefühl sagte ihm, daß er überflüssig, und seine Empfindlichkeit, daß Hanka nicht zufrieden sei mit der Anwesenheit eines Fremden. Als Specht gegangen und Agnes in der Küche beschäftigt war, erkundigte sich Hanka bei Beate nach dem Lehrer.

Beate blickte den umherstolzierenden Frager mit damenhafter Nachlässigkeit an. Sie hatte die Hände über den Knien verschränkt, saß vorgebeugt und trippelte leise mit den Fußspitzen. Sie begann von Specht zu schwärmen, der arm sei, aber nach ihrer Überzeugung es zu etwas Großem bringen würde. Nur die Not habe ihn hierher verschlagen, bald wolle er die Schulmeisterei an den Nagel hängen. »Er ist ein Sozialist,« fuhr sie flüsternd fort, »aber das sag’ ich dir nur im Vertrauen, es soll Geheimnis bleiben.«

Hanka blieb mit gespreizten Beinen vor ihr stehen, wiegte sich in den Hüften, schmunzelte gutmütig und um seinen vollen, weichen Mund zuckte die Ironie wie in kleinen Schlänglein. Sogar in den Bewegungen seines langen, hagern Körpers drückte sich Wohlwollen und Spott aus. Zum erstenmal heute sah er Beate voll und deutlich an; sie gefiel ihm, besonders behagten ihm die schmalen, schwarzen Linien der Brauen über den perlmutterglänzenden Augen. Darauf erblickte er sein eigenes Bild, denn hinter dem dunklen Kopf des Mädchens hing der Spiegel. Nie glaubte er Häßlicheres gesehen zu haben; eine dicke, lange Nase, eine niedere Stirn; ein blasses Mephistogesicht. Bestürzt wandte er sich ab. »Wir haben uns ja schon zwei Jahre lang nicht gesehen,« sagte er. »Wie geht’s dir denn, Beate? Einmal schrieb mir Agnes, du hättest dich fortgestohlen, um zu tanzen. Wie verhält sich das?«

Seine vor Fülle vibrierende Stimme mit den tiefen O-Lauten erregte Beates Lachlust. »Es macht mir jetzt gar keine Freude mehr zu tanzen,« log sie und kettete gleich eine zweite Lüge bequem an: »ich lese nämlich sehr viel.«

»Hm–m, Herrn Spechts Einfluß,« sagte Hanka mit hölzerner Würde. Zugleich sah er im Geist den jungen Lehrer mit dem gutrasierten Gesicht und dem flinken Benehmen.

Die Fenster waren offen, die kühle Herbstluft strich herein, die Lampe brannte freundlich, und altvertraute Bilder schauten von der Wand. Beate nahm fleißig tuend einen Strickstrumpf und Agnes steckte den vom Herdfeuer erhitzten Kopf durch die Türspalte, um zu erfahren, ob Alexander auch den richtigen Hunger habe. Hanka stellte allerlei Betrachtungen über das Landleben an, rauchte schweigend seine Zigarette und sandte bisweilen einen kurzen Blick nach Beate.

Agnes trug zu essen auf, wie für eine Soldaten-Kompanie. Dabei entschuldigte sie sich, daß sie dies oder jenes nicht habe bekommen können. Beate reichte Hanka eine Schüssel um die andere, so daß er sich in eine Art Betäubung hineinaß. Er schob die Lippen vor, machte eine Schnauze, drehte den Hals wie eine Ente im Wasser und sagte, es tue ihm leid, daß er morgen schon wieder abreisen müsse. Beate wiederholte es lauter für Agnes und diese sah ihn vorwurfsvoll an.

Das junge Mädchen ging bald schlafen, und die Geschwister hatten eine ernsthafte Unterredung. Mitten darin verlor sich Hankas Geist in die Breite und spielte mit den lichten Gestalten eines Traumzustandes. Oben am Haus öffnete sich ein Fenster. Beates Stimme sang ein Lied, das sie von den Tschechinnen gelernt hatte.

Kudy, kudy, vede cestička

Pro mého Jenička…

Der Liebste ist zwar in die Ferne gegangen, bedeutet es, um sich eine Reiche zu suchen, aber das kann nicht hindern, ihn noch weiter zu lieben.

Sechstes Kapitel

Da in der Nacht leichter Frost eingetreten war, umhüllte Arnold am Morgen die Fruchtstöcke für den Winter mit Stroh. Salscha half ihm, trug das Stroh aus der Scheune und legte es in lange Bündel. Sie war mürrisch und traurig und suchte Arnold durch Gleichgültigkeit aufmerksam zu machen. Er stand auf der Leiter, und während er den Arm hinunterstreckte, um ein Bündel zu ergreifen, begegnete er Salschas Blicken. Die Polin wurde blaß, zog die Lippen von den Zähnen zurück und stieß einen leisen Pfiff aus. Eine Sekunde lang stand sie noch schweigend, dann kehrte sie um, ging ins Haus, trat entschlossenen Schrittes vor Frau Ansorge hin mit der Miene eines Menschen, der endlich einmal viel zu sagen hat. Frau Ansorge legte die Stickerei auf den Schoß und lächelte Salscha entgegen. Dadurch wurde das Mädchen um alle Fassung gebracht, sie hielt den nackten Arm vor die Augen und fing an zu schluchzen. Das Lächeln auf Frau Ansorges Lippen nahm nacheinander jeden Ausdruck der Frauenhaftigkeit an: Mitleid, Spott, Ratlosigkeit und leichte Geringschätzung; dahinter gleich einem feinen Schimmer die Freude über den, der solche starke Kränkung zufügen konnte. Sie stand auf, räumte ihre Arbeit beiseite, legte beide Hände auf die Schulter der Magd und sagte: »Das vergeht schon, Salscha. Gott hat tausend andere für dich erschaffen. Sei nur stille jetzt, heut ist Kirmes, ich schenk’ dir einen neuen Unterrock.«

Arnold war von der Leiter gestiegen. Gleichmütig stieß er mit dem Fuß das Stroh aus dem Weg und wandte sich zum Gartentor, da er dort einen Mann stehen sah, der ein junges Mädchen an der Hand führte. Als er näher kam, erkannte er Elasser, den Hausierer. Ängstlich und demütig entblößte der Jude das kahle Haupt und fragte Arnold, ob er Zeugenschaft vor Gericht ablegen wolle gegen Uravar. Trotz seiner Ehrerbietung war er kurz, trotz der süßen Freundlichkeit war in seinen Mienen zu lesen, daß es für den Gebetenen keinen Ausweg gab, als zuzusagen, wenn es so weit kam. Arnold dachte nicht an anderes. Er blickte das Mädchen an, das Elasser mit sich führte, und der Gegensatz, in dem die winzige Gestalt und die frühreifen Züge standen, erschreckte ihn fast. »Sag dem Herrn Dank, Jutta,« murmelte Elasser und schüttelte den Arm des Mädchens. Die Kleine betrachtete Arnold mit einem prüfenden und furchtsamen Seitenblick. Sie war dreizehn bis vierzehn Jahre alt und mit ihren etwas schwärmerischen Augen schien sie wie ermüdet von den Lasten der Generationen, die gleichsam das natürliche Wachstum ihrer Gestalt verhindert hatten.

Am Nachmittag ging Arnold ins Dorf. Gassen und Platz waren vom Kirchweihdunst erfüllt. Aus der ganzen Umgegend waren die Bauern zusammengeströmt. Geschrei und Musik waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Die Wirtsstuben konnten ihre Gäste nicht fassen, die überall im Flur und auf der Gasse hockten, auf Fässern, Blöcken, Ballen und Balken, schrien, spielten, handelten und Lieder johlten. Die Drehorgeln quietschten, die Heringbrater schrien und Kinder schlüpften wie Eidechsen um die Beine der Erwachsenen. Aus der geöffneten Kirchentür strömte der Weihrauch in den Heringsgestank, und mit bunten Fähnchen und schläfrigem Gesang kam eine Prozession heraus, die sich im Gedränge kaum vorwärts schieben konnte. Einige in der Nähe bekreuzten sich, knixten und stürzten wieder in den Trubel. Dabei wurde es Abend. Die Menge staute sich immer mehr. Arnold wurde in den Flur des »goldenen Stern« gedrückt, wo Tanzmusik erklang. Ein Mann schrie verzweifelt, seine farbigen Ballons waren in die Luft geflogen. Fünf Mägde, Arm in Arm wie Soldaten, schwenkten aus dem Tor und sangen lachend ein Lied. Hinter ihnen stand plötzlich Maxim Specht und winkte Arnold lächelnd zu. Er wollte folgen, aber ein Verkäufer von Zaubertränken versammelte die Zecher um sich, und der Durchgang war versperrt. Als er neben sich blickte, sah er auch den jüdischen Hausierer. Seine traurige Gestalt, das unbewegt demütige Gesicht und die nüchtern und gefaßt prüfenden Augen wirkten so befremdlich in dem Haufen, daß Arnold ihn fragte, was er da suche. Elasser gab mechanisch Auskunft, als wenn er bisher mit niemandem hätte über etwas sprechen können, was ihn sehr zu bedrücken schien. Seine Tochter Jutta sei vom Hause weg, erzählte er mit einer fast geschäftlichen Freundlichkeit. Seit er vom Hof des gnädigen Herrn Ansorge zurückgekommen, sei sie verschwunden. Am Sonntag helfe sie manchmal beim Wirt Gläser spülen, aber sie sei nicht da. Wunderlich genug, daß Arnold auf einmal Sorge um das gesuchte Mädchen empfand, als ob er sich hier an Menschliches klammern müsse, wo er nur betrunkene Tiere sah. Er wurde nachdenklich und sah diese winzige Jutta irgendwo im Wald verirrt. Er wollte fragen, aber Elasser war schon fortgedrängt und Arnold befand sich neben der Saaltüre, dicht neben Specht und Beate. Specht faßte ihn sofort unter und fragte vertraulich, wie es gehe. Verlegen zuckte Arnold die Achseln, denn er fand keinen Tonfall gegenüber dieser unerwarteten Liebenswürdigkeit. Neugierig sah er auf die Füße der Tanzenden, denn die plumpen, gespreizten, lächerlichen und wilden Bewegungen reizten immer seine Schaulust. Oben auf einer Estrade hockten wie Kobolde die Musikanten, durch den Dunst halb verwischt. Beate wandte sich erhitzt mit derselben unerklärlichen Vertraulichkeit, aber mit einem geheimnisvoll tückischen Glanz in den Augen zu Arnold und fragte, ob er denn nie beim Jahrmarkt gewesen sei, weil er so erstaunt starre. Auch die Schnelligkeit und falsche Heiterkeit, mit der sie redete, hatten etwas Unerklärliches. »O ja,« antwortete Arnold gelassen, »aber ich habe es vergessen.« In der Tat, für ihn war ein Jahr eine unübersehbare Spanne Zeit.

Beate tanzte mit einem Bauernburschen von riesenhaftem Wuchs davon. Der heiße Saal mit seinen trüben Lichtern glich einer kleinen Hölle. Bald schien es Arnold, als drehten sich die Wände statt der Menschen. Er stand am Schanktisch, konnte weder vor- noch rückwärts, blickte zwischen Köpfen hinweg, über zuckende Schultern in den Dampf. Die Wirtin stellte Bier vor ihn hin; er hatte Durst, zahlte und trank. Er sah Beate vorbeifliegen, und ihre Röcke wehten. Der Bauer schien sie zu tragen, und seine großen Stiefel polterten vernehmbar vor allen. Dann standen auf einmal wieder sie und der Lehrer dicht vor ihm. Beide sahen ihn nicht. Specht hatte das Mädchen am Oberarm gefaßt und knirschte etwas durch die Zähne. Seine Unterlippe bewegte sich leidenschaftlich. Beate antwortete ihm mit einem langen Blick, der zugleich nachlässig, verliebt, unentschieden und von äußerster Wildheit war. Ihre Haare klebten an der Stirn, ihre Halsader pochte, ihre Ohren waren purpurrot, das Gesicht blaß. Zwei betrunkene Bauern, die tschechisch lallten, verdeckten gleich darauf die beiden für Arnolds Blicke. Er drängte sich zur Türe durch. Er war schon im Freien, als er eine Stimme hinter sich vernahm. Es war Specht, der seinen Arm abermals in den Arnolds schob und höflich bat, mitgehen zu dürfen. Arnold wußte nichts zu entgegnen. Die Welt ist für jedermanns Füße, dachte er. Er hörte den Lehrer keuchen von der Anstrengung des Nachlaufens.

»Bleiben wir doch noch zusammen,« bat Specht wiederum. »Ich möchte nicht gern allein sein. Es ist erst sieben Uhr und wir könnten ganz gut noch einen Spaziergang machen.«

Arnold nickte, halb neugierig, halb gleichgültig. Bald hatten sie den Lärm hinter sich. Trotz der Dunkelheit war der Weg deutlich, denn der Viertelsmond stand im Westen. Der Frieden der Felder schien vertausendfacht durch das nun verklungene Marktgetöse.

Siebentes Kapitel

»Elende Bauern,« sagte Specht, nachdem sie eine Weile lang schweigend gegangen waren. »An einem einzigen Sonntag werfen sie fort, was sie einen ganzen Sommer lang zusammengescharrt haben.« Er redete in Wut und Haß und warf irgend eine Anklage, die mit seinen Gefühlen gar nichts zu schaffen hatte, irgendwohin.

Arnold schwieg.

»Und was ist das überhaupt für ein Leben!« fuhr Specht mit einer verzweifelten Bewegung seines ganzen Körpers fort. »Wer bin ich hier? Was soll ich hier? Lauter Bauern, lauter Dummköpfe! Kein Mensch, mit dem man ein richtiges Gespräch führen kann. Pfui Teufel.«

Er ärgert sich, weil sein Mädchen mit einem andern getanzt hat, dachte

Arnold, was macht er solches Wesen davon.

»Ich wundre mich nur, daß Sie’s hier aushalten,« sagte Specht, »Sie sind doch auch schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Das ist doch keine Existenz für Sie. Sie müssen hinaus in die Welt. Man braucht Männer heutzutage.«

»Mir ist ganz wohl hier,« gab Arnold ruhig zur Antwort.

Das Dorf war längst verschwunden, sie schritten schweigend am Waldrand entlang. Die Wiesen glänzten silbern, Mondnebel erfüllten die Luft. Dicht vor ihnen tauchten die Mauern des Felizianerinnen-Klosters auf; über dem hohen Tor glänzte ein Kreuz.

»Wir sind sehr weit,« sagte Specht bedenklich. Mit verborgener Bewunderung heftete er den Blick auf Arnold, der ihm gegenüberstand, die Füße in schreitender Stellung, das Gesicht mit einem Ausdruck des Lauschens emporgewandt, das braune Haar aus der Stirn gestrichen. Die etwas lange, gerade, aber breitrückige Nase verlieh dem Gesicht einen durchaus reifen Charakter.

Der Lehrer riß einen Zweig ab und zerbog ihn. Seine Haltung war sinnend und schwermütig. Ihm war, als sei sein Gemüt gereinigt worden, und er hörte mit ganz anderm Ohr das Rauschen, welches der Wind in den Baumkronen verursachte. Seine Qualen rückten auf ein anderes Ufer, vor ihm floß ein Strom der Einsamkeit.

Sie gingen ein Stück weiter bis zum Fuße der Klostermauer. Dort setzte sich Specht auf eine Steinbank und erzählte von seiner Tätigkeit als Lehrer, von seinen Wünschen und Träumen, von seinem sozialen Ideal, das ihn anderswo hinweise als in mährische Einöden. Er erzählte von seiner Bibliothek, von seinen mit Studien verbrachten Nächten und deutete dumpf und schamvoll sein kümmerliches Auskommen an. Sein Ton war einfach, wenn auch durch die Nacht etwas gedrückt. Ihm war, als müsse er diesem Menschen beichten, und er vergaß die jüngeren Jahre Arnolds. Leicht erzeugt ohnedies eine solche Stunde festere Brücken zwischen Männern, als etwa ein Beisammensitzen im Sonnenschein. Freilich nicht bei Arnold, den keine innere Enge trieb, sich mitzuteilen. Aber da es für ihn nichts Längstbekanntes gab, kein alltägliches Schicksal, lauschte er dem Lehrer mit Interesse.

Endlich erhob sich Specht und meinte, es sei doch Zeit, nach Hause zu gehn. Während des Heimwanderns brachte er noch vielerlei vor, denn er hatte einen regen, lebendigen Geist, und mit Unrast suchte er Beziehungen und wünschte Sympathien.

Achtes Kapitel

Am andern Morgen, als Arnold und Frau Ansorge beim Frühstück waren, kam Ursula und erzählte, die Felizianerinnen hätten die Tochter des Juden Elasser zu sich ins Kloster gebracht.

»Vierzehn Stunden haben die Leute nicht gewußt wo ihr Kind ist,« sagte sie. »Erst heut Nacht haben sie es durch einen Zufall erfahren.«

»Und was ist dann geschehen?« fragte Arnold.

»Der Jud ist mit dem Gendarmerie-Wachtmeister Wittek ins Kloster gegangen. Man hat sie aber nicht hineingelassen.«

»Eine wunderbare Geschichte,« bemerkte Frau Ansorge spöttisch.

Arnold erinnerte sich seiner gestrigen Begegnung mit dem Hausierer und an dessen beklommenes Wesen. »Man kann doch nicht ohne weiteres ein Mädchen rauben,« sagte er verwundert.

»Wahrscheinlich soll das Judenkind getauft werden,« antwortete Ursula.

Der Bäcker aus Podolin, der gleich darauf kam, bestätigte das Vorgefallene.

»Ich versteh das nicht,« sagte Arnold in wachsender Verwunderung zu seiner Mutter. »Können die vom Kloster ein Kind einfach stehlen?«

Frau Ansorge zuckte die Achseln.

»Man kann es doch nicht taufen, wenn die Eltern nicht wollen.«

»Vielleicht will das Mädchen selber. Wenn es vierzehn Jahre alt ist, braucht man die Einwilligung der Eltern nicht.«

»Wenn es aber nicht will? Dann müssen Sie es wieder entlassen, wie?«

Frau Ansorge zuckte abermals die Achseln. »Was gehen uns die fremden Leute an,« entgegnete sie gleichgültig.

Gegen Mittag machte sich Arnold auf den Weg nach dem Dorf. Auf dem Hauptplatz blieb er eine Weile unschlüssig stehen. Dann, fast wider Willen trat er in den Ullmannschen Schnapsladen an der Ecke. Bauern, Knechte, Tagelöhner, Unterstandslose, ja sogar ein paar Weiber saßen dort und machten Lärm. Arnold ließ sich ein Glas Tschai geben. Ein alter, dicker, gichtiger Bauer, der weithin nach Schnaps roch und dessen Mund verzogen war, als hätte er Zitronensaft auf der Zunge, sagte, jetzt sei die Zeit gekommen, und endlich werde dem Juden der Garaus gemacht. Getauft oder verbrannt, schrie ein Bursche, dem die bloße Brust durch das zerrissene Hemd schien. Der Ladenbesitzer, selber ein Jude, mit einem Bart, der dünn und kranzartig um das ganze Gesicht lief, lachte mit weit aufgerissenem Mund. Eine pockennarbige Bäuerin behauptete, der Papst und der Erzbischof hätten den Felizianerinnen strenge befohlen, alle Judenkinder zu taufen.

Arnold fragte den geleckt und hungrig aussehenden Geschäftsgehilfen nach der Wohnung Elassers und verließ dann den Laden.

Podolin, aus einer langgestreckten Reihe niedriger Häuser bestehend, hatte nur eine einzige Seitengasse und dort, dicht am Flußufer, wohnte Elasser. Die abschüssige Gasse war fast ungangbar durch Misthaufen, Kotpfützen, Schottergestein und umhergackerndes Geflügel. Von den Mauern des Elasserschen Häuschens war der größte Teil der Mörtelbekleidung abgefallen. Arnold ging durch die offene Haustüre in ein gleichfalls offenes Zimmer zur Rechten, wo sich ihm ein ebenso wunderbarer als trauriger Anblick bot.

Neuntes Kapitel

Samuel Elasser hockte zusammengekauert, die Knie fast bis zur Brust emporgezogen, im Winkel eines schmutzigen Kanapees. Er hatte mit beiden Händen das Gesicht so vollständig bedeckt, daß darunter nur der braune Bart hervorquoll. Auf dem Kopf trug er ein altes, hintübergeschobenes Seidenkäppchen mit einer Quaste. Um ihn herum standen wie in einem abgemessenen Halbkreis sechs Kinder und blickten regungslos auf die kauernde Gestalt ihres Vaters. Eines von zwei Jahren kroch halb spielend, halb winselnd über die Dielen und ein Neugeborenes lag eingehüllt in bunte Lappen, die wiederum durch einen grünen Gürtel zusammengehalten waren, auf einer breiten Bank neben dem Ofen. Die Frau stand vor dem Fenstersims und bewegte betend die Lippen und den Oberkörper. Außer dem Gelalle des kleinen Halbnackten war kaum ein deutlicher Laut vernehmbar. Auf dem Tisch standen acht blecherne Kaffeetassen, an einem Strick vom Ofen zur Wand hingen rote Windeln zum Trocknen und der Türe gegenüber nahm ein uralter Schrank den fünften Teil des Raumes ein.

Nachdem Arnold einige Minuten ruhig auf der Schwelle geblieben war, trat er ins Zimmer. Sogleich drängten sich die sechs Kinder in einen Knäuel zusammen. Elasser ließ die Hände vom Gesicht fallen und blickte den Fremdling mit glasigen Blicken an. Arnold war etwas verdutzt über die gepreßte Trauer und düstere Niedergeschlagenheit, die hier herrschten. Er forschte unter den Gesichtern der Kinder und als er das ihm bekannte der kleinen Jutta nicht erblickte, fragte er: »Ist sie noch nicht zurück aus dem Kloster?«

Die Frau drehte sich um und heftete aus ihren hervorquellenden, ermüdeten Augen einen ungewissen und furchtsamen Blick auf Arnold. »Weiß der Herr nicht, daß unsere Jutta geschleppt worden ist mit Gewalt ins Nonnenkloster?« rief sie mit einer überscharfen Stimme. Ihre Züge, obwohl alt und häßlich, entbehrten nicht des Reizes, den das Leiden in jeder Form zu erteilen vermag.

Arnold blickte die Frau aufmerksam an. »Ja ja,« erwiderte er, »aber das ist doch gegen das Recht.«

»Sehn Sie nur an,« fuhr die magere Jüdin fort und hob sibyllenhaft den Kopf, »wie es bestellt ist mit dem Recht. Für die armen Leute gibt’s kein Recht, für arme Juden gibt’s gar kein Recht. Und mit was kann ich dienen? Mit wem hab ich das Vergnügen?«

»Es ist der gnädige Herr Ansorge,« klärte Elasser auf, mit einer Geberde, die ebensowohl für ehrfürchtig als für kummervoll gelten konnte. »Der Herr kommt nicht in schlechte Absichten, Mutter. Erinnern Sie sich, gnädiger Herr, wie ich meine Jutta hab gesucht Sonntag? Wir haben gewartet und gewartet und wer nicht gekommen is, war unsere Jutta. Und der ganze Abend ist geflossen un endlich gegen elf is gekommen der Gehilf vom Uravar und klopft da draußen und meint, wir sollen doch einmal nachfragen im Kloster. Und ich denk mir noch und denk mir noch, ’s ist wahr, sie kann sein gegangen mit die Bänderchen zu den Nonnen, denn sie ist allein hausieren gegangen, und solche Sachen sind schon bereits vorgekommen, und der Gehilfe, der ’s Fleisch bringt ins Kloster, kann sie dort gesehn haben. Gnädiger Herr meine Tochter ist eine gute Jüdin, warum soll sie bei den Nonnen geblieben sein? Und es war Mitternacht, bin ich noch gegangen und der Herr Wachtmeister, ein freundlicher Herr, ist mit mir gegangen ins Kloster. Und wir verlangen die Oberin zu sprechen, aber die Schwester Pförtnerin sagt, wir sollen kommen in der Früh und meine Jutta wäre da. Und der Herr Wachtmeister sagt, warten wir bis in der Früh. Gut. Sie können sich denken, daß wir kein Aug zugemacht haben die ganze Nacht, und in der Früh um sechs bin ich abermals wieder gegangen mit dem Herrn Wachtmeister und verlang zu sprechen die Oberin. Un sie kommt und ich verlang zu haben mein Kind. Und gnädiger Herr, glauben Se mir, mein Herz is still gestanden, sie sagt, ich soll kommen in fünf Tagen, bis sich das Mädchen besser gewöhnt haben wird an die neue Umgebung.«

Elasser wand sich, als ob ihn die Eingeweide brennten. »Un so bin ich fortgegangen,« schloß er und atmete tief.

»Und der Wachtmeister?« fragte Arnold, dessen Gesicht sich verfärbt hatte.

»Der Herr Wachtmeister is ein freundlicher Herr, aber er hat gesagt, leider, es ist vorläufig nichts zu machen. Man muß warten. So wart ich.«

Der Säugling auf der Ofenbank erwachte und begann ein dünnes Geheul, bis die Mutter hinging und ihm ein in Honig getauchtes, kugelartiges Leinwandstück in den Mund steckte. Auch das auf dem Boden kriechende Kind fing an zu weinen. Die Frau blickte gleichgültig herab, gab ihm mit dem Bein einen leichten Stoß, und als es platt auf der Erde lag, rollte sie es mit dem Fuß gleich einem Fäßchen hin und her. Das Kind lachte, während die Mutter leise summte und mit der Hand den Säugling wieder in Schlaf schüttelte.

Elasser erhob sich, nachdem er lange vor sich hingebrütet hatte und blickte Arnold ohne jede Schüchternheit mit funkelnden Augen an. »Was soll ich tun, lieber Herr,« sagte er dumpf und sein demütiger Tonfall wirkte sonderbar im Gegensatz zu seinem Aussehen. »Kann ich mir helfen, sagen Sie selber? Wenn sie sagt, ich soll kommen in einem Jahr, kann ich mir helfen? Und wenn ich keine Nacht mehr schließ ein Auge, kann ich mir helfen, lieber Herr?« Er ging auf und ab.

Arnold verfolgte ihn mit den Blicken. Er begriff nicht, begriff nichts.

Diese Verzweiflung schien ihm unverständlich.

»Papa,« rief jetzt der älteste Knabe mit finsterer Entschlossenheit, »hör auf zu reden, bitt dich, vor dem Christen.«

»Keine Ruh will ich haben, keine ruhige Stunde, bis sie mir nicht mein Kind gegeben haben!« rief Elasser mit scheuer Leidenschaftlichkeit. »Und wenn ich bis Wien zum Herrn Kaiser gehen muß, un wenn ich hungern un dürsten muß.«

»Und sollen Weib und Kinder gleichfalls hungern?« fragte die Frau mit streng zusammengezogenen Brauen.

»Schämen Sie sich doch,« sagte Arnold laut und blickte verdrießlich von einem zum andern, »gibt es denn kein Gericht? Jeder Richter muß Ihnen das Kind zurückgeben, sobald es das Gesetz verlangt.«

Draußen wurden Schritte laut und drei jüdische Männer betraten den Raum, wobei sie Gebete murmelten.

Arnold ging. Er war kaum bis zur Ecke des Hauptplatzes gelangt, als ihm Specht begegnete. Der Lehrer schien die größte Eile zu haben, blieb aber doch bei Arnold stehen, fing von der Klostergeschichte an und meinte, es sei sonderbar, daß sie beide gerade gestern Abend vor dem Kloster geweilt hätten. »Und was sagen Sie zu alledem? Klingt es nicht fabelhaft, daß dergleichen noch vorkommt?« Leise und geheimnisvoll fügte er hinzu: »Ich berichte alles an eine Wiener Zeitung. Übrigens könnten wir eine halbe Stunde miteinander plaudern; kommen Sie mit ins Wirtshaus.«

Arnold folgte zögernd, betrat das dumpfe und dunkle Gemach, nahm schweigend neben Specht Platz und nickte, als der Wirt ein Glas Bier vor ihn hinstellte.

Niemand war hier außer den beiden. Ein kleiner Rattenpinscher lag neben Specht auf der Bank, erhob den Kopf, knurrte und schlief bald weiter. Specht schien lange innerlich zu kämpfen, endlich sagte er: »Heute ist es mir schlimm ergangen; heute hab’ ich was Schlimmes erfahren. Hören Sie nur … Vielleicht bereu’ ich einmal, daß ich schwatzhaft war, aber der Teufel kann ewig schweigen.«

Arnold horchte hoch auf und schaute erwartungsvoll auf den Mund des Lehrers.

»Sie kennen doch Beate?«

Arnold wandte den Kopf ab und nickte gleichgültig. Specht legte seine Hand auf Arnolds Schulter und sagte beschwörend und schmerzlich: »Ich übertreibe nicht, mein Lieber, aber wenn es eine verkörperte Ruchlosigkeit gibt, ist es diese siebzehnjährige Hexe. Was ich gelitten habe! Doch es ist vorbei; anderes liegt vor mir.« Er bedeckte die Stirn mit der Hand; seine Lippen zitterten und in seinen Augen lag schon jetzt Reue über seine Mitteilsamkeit. Seine Miene wurde plötzlich kalt, und das Gesellschaftliche in seinem Wesen trat mit auffallender Schärfe hervor, als er sagte: »Ich hoffe, Sie können schweigen. Wir dürfen die Frauen nicht einmal ins Gerede bringen, während sie uns ungestraft zum Wahnsinn treiben.« Er lächelte und zupfte an seinem schmalen, blonden Schnurrbart.

Arnold, der für solche Schmerzen keinerlei Verständnis besaß, hatte zerstreut zugehört. Jenes unbedeutende Frauenzimmer erschien ihm keines Wortes wert. Er schämte sich für Specht.

Über eine Viertelstunde saßen sie schweigend beisammen. Der Wirt hatte die Lampe angezündet. Endlich fragte Arnold, indem er den Kopf ein wenig vorstreckte und das Kinn mit zwei Fingern der linken Hand drückte: »Wann wird man denn befehlen, das Mädchen frei zu lassen?«

»Welches Mädchen?« entgegnete Specht aufschreckend. »Die Elasser meinen Sie? Ich weiß nicht.« Specht fühlte sich beleidigt, daß Arnold einer so fernen Angelegenheit mehr entgegenbrachte als seiner, Maxim Spechts, persönlich nahen. »Wer, glauben Sie denn, daß hier befehlen wird?« fragte er ironisch.

»Das Gericht, denk ich,« entgegnete Arnold und wandte sich dem Lehrer völlig zu.

»Sie ahnen offenbar nicht, um welche Mächte es sich hier handelt?« Specht lächelte boshaft vor sich hin, als ob er mit diesen Mächten im Bunde sei.

Mit lachendem Mund und höchst erstauntem Ausdruck sagte Arnold: »Es handelt sich um ein Unrecht.«

Specht meckerte. »Unrecht hin oder her. Leben wir denn im Paradies? Findet denn jedes Unrecht einen Richter? Und wenn es schon einen Richter findet, findet es dann auch Gerechtigkeit?«

»Das ist mir zu dumm, was Sie da schwätzen, Sie wollen mich wohl zum Narren halten,« erwiderte Arnold, erhob sich mit blitzenden Augen und schob den Tisch mit dem Oberschenkel von der Bank weg. Der Hund fuhr aus dem Schlaf empor und bellte wütend. Bestürzt blickte der Lehrer Arnold an, der schweigend sein Geld auf den Tisch legte und die Wirtsstube verließ.

Specht seufzte. Er schloß grübelnd die Augen. Bald machte auch er sich auf den Weg, schlenderte die finstere Dorfstraße entlang und kam bis zum Hankaschen Zaun. Er lehnte sich an das Gartentor und begann melancholisch zu pfeifen, scheinbar ohne Absicht und nur in sich selbst versinkend. Seltsame Menschen gibt es, dachte er, indem er weiterpfiff, mit Beziehung auf Arnold. Was ficht ihn an? Für ihn ist das Leben ein warmer Pfannkuchen; er braucht sich nur hinsetzen, um zu essen. Will er Rechenschaft haben über die Unbescholtenheit der Henne, von der die Eier kommen?

Im Haus wurde ein Fenster geöffnet und eine helle Stimme rief: »Specht! Herr Specht! Kommen Sie doch herein! Was stehen Sie denn und pfeifen!«

Specht folgte der Einladung. Beate und Agnes saßen bei Tisch und schienen soeben mit dem Abendessen fertig geworden zu sein. Beate blickte Specht hochmütig und höhnisch an. Specht verbeugte sich, lächelte flüchtig, nahm Platz und fragte höflich nach Agnes Hankas Befinden. Freundlich und eilfertig bot ihm Agnes von den Überresten der Mahlzeit und obwohl er hungrig war, schüttelte Specht den Kopf und deutete scherzhaft auf seine Magengegend. Beate hatte nicht aufgehört den Lehrer fest anzublicken. Sie spielte mit einem Zeitungsblatt und sagte plötzlich vor sich hin, ohne Furcht, daß sie von der halbtauben Agnes gehört werden könne: »Wenn du nicht vernünftig bist –« … mit einer kategorischen und deutungsvollen Bewegung riß sie das Blatt mitten entzwei.

»Erlauben Sie, ich nehme mir doch ein Stückchen Käse,« rief Specht, zu Agnes gewandt, die ihm erfreut Butter, Brot, die Weinflasche und den Wurstteller hinschob. Sie klagte dem Lehrer, daß sie Sorge um ihren Bruder Alexander habe; sie fürchte für seine Gesundheit, er sehe so schlecht aus. Übrigens habe er heute in einem Brief versprochen, gegen Weihnachten längere Zeit in Podolin zuzubringen.

Specht fragte, was Alexander Hanka eigentlich treibe.

Agnes besann sich, ob es nicht doch vielleicht etwas gab, das Hanka »trieb«. »Nichts,« erwiderte sie endlich scheu.

Der Lehrer lächelte sarkastisch.

»Er lebt von seinem Geld,« sagte Beate stirnrunzelnd. »Er ist reich genug. Ist das vielleicht nicht erlaubt?«

»Es ist leider nicht nur erlaubt, es wird gern gesehen,« antwortete Specht.

Agnes gab dem Lehrer ihres Bruders Brief zu lesen. Es war, als suche sie über etwas Beunruhigendes in Hankas Leben Aufschluß und Trost, naiv dem Fremdesten vertrauend. Specht betrachtete zerstreut die ungefügen Schriftzeichen; unter dem Tisch suchte er Beates Hand zu ergreifen.

Zehntes Kapitel

Frau Ansorge erhielt aus Wien die Nachricht, daß ihr Bruder Borromeo sich wieder verheiratet habe. Die Photographie der neuen Schwägerin zeigte eine üppige Gestalt mit regelmäßigen Zügen, die einen herrischen und kalten Ausdruck hatten. »Friedrich tut nichts Gutes in seinem Schwabenalter,« sagte Frau Ansorge zu Arnold, der das Bild der schönen Frau mit Vergnügen betrachtete.

An demselben Morgen schickte Maxim Specht einen Brief und eine Zeitung. Die Zeitung enthielt Spechts Bericht über den Raub der Jutta Elasser. Arnold las, und es wirkte erstaunlich auf ihn, nicht gerade wie eine Lüge, sondern wie Schiefheit, wie Backenaufblasen. Aus dem Nahen und Wahren war etwas Fernes, Gespreiztes und Lärmendes geworden.

Der Brief lautete: »Wenn es Ihnen paßt, holen Sie mich morgen früh um sieben Uhr ab. Der Polizeihauptmann hat mit der Elasserschen Angelegenheit einen Kommissar beauftragt, der ein guter Bekannter von mir ist. Er erlaubt mir und Ihnen dabei zu sein, wenn Elasser im Kloster seine Tochter zu sehen bekommt. Davon darf man die Entscheidung erwarten, denn es ist nicht einzusehen, wie sie ihm dann noch das Kind verweigern wollen, was doch zweifellos geschehen wird. Der Zweck ist, die Sache hinzuziehen, bis Jutta das religionsmündige Alter von vierzehn Jahren erreicht haben wird. Dann wird dem Samuel Elasser die väterliche Gewalt durch die Vormundschaftsbehörde abgesprochen und der Taufe steht kein Hindernis im Wege; denn über das, was das Mädchen selbst will oder nicht will, wird ja die Öffentlichkeit getäuscht. Also nicht ich bin dumm oder boshaft, lieber Freund, sondern die Ereignisse sind es. Und dumm bin ich vielleicht nur deshalb, weil ich mich darum kümmere und die Welt, gemein wie sie ist, ändern möchte. Das ist nicht nur Dummheit, sondern Irrsinn. Bleiben Sie gut Ihrem Specht.«

Arnold hatte das Gefühl eines Hinterhaltes. Er las den Brief nicht nur, sondern er studierte ihn, drehte ihn um und um und zerstampfte ihn schließlich mit den Stiefeln. Den ganzen Tag über vermochte er nichts Rechtes anzufangen.

In der Nacht hatte er einen seltsamen Traum. Er kam von einer langen Landstraße an eine hohe Gartenmauer. Vor der Mauer standen zwei Pferde einander gegenüber, ein kleines und ein großes Pferd. Beide Tiere sahen aus, als ob sie mit Grünspan überzogen wären. An Hals, Kopf, Rücken und Bauch trugen sie allerlei Zieraten, die, ebenfalls grünspanfarben, aus der Haut hervorragten, als ob es nur künstliche Tiere wären. Aber beide Pferde lebten. Nun stand an der Mauer eine Tafel, welche die Inschrift trug: diese Pferde können sprechen. Nachdem er eine Weile unschlüssig und doch höchst begierig gestanden war, warf er ein Geldstück hin. Darauf ertönte ein langsames Glöckchen über der Mauer; das größere Pferd erhob den Kopf und öffnete weit das Maul, um zu sprechen. In diesem Augenblick wurde Arnold von einem so furchtbaren Schrecken ergriffen, daß er in der größten Eile über die Landstraße Reißaus nahm. Als er aufwachte und den Traum überlegte, kam er ihm überaus albern vor; dennoch, die dünne Luft, die Mauer, die einsame Straße, die schwermütige Miene des grünen Gauls, der sich anschickte zu sprechen, das alles trug etwas Unvergeßliches in sich.

Punkt sieben Uhr stellte sich Arnold bei Maxim Specht ein. Es war noch halb dunkel, als sie sich auf den Weg machten. Arnold verzehrte sein Frühstück unterwegs. Specht war schweigsam.

Vor dem Klostertor warteten sie. Als die ersten Wolken vom Frührot glühend wurden, traf der Kommissar mit einem Gendarmen ein. Ein wenig davon entfernt gingen Elasser und der Rabbiner aus Lomnitz. Der Kommissar zog die Glocke. Die Schwester Pförtnerin öffnete, deutete gegen eine schmale Türe zur Linken und hinkte auf einer Krücke davon. Als die Tür geöffnet war, wurde ein langer Gang sichtbar, an dessen Ende ein Windlicht brannte, welches nur mühsam die Finsternis verringerte. Darnach kam ein weiter, flurartiger Raum. Auf einem Schemel hockte schlaftrunken eine Laienschwester und zeigte stumm auf die zur Linken befindliche Glastür. Die Männer betraten ein saalartiges Gemach, dessen Decke durch ein gekreuztes Tonnengewölbe gebildet wurde. Auf einer langen Bank standen zwei dreiarmige silberne Leuchter, darüber hing ein ehernes Kreuz mit dem Heiland. An der hinteren Wand öffnete sich ein dunkles Loch, vor welchem sich ein aus weißen Stäben bestehendes Gitter befand. Elasser und der Rabbiner standen schweigend abseits; sie starrten vor sich nieder.

Nach einigen langen Minuten, während welcher Arnold seine Uhr in der Tasche ticken hörte, knarrte eine zweite Tür in der Ecke und vier Nonnen traten herein. Elasser reckte den Kopf auf — Arnold gedachte seines Traumpferds, welches sprechen wollte — und blickte nach der Tür, die sich indes wieder schloß, ohne daß seine Tochter eingetreten wäre. Plötzlich war das finstere, vergitterte Loch durch eine Kerzenflamme erleuchtet. Eine Gestalt bewegte sich vorbei, eine andere folgte. Die erste kehrte zurück, streckte die Arme aus, als wolle sie einen schweren Gegenstand ans Licht ziehen. Darauf wurde das Öffnen einer knarrenden Türe hörbar, und in demselben Augenblick begann ein Weinen und Schluchzen, das um so schauerlicher wirkte, als es wie durch das Fallen einer Wand mit einem Male hervorgebrochen schien. Die Arme regten sich geschäftiger, noch ein paar Arme und ein Kopf schienen Beistand zu leisten, aber das nicht zu beschwichtigende Weinen und Schluchzen erfüllte nach wie vor anschwellend den Raum. Die Kerze wurde ausgelöscht; das Gitter wurde wieder finster, die knarrende Türe ließ sich von neuem hören; Füße scharrten wie auf sandbestreuten Brettern, und mit einem Schlag war es wieder still.

Elasser war einen Schritt vorwärts gegangen. Der ganze Mann zitterte und seine Stirn glänzte von Schweiß. Ein gurgelndes Geräusch kam von seinen Lippen. Er schwenkte die Arme hin und her; der Rabbiner und der Gendarm mußten ihn bei den Schultern zurückhalten. Als es hinter dem Gitter finster und ruhig wurde, war auch er wieder still. Einige Minuten lang hörte man das leise Aufprasseln der Kerzenflammen auf der Bank. Die frommen Schwestern zeigten eine durch Gewohnheit und Übung erlernte und befestigte Gleichgültigkeit. Ihr inneres Leben schien sich zu einem verheimlichten Lauschen gesammelt zu haben, wovon allein die Bewegung der Augenlider Zeugnis ablegte. Specht stand mit bleichem Gesicht. Arnold betrachtete auch ihn; sämtliche Gestalten erschienen im trüben Zwielicht wie Phantome. Es war kaum zu unterscheiden, ob sie schliefen oder wachten.

Jetzt öffnete sich zum zweitenmal die seitliche Tür und die Oberin trat ein. Specht, der Kommissar und der Gendarm verbeugten sich ehrerbietig. Die Oberin streifte die Männer mit einem eisigen Seitenblick und richtete die Augen befremdet und fragend auf Arnold, der sich nicht rührte, nicht grüßte und mit verhängten Augen auf das eherne Christuskreuz sah. Indessen wandte sich die Dame ab, trat mit festem Schritt auf den Kommissar zu und sagte: »Herr Elasser kann leider seine Tochter nicht sehen. Das Mädchen ist krank.«

Elasser hob blitzschnell beide Hände, zog sie rasch gegen sein Herz und schien reden zu wollen. Ja, er schien gewaltsam bemüht, die ränkevolle Finsternis, die er um sich gewahren mußte, wenigstens durch Worte zu zerstören; der Polizei-Kommissar nahm seine Partei, bemerkte schüchtern, die Mutter des Kindes liege schwer darnieder und wünsche die Tochter vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Durch diese List gedachte er das Herz der Oberin zu rühren.

»Sie wird sie im Himmel wiedersehen,« antwortete die Oberin mit feierlich erhobener Hand und mit langsamer, zu peinvollem Lauschen zwingender Stimme. Dann winkte sie den Nonnen zu und verließ an ihrer Spitze den Raum.

Arnold, als wären seine Sinne für andere Wahrnehmungen getrübt, starrte gegen den Boden; das rasche, allseitige Getrappel auf den Steinfliesen schien ihn zu fesseln. Auch er wandte sich schließlich, um fortzugehen. Elasser stieß einen Seufzer aus, der Arnold noch lange in Erinnerung haften blieb, ordnete den feiertäglichen Rock, der sich verschoben hatte und sagte mit seinem kummervollen, diesmal aber von Entschlüssen durchwühlten Gesicht nichts als: »So wahr ein Gott lebt –!«

Der Kommissar und Maxim Specht gingen dem Dorfe zu. Plötzlich verabschiedete sich Specht von seinem Begleiter, schaute sich nach Arnold um und wartete, bis er herankam.

Elftes Kapitel

Arnold ergriff Spechts Arm und drückte ihn so fest, daß der Lehrer sich zusammennehmen mußte, um seinen Schmerz zu verbeißen. »Nicht so stürmisch,« sagte er mit schwachem Lächeln. Arnold atmete tief auf, dann wandte er den Blick von Spechts unschlüssigem, aber ernstem Gesicht ab, ließ ihn langsam über die Landschaft gleiten, und um seinen Mund zuckte es. Er schüttelte heftig und kurz den Kopf, und ohne den Lehrer zu grüßen, ging er mit raschen Schritten querfeldein. Der Wind sauste ihm entgegen, bald schien die Sonne, bald verging sie wieder, dann strömte auf einmal Regen, vom Sturm zu Wirbeln gepeitscht und gedreht, und von neuem brach kalt und fahl die Sonne durch. Stumm und weit dehnten sich Äcker und Wiesen. Arnold war unzufrieden mit sich selbst; diese Empfindung beirrte ihn. Wozu dies Streunen? dachte er. Er fing an, seiner Zweifel sich zu schämen, und langsam erhellte sich seine Stirn. Denn daß Elasser um sein offenbares klares Recht gebracht werden könne, erschien ihm so unmöglich, wie daß der Sonnenball für immer verschwinden sollte, weil eine Wolke darüber zog.

Die nächsten Tage verflossen ihm wie in einem unbewußten Horchen. Natürlich machte der Raub des Judenmädchens viel Aufsehen im Lande. Arnold wagte nicht, irgend jemand nach dem Verlauf der Dinge zu fragen, denn er ahnte wohl, daß da mehr Feindseligkeit und Parteileidenschaft im Spiel war, als es zuerst den Anschein gehabt.

Da schickte ihm Specht zum zweitenmal die Zeitung zu, an welche er berichtete und Arnold las:

»Neuestes aus Podolin. Samuel Elasser, unterstützt durch die Hilfe und getragen von der gemeinsamen Angst und Entrüstung seiner Stammesgenossen, hat seiner Sache endlich einen Rechtsbeistand gewählt, den Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Steinbacher in Krakau. Unter Berufung auf den § 145 des allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches wurde eine Eingabe an die Polizeibehörde berichtet. Dieser Paragraph erklärt deutlich, daß die Eltern berechtigt sind, vermißte Kinder aufzusuchen, entwichene zurückzufordern und flüchtige durch Unterstützung der Obrigkeit zurückzubringen. Der Polizeidirektor lehnte jedoch jede Vermittlung mit folgenden Worten ab: »Was? ich soll ein Mädchen aus einem Kloster herausnehmen?« In der tiefsten Besorgnis über das Wohlbefinden seiner Tochter, da ihm die Oberin doch Angst eingeflößt, verlangte Samuel Elasser die Untersuchung des Gesundheitszustandes. Nach langen vergeblichen Bemühungen und langen Beratungen wurden ein Gerichtsarzt und der Universitätsprofessor Dr. Woering in das Kloster gesandt. Beide Ärzte stimmten darin überein und sagten aus, daß Jutta Elasser vollkommen gesund sei. Nun erfolgten dringendere Vorstellungen des Vaters. Ein Polizeibeamter wurde beauftragt, in aller Form des Gesetzes vom Kloster wenigstens die Vorführung des Mädchens zu verlangen. Die Oberin antwortete dem Beamten: »In sieben Tagen wird sie ihr Vater sehen.« Der Beamte mußte sich damit begnügen, diesen Bescheid stillschweigend zu Protokoll zu bringen. Samuel Elasser fand sich am festgesetzten Tage bei der Polizeibehörde ein. Da überreichte man ihm eine schriftliche Meldung der Schwester Wirtschafterin, wonach Jutta Elasser zwei Tage vorher aus dem Kloster entflohen sei. Dies der nackte Bericht. Man muß nur darüber erstaunen, daß die Schwester Wirtschafterin den Ausdruck »entflohen« wählte. Entflohen? Wohin? Wohin, wenn nicht zu den Eltern? Warum gebrauchte die Schwester Wirtschafterin nicht den klareren und wahreren Ausdruck: entführt –? Denn das Mädchen wurde inzwischen schon im Kloster Lagiewniki bei Podgorze gesehen.«

Stumm reichte Arnold seiner Mutter das Blatt und bohrte die Zähne in die Lippe, während sie las, Frau Ansorge schüttelte den Kopf, als sie fertig war und sagte: »So ist eben die Welt; so sind die Menschen.«

Arnold machte ihr Sorge. Sein Benehmen zeigte so viel Überlegenheit und bewußten Eigenwillen, so viel Selbsterleben, so viel Hinaustasten und geheimnisvolles Erzittern alles dessen, was eben nur in einem Mann erzittern kann, daß sie nicht mehr aus noch ein wußte; sie litt unter seinem veränderten Gang, seiner beherrschteren Miene, seinem nach innen prüfenden Blick und erkannte plötzlich Kräfte seines Verstandes, seines raschen Auges, seiner Entflammbarkeit, die sie früher mit ihrer Furcht kaum berührt hatte. Wohl nahm sie bald wahr, daß er sich in einem seltsamen Zustand der Erwartung befand, aber außer einigen blitzhaften Einblicken blieb ihr alles ein Rätsel. Sie fand ihre Beobachtungsgabe verschärft, verzehnfacht; sie überzeugte sich, daß ihn nichts Trübes erfüllte, nichts Lebenfeindliches, im Gegenteil; doppelter Grund zur Sorge.

Eine Stunde später ging Arnold ins Dorf, bog in die bekannte Seitengasse und betrat das Elassersche Haus. Dort schien sich nichts verändert zu haben; der Säugling lag noch auf der Ofenbank, die Windeln hingen noch auf Stricken. Von den übrigen Kindern und Elasser selbst war nichts zu sehen. Die Frau lag auf dem alten Sofa und blickte ruhig gegen die rauchschwarze Decke. Als Arnold eintrat, erhob sie sich, und ihr Gesicht bekam einen verbissenen und boshaften Ausdruck.

»Wo ist Herr Elasser?« fragte Arnold sanft.

»Wo wird er sein!« erwiderte die Frau und lehnte sich mürrisch gegen den Sofawinkel.

»Was haben Sie für Nachrichten über Jutta?« fragte Arnold, der Widerwillen empfand gegen die Jüdin und ihre unordentliche Behausung.

Die Frau schwieg.

»Ich habe gehört, daß sie in Podgorze ist,« fuhr Arnold ruhig fort.

»Warum nicht?« erwiderte die Frau höhnisch und zuckte die Achseln. Plötzlich sprang sie auf, schritt hastig quer durch die Stube auf Arnold los und rief: »Wollen Sie mich zum Besten haben, mein Herr?« Sie blickte Arnold an, als sehe sie in ihm eine Person von unergründlicher Falschheit. »Wissen Sie was, gnädiger Herr? ich will einmal sagen und Sie sind ehrlich. Was kommen Sie dann von mir zu erfahren, was die Spatzen pfeifen auf allen Dächern? Ja! in Podgorze ist Jutta, zwei Nonnen haben sie in der Nacht herausgebracht aus dem Kloster im Wagen. Und Elasser ist gegangen nach Podgorze und die Gendarmerie dorten hat erwiesen, daß Jutta war im Kloster. Aber sie haben gesagt, sie hätten keinen Auftrag einzugreifen. Und Elasser ist gegangen zum Bezirkshauptmann von Podgorze und der Bezirkshauptmann ist gegangen zum Herrn Grafen Statthalter und wie er zurückgekommen ist, war unsere Jutta verschwunden aus Podgorze. Und Elasser ist gegangen ins Kloster nach Binczice und ins Kloster nach Morawice und ins Kloster nach Wolajustowska und nach Wielowics und überall ist Jutta gewesen und überall ist sie wieder fortgebracht worden und überall hat die Behörde verweigert den schuldigen Beistand, und kaum war der neue Aufenthalt von unserm Kind bekannt, so war sie auch schon wo anders. Und bloß in Kenty hat der Herr Bürgermeister geleistet Beistand und ist vorgestern verhaftet worden wegen Hausfriedensbruch. So, mein Herr! Wollen Sie noch mehr wissen?«

Mit funkelnden Augen sah ihn das Weib an und lachte, ohne daß sich ihr Mund öffnete. Was antwortest du, Schuldiger? schien ihr Blick zu fragen. Arnold senkte den Kopf und verließ langsam das Zimmer und das Haus.

Zwölftes Kapitel

Die ganze Ebene lag im tiefen Schnee. Es war sogar mühselig, nach Podolin zu kommen, aber da Maxim Specht Arnold durch einen kleinen Burschen hatte zum Besuch bitten lassen, folgte er der Aufforderung, trotzdem es schon weit im Nachmittag war. Als er in der Wohnung des Lehrers ankam, war es schon dunkel. Specht saß lesend am Tisch, und in einer Teekanne vor ihm summte das Wasser. Das Stübchen war gemütlich; der Lehrer trug einen großväterischen Schlafrock und rauchte aus einer langen Pfeife. Die Tabakswolken zogen langsam durch das Zimmerchen, nur über der Lampe wurden sie in schnellen Wirbeln emporgerissen.

Als Neuigkeit erzählte Specht, seine Schreiberei habe in der hauptstädtischen Redaktion solchen Beifall gewonnen, daß man ihm eine Stellung bei dem Blatt angetragen habe. Er werde auch nicht säumen; noch vor Weihnachten gehe er nach Wien, obwohl sein neues Amt erst im Januar beginne. Aber da sei viel zu ordnen und er könne es vor Ungeduld in Podolin nicht mehr aushalten. »Ich freue mich ja wahnsinnig, lieber Freund! Endlich! Wenn Sie wüßten, was in mir alles brodelt, was da drinnen steckt! Nicht genug Hände hat man dort, und hier sind zwei bald zu viel. Endlich werd’ ich atmen können!«

Arnold nickte. Niemals war ihm der Lehrer so sympathisch gewesen, niemals auch hatte er so leicht das Wesen eines andern begriffen. Atmen können! Er betrachtete das Gesicht des Lehrers, das in peinlicher Sauberkeit gehaltene Stübchen, die Bücher an den Wänden und auf dem Tisch. Maxim Specht, an das wortkarge Gehaben des Kumpans längst gewöhnt, war der Gelegenheit froh, sich ausschwatzen zu können. Er schenkte Tee ein; Arnold lehnte sich auf dem Sessel zurück und starrte in die Luft. Auch in ihm meldete sich höheres Leben. Das durch Gewohnheit nahe trat zurück, und der Horizont wurde beglüht von einem noch verborgenen Feuer.

»Sie müssen mir ein wenig auf Beate achten,« sagte Specht, in Freudigkeit vor sich hinbrütend, und ohne seine Worte sonderlich zu wägen. »Zwar ist alles aus zwischen uns, aber was man geliebt hat, soll man bewahren. Vielleicht gehen Sie hie und da zu Hankas. Zu Ihnen hab ich ein, ich möchte sagen übersinnliches Vertrauen. Jaja,« seufzte er, schlürfte behaglich aus der Tasse und blickte nicht ohne Empfindsamkeit in die Rauchwölkchen, »so geht die Liebe hin und das Leben ergreift uns.«

Arnold griff nach einem der Bücher im Regal. Es war ein Band von Gibbons

Geschichte, welche den Untergang des Römerreichs schildert.

»Sie hat jetzt ein Verhältnis mit dem Bauernknecht auf dem Randomirschen Gut,« fuhr Maxim Specht halb für sich fort, als vermöchte er sich von diesem Gegenstand nicht zu trennen. »Traurig genug. Mir tut nur der arme Hanka leid. Er hat sich ihrer angenommen und glaubt nun, eine unverdorbene Blume zu besitzen, ein unschuldiges Kind. Zum Lachen!«

Arnold bat, Specht möge ihm die Geschichtsbücher auf einige Tage borgen. Vor der Abreise solle er sie wieder haben.

Das plötzliche Interesse für die Historie war kaum mehr als Selbsttäuschung; ein Versuch, sich von seinem Innern ab- und an ein Äußeres, Weltliches zu wenden. Er hatte nach Schriften solcher Art früher nie gefragt. Die Vergangenheit der Erde und ihrer Völker war zwar bei ihm nicht Lernfutter gewesen, um abgelegene Höhlen des Gedächtnisses zu stopfen, aber nie war auch Lebendiges daraus hervorgegangen. Wie er nun zu Hause sich in diese Darstellung des Falls einer Nation vertiefte, gewahrte sein frischer Geist mit einem unermeßlichen Erstaunen, wie die Führung der menschlichen Angelegenheiten stets weit über den persönlichen Willen hinausgerückt wird. Dadurch erschien ihm zunächst alles als ein bodenloses Märchen. Zorn und Gleichgültigkeit wechselten in seinem Innern. Voll edlen Sträubens las er trotzdem Seite für Seite, brachte jedem Ereignis eine Fülle von Miterleben entgegen und lachte nicht selten spöttisch und verächtlich, da manches ganz anders auslief, als er es abgeschätzt hatte. Wie ebensoviele Käfer, die dumm in der dunklen Rinne laufen, statt den glatten, sonnenbeschienenen Weg zu wählen, kamen ihm die Handelnden vor und die Leidenden wie Mücken, die stumpf und trunken ins kleine Netz sich verstricken, während rundum die Luft voll Freiheit ist. Seltsam war seine Anteilnahme, seltsam, wie er von dem längstentschwundenen Treiben längstvermoderter Geschlechter für die Gegenwart Besitz ergriff, wie er über Schicksalsmächte rücklebend verfügte, mit brennendem Kopf den Zusammenhang verlor und in wirrem Trotz sich anmaßte, an Stelle eines jeden dieser Helden und Unhelden frei über das Kommende bestimmen zu können. Indem das in Zeit und Raum Entlegenste wie Nächste von seiner Phantasie verschmolz, stieß er die neuen Bilder bald voll Haß von sich und kehrte bald leidenschaftlich suchend danach zurück.

Aber gleichwie in dünstevoller Atmosphäre sich ein vielfarbiger Ring um jede Flamme bildet, so waren jene Bewegungen nicht das eigentlich ihn Erfüllende, sondern nur Ausstrahlungen. Er las, geriet in Zwiespalt und Betrachtung, raffte sich auf, bekämpfte, ordnete, überblickte, aber alles das hatte mit seiner Lektüre gar nichts mehr zu tun.

Um seiner Bedrängnis einigermaßen Herr zu werden, begann er wieder viel draußen herumzuwandern. Dabei kam er eines Nachmittags zu einer kleinen entlegenen Bauernschenke in der Nähe der sogenannten Polen-Mühle. Er hielt Einkehr und ließ sich ein Glas Wein geben. Zufällig fiel sein Blick in ein von einer Talgkerze erhelltes Seitenzimmerchen und dort sah er Beate, dicht und zärtlich an den hünenhaften Knecht geschmiegt, mit dem sie auf dem Jahrmarkt getanzt hatte. Arnold achtete nicht sonderlich darauf. Er griff nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag. Es war der »Mährische Landbote«. Gleichgültig las er, bis sein Blick auf eine telegraphische Meldung fiel, des Inhalts, daß der Jude Elasser beim Justizminister zur Audienz vorgelassen sei. Mehr stand nicht darüber, aber dies befriedigte Arnold so vollkommen, daß er munter pfeifend seinen Weg fortsetzte.

Vor dem Postamt auf dem Hauptplatz gewahrte er Specht. »Wie geht es Ihnen?« fragte der Lehrer mit so übertrieben liebevollem Tonfall, daß Arnold ihn befremdet und mißtrauisch anblickte.

»Elasser ist beim Justizminister, — wissen Sie schon?« sagte Arnold. Wie er so dastand, ein wenig vorgebeugt, mit listig spähendem Blick, das erregte Maxim Spechts Lachlust, und er erwiderte: »Spaß. Schon längst gewesen.«

»Nun, und ist Jutta schon frei?« fragte Arnold.

»Frei? Meinen Sie wirklich frei?« Specht lachte, aufs äußerste belustigt. Da er aber bemerkte, wie sich in Arnolds Gesicht wieder jener Zorn sammelte, dessen Äußerung er fürchtete, sagte er schnell: »Der Minister hat sich sehr gut benommen, o ja. Er hat dem armen Vater auf die Schulter geklopft, das tut ein Minister in solchen Fällen stets, und hat ihn mit den Worten entlassen: Fahren Sie ruhig nach Hause; das Kind wird Ihnen zurückgegeben werden.«

Arnold nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Den Spott in dem Bericht des Lehrers begriff er nicht.

»Sie scheinen ganz einverstanden zu sein,« fuhr Specht munter fort, »aber nun weiter. Der Minister beauftragt den Staatsanwalt, beim Landgericht die Strafanzeige wegen Entführung zu erstatten. Er verlangt ferner, daß ein gerichtlicher Auslieferungsbefehl geschrieben und dem Kloster zugestellt wird. Und was, meinen Sie, geschieht darauf? Die Ratskammer des Landgerichts lehnt diese Anträge einfach und rundweg ab.«

»Das wissen Sie doch noch nicht,« versetzte Arnold unwillig. Er mißverstand Spechts lebendige Wiedererzählung, durch welche die Zeitwörter in der Gegenwartsform erschienen.

Maxim Spechts Mienen wurden feierlich. »Was für ein Unglück für Sie, lieber Freund, daß Sie so jung und unerfahren sind!« rief er aus und schlug die Hände zusammen. »Allerdings hätte ich es vorher nicht wissen können, denn so weit kann sich der frechste Pessimismus nicht versteigen. Aber es ist geschehen, ist schon geschehen.«

Arnold schwieg. Er schaute den Lehrer studierend an, als mangle ihm in diesem Augenblick das Zutrauen in dessen Worte. Besinnend zur Erde blickend, schüttelte er den Kopf.

»Und noch etwas, lieber Freund, das ist noch nicht alles,« fuhr Specht mit leiser Stimme fort und zog Arnold ein wenig von den Häusern weg. »Der Advokat Elassers wollte die Akten sehen, in denen dieser Beschluß stand. Das erlaubt das Gesetz. Man sieht aus den Akten die Begründung des Urteils. Denn schließlich sollte doch jedermann wissen dürfen, warum die Ratskammer das Verlangen des Justizministers abschlägt. Und auch das ist nun verweigert worden, auch das.« Specht suchte erregt in seiner Tasche, nahm einen Zettel heraus, entfaltete ihn und sagte: »Ich habe mir von dem Dekret eine Abschrift genommen. Hören Sie.« Arnold trat dicht neben Specht, so daß er beim dürftigen Schein einer Öllaterne mitlesen konnte, was Specht murmelnd vorlas. »An den Landesadvokaten Dr. Steinbacher. Ohne die Frage zu entscheiden, ob Samuel Elasser in dieser Angelegenheit als Privatbeteiligter anzusehen sei –«

»Was heißt das?« unterbrach Arnold.

»Das? Das ist ein Schnörkel, den niemand auf Gottes Welt verantworten kann. Es ist nämlich nicht entschieden, heißt das, ob es den Elasser etwas angeht, wenn ihm sein Kind gestohlen wird. Also weiter … anzusehen sei, wird die Einsichtnahme in die Akten betreffs der Sache Jutta Elasser verweigert, weil wichtige Gründe dem im Wege stehen. Das Landesgericht in Strafsachen.« Specht faltete seinen Zettel wieder zusammen.

»Wichtige Gründe?« fragte Arnold, der immer noch nicht völlig glauben wollte und keiner Lüge auf den Grund zu kommen fähig war. Fassungslos schaute er dem Lehrer ins Gesicht und allmählich begriff er selbst, daß diese wichtigen Gründe in den zwei Worten bestanden, die sie vorgeben sollten.

»Nun spüren Sie den Atem unserer Welt,« sagte Specht mit tiefer Bitterkeit. »Heute war ein Herr von Gröden bei mir, Gerichtsadjunkt in Lomnitz. Er sollte sich im Auftrag der Regierung über die Stimmung unterrichten, die unter den Gutsbesitzern für oder gegen diese ganze Geschichte herrscht. Ich habe ihm ein Licht aufgesteckt, ich habe unter anderm auch von Ihnen gesprochen. Aber glauben Sie denn, daß das etwas nützen wird? Nicht einen Pfifferling. Die großen Herren tun, was Sie wollen und der kleine Jud mag sehen, wie er zu seinem Recht kommt. Wir beide werden es nicht erleben.«

Arnold hörte das alles nicht. Er stand und schien zu überlegen, welchen Weg er zu nehmen habe, um nicht einem furchtbaren Gespenst in die Arme zu laufen, das aus der Nacht emporstieg.

Langsam und ohne Gruß entfernte er sich von Specht. Er hatte kaum ein paar Schritte zurückgelegt, so holte ihn der Lehrer ein.

»Ich sage Ihnen Adieu, ich reise morgen früh,« sagte Specht. »Ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten,« fügte er mit unsicherer Stimme hinzu, und zog ein braunes Kuvert aus der Manteltasche. »Wollen Sie zu Hankas gehen und dies Beate geben? Nur ihr selbst und wenn niemand sonst dabei ist –? Wollen Sie das? Und grüßen Sie Agnes Hanka noch besonders von mir.«

Arnold nickte und nahm das Ding in Empfang.

»Und nun, Liebster, leben Sie wohl,« sagte Specht, indem er Arnold die Hand gab. »Sollte Sie das Geschick einmal dorthin führen, dann wissen Sie, wo Sie einen Freund haben. Leben Sie wohl, Arnold. Von Ihnen scheide ich am schwersten.« Schnell wandte er sich ab und ging.

Als Arnold nach Hause kam, entfiel dem offenen Kuvert der Inhalt. Es war die Photographie Beates; auf dem Bilde stand: Zur Erinnerung an den herrlichen 7. Oktober. Obwohl von ländlicher Unvollkommenheit, war das Porträt doch ähnlich; das Gesicht über dem nackten Hals und den halbentblößten Schultern hatte einen unschuldigen und süßen Ausdruck. Wie Sterne unter dunklen Torbogen, traten die Augen unter den Linien der Brauen hervor. Arnold konnte eine Empfindung der Geringschätzung nicht unterdrücken, welche Maxim Specht galt, dem so rachsüchtig offenen Kuvert und der Wichtigkeit, die der Lehrer all diesem beimaß.

Seine angstvollen und heißen Gedanken waren ganz wo anders, und er bemerkte gar nicht, daß die Mutter, schweigsam und bleich auf dem niedrigen Sofa liegend, dumpf vor sich hinstöhnte.

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