Miles saß zitternd auf einer Bank in einem kleinen verglasten Schlafraum, der auf der Krankenstation der Triumph normalerweise zur biologischen Quarantäne benutzt wurde, und beobachtete, wie Elena General Metzov mit einer Schnur an einen Stuhl band. Miles hätte sich selbstgefällig auf den Umschwung etwas eingebildet, wenn die Vernehmung, zu der sie sich jetzt anschickten, nicht so sehr mit gefährlichen Komplikationen belastet gewesen wäre. Elena war wieder entwaffnet. Zwei mit Betäubern bewaffnete Männer standen auf der anderen Seite der schalldichten, durchsichtigen Tür und blickten gelegentlich zu ihnen herein. Miles hatte seine ganze Beredsamkeit aufbieten müssen, um die Zuhörerschaft dieses ersten Verhörs auf ihn selbst, Oser und Elena zu beschränken.
»Wie heiß können die Informationen dieses Mannes sein?«, hatte Oser gereizt gefragt. »Man hat ihn doch an die Front hinausgehen lassen.«
»Heiß genug, daß ich meine, Sie sollten eine Chance haben, es zu überdenken, bevor Sie die Informationen einem ganzen Komitee verkünden«, hatte Miles argumentiert. »Sie werden immer noch die Aufzeichnung haben.«
Metzov sah aus, als sei ihm übel, und schwieg, verschlossen und teilnahmslos. Sein rechtes Handgelenk war ordentlich bandagiert. Das Aufwachen aus der Betäubung war schuld für die Übelkeit, das Schweigen war nutzlos, und jeder wußte es. Es war eine Art seltsamer Höflichkeit, ihn nicht mit Fragen zu behelligen, bevor Schnell-Penta ins Spiel kam.
Jetzt blickte Oser stirnrunzelnd auf Miles: »Sind Sie dafür schon fit genug?«
Miles blickte auf seine noch zitternden Hände. »Solange mich niemand auffordert, Gehirnoperationen durchzuführen, ja. Machen Sie weiter. Ich habe Grund für den Verdacht, daß Zeit wesentlich ist.«
Oser nickte Elena zu, die ein Hypospray hochhielt, um die Dosis zu kalibrieren und es dann gegen Metzovs Hals drückte. Metzov schloß kurz seine Augen in Verzweiflung. Einen Augenblick später öffneten sich seine geballten Fäuste. Die Muskeln in seinem Gesicht entspannten sich und erschlafften zu einem kontrollierten, idiotischen Lächeln. Es war eklig, diese Verwandlung zu beobachten. Ohne die innere Anspannung sah sein Gesicht alt aus.
Elena überprüfte Metzovs Puls und Pupillen. »In Ordnung. Er gehört Ihnen, meine Herren.« Sie trat zurück und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen, ihr Gesichtsausdruck war fast so verschlossen, wie der von Metzov gewesen war.
Miles öffnete die Hand. »Nach Ihnen, Admiral.«
Oser verzog seinen Mund. »Danke, Admiral.« Er ging hin und blickte abwägend in Metzovs Gesicht. »General Metzov. Ist Ihr Name Stanis Metzov?«
Metzov grinste. »Ja, das bin ich.«
»Zur Zeit Stellvertretender Kommandant bei Randall’s Rangers?«
»Ja.« Er wackelte belustigt mit dem Kopf.
»Wer hat Sie geschickt, Admiral Naismith zu ermorden?«
Metzovs Gesicht nahm einen Ausdruck heiterer Verwirrung an.
»Wen?«
»Nennen Sie mich Miles«, schlug Miles vor. »Er kennt mich unter einem … Pseudonym.« Seine Chance, durch dieses Gespräch zu kommen, ohne daß seine Identität gelüftet würde, glich der Chance eines Schneeballs, einen Wurmlochsprung in das Zentrum der Sonne zu überstehen, aber warum sollte man die Komplikationen beschleunigen?
»Wer hat Sie geschickt, um Miles umzubringen?«
»Cavie war’s. Natürlich. Er ist entkommen, wie Sie sehen. Ich war der einzige, dem sie vertrauen konnte … vertrauen … das Miststück …«
Miles’ Augenbrauen zuckten. »Tatsächlich hat Cavilo mich selbst hierher zurückbringen lassen«, informierte er Oser. »General Metzov wurde folglich in eine Falle gelockt. Aber zu welchem Zweck? Jetzt bin ich an der Reihe, glaube ich.«
Oser machte eine Geste, die besagte: »Nach Ihnen!« und trat zurück.
Miles erhob sich schwankend von seiner Bank und wankte in Metzovs Blickfeld. Trotz der von Schnell-Penta induzierten Euphorie schnaubte Metzov wütend, dann grinste er schurkisch.
Miles beschloß, mit der Frage zu beginnen, die ihn die längste Zeit am meisten umgetrieben hatte. »Gegen wen, welches Ziel war euer Bodenangriff geplant?«
»Vervain«, sagte Metzov.
Sogar Oser ließ seine Kinnlade fallen. Für einen Moment schwiegen alle verblüfft. Das Blut pochte in Miles’ Ohren.
»Vervain ist euer Auftraggeber«, stieß Oser hervor.
»Gott — Gott! — endlich paßt es zusammen!« Miles machte fast einen Luftsprung, aber daraus wurde ein Taumeln, und Elena löste sich mit einem Ruck von der Wand, um ihn aufzufangen. »Ja, ja, ja …«
»Es ist Wahnsinn«, sagte Oser. »Also das ist Cavilos Überraschung.«
»Ich wette aber, das ist noch nicht alles. Cavilos Luftlandetruppen sind weit größer als die unseren, aber sie sind keineswegs groß genug, um sich auf einen Bodenkampf mit einem voll besiedelten Planeten wie Vervain einzulassen. Sie können nur einen Überfall machen und dann abhauen.«
»Überfallen und abhauen, richtig«, sagte Metzov mit gleichmütigem Lächeln.
»Was war dann euer spezielles Ziel?«, fragte Miles eindringlich.
»Banken … Kunstmuseen … Genbanken … Geiseln …«
»Das ist ein Piratenüberfall«, sagte Oser. »Was, zum Teufel, wolltet ihr mit der Beute machen?«
»Sie auf Jackson’s Whole absetzen, auf dem Weg nach draußen, sie verkaufen es dann an Hehler.«
»Wie habt ihr euch denn vorgestellt, der Raumflotte der erzürnten Vervani zu entkommen?« fragte Miles.
»Ihnen einen Schlag versetzen, kurz bevor die neue Flotte in Dienst gestellt wird. Eine cetagandanische Invasionsflotte wird sie im Orbitalen Dock schnappen. Sitzende Ziele. Das ist leicht.«
Diesmal herrschte völliges Schweigen.
»Das also ist Cavilos Überraschung«, flüsterte Miles schließlich. »Ja, das ist ihrer würdig.«
»Cetagandanische … Invasion?« Oser begann unbewußt an einem Fingernagel zu kauen.
»Gott, es paßt zusammen, es paßt zusammen!« Miles begann in dem Krankenzimmer mit ungleichen Schritten hin und her zu gehen. »Was ist die einzige Methode, einen Wurmlochsprung zu nehmen? Von beiden Seiten zugleich. Die Vervani sind nicht Cavilos Auftraggeber — die Cetagandaner sind es.« Er wandte sich um und zeigte auf den schlafflippigen, nickenden General. »Und nun sehe ich Metzovs Platz in dem Plan klar wie Sonnenlicht.«
»Als Pirat«, Oser zuckte die Achseln.
»Nein — als Sündenbock.«
»Was?«
»Dieser Mann wurde — das wissen Sie anscheinend nicht — aus den Kaiserlich Barrayaranischen Streitkräften wegen Brutalität unehrenhaft entlassen.«
Oser blinzelte. »Aus den Barrayaranischen Streitkräften? Da muß er schon was angestellt haben.«
Miles schluckte einen Anflug von Befangenheit hinunter. »Nun ja. Er, hm … hatte sich das falsche Opfer ausgesucht. Aber wie dem auch sei, sehen Sie es nicht?
Die cetagandanische Invasionsflotte springt auf Cavilos Einladung hin in den Lokalraum von Vervain — vermutlich auf Cavilos Signal hin. Die Cetagandaner ›retten‹ in ihrer Herzensgüte den Plan vor den verräterischen Söldnern. Die Rangers hauen ab. Metzov wird als Sündenbock zurückgelassen — genau wie der Kerl, der aus der Troika den Wölfen zur Ablenkung hingeworfen wird…« — hoppla, das war keine sehr betanische Metapher —, »um von den Cetagandanern öffentlich gehängt zu werden, damit sie ihre ›redlichen Absichten‹ demonstrieren können. Schaut, dieser üble Barrayaraner hat euch das angetan, ihr braucht den Schutz unseres Imperiums gegen die Bedrohung durch das Kaiserreich von Barrayar, und hier sind wir.
Und Cavilo wird dreimal bezahlt. Einmal von den Vervani, einmal von den Cetagandanern, und das drittemal von Jackson’s Whole, wenn sie ihre Beute auf dem Weg nach draußen an die Hehler verkauft. Alle profitieren davon. Ausgenommen die Vervani natürlich.« Er machte eine Pause, um Atem zu holen.
Oser blickte überzeugt drein — und besorgt. »Glauben Sie, daß die Cetagandaner planen, in die Nabe vorzustoßen? Oder werden sie auf Vervain haltmachen?«
»Natürlich werden sie durchstoßen. Die Nabe ist das strategische Ziel, Vervain ist nur ein Sprungbrett auf dem Weg dorthin. Daher die abgekartete Sache mit den ›bösen Söldnern‹. Die Cetagandaner wollen so wenig Energie wie möglich aufwenden, um die Vervani zu befrieden. Sie werden Vervain vermutlich das Etikett einer ›verbündeten Satrapie‹ verpassen, die Raumfahrtrouten besetzen und kaum auf dem Planeten landen. Ihn dann über eine Generation hinweg ökonomisch aufsaugen.
Die Frage ist, werden die Cetagandaner auf Pol haltmachen? Werden sie versuchen, es mit diesem einen Zug zu nehmen, oder als einen Puffer zwischen sich und Barrayar lassen? Eroberung oder Werbung? Wenn sie die Barrayaraner ködern könnten, ohne Erlaubnis durch Pol hindurch anzugreifen, so könnte das sogar die Polianer in ein Bündnis mit den Cetagandanern treiben — uff!« Er ging wieder auf und ab.
Oser blickte drein, als hätte er in etwas Ekliges gebissen. Noch mit einem halben Wurm drin. »Ich wurde nicht angeheuert, um mich mit dem Imperium von Cetaganda in einen Kampf einzulassen. Ich erwartete höchstens, gegen die Söldner der Vervani zu kämpfen, wenn die ganze Geschichte nicht einfach im Sand verliefe. Wenn die Cetagandaner hier in der Nabe ankommen, mit großer Zahl, dann werden wir … in der Falle sitzen. Eingepfercht mit einer Sackgasse im Rücken.« Und dann fügte er gemurmelt hinzu: »Vielleicht sollten wir uns überlegen, hier herauszukommen, solange das noch geht …«
»Aber Admiral Oser, erkennen Sie nicht«, Miles zeigte auf Metzov, »sie hätte ihn nie aus ihrer Sichtweite gelassen mit all dem Zeug in seinem Kopf, wenn dies noch ein aktiver Plan wäre. Sie mag beabsichtigt haben, daß er bei dem Versuch, mich umzubringen, umkommt, aber da gab es immer die Möglichkeit, daß er überlebte — daß genau diese Art von Verhör herauskäme. All dies ist der alte Plan. Es muß noch einen neuen Plan geben.« Und ich glaube, ich weiß, worin er besteht.
»Da ist … ein anderer Faktor. Eine neue Unbekannte in der Gleichung.« Gregor. »Wenn ich mich nicht ganz täusche, dann bringt die cetagandanische Invasion Cavilo jetzt in beträchtliche Verlegenheit.«
»Admiral Naismith, ich wäre bereit zu glauben, daß Cavilo mit jedem, den Sie nennen mögen, falsches Spiel treiben würde — außer mit den Cetagandanern. Die würden eine ganze Generation darauf verwenden, Rache zu nehmen. Sie könnte nicht weit genug davonlaufen. Sie würde nicht überleben, um ihren Profit auszugeben. Nebenbei bemerkt, welcher vorstellbare Profit wiegt dreifache Bezahlung auf?«
Aber wenn sie erwartet, das Barrayaranische Kaiserreich zu haben, um sich vor Vergeltung zu schützen — all unsere Sicherheitsressourcen … »Ich sehe einen Weg, auf dem sie erwarten könnte davonzukommen«, sagte Miles. »Wenn das funktioniert, wie sie es will, dann wird sie allen Schutz haben, den sie wünscht. Und den ganzen Profit.«
Es könnte funktionieren, es könnte wirklich funktionieren. Wenn Gregor tatsächlich in ihrem Bann stünde. Und wenn zwei unangenehm feindlich gesinnte Leumundszeugen, Miles und General Metzov, sich praktischerweise gegenseitig umbrächten. Sie könnte ihre Flotte verlassen, Gregor nehmen, vor den ankommenden Cetagandanern fliehen und sich dann den Barrayaranern als die Frau präsentieren, die unter großen persönlichen Opfern Gregor ›gerettet‹ hätte.
Wenn dann obendrein noch ein in sie verknallter Gregor sie drängte, seine Frau zu werden, würdige Mutter für einen zukünftigen Sprößling der Kriegerkaste — die romantische Wirkung des Dramas könnte genügend öffentliche Unterstützung einbringen, um das Urteilsvermögen kühlerer Berater zu überwältigen. Miles’ Mutter hatte weiß Gott das Fundament für ein solches Szenario gelegt. Sie könnte das wirklich fertigbringen.
Kaiserin Cavilo von Barrayar. Klingt sogar gut. Und sie könnte ihre Karriere damit krönen, daß sie absolut jeden verriete, sogar ihre eigenen Streitkräfte …
»Miles, der Blick in deinem Gesicht …«, sagte Elena besorgt.
»Wann?«, sagte Oser. »Wann werden die Cetagandaner angreifen?« Er lenkte Metzovs herumschweifende Aufmerksamkeit auf sich und wiederholte die Frage.
»Nur Cavie weiß es.« Metzov kicherte. »Cavie weiß alles.«
»Es muß unmittelbar bevorstehen«, argumentierte Miles. »Es mag vielleicht sogar gerade beginnen. Das schließe ich aus Cavilos Timing für meine Rückkehr hierher. Es war ihre Absicht, die De… die Flotte mit unseren inneren Kämpfen gerade jetzt zu lähmen.«
»Wenn das wahr ist«, murmelte Oser, »was ist dann zu tun …?«
»Wir sind zu weit weg. Anderthalb Tage weg vom Schauplatz. Der wird am Wurmloch der Vervain-Station sein. Und jenseits davon, im Lokalraum der Vervani. Wir müssen näher herankommen. Wir müssen die Flotte zur anderen Seite des Systems bewegen — Cavilo gegen die Cetagandaner festnageln. Sie blokkieren.«
»Brr! Ich fange doch nicht Hals über Kopf einen Angriff auf das cetagandanische Imperium an!«, unterbrach ihn Oser scharf.
»Sie müssen. Sie werden früher oder später gegen sie kämpfen müssen. Entweder wählen Sie den Zeitpunkt, oder die Cetagandaner werden es tun. Die einzige Chance, sie zu stoppen, ist am Wurmloch. Wenn sie einmal hindurch sind, dann ist es unmöglich.«
»Wenn ich meine Flotte von Aslund fortbewegte, dann würden die Vervani denken, daß wir sie angreifen wollen.«
»Und sie würden mobilmachen, sich in Alarmbereitschaft versetzen. Gut. Aber sie würden in die falsche Richtung schauen — nicht gut. Und wir würden am Ende ein Ablenkungsmanöver für Cavilo darstellen. Verdammt! Das ist zweifellos ein anderer Zweig ihres Strategiebaums.«
»Nehmen wir mal an — wenn die Cetagandaner nun Cavilo in solche Verlegenheit bringen, wie Sie behaupten —, daß sie ihnen nicht das Stichwort gibt?«
»Oh, sie braucht sie noch. Aber für einen anderen Zweck. Sie braucht sie, um vor ihnen zu fliehen. Und dafür, daß die Cetagandaner alle Zeugen für Cavilos Verrat en masse umbringen. Aber sie braucht sie nicht, um Erfolg zu haben. Tatsächlich ist es für Cavilo jetzt notwendig, daß die cetagandanische Invasion steckenbleibt. Falls sie wirklich in ihrem neuen Plan so langfristig denkt, wie sie sollte.«
Oser schüttelte den Kopf, als ob er ihn freimachen wollte. »Warum?«
»Unsere einzige Hoffnung — Aslunds einzige Hoffnung — ist, Cavilo zu fangen und die Cetagandaner durch Kampf zu einem Stillstand am Wurmloch der Vervain-Station zu bringen. Nein, warten Sie — wir müssen beide Seiten des Sprunges zwischen der Nabe und Vervain besetzen. Bis Verstärkungen eintreffen.«
»Was für Verstärkungen?«
»Aslund, Pol — sobald die Cetagandaner in großer Zahl auf der Bildfläche erscheinen, werden die anderen die Bedrohung erkennen. Und wenn Pol sich auf die Seite von Barrayar schlägt anstatt auf die Seite der Cetagandaner, dann kann Barrayar auf dem Weg über Pol Truppen durchschicken. Die Cetagandaner können gestoppt werden, wenn alles in der richtigen Reihenfolge geschieht.« Aber konnte Gregor lebend gerettet werden? Nicht ein Pfad zum Sieg, sondern alle Pfade …
»Würden sich die Barrayaraner beteiligen?«
»Oh, ich denke schon. Die Spionageabwehr Ihrer Flotte muß doch auf dem laufenden sein über solche Dinge — hat man nicht hier in der Nabe in den letzten paar Tagen eine plötzliche Zunahme barrayaranischer Spionageaktivität festgestellt?«
»Jetzt, wo Sie das erwähnen, ja. Ihr codierter Nachrichtenverkehr hat sich vervierfacht.«
Gott sei Dank. Vielleicht war die Hilfe näher, als er zu hoffen gewagt hatte. »Haben Sie einen ihrer Codes entschlüsselt?«, fragte Miles heiter, weil er schon bei diesem Thema war.
»Nur den am wenigsten wichtigen, bis jetzt.«
»Aha, gut. Das heißt, zu schlecht.«
Oser stand mit verschränkten Armen da und nagte an seiner Lippe, eine ganze Minute lang konzentriert nach innen gerichtet. Miles fühlte sich unangenehm an den nachdenklichen Gesichtsausdruck des Admirals erinnert, kurz bevor Oser befohlen hatte, ihn durch die nächste Luftschleuse nach draußen zu stoßen, vor kaum einer Woche.
»Nein«, sagte Oser schließlich. »Danke für die Informationen. Dafür werde ich vermutlich Ihr Leben schonen. Aber wir ziehen uns zurück. Das ist ein Kampf, den wir unmöglich gewinnen können. Nur irgendwelche von Propaganda geblendete planetarische Streitkräfte, mit den Ressourcen eines Planeten hinter sich, können sich diese Art von wahnsinniger Selbstopferung leisten. Ich habe, verdammt noch mal, meine Flotte als ein großartiges taktisches Instrument entwickelt, nicht als einen … einen Türstopper aus Leichen. Ich bin nicht ein — wie Sie sagen — Sündenbock.«
»Nicht ein Sündenbock, sondern ein Stoßkeil.«
»Ihr ›Stoßkeil‹ hat keinen Stoß hinter sich. Nein.«
»Ist das Ihr letztes Wort, Sir?«, fragte Miles mit dünner Stimme.
»Ja.« Oser schaltete seinen Armbandkommunikator ein, um die wartenden Wachen hereinzurufen. »Korporal, diese Gesellschaft geht zum Schiffsgefängnis. Rufen Sie nach unten und informieren Sie die Leute dort.«
Der Wächter salutierte durch die Glaswand, als Oser wieder abschaltete.
»Aber, Sir«, Elena trat näher, ihre Arme in einer bittenden Geste gehoben. Ihr Handgelenk schnellte wie der Kopf einer Schlange ruckartig seitwärts, und sie stach das Hypospray gegen die Seite von Osers Hals. Seine Augen weiteten sich, sein Puls schlug ein-, zwei-, dreimal, während sich seine Lippen wütend verzogen. Er setzte an, sie zu schlagen, aber sein Schlag wurde mitten in der Luft kraftlos.
Die Wachen auf der anderen Seite der Glaswand sprangen auf Osers plötzliche Bewegung in Bereitschaft und zogen ihre Betäuber. Elena nahm Osers Hand und küßte sie mit dankbarem Lächeln. Die Wachen entspannten sich, einer gab dem anderen einen Stoß und sagte etwas ziemlich Unanständiges, nach ihrem Grinsen zu schließen, aber Miles war momentan zu verwirrt, um zu versuchen, die Worte von ihren Lippen abzulesen.
Oser schwankte und keuchte und kämpfte gegen die Droge an. Elena machte sich näher an den Arm heran, den sie ergriffen hatte, und ließ eine Hand um Osers Taille gleiten, dann drehte sie Oser halb herum, so daß sie beide mit dem Rücken zur Tür standen. Das stereotype törichte Grinsen des mit Schnell-Penta Behandelten erschien auf Osers Gesicht, verschwand noch einmal und setzte sich dann in seinen Zügen fest.
»Er hat sich benommen, als wäre ich unbewaffnet.« Elena schüttelte wütend den Kopf und ließ das Hypospray in ihre Jakkentasche gleiten.
»Was nun?«, zischte Miles aufgeregt, als der Korporal von der Wache sich über das Codeschloß der Tür beugte.
»Wir gehen alle zum Schiffsgefängnis, nehme ich an. Tung ist schon dort«, sagte Elena.
»Ah …« Oh-zum-Teufel-wir-werden-das-nie-schaffen. Mußten es versuchen. Miles lächelte den eintretenden Wachen fröhlich zu und half ihnen, Metzov loszubinden, wobei er sich ihnen vor allem in den Weg stellte und ihre Aufmerksamkeit von dem seltsam glücklich dreinschauenden Oser ablenkte. In einem Moment, als sie ihre Augen woanders hatten, stellte er Metzov ein Bein, und der stolperte daraufhin.
»Sie sollten ihn lieber jeder an einem Arm nehmen, er ist nicht sonderlich gut auf den Beinen«, sagte Miles den Wachen. Er war selbst auch nicht besonders sicher auf den Beinen, aber es gelang ihm, den Ausgang so zu blockieren daß zuerst die Wachen mit Metzov an der Spitze gingen, dann kam er, und Elena folgte als letzte, Arm in Arm mit Oser.
»Komm, Lieber, komm«, hörte er hinter sich Elena säuseln, wie eine Frau, die einer Katze auf ihrem Schoß gut zuredet.
Das war der längste kurze Gang, den er je getan hatte. Er fiel etwas zurück, um aus den Mundwinkeln Elena zuzuknurren: »Schön, wir kommen zum Schiffsgefängnis, aber das wird mit Osers besten Leuten besetzt sein. Was dann?«
Sie biß sich auf die Lippe. »Weiß ich nicht.«
»Genau das habe ich befürchtet. Wenden wir uns hier nach rechts.« Sie gingen um die nächste Ecke.
Einer der Wächter blickte über die Schulter zurück. »Sir?«
»Macht weiter, Jungs«, rief Miles. »Wenn ihr diesen Spion eingelocht habt, dann meldet euch wieder bei uns in der Kabine des Admirals.«
»Jawoll, Sir.«
»Geh einfach weiter«, flüsterte Miles. »Lächle einfach weiter …«
Die Schritte der Wachen verhallten. »Wohin jetzt?«, fragte Elena. Oser strauchelte. »Das halten wir nicht durch.«
»Die Kabine des Admirals, warum nicht?«, entschied Miles. Sein Grinsen war fest und übermütig. Elenas inspirierter meuterischer Eingriff hatte ihm die beste Chance des Tages gegeben. Jetzt war er in Fahrt. Er würde nicht aufhören, bis er körperlich zu Fall gebracht würde. In seinem Kopf drehte sich alles vor unaussprechlicher Erleichterung darüber, daß er endlich das veränderliche, sich schlängelnde, zwitschernde könnte-sein-könntesein-könnte-sein zu einem unveränderlichen ist festgenagelt hatte. Jetzt ist der Augenblick gekommen. Es geht los!
Vielleicht. Falls.
Sie kamen an ein paar oserischen Technikern vorbei.
Oser nickte ihnen irgendwie zu. Miles hoffte, sie würden es als eine beiläufige Erwiderung auf ihr Salutieren ansehen. Jedenfalls drehte sich niemand um und rief: »He da!«
Zwei Ebenen und ein weiterer Schwenk brachten sie in die vertrauten Korridore des Offiziersbereichs. Sie kamen an der Kabine des Kapitäns vorbei (Gott, Miles würde sich auch mit Auson auseinandersetzen müssen, und das bald), Osers Handfläche, die von Elena gegen das Schloß gedrückt wurde, öffnete ihnen den Zugang zu dem Quartier, das Oser zu seinem Flaggbüro gemacht hatte. Als die Türen sich hinter ihnen gleitend schlossen, wurde Miles bewußt, daß er seinen Atem angehalten hatte.
»Jetzt stecken wir drin«, sagte Elena und sackte einen Augenblick lang mit ihrem Rücken gegen die Tür. »Wirst du uns wieder im Stich lassen?«
»Diesmal nicht«, antwortete Miles grimmig. »Du hast vielleicht bemerkt, daß ich ein Thema nicht zur Sprache gebracht habe, drunten in der Krankenstation.«
»Gregor.«
»Genau. Cavilo hält ihn zu diesem Zeitpunkt als Geisel an Bord ihres Flaggschiffes.«
Elena beugte verzweifelt den Hals. »Hat sie denn vor, ihn den Cetagandanern gegen einen Bonus zu verkaufen?«
»Nein. Schlimmer. Sie hat vor, ihn zu heiraten.«
Elena verzog überrascht die Lippen. »Was? Miles, es ist doch nicht möglich, daß sie auf einen solch unmöglichen Gedanken gekommen ist, wenn nicht …«
»Wenn nicht Gregor ihn ihr eingegeben hat. Was er meiner Meinung nach getan hat. Hat ihn auch gewässert und gedüngt. Was ich nicht weiß, ist, ob es ihm ernst damit war oder ob er auf Zeit spielt. Sie hat sehr darauf geachtet, uns getrennt zu halten. Du kanntest Gregor fast so gut wie ich selbst. Was glaubst du?«
»Es ist schwer, sich vorzustellen, daß Gregor so verknallt ist, daß er darüber den Verstand verloren hat. Er war immer … ziemlich ruhig. Fast, nun ja, sexuell unterentwickelt. Verglichen mit Ivan zum Beispiel.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das ein fairer Vergleich ist.«
»Nein, du hast recht. Nun gut, dann verglichen mit dir.«
Miles fragte sich, wie er das wohl auffassen sollte.
»Gregor hatte nie viele Gelegenheiten, als wir jünger waren. Ich meine, kein Privatleben. Immer den Sicherheitsdienst im Nacken. Das … kann einen Mann hemmen, wenn er nicht gerade ein Exhibitionist ist.«
Ihre Hand bewegte sich, als wollte sie Gregors glatte, grifflose Oberfläche abmessen. »Das war er nicht.«
»Sicher muß Cavilo achtgeben, daß sie nur ihre attraktivste Seite zeigt.«
Elena fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen. »Ist sie hübsch?«
»Ja, wenn man zufällig machtgierige, mörderische blonde Irre mag, dann könnt sie ganz überwältigend sein, nehme ich an.«
Er ballte die Faust: die Erinnerung daran, wie sich Cavilos pelziges Haar angefühlt hatte, war wie ein Jucken auf seiner Handfläche. Er rieb sie an seiner Hosennaht.
Elenas Gesicht hellte sich etwas auf. »Aha, du magst sie nicht.«
Miles blickte zu ihr auf. »Sie ist für meinen Geschmack zu klein.«
Elena grinste. »Das glaube ich dir.«
Sie führte den schlurfenden Oser zu einem Stuhl und setzte ihn hin. »Wir müssen ihn bald festbinden oder so.«
Der Kommunikator summte. Miles ging zu Osers Tischkonsole, um zu antworten. »Ja?«, sagte er mit seiner ruhigsten, gelangweiltesten Stimme.
»Hier Korporal Meddis, Sir. Wir haben den vervanischen Agenten in Zelle Neun gesteckt.«
»Danke, Korporal. Ach …« Es war einen Versuch wert: »Wir haben noch etwas Schnell-Penta übrig. Würden Sie beide bitte Kapitän Tung hier heraufbringen zu einer Vernehmung?«
Außer Reichweite der Vidkamera hob Elena hoffnungsvoll ihre dunklen Augenbrauen.
»Tung, Sir?« In der Stimme des Wächters klang Zweifel an. »Hm, soll ich dann mein Kommando noch mit ein paar Leuten verstärken?«
»Sicher … schauen Sie mal, ob Sergeant Chodak in der Nähe ist, er hat vielleicht ein paar Leute bereit für Extradienst. In der Tat, steht er nicht selber auf dem Dienstplan für Sondereinsatz?« Er blickte auf und sah, wie Elena Daumen und Zeigefinger zu einem O zusammengelegt hochhielt.
»Ich glaube schon, Sir.«
»Schön, wie auch immer. Machen Sie weiter. Naismith Ende.« Er schaltete den Kommunikator aus und starrte ihn an, als hätte er sich in Aladins Lampe verwandelt.
»Ich glaube nicht, daß es mir bestimmt ist, heute zu sterben. Ich muß wohl bis übermorgen noch verschont bleiben.«
»Meinst du?«
»O ja. Ich werde dann eine viel größere, öffentlichere und spektakulärere Chance haben, alles hinwegzufegen. In der Lage sein, Tausende weiterer Leben mit mir hinabzureißen.«
»Bekomm jetzt bloß nicht deinen törichten Bammel, du hast dafür keine Zeit.« Sie klopfte ihm mit dem Hypospray empfindlich auf seine Fingerknöchel. »Du mußt dir etwas ausdenken, um uns aus diesem Loch herauszubringen.«
»Ja, Madame«, sagte Miles sanft und rieb sich die Hand. Was ist denn mit dem ›Mylord‹ geschehen? Kein Respekt, niemand … Aber er war auf seltsame Weise getröstet.
»Übrigens, als Oser Tung verhaften ließ, weil er meine Flucht arrangiert hatte, warum machte er nicht weiter und nahm dich und Arde und Chodak und die übrigen von eurem Kader nicht auch fest?«
»Er hat Tung nicht deshalb verhaftet. Zumindest glaube ich das nicht. Er piesackte Tung, was seine Gewohnheit war, sie waren beide zur gleichen Zeit auf der Brücke — das war ungewöhnlich —, und Tung verlor schließlich die Beherrschung und versuchte, ihn niederzuschlagen. Schlug ihn sogar zu Boden, hörte ich, und war drauf und dran, ihn zu erwürgen, als die Sicherheitsleute ihn wegzogen.«
»Es hatte also nichts mit uns zu tun?«
Das war eine Erleichterung.
»Ich bin … nicht sicher. Ich war nicht an Ort und Stelle. Es könnte ein Ablenkungsmanöver gewesen sein, damit genau diese Verbindung Osers Aufmerksamkeit entging.«
Elena nickte in Richtung auf den immer noch sanft lächelnden Oser. »Und jetzt?«
»Wir lassen ihn ungebunden, bis Tung gebracht wird. Wir alle sind hier einfach glückliche Verbündete.« Miles verzog das Gesicht. »Aber laß um Gottes willen niemanden versuchen, mit ihm zu reden.«
Das Türsignal summte. Elena stellte sich hinter Osers Stuhl, legte eine Hand auf seine Schulter und bemühte sich so verbündet wie möglich auszusehen. Miles ging zur Tür und aktivierte das Schloß. Die Tür glitt zur Seite.
Ein Kommando aus sechs nervösen Männern umringte einen feindselig dreinblickenden Ky Tung. Tung trug den hellgelben Pyjama eines Gefangenen und strahlte Groll aus wie eine kleine Sonne, die demnächst zu einer Nova explodieren wird. Er biß die Zähne völlig verwirrt aufeinander, als er Miles sah.
»Ah, danke, Korporal«, sagte Miles. »Wir werden eine kleine informelle Stabsbesprechung nach diesem Verhör abhalten. Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie und Ihr Kommando dort draußen Wache hielten. Und für den Fall, daß Kapitän Tung wieder gewalttätig wird, sollten wir lieber — o ja, Sergeant Chodak und ein paar von Ihren Leuten hier drinnen haben.«
Er betonte das ›Ihre‹ ohne Veränderung in der Stimme, aber mit einem direkten Blick in Chodaks Augen.
Chodak verstand den Wink. »Jawohl, Sir. Gefreiter, kommen Sie mit mir.«
Ich befördere Sie zum Leutnant, dachte Miles, trat zur Seite und ließ den Sergeanten und den Mann seiner Wahl Tung hineinführen. Oser, der fröhlich aussah, war einen Augenblick lang für das Kommando deutlich sichtbar, bevor sich die Tür wieder zischend schloß.
Oser war auch für Tung deutlich sichtbar. Tung schüttelte seine Bewacher ab und trat vor den Admiral. »Was jetzt, du Scheißkerl, denkst du, du …?« Tung hielt inne, als Oser ihn auch weiterhin bekloppt anlächelte. »Was ist denn mit ihm los?«
»Nichts«, Elena zuckte die Achseln. »Ich glaube, diese Dosis Schnell-Penta hat seine Persönlichkeit wirklich verbessert. Zu schade, daß das nur vorübergehend ist.«
Tung warf den Kopf zurück, lachte bellend und wirbelte herum, um Miles an den Schultern zu packen und zu schütteln. »Du hast es geschafft, du kleiner … du bist zurückgekommen. Wir sind im Geschäft!«
Chodaks Mann zuckte, als sei er unsicher, in welche Richtung oder auf wen er losstürmen sollte. Chodak packte ihn am Arm, schüttelte schweigend den Kopf und zeigte auf die Wand neben der Tür. Er steckte seinen Betäuber in das Halfter und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen, nach einem Moment der Verwirrung folgte sein Mann seinem Beispiel und flankierte die andere Seite der Tür.
»Jetzt kannst du Mäuschen spielen«, sagte Chodak zu ihm aus dem Mundwinkel und grinste. »Betrachte es als ein Geschenk.«
»Es war nicht gerade freiwillig«, sagte Miles zu Tung. Er biß die Zähne zusammen, und das nur zum Teil deshalb, weil er sich bei dem Begeisterungsausbruch des Eurasiers nicht in die Zunge beißen wollte. »Und wir sind noch nicht im Geschäft.«
Tut mir leid, Ky. Ich kann diesmal nicht dein Strohmann sein. Du mußt mir folgen. Miles machte die eisige Miene und entfernte nachdrücklich Tungs Hände von seinen Schultern.
»Dieser vervanische Frachterkapitän, den du ausgesucht hast, hat mich direkt an Kommandantin Cavilo ausgeliefert. Und ich habe mich seitdem gefragt, ob das ein Zufall war.«
»Ach!« Tung trat zurück und sah aus, als hätte ihn Miles gerade in den Magen geboxt.
Miles fühlte sich so, als hätte er es getan. Nein, Tung war kein Verräter. Aber Miles wagte nicht, den einzigen Vorteil aufzugeben, den er hatte.
»Verrat oder Pfusch, Ky?« Und hast du aufgehört, deine Frau zu schlagen?
»Pfusch«, flüsterte Tung, der ganz blaß geworden war. »Verdammt, ich werde diesen falschen Hund umbringen …«
»Das wurde schon erledigt«, sagte Miles kalt. Tung hob die Augenbrauen in Überraschung und Respekt.
»Ich bin in die Hegen-Nabe aufgrund eines Kontraktes gekommen«, fuhr Miles fort, »der jetzt fast unrettbar durcheinandergebracht ist. Ich bin nicht hierher zurückgekommen, um dir das faktische Kampfkommando über die Dendarii zu übergeben …« — ein Schlag, wie Tungs besorgte Züge bewiesen, doch er versuchte sofort, diesen Ausdruck verschwinden zu lassen — »es sei denn, du bist bereit, meinen Zwecken zu dienen. Prioritäten und Ziele werden von mir bestimmt. Nur das Wie unterliegt deiner Entscheidung.« Und wer war wohl dabei, wem das Kommando über die Dendarii zu übergeben? Sofern diese Frage Tung nicht in den Sinn kam.
»Als mein Verbündeter«, begann Tung.
»Nicht Verbündeter. Dein Befehlshaber. Oder nichts«, sagte Miles.
Tung stand stämmig da und zuckte verwirrt mit den Augenbrauen. Schließlich sagte er in mildem Ton: »Papa Kys kleiner Junge scheint erwachsen zu werden.«
»Das ist nicht die Hälfte davon. Bist du dabei oder nicht?«
»Die andere Hälfte davon ist etwas, das ich hören will.« Tung saugte an seiner Unterlippe. »Ich bin dabei.«
Miles streckte die Hand aus. »Abgemacht.«
Tung ergriff sie entschlossen und mit Nachdruck. »Abgemacht.«
Miles atmete auf. »Also gut. Ich habe dir beim letztenmal ein paar Halbwahrheiten gesagt. Jetzt sage ich dir, was wirklich vor sich geht.«
Er begann auf und ab zu gehen, und sein Zittern war nicht bloß die Nachwirkung des Nervendisruptors. »Ich habe einen Kontrakt mit einem interessierten Außenseiter, aber da ging es nicht um militärische Einschätzung, das ist nur die Tarnung, die ich Oser vortäuschte. Als ich jedoch zu dir sagte, es gehe um die Verhinderung eines planetarischen Bürgerkriegs, so war das keine Tarnung. Ich wurde von den Barrayaranern engagiert.«
»Sie engagieren normalerweise keine Söldner.«
»Ich bin kein normaler Söldner. Ich werde vom Kaiserlich Barrayaranischen Sicherheitsdienst bezahlt« — Gott, endlich eine ganze Wahrheit —, »dafür, daß ich eine Geisel finde und befreie. Nebenbei hoffe ich, eine jetzt bevorstehende Invasion einer cetagandanischen Flotte davon abzuhalten, die Hegen-Nabe zu erobern. Unsere zweite strategische Priorität wird sein, beide Seiten des vervanischen Wurmlochsprungs zu besetzen und so viel mehr, wie wir können, bis barrayaranische Verstärkungen eintreffen.«
Tung räusperte sich. »Zweite Priorität? Was ist, wenn sie nicht kommen? Sie müssen an Pol vorbei … Und … hm … die Befreiung einer Geisel hat normalerweise keinen Vorrang vor flottenweiten strategisch-taktischen Operationen, oder?«
»Angesichts der Identität dieser Geisel garantiere ich dir, daß sie kommen. Der Kaiser von Barrayar, Gregor Vorbarra, wurde entführt. Ich habe ihn gefunden, wieder verloren, und jetzt muß ich ihn zurückbekommen. Wie du dir vorstellen kannst, erwarte ich, daß die Belohnung für seine Rückkehr beträchtlich sein wird.«
Tungs Gesicht war eine Studie von Erschrecken und Erleuchtung.
»Dieser dünne, nervenschwache Kerl, den du neulich im Schlepptau hattest — das war er, nicht wahr?«
»Ja, das war er. Und im Vertrauen gesagt, du und ich, wir haben es geschafft, ihn direkt an Kommandantin Cavilo auszuliefern.«
»Oh, verdammt.« Tung rieb sich seinen kurzgeschorenen Schädel. »Sie wird ihn direkt an die Cetagandaner verkaufen.«
»Nein. Sie hat vor, ihre Belohnung von Barrayar zu kassieren.«
Tung öffnete den Mund, schloß ihn wieder, hielt einen Finger hoch. »Wart mal einen Augenblick …«
»Es ist kompliziert«, gab Miles hilflos zu. »Das ist der Grund, weshalb ich den einfachen Teil, die Besetzung des Wurmlochs, an dich delegiere. Für den Teil der Geiselbefreiung werde ich verantwortlich sein.«
»Einfach. Die Dendarii Söldner. Wir fünftausend. Ohne jede Hilfe. Gegen das Imperium von Cetaganda. Hast du in den letzten vier Jahren verlernt zu zählen?«
»Denk an den Ruhm. Denk an deinen Ruf. Denk daran, wie großartig sich das in deinem nächsten Lebenslauf ausmachen wird.«
»Auf meinem leeren Ehrengrabmal, meinst du wohl. Niemand wird genügend von meinen verstreuten Atomen einsammeln können, um ein Begräbnis zu veranstalten. Wirst du meine Bestattungskosten tragen, Sohn?«
»Ich werde für Pomp sorgen. Fahnen, Tänzerinnen und genug Bier, um deinen Sarg nach Walhalla zu schwemmen.«
Tung seufzte. »Nimm Pflaumensaft, um den Sarg schwimmen zu lassen, ja? Trink das Bier. Nun gut.« Er stand einen Moment lang schweigend da und rieb sich seine Lippen. »Der erste Schritt ist, dafür zu sorgen, daß die Flotte in einer Stunde einsatzbereit ist statt in vierundzwanzig Stunden.«
»Das ist noch nicht geschehen?« Miles runzelte die Stirn.
»Wir waren auf Verteidigung eingestellt. Wir gingen davon aus, daß wir mindestens sechsunddreißig Stunden zur Verfügung hätten, um alles zu untersuchen, was auf uns durch die Nabe zukäme. Oder Oser ging davon aus. Es wird etwa sechs Stunden dauern, uns zu einer Einsatzbereitschaft von einer Stunde zu bringen.«
»In Ordnung … das ist dann der zweite Schritt. Dein erster Schritt wird sein, dich mit Kapitän Auson zu küssen und zu versöhnen.«
»Der kann mal meinen Arsch küssen!«, schrie Tung. »Der Hohlkopf …«
»Wird gebraucht, um die Triumph zu kommandieren, während du die Flottentaktik leitest. Du kannst nicht beides tun. Ich kann die Flotte so kurz vor dem Einsatz nicht umorganisieren. Wenn ich eine Woche Zeit hätte für eine Säuberung — nun ja, die habe ich nicht. Osers Leute müssen überredet werden, auf ihren Posten zu bleiben. Wenn ich Auson habe«, Miles hochgehaltene Hand schloß sich wie ein Käfig, »dann kann ich mit dem Rest fertig werden. So oder so.«
Tung willigte frustriert knurrend ein. »In Ordnung.« Sein düsterer Blick ging langsam in ein Grinsen über. »Ich würde jedoch etwas dafür geben, um zu sehen, wie du ihn dazu bringst, daß er Thorne küßt.«
»Jedes Wunder zu seiner Zeit.«
Kapitän Auson, der schon vor vier Jahren ein massiger Mann gewesen war, hatte noch ein bißchen mehr Gewicht angesetzt, aber sonst schien er unverändert. Er trat in Osers Kabine, sah die auf ihn gerichteten Betäuber und blieb mit geballten Fäusten stehen. Als er Miles sah, der auf dem Rand von Osers Komkonsolentisch saß (ein psychologischer Trick, um seinen Kopf in gleicher Höhe wie alle anderen zu haben, Miles befürchtete, wenn er auf dem Dienststuhl säße, dann würde er aussehen wie ein Kind an einem Eßtisch, das ein erhöhten Sitz brauchte), ging Ausons Gesichtsausdruck von Ärger in Entsetzen über.
»Oh, zum Teufel! Nicht schon wieder Sie!«
»Aber natürlich.« Miles zuckte die Achseln. Die mit Betäubern bewaffneten Mäuschen, Chodak und sein Mann, unterdrückten ein Grinsen glücklicher Erwartung. »Das Unternehmen geht bald los.«
»Sie können nicht dieses …« Auson brach ab und guckte auf Oser. »Was habt ihr mit ihm gemacht?«
»Wollen wir mal sagen, wir haben seine Einstellung angepaßt. Was die Flotte angeht, die ist schon mein.« Nun ja, er arbeitete jedenfalls daran. »Die Frage ist, wollen Sie auf der Seite der Gewinner sein? Einen Kampfbonus einstecken? Oder soll ich das Kommando über die Triumph an …«
Auson zeigte Tung mit stummem Knurren Zähne.
»… Bei Thorne übergeben?«
»Was?«, schrie Auson auf. Tung zuckte erschrocken zusammen. »Sie können doch nicht …«
Miles fiel ihm ins Wort: »Erinnern Sie sich zufällig, wie Sie vom Kommandanten der Ariel zum Kommandanten der Triumph aufstiegen? Ja?«
Auson zeigte auf Tung. »Was ist mit ihm?«
»Mein Auftraggeber wird einen Betrag beisteuern, der dem Wert der Triumph entspricht und Tungs persönlicher Anteil an der Korporation der Flotte werden wird. Dafür wird Kommodore Tung alle Ansprüche auf das Schiff selbst aufgeben. Ich werde Tungs Rang als Taktischer Stabschef bestätigen, und Ihren als Kapitän des Flaggschiffs Triumph.
Ihr ursprünglicher Beitrag, entsprechend dem Wert der Ariel abzüglich bestimmter Pfandrechte, wird als Ihr persönlicher Anteil an der Flottenkorporation bestätigt werden. Beide Schiffe werden als Eigentum der Flotte registriert.«
»Machen Sie da mit?«, fragte Auson Tung.
Miles traf Tung mit einem stählernen Blick.
»Ja«, sagte Tung widerwillig.
Auson runzelte die Stirn. »Es geht nicht nur um das Geld …« Er hielt inne und runzelte die Stirn. »Was für ein Kampfbonus? Was für ein Kampf?«
Wer zögert, hängt schon am Haken. »Sind Sie dabei oder nicht?«
In Ausons Mondgesicht erschien ein listiger Blick. »Ich bin dabei — wenn er sich entschuldigt.«
»Was? Dieser Sülzkopf denkt allen Ernstes …«
»Entschuldige dich bei dem Mann, liebster Tung«, säuselte Miles zwischen zusammengebissenen Zähnen, »und dann laßt uns weitermachen. Oder die Triumph bekommt einen Kapitän, der ihr eigener erster Schiffsoffizier sein kann. Und zu dessen vielfältigen Tugenden es gehört, daß er nicht mit mir streitet.«
»Natürlich nicht, der kleine betanische Zwitter ist verliebt«, versetzte Auson. »Ich habe nie herausbekommen können, ob er gevögelt werden möchte oder es selber von hinten machen will …«
Miles lächelte und hob Einhalt gebietend die Hand. »Nun, nun.« Er nickte Elena zu, die ihren Betäuber zugunsten eines Nervendisruptors eingesteckt hatte, mit dem sie ruhig auf Ausons Kopf zielte. Ihr Lächeln erinnerte Miles beunruhigend an ein gewisses Lächeln ihres Vaters, Sergeant Bothari. Oder noch schlimmer: an ein Lächeln von Cavilo. »Habe ich jemals erwähnt, Auson, wie sehr mich der Klang Ihrer Stimme reizt?«, fragte sie.
»Sie würden nicht schießen«, sagte Auson unsicher.
»Ich würde sie nicht stoppen«, log Miles. »Ich brauche Ihr Schiff. Es wäre bequem — aber nicht notwendig —, wenn Sie es für mich befehligten.« Sein Blick flog wie ein Messer auf seinen mutmaßlichen Taktischen Stabschef zu.
»Tung?«
Mit Widerwillen gab Tung eine vornehm formulierte, wenn auch vage Entschuldigung an Ausons Adresse ab, für frühere Verunglimpfungen seines Charakters, seiner Intelligenz, seiner Vorfahren, seiner Erscheinung — als Ausons Gesicht immer düsterer wurde, unterbrach Miles Tung inmitten seiner Aufzählung und ließ ihn neu beginnen.
»Mach es einfacher.«
Tung holte Luft. »Auson, du kannst manchmal ein echtes Arschloch sein, aber verdammt, du kannst auch kämpfen, wenn du mußt. Ich habe dich gesehen. Wenn es mulmig und schlimm und verrückt wird, dann möchte ich dich vor jedem anderen Kapitän der Flotte hinter meinen Rücken wissen.«
Auson zog einen Mundwinkel hoch. »Nun, das ist ehrlich. Danke vielmals. Ich weiß deine Besorgnis für meine Sicherheit wirklich zu schätzen. Wie mulmig und schlimm und verrückt, glaubst du, wird das werden?«
Tungs leises Lachen war, so meinte Miles, höchst unangenehm. Die Kapitän-Eigner wurden einer nach dem anderen hereingebracht, um überredet, bestochen, erpreßt und geblendet zu werden, bis Miles’ Mund trocken, seine Kehle rauh und seine Stimme heiser war. Nur der Kapitän der Peregrine versuchte körperlich zu kämpfen. Er wurde betäubt und gefesselt, und seinem Ersten Offizier wurde die Wahl zwischen einer nominellen Beförderung und einem langen Gang aus einer kurzen Luftschleuse eingeräumt. Er wählte die Beförderung, obwohl seine Augen sagten: Es wird einmal ein anderer Tag kommen. Solange dieser andere Tag nach den Cetagandanern kam, war Miles durchaus zufrieden.
Sie zogen in den größeren Konferenzraum gegenüber dem Taktikzentrum um, für die seltsamste Stabssitzung, an der Miles je teilgenommen hatte. Oser war gestärkt durch eine Wiederholungsinjektion von Schnell-Penta und wurde am Kopf des Tisches aufgestützt wie eine ausgestopfte lächelnde Leiche. Mindestens zwei weitere waren geknebelt an ihre Stühle gebunden.
Tung hatten seinen gelben Pyjama mit einer grauen Interimsuniform vertauscht, auf der die Insignien eines Kommodore eilig über die Kapitänsabzeichen gesteckt waren. Die Reaktionen der Versammelten auf Tungs einführende taktische Präsentation reichten von Zweifel bis Erschrecken, überwältigt (fast) von der stürmischen Geschwindigkeit der Aktionen, die von ihnen verlangt wurden.
Tungs zwingendstes Argument war die unheilvolle Andeutung, daß sie, wenn sie sich nicht selbst als die Verteidiger des Wurmloches etablierten, vielleicht gezwungen sein könnten, durch das Wurmloch hindurch später eine vorbereitete cetagandanische Verteidigung anzugreifen, eine Vision, die rings um den Tisch allüberall Schauder hervorrief. Es könnte schlimmer sein, war immer eine unwiderlegliche Behauptung.
Als sie ein Gutteil hinter sich hatten, massierte Miles seine Schläfen und beugte sich zu Elena hinüber, um ihr zuzuflüstern: »War es immer so schlimm, oder habe ich es nur vergessen?«
Sie schürzte nachdenklich ihre Lippen und erwiderte murmelnd: »Nein, die Beschimpfungen waren besser in den alten Tagen.« Miles grinste gequält.
Er erhob hundert unbefugte Forderungen und machte hundert haltlose Versprechungen, und schließlich löste sich die Sitzung auf, jeder kehrte an seinen Dienstplatz zurück. Oser und der Kapitän der Peregrine wurde unter Bewachung zum Schiffsgefängnis gebracht. Tung hielt nur an, um kritisch auf die braunen Filzpantoffeln zu blicken.
»Wenn du meinen Haufen kommandieren willst, mein Sohn, würdest du dann bitte einem alten Soldaten eine Gunst erweisen und dir ein Paar vorschriftsmäßige Stiefel besorgen?« Zum Schluß blieb nur Elena zurück.
»Ich möchte, daß du noch einmal General Metzov verhörst«, sagte Miles zu ihr. »Hol aus ihm all die taktischen Daten über die Aufstellung der Rangers heraus, die du kannst — Codes, im Dienst und außer Dienst befindliche Schiffe, letzte bekannte Positionen, Eigenheiten des Personals, und dazu alles, was er über die Vervani wissen mag. Streiche jede unglückliche Bezugnahme auf meine wahre Identität, die er von sich geben sollte, und gib die Daten dann ans Planungszentrum weiter, mit der Warnung, daß nicht alles, von dem Metzov denkt, es sei wahr, auch notwendigerweise wahr sein muß. Es kann hilfreich sein.«
»In Ordnung.«
Miles seufzte und sank an dem leeren Konferenztisch erschöpft auf seine Ellbogen.
»Du weißt, die planetarischen Patrioten wie die Barrayaraner — wir Barrayaraner — haben unrecht. Unser Offizierskader denkt, daß Söldner keine Ehre haben, weil sie gekauft und verkauft werden können. Aber Ehre ist ein Luxus, den sich nur ein freier Mann leisten kann. Ein guter kaiserlicher Offizier wie ich ist nicht durch die Ehre gebunden, er ist nur gebunden. Wie viele dieser ehrlichen Leute habe ich gerade in ihren Tod gelogen? Es ist ein seltsames Spiel.«
»Würdest du heute irgend etwas ändern?«
»Alles. Nichts. Ich hätte zweimal so schnell gelogen, wenn ich es tun müßte.«
»Du sprichst schneller mit deinem betanischen Akzent«, räumte sie ein.
»Du verstehst mich. Tue ich das Richtige? Wenn ich es schaffe. Ein Mißerfolg ist automatisch falsch.« Nicht ein Pfad in die Katastrophe, sondern alle Pfade …
Sie hob ihre Augenbrauen. »Sicher.«
Seine Mundwinkel zuckten nach oben. »Also du«, die ich liebe, »meine Lady aus Barrayar, die Barrayar haßt, bist die einzige Person in der Hegen-Nabe, die ich auf ehrliche Weise opfern kann.«
Sie neigte ihren Kopf zur Seite und erwog seine Worte. »Danke, Mylord.« Sie berührte mit ihrer Hand seinen Scheitel und verließ den Raum.
Miles zitterte.