KAPITEL 6

Der Herbst in Vorbarr Sultana war eine schöne Jahreszeit, und heute war ein beispielhafter Herbsttag. Der Himmel war hoch und blau, die Temperatur kühl und vollkommen, und selbst die Beimischung von Industriedunst roch gut. Die Herbstblumen waren noch nicht dem Frost zum Opfer gefallen, aber die von der Erde importierten Bäume hatten schon ihre Herbstfarben angelegt.

Als er aus dem Transporter des Sicherheitsdienstes zum Hintereingang des großen, klotzigen Gebäudes verfrachtet wurde, das das Hauptquartier des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes beherbergte, konnte Miles einen Blick auf einen solchen Baum erhaschen. Ein Erdahorn, mit karneolroten Blättern und einem silbergrauen Stamm, auf der anderen Straßenseite. Dann schloß sich die Tür.

Miles hielt sich diesen Baum vor sein geistiges Auge, versuchte ihn zu erinnern, für den Fall, daß er ihn nie wieder sah. Der Leutnant holte Passierscheine heraus, mit denen Miles und Overholt schnell an den Türwachen vorbeikamen, und führte sie durch ein Labyrinth von Korridoren zu einem Paar von Liftrohren. Sie betraten das Rohr, das nach oben führte, nicht das nach unten. Also wurde Miles nicht direkt in den ultrasicheren Zellenblock unter dem Gebäude gebracht.

Ihm wurde klar, was das bedeutete, und er hatte sehnsüchtiges Verlangen nach dem anderen Rohr. Sie wurden in ein Büro auf einem der oberen Stockwerke geführt, an einem Hauptmann vorbei, dann in ein inneres Büro. Ein hagerer, kühler Mann in Zivilkleidung, mit braunem Haar, das an den Schläfen schon grau wurde, saß an einem Tisch mit einer sehr großen Komkonsole und studierte ein Vid. Er blickte zu Miles’ Begleitern auf.

»Danke, Leutnant, Sergeant. Sie können gehen.«

Overholt machte Miles von seinem Handgelenk los, während der Leutnant fragte: »Hm, sind Sie dabei sicher, Sir?«

»Ich nehme an«, sagte der Mann trocken.

Ja, aber was ist mit mir? jammerte Miles innerlich.

Die beiden Soldaten gingen hinaus und ließen Miles allein stehen. Ungewaschen, unrasiert, immer noch in der schwach stinkenden schwarzen Arbeitsuniform, die er — erst gestern abend? — übergezogen hatte. Das Gesicht wettergegerbt, mit seinen geschwollenen Händen und Füßen, die noch in ihren medizinischen Hüllen aus Plastik steckten — seine Zehen krümmten sich jetzt in ihrer matschigen Nährmasse. Keine Stiefel. Während des zweistündigen Fluges hatte er in stoßweise auftretender Erschöpfung gedöst, ohne daß er spürbar erfrischt war. Seine Kehle war rauh, seine Nebenhöhlen fühlten sich an wie mit Verpackungsfasern vollgestopft, und seine Brust tat weh, wenn er atmete.

Simon Illyan, Chef des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes von Barrayar, verschränkte seine Arme und musterte Miles langsam, vom Kopf bis zu den Zehen und wieder hinauf. Es gab Miles eine verdrehte Empfindung von deja vu.

Praktisch jeder auf Barrayar fürchtete den Namen dieses Mannes, obwohl nur wenige sein Gesicht kannten. Dieser Effekt wurde von Illyan sorgsam kultiviert, wobei er teilweise — aber nur teilweise — auf dem Erbe seines gefährlichen Vorgängers, des legendären Sicherheitschefs Negri, aufbaute. Illyan und seine Abteilung hatten ihrerseits die Sicherheit von Miles’ Vater in den zwanzig Jahren seiner politischen Karriere gewährleistet und dabei nur einmal einen Fehler begangen, während der Nacht des niederträchtigen Soltoxinattentats.

Auf Anhieb kannte Miles niemanden, den Illyan fürchtete, außer Miles’ Mutter.

Miles hatte einmal seinen Vater gefragt, ob das ein Schuldgefühl sei, wegen des Soltoxins, aber Graf Vorkosigan hatte geantwortet: Nein, das sei nur die anhaltende Wirkung lebhafter erster Eindrücke.

Miles hatte Illyan sein ganzes Leben lang ›Onkel Simon‹ genannt, bis er in die Streitkräfte eingetreten war, danach nannte er ihn ›Sir‹.

Als er jetzt auf Illyans Gesicht schaute, dachte Miles, daß er jetzt endlich den Unterschied verstünde zwischen Ärger und höchstem Ärger.

Illyan beendete seine Inspektion, schüttelte den Kopf und stöhnte: »Wunderbar. Einfach wunderbar.«

Miles räusperte sich. »Bin ich … wirklich unter Arrest, Sir?«

»Das wird dieses Gespräch ergeben«, seufzte Illyan und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich bin seit zwei Uhr morgens aufgewesen wegen dieser Eskapade. Gerüchte schwirren überall in den Streitkräften umher, so schnell wie das Vidnetz sie übertragen kann. Die Fakten scheinen alle vierzig Minuten zu mutieren, wie Bakterien. Ich glaube nicht, daß du dir eine öffentlichere Methode der Selbstzerstörung hättest aussuchen können? Versuchen, den Kaiser mit deinem Taschenmesser während der Geburtstagsparade zu ermorden, zum Beispiel, oder während der Hauptverkehrszeit auf dem Großen Platz ein Schaf zu vergewaltigen?« Der Sarkasmus ging über in echte Pein. »Er hatte so große Hoffnungen in dich gesetzt. Wie konntest du ihn so verraten?«

Es war nicht notwendig zu fragen, wer ›er‹ war. Der Vorkosigan.

»Ich … glaube nicht, Sir. Ich weiß es nicht.«

Ein Licht blinkte auf Illyans Komkonsole auf. Er atmete hörbar aus, mit einem scharfen Seitenblick auf Miles, und drückte einen Knopf.

Eine zweite Tür zu seinem Büro, die in der Wand rechts von seinem Schreibtisch verborgen war, glitt zur Seite, und zwei Männer in der grünen Uniform traten ein.

Premierminister Admiral Graf Aral Vorkosigan trug die Uniform so natürlich, wie ein Tier sein Fell trägt. Er war ein Mann von nicht mehr als mittlerer Größe, kräftig gebaut, grauhaarig, mit schweren Kinnbacken und von Narben bedeckt, er hatte fast den Körperbau eines Schlägers und doch auch die durchdringendsten grauen Augen, denen Miles je begegnet war.

Er wurde von seinem Adjutanten flankiert einem großen blonden Leutnant namens Jole. Miles hatte Jole bei seinem letzten Heimaturlaub getroffen. Nun, hier war ein vollkommener Offizier, tapfer und brillant — er hatte im Weltraum gedient, war dekoriert worden für etwas Mut und schnelles Denken während eines schrecklichen Unfalls an Bord, hatte verschiedene Abteilungen im Hauptquartier durchlaufen, während er sich von seinen Verletzungen erholte, und war dann prompt vom Premierminister, der einen scharfen Blick für vielversprechende neue Talente hatte, weggeschnappt und zu dessen militärischem Sekretär gemacht worden.

Obendrein noch prächtig aussehend, hätte er Vids zur Anwerbung von Rekruten machen sollen. Miles seufzte jedesmal in hoffnungsloser Eifersucht, wenn er ihm begegnete. Jole war noch schlimmer als Ivan, der zwar geheimnisvoll gutaussehend war, den aber noch nie jemand der Brillanz bezichtigt hatte.

»Danke, Jole«, murmelte Graf Vorkosigan seinem Adjutanten zu, als sein Blick auf Miles fiel. »Ich sehe Sie dann später im Büro.«

»Jawohl, Sir.« So entlassen ging Jole wieder hinaus, warf Miles und seinem Vorgesetzten nochmals einen besorgten Blick zu, und dann schloß sich die Tür wieder zischend.

Illyan hielt mit seiner Hand immer noch einen Knopf auf seinem Schreibtisch gedrückt.

»Sind Sie offiziell hier?«, fragte er Graf Vorkosigan.

»Nein.«

Illyan schaltete etwas aus — ein Aufnahmegerät, erkannte Miles. »Nun gut«, sagte er, doch in seiner Stimme klang Zweifel an.

Miles salutierte vor seinem Vater. Sein Vater ignorierte den militärischen Gruß, umarmte ihn ernst und wortlos, setzte sich auf den einzigen anderen Stuhl im Zimmer, überkreuzte seine Arme und seine gestiefelten Füße und sagte: »Fahren Sie fort, Simon.«

Illyan, der mitten in etwas unterbrochen worden war, was sich nach Miles’ Einschätzung zu einer wirklich klassischen Standpauke entwickelt hätte, kaute frustriert auf seiner Unterlippe.

»Die Gerüchte mal beiseite«, sagte er zu Miles, »was ist gestern abend auf dieser verdammten Insel wirklich geschehen?«

In den neutralsten und prägnantesten Ausdrücken, die ihm zur Verfügung standen, beschrieb Miles die Ereignisse des vorangegangenen Abends, beginnend mit dem Verschütten des Fetains und endend mit seiner Verhaftung durch die Kaiserliche Sicherheit.

Sein Vater sagte während der ganzen Erzählung gar nichts, aber er hatte einen Lichtgriffel in der Hand, den er ständig geistesabwesend herumdrehte und mit dem er sich immer wieder auf sein Knie klopfte.

Als Miles geendet hatte, herrschte Schweigen. Der Lichtgriffel trieb Miles zum Wahnsinn. Er wünschte, sein Vater würde das verdammte Ding weglegen oder fallen lassen oder was.

Sein Vater schob den Lichtgriffel wieder in seine Brusttasche, Gott sei Dank, lehnte sich zurück, legte seine Fingerspitzen zusammen und runzelte die Stirn. »Daß ich das richtig verstehe: du sagst, Metzov hat die Befehlskette übersprungen und Rekruten zu seinem Erschießungskommando gezwungen?«

»Zehn von ihnen. Ich weiß nicht, ob sie Freiwillige waren oder nicht, denn bei der Auswahl war ich nicht zugegen.«

»Rekruten.« Graf Vorkosigans Gesicht war düster. »Jungen.«

»Er brabbelte etwas, es sei wie Armee gegen Marine, damals auf der guten alten Erde.«

»Was?«, sagte Illyan.

»Ich glaube, daß Metzov nicht sehr stabil war, als er nach seinen Schwierigkeiten bei der Revolte von Komarr auf die Insel Kyril ins Exil geschickt wurde, und fünfzehn Jahre des Brütens darüber haben seinen Geisteszustand nicht verbessert.« Miles zögerte. »Wird … General Metzov überhaupt über seine Aktionen befragt?«

»General Metzov hat nach deiner Darstellung«, sagte Admiral Vorkosigan, »einen Zug von Achtzehnjährigen in etwas hineingezogen, das um Haaresbreite ein Massenmord geworden wäre.«

Miles nickte in Erinnerung an die Ereignisse. Sein Körper schmerzte noch von den verschiedenen Qualen.

»Für dieses Vergehen gibt es kein Loch, das tief genug wäre, um ihn vor meinem Zorn zu verstecken. Man wird sich mit Metzov befassen, auf jeden Fall.«

Graf Vorkosigan klang erschreckend grimmig. »Was geschieht mit Miles und den Meuterern?«, fragte Illyan.

»Notwendigerweise werden wir das als eine getrennte Angelegenheit behandeln müssen, fürchte ich.«

»Oder zwei getrennte Angelegenheiten«, regte Illyan an.

»Mm. Also, Miles, erzähl mir über die Männer, auf die gezielt wurde.«

»Meistens Techniker, Sir. Eine Menge Griechen.«

Illyan zuckte zusammen. »Guter Gott, hatte denn der Mann überhaupt kein politisches Gespür?«

»Keines, das ich je wahrgenommen hätte. Ich dachte, das würde ein Problem werden.« Nun ja, später hatte er daran gedacht, als er auf seiner Pritsche in der Zelle wach lag, nachdem die Sanitäter gegangen waren. Da waren ihm die anderen politischen Weiterungen durch den Kopf gegangen.

Über die Hälfte der langsam erfrierenden Techniker hatten zur griechisch sprechenden Minderheit gehört. Die Sprachseparatisten hätten auf den Straßen einen Aufruhr veranstaltet, wenn aus dem Vorfall ein Massaker geworden wäre, sie hätten dann sicher behauptet, der General habe den Griechen aus rassistischer Schikane die Aufräumung des Fetains befohlen.

Mehr Tote, Chaos als Echo wie bei den Folgen des SolsticeMassakers? »Es … kam mir der Gedanke, wenn ich mit ihnen sterben würde, dann wäre es zumindest ganz klar, daß dies kein Komplott deiner Regierung oder der Vor-Oligarchie gewesen war. Also, wenn ich überlebte, hätte ich gewonnen, und falls ich gestorben wäre, hätte ich auch gewonnen. Oder zumindest gedient. Eine Art Strategie.«

Barrayars größter Strategie dieses Jahrhunderts rieb seine Schläfen, als ob sie ihm schmerzten. »Nun ja … eine Art, ja.«

»Also«, Miles schluckte, »was geschieht jetzt, meine Herren? Werde ich des Hochverrats angeklagt?«

»Zum zweiten Mal in vier Jahren?« sagte Illyan. »Zum Teufel, nein. Ich mache das nicht noch einmal mit. Ich werde dich einfach verschwinden lassen, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Wohin, das habe ich noch nicht ganz ausgeknobelt. Die Insel Kyril geht ja nicht mehr.«

»Freut mich, das zu hören.« Miles kniff seine Augen zusammen. »Was ist mit den anderen?«

»Den Rekruten?«, sagte Illyan.

»Den Technikern. Meinen … Mitmeuterern.«

Illyan zuckte bei diesem Wort zusammen.

»Es wäre eine bedenkliche Ungerechtigkeit, wenn ich aufgrund von Vor-Privilegien davonkäme und sie auf der Anklagebank allein zurückließe«, fügte Miles an.

»Der öffentliche Skandal deines Prozesses würde die zentristische Koalition deines Vaters gefährden. Deine moralischen Skrupel mögen bewundernswert sein, Miles, aber ich bin mir nicht sicher, daß ich sie mir leisten kann.«

Miles blickte unverwandt auf den Premierminister Graf Vorkosigan. »Sir?«

Graf Vorkosigan saugte nachdenklich an seiner Unterlippe.

»Ja, ich könnte die Anklagen gegen sie niederschlagen lassen, durch kaiserlichen Erlaß. Das würde allerdings einen anderen Preis fordern.« Er lehnte sich gespannt nach vorn und blickte Miles eindringlich an. »Du könntest nie wieder dienen. Gerüchte wandern auch ohne einen Prozeß. Kein Kommandant würde dich danach haben wollen. Keiner könnte dir vertrauen, könnte glauben, daß du ein wirklicher Offizier bist, nicht ein Artefakt, das durch besondere Privilegien geschützt wird. Ich kann niemanden bitten, dich zu befehligen, wenn er dabei ständig seinen Hals verdrehen müßte.«

Miles atmete langsam und hörbar aus. »In einem seltsamen Sinn waren sie meine Männer. Tu es. Schlage die Anklagen nieder.«

»Wirst du dann deine Offiziersstelle aufgeben?«, fragte Illyan. Er sah enttäuscht aus.

Miles war übel, er fühlte sich dem Erbrechen nahe und ihm war kalt. »Werde ich.« Seine Stimme klang dünn.

Illyan starrte ausdruckslos brütend auf seine Komkonsole, dann blickte er plötzlich auf. »Miles, wie hast du von General Metzovs fragwürdigen Aktionen während der Komarr-Revolte erfahren? Dieser Fall war geheim.«

»Ach … hat Ivan Ihnen nichts über die kleine undichte Stelle in den Dateien des Sicherheitsdienstes erzählt?«

»Was?«

Zum Teufel mit Ivan. »Darf ich mich setzen, Sir?«, sagte er schwach.

Der Raum schwankte, in seinem Kopf hämmerte es. Ohne auf Erlaubnis zu warten, setzte er sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden und blinzelte. Sein Vater machte eine besorgte Bewegung in seine Richtung, hielt sich dann aber zurück.

»Ich überprüfte Metzovs Hintergrund wegen einer Sache, die Leutnant Ahn angedeutet hatte. Übrigens, wenn Sie sich mit Metzov befassen, dann empfehle ich nachdrücklich, als erstes Ahn unter Schnell-Penta zu verhören. Er weiß mehr, als er gesagt hat. Sie werden ihn irgendwo am Äquator finden, nehme ich an.«

»Meine Dateien, Miles.«

»Ach ja, nun gut, es stellte sich heraus, wenn man eine gesicherte Konsole mit einer nach draußen gehenden Konsole konfrontiert, dann kann man von überall im Vidnetz Sicherheitsdateien lesen. Natürlich braucht man jemanden im Hauptquartier, der die Konsolen ausrichten kann und will und der die Dateien aufruft. Und man kann dabei nicht Daten direkt übertragen. Aber ich dachte, das sollten Sie wissen, Sir.«

»Perfekte Sicherheit«, sagte Graf Vorkosigan mit erstickter Stimme.

Glucksend, wie Miles verblüfft erkannte.

Illyan schaute drein, als hätte er auf eine Zitrone gebissen.

»Wie hast du das«, begann Illyan, hielt dann inne und warf einen wütenden Blick auf den Grafen, dann begann er erneut: »Wie hast du das herausgefunden? «

»Es war offensichtlich.«

»Hermetische Sicherheit, haben Sie gesagt«, murmelte Graf Vorkosigan, der erfolglos ein kicherndes Lachen zu unterdrükken suchte. »Das teuerste System, das je entworfen wurde. Gesichert gegen die cleversten Viren, gegen die raffiniertesten Abhörgeräte. Und zwei Fähnriche knacken es ganz einfach?«

Pikiert versetzte Illyan: »Ich habe nicht versprochen, daß es idiotensicher ist!«

Graf Vorkosigan wischte seine Augen und seufzte. »Ach, der menschliche Faktor. Wir werden den Defekt korrigieren, Miles. Danke!«

»Du bist eine verdammt lockere Kanone, Junge, und feuerst in alle Richtungen«, knurrte Illyan und reckte seinen Hals, um über seinen Schreibtisch hinweg Miles anzusehen, der als Häufchen Elend auf dem Boden saß. »Dafür, zusätzlich zu deiner früheren Eskapade mit diesen verdammten Söldnern, zusätzlich zu all dem anderen … — Hausarrest reicht da nicht aus. Ich werde nicht ruhig schlafen können, solange du nicht in einer Zelle eingesperrt bist, mit den Händen hinter dem Rücken gefesselt.«

Miles, der dachte, er könnte jetzt für eine anständige Stunde Schlaf einen Mord begehen, war nur zu einem Achselzucken fähig. Vielleicht konnte man Illyan dazu überreden, daß er ihn bald in diese nette ruhige Zelle gehen ließ.

Graf Vorkosigan war in Schweigen verfallen, seine Augen begannen seltsam und nachdenklich zu glimmen. Auch Illyan bemerkte dies und machte eine Pause.

»Simon«, sagte Graf Vorkosigan, »es gibt keinen Zweifel, der Sicherheitsdienst wird Miles auch weiterhin zu beobachten haben. Um seinetwillen ebenso wie um meinetwillen.«

»Und um den Kaisers willen«, warf Illyan mürrisch ein. »Und um Barrayars willen. Und um der unschuldigen Zuschauer willen.«

»Aber welche bessere, direktere und effektivere Methode gibt es für den Sicherheitsdienst, ihn zu überwachen, als wenn man ihn zum Sicherheitsdienst versetzt?«

»Was?«, sagten Illyan und Miles gleichzeitig, im gleichen scharfen, entsetzten Ton.

»Sie meinen das nicht im Ernst«, fuhr Illyan fort, und Miles fügte hinzu: »Der Sicherheitsdienst stand nie auf meiner Wunschliste der zehn liebsten Aufgaben.«

»Es geht nicht um Wunsch, sondern um Eignung. Major Cecil hat es einmal mit mir diskutiert, wie ich mich erinnere. Aber wie Miles sagt, hat er das nicht auf seine Liste gesetzt.«

Wetterbeobachtung in der Arktis hatte er auch nicht auf seine Liste gesetzt, erinnerte sich Miles.

»Sie hatten vorhin recht«, sagte Illyan. »Kein Kommandant in den Streitkräften wird ihn jetzt wollen. Dabei schließe ich mich nicht aus.«

»Es gibt keinen, auf den ich moralischen Druck ausüben könnte, ihn zu übernehmen. Außer Sie selbst. Ich habe mich immer« — auf Graf Vorkosigans Gesicht erschien ein eigenartiges Grinsen — »auf Sie verlassen, Simon.«

Illyan sah leicht verwirrt drein, wie ein Spitzentaktiker, der einzusehen beginnt, daß er sich selbst ausmanövriert hat.

»Das läuft auf verschiedenen Ebenen«, fuhr Graf Vorkosigan mit derselben sanften, überredenden Stimme fort. »Wir können das Gerücht verbreiten, daß es sich um eine inoffizielle interne Verbannung handelt, um unehrenhafte Degradierung. Das wird meine politischen Feinde befriedigen, die sonst versuchen würden, Profit aus dem Schlamassel zu ziehen. Es wird den Eindruck mildern, daß wir eine Meuterei durchgehen lassen, was sich kein Militär leisten kann.«

»Echte Verbannung also«, sagte Miles, »wenn auch inoffiziell und intern.«

»O ja«, stimmte Graf Vorkosigan sanft zu. »Aber … tja — keine echte Ungnade.«

»Kann man sich auf ihn verlassen?«, sagte Illyan zweifelnd.

»Anscheinend.« Das Lächeln des Grafen war wie das Aufblitzen einer Messerklinge. »Der Sicherheitsdienst kann seine Talente nutzen. Mehr als alle anderen Bereiche braucht der Sicherheitsdienst seine Talente.«

»Um zu sehen, was offensichtlich ist?«

»Und was weniger offensichtlich ist. Vielen Offizieren kann man das Leben des Kaisers anvertrauen. Ziemlich wenigen seine Ehre.«

Illyan machte widerstrebend eine vage Geste der Einwilligung.

Graf Vorkosigan bemühte sich — vielleicht klugerweise — zu diesem Zeitpunkt nicht, mehr Begeisterung in seinem Sicherheitschef zu wecken, sondern wandte sich an Miles und sagte: »Du siehst aus, als müßtest du auf die Krankenstation.«

»Ich brauche ein Bett.«

»Was hältst du von einem Bett auf einer Krankenstation?«

Miles hustete und blinzelte mit trüben Augen. »Ja, geht in Ordnung.«

»Los, suchen wir eins.«

Miles stand auf und wankte an seines Vaters Arm hinaus, wobei seine Füße in ihren Plastikumhüllungen patschten.

»Von alldem abgesehen, wie war es auf Kyril, Fähnrich Vorkosigan?«, forschte der Graf. »Du hast nicht viele Vidbotschaften nach Hause geschickt, wie deine Mutter feststellte.«

»Ich war beschäftigt. Laß mal sehen. Das Klima war hart, der Boden war lebensgefährlich, ein Drittel der Mannschaft, mein unmittelbarer Vorgesetzter eingeschlossen, war die meiste Zeit besoffen. Der durchschnittliche Intelligenzquotient entsprach der mittleren Temperatur in Grad Celsius, es gab keine Frau im Umkreis von fünfhundert Kilometern, und der Kommandant der Basis war ein mörderischer Psychopath. Von alldem abgesehen war es — nett.«

»Hört sich nicht an, als hätte es sich seit fünfundzwanzig Jahren auch nur im geringsten verändert.«

»Bist du schon einmal dort gewesen?« Miles schielte zu seinem Vater. »Und doch hast du mich dorthin schicken lassen?«

»Ich war einmal fünf Monate lang Kommandant von Basis Lazkowski, als ich darauf wartete, Kapitän des Raumkreuzers General Vorkraft zu werden. Während jener Zeit war meine Karriere politisch sozusagen im Niedergang begriffen.«

Sozusagen. »Wie hat es dir gefallen?«

»Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern. Ich war die meiste Zeit betrunken. Jeder findet seine eigene Methode, um mit Camp Permafrost fertigzuwerden. Ich möchte meinen, dir ist es besser gelungen als mir.«

»Daß du im Anschluß daran überlebt hast, finde ich ermutigend, Sir.«

»Das dachte ich mir schon. Deshalb habe ich es auch erwähnt. Ansonsten ist es keine Erfahrung, die ich als Beispiel hinstellen möchte.«

Miles schaute zu seinem Vater auf. »Habe … ich das Richtige getan, Sir? Gestern abend?«

»Ja«, sagte der Graf einfach. »Ein Richtiges. Vielleicht nicht das beste aller möglichen Richtigen. In drei Tagen denkst du vielleicht an eine klügere Taktik, aber du warst zu dem Zeitpunkt eben der Mann vor Ort. Ich versuche, meine Feldkommandanten nicht im nachhinein zu kritisieren.«

Zum ersten Mmal, seit er Kyril verlassen hatte, hob sich Miles’ Herz in seiner schmerzenden Brust.

Miles dachte, sein Vater brächte ihn vielleicht in den großen und vertrauten Komplex des Kaiserlichen Militärkrankenhauses, ein paar Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Stadt, aber sie fanden eine Krankenstation, die näher war, drei Stockwerke tiefer im Hauptquartier des Sicherheitsdienstes.

Diese Einrichtung war klein, aber komplett, mit einigen Untersuchungsräumen, Privatzimmern, Zellen für die Behandlung von Gefangenen und von bewachten Zeugen, einem Operationssaal und einer geschlossenen Tür mit einer Aufschrift, die frösteln machte: Labor für Vernehmungschemie.

Illyan mußte schon vorher hier angerufen haben, denn ein Sanitäter wartete, um sie in Empfang zu nehmen. Ein Sanitätsoffizier des Sicherheitsdienstes traf kurz darauf ein, etwas atemlos noch. Er glättete seine Uniform und salutierte pedantisch vor Graf Vorkosigan, bevor er sich Miles zuwandte.

Miles stellte sich vor, daß der Arzt mehr daran gewöhnt war, Leute nervös zu machen, als sich von ihnen nervös machen zu lassen, und daß ihm diese Umkehrung der Rollen unangenehm war. War es eine Aura vergangener Gewalt, die seinem Vater immer noch nach all den Jahren anhaftete? Die Macht, die Geschichte? Ein persönliches Charisma, das vormals energische Männer niederzwang wie kuschende Hunde? Miles konnte diese Ausstrahlung vollkommen deutlich spüren, und doch schien sie auf ihn nicht die gleiche Wirkung zu haben.

Vielleicht war er akklimatisiert. Der frühere Lordregent war der Mann, der — ungeachtet irgendwelcher Krisen (außer einem Krieg) — jeden Tag zwei Stunden lang Mittagspause gemacht hatte und in seine Residenz verschwunden war.

Nur Miles kannte diese Stunden von innen: wie der große Mann in der grünen Uniform in fünf Minuten ein Sandwich runterschlang und dann die nächsten anderthalb Stunden auf dem Fußboden verbrachte zusammen mit seinem Sohn, der nicht gehen konnte, und mit ihm spielte und sprach und ihm laut vorlas.

Manchmal, wenn Miles in hysterischem Widerstand gegen irgendeine neue schmerzhafte physikalische Therapie verkrampft war und damit seine Mutter und sogar Sergeant Bothari erschreckte, dann war sein Vater der einzige gewesen, der fest darauf bestanden hatte, daß er diese zehn besonders quälenden Beinstreckungen über sich ergehen ließ, sich artig der Behandlung mit Hypospray unterzog, eine weitere Runde von Operationen duldete, oder die eisigen Chemikalien, die auf seinen Venen brannten.

»Du bist ein Vor. Du darfst deine Lehensleute nicht mit einer solchen Vorstellung der Unbeherrschtheit erschrecken, Lord Miles.«

Der stechende Geruch dieser Krankenstation und der angespannte Doktor weckten eine Flut von Erinnerungen. Kein Wunder, überlegte Miles, daß es ihm nicht gelungen war, Metzov genügend zu fürchten. Als Graf Vorkosigan gegangen war, wirkte die Krankenstation völlig leer.


In dieser Woche schien sich im Hauptquartier des Sicherheitsdienstes nicht viel zu ereignen. Die Krankenstation war einschläfernd ruhig, abgesehen von dem Rinnsal von Mitarbeitern des Hauptquartiers, die von dem nachgiebigen Sanitäter Medikamente gegen Kopfweh, Erkältung oder Brummschädel schnorrten. Ein paar Techniker verbrachten an einem Abend drei Stunden damit, aufgrund eines Eilauftrages im Labor herumzuklappern, und eilten dann wieder weg. Der Arzt brachte Miles’ gerade ausbrechende Lungenentzündung zum Stillstand, bevor sie sich in eine galoppierende entwickelte. Miles brütete vor sich hin, wartete darauf, daß die auf sechs Tage angesetzte Antibiotikatherapie ihren Lauf nahm und plante Details für einen Heimaturlaub in Vorbarr Sultana, der ihm sicherlich bevorstand, wenn die Medizinmänner ihn entließen.

»Warum kann ich nicht nach Hause gehen«, beschwerte sich Miles bei seiner Mutter, als sie ihn besuchte. »Niemand sagt mir irgend etwas. Wenn ich nicht unter Arrest bin, warum kann ich dann keinen Urlaub nehmen? Wenn ich unter Arrest bin, warum sind dann die Türen nicht abgesperrt? Ich fühle mich, als würde ich in der Luft hängen.«

Gräfin Cordelia Vorkosigan gab ein undamenhaftes Schnauben von sich. »Du hängst in der Luft, mein Kleiner.« Ihr betanischer Akzent klang warm für Miles’ Ohren, trotz ihres sarkastischen Untertons. Sie warf den Kopf zurück — sie trug ihr kastanienbraunes, mit grauen Fäden durchsetztes Haar heute nach hinten zurückgesteckt und lose über den Rücken fallend, wo es über der herbstbraunen Jacke schimmerte, die mit silberner Stickerei besetzt war, und bis zu den schwingenden Röcken einer Frau der VorKlasse reichte. Sie hatte auffallende graue Augen, und ihr bleiches Gesicht mit den darüber hinweghuschenden Gedanken wirkte so lebendig, daß man kaum merkte, keine außergewöhnliche Schönheit vor sich zu haben. Einundzwanzig Jahre galt sie schon als Vor-Dame im Kielwasser des Großen Mannes, aber immer noch erschien sie so unbeeindruckt wie je von barrayaranischen Hierarchien — allerdings nicht, dachte Miles, unberührt von barrayaranischen Wunden.

Also, warum denke ich nie von meinem Ziel als einem Schiffskommando von der Art, wie es meine Mutter vor mir hatte?

Captain Cordelia Naismith vom Betanischen Astronomischen Erkundungsdienst hatte sich der riskanten Aufgabe gewidmet, das Geflecht der Wurmlöcher Sprung um Sprung auszudehnen, für die Menschheit, für pures Wissen, für den wirtschaftlichen Fortschritt von Kolonie Beta, für … — was hatte sie motiviert? Sie hatte ein mit sechzig Personen bemanntes Erkundungsschiff befehligt, weit weg von zu Hause und von Hilfe — es gab bestimmte beneidenswerte Aspekte ihrer früheren Karriere, das stand fest. Die Befehlskette zum Beispiel war eine gesetzliche Fiktion gewesen, draußen in der unbekannten Weite, und die Wünsche des betanischen Hauptquartiers waren nur Gegenstand von Spekulationen und Wetten.

Sie bewegte sich so unspektakulär durch die barrayaranische Gesellschaft, daß nur ihre vertrautesten Beobachter erkannten, wie losgelöst sie von ihr war, niemanden fürchtend, nicht einmal den furchtbaren Illyan, von niemandem kontrolliert, nicht einmal vom Admiral selbst. Es war die beiläufige Furchtlosigkeit, schloß Miles, die seine Mutter so beunruhigend machte. Des Admirals Captain. In ihren Fußstapfen zu folgen wäre, wie durchs Feuer zu gehen.

»Was geht dort draußen vor sich?«, fragte Miles. »Hier hat man fast soviel Spaß wie in Einzelhaft, weißt du? Hat man beschlossen, daß ich alles in allem ein Meuterer bin?«

»Ich glaube nicht«, sagte die Gräfin. »Sie entlassen die anderen — deinen Leutnant Bonn und die übrigen — nicht gerade unehrenhaft, aber ohne Abfindungen oder Pensionen oder diesen Status des kaiserlichen Lehensmanns, der barrayaranischen Männern soviel zu bedeuten scheint …«

»Stell es dir als eine komische Art von Reservist vor«, riet Miles. »Was ist mit Metzov und den Rekruten?«

»Er wird auf dieselbe Art entlassen. Er hat am meisten verloren, denke ich.«

»Sie lassen ihn einfach los?« Miles runzelte die Stirn.

Gräfin Vorkosigan zuckte die Achseln. »Weil es keine Toten gab, kam Aral zu der Überzeugung, daß er kein Kriegsgerichtsverfahren mit einer härteren Strafandrohung ansetzen konnte. Man beschloß, die Rekruten mit keinerlei Vorwürfen zu belasten.«

»Hm. Ich bin froh, glaube ich. Und … hm … ich?«

»Du bleibst offiziell registriert als vom Kaiserlichen Sicherheitsdienst inhaftiert. Auf unbestimmte Zeit.«

»Das In-der-Luft-Hängen soll also unbegrenzt weitergehen.« Er zupfte an seiner Bettdecke. Seine Fingerknöchel waren noch geschwollen. »Wie lange?«

»So lange auch immer es braucht, bis der gewünschte psychologische Effekt eintritt.«

»Was, mich verrückt zu machen? Weitere drei Tage dürften schon reichen.«

Ihre Lippen zuckten. »Lange genug, um die barrayaranischen Militaristen davon zu überzeugen, daß du für dein … hm … Verbrechen angemessen bestraft wirst. So lange du in diesem ziemlich düsteren Gebäude festgehalten wirst, dürfen sie sich vorstellen, daß du der Behandlung ausgesetzt bist, die — wie auch immer — ihrer Vorstellung nach hier verabreicht wird. Wenn man dir erlaubt, in der Stadt von Party zu Party zu flattern, dann wird es viel schwieriger sein, die Illusion aufrechtzuerhalten, daß du hier mit dem Kopf nach unten an der Kellerwand hängst.«

»Es erscheint alles so … unwirklich.« Er kauerte sich wieder in sein Kissen. »Ich wollte doch nur dienen.«

Ein kurzes Lächeln huschte über ihren breiten Mund und verschwand wieder. »Bist du bereit, eine andere Art von Arbeit zu erwägen, mein Lieber?«

»Ein Vor zu sein ist mehr als nur ein Job.«

»Ja, es ist etwas Pathologisches. Ein zwanghafter Wahn. Die Galaxie ist gewaltig groß, Miles. Es gibt andere Arten zu dienen, und es gibt größere … Verantwortungsbereiche.«

»Warum bleibst du dann hier?«, gab er zurück.

»Ach.« Sie lächelte trübe über diesen Treffer. »Die Bedürfnisse mancher Leute sind zwingender als Schußwaffen.«

»Apropos Papa, wird er wiederkommen?«

»Hm. Nein. Ich soll dir sagen, daß er sich für eine Weile distanziert. Damit er sich nicht den Anschein gibt, als billige er deine Meuterei, während er dich tatsächlich unter der Lawine hervorholt. Er hat beschlossen, für die Öffentlichkeit zornig auf dich zu sein.«

»Und ist er’s wirklich?«

»Natürlich nicht. Jedoch … er hatte begonnen, für dich in seinen gesellschaftspolitischen Reformvorhaben einige Pläne mit längerer Perspektive zu machen, davon ausgehend, daß du eine solide militärische Karriere abschließt … er sah Wege, wie sogar deine angeborenen Schäden Barrayar dienen könnten.«

»Ja, ich weiß.«

»Nun gut, mach dir keine Sorgen. Er wird zweifellos überlegen, wie er auch diese Situation zunutze machen kann.«

Miles seufzte niedergeschlagen. »Ich möchte etwas tun. Ich möchte meine Kleider wiederhaben.«

Seine Mutter verzog ihre Lippen und schüttelte den Kopf.


Am gleichen Abend versuchte er, Ivan anzurufen.

»Wo bist du?«. fragte Ivan mißtrauisch.

»Ich hänge in der Luft.«

»Nun, da möchte ich auf keinen Fall hängen«, sagte Ivan grob und schaltete sein Gerät ab.

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