Am nächsten Morgen wurde Miles in ein anderes Quartier verlegt. Sein Führer brachte ihn nur ein Stockwerk tiefer und zerstörte damit Miles’ Hoffnungen, wieder den Himmel zu sehen. Der Offizier öffnete mit einem eingetippten Code eines der gesicherten Apartments, das gewöhnlich von geschützten Zeugen benutzt wurde. Und, überlegte Miles, von gewissen politischen Unpersonen. War es möglich, daß sein in der Luft hängendes Leben einen Chamäleon-Effekt hatte und ihn durchscheinend machte?
»Wie lange werde ich hier bleiben?«, fragte Miles den Offizier.
»Ich weiß es nicht, Fähnrich«, antwortete der Mann und ließ ihn allein. Sein Seesack, der mit seinen Kleidern vollgestopft war, und eine hastig gepackte Kiste lagen mitten auf dem Fußboden des Apartments. Alle seine weltlichen Güter von Kyril. Sie rochen muffig, mit einem kalten Hauch arktischer Feuchtigkeit.
Miles durchstöberte sie — alles schien dabei zu sein, einschließlich seiner Wetterbibliothek — und erforschte dann sein neues Quartier. Es bestand aus einem Zimmer mit Bad und Kochnische und war schäbig möbliert in dem Stil, der vor zwanzig Jahren üblich gewesen war, mit ein paar bequemen Stühlen und einem Bett, leeren Kleiderschränken und Regalen und Einbauschränken.
Es gab keine zurückgelassenen Kleidungsstücke oder Gegenstände oder sonstige Hinterlassenschaften, die einen Hinweis auf die Person irgendeines früheren Bewohners gegeben hätten. Es mußte Wanzen geben. Jede glänzende Oberfläche konnte eine Vidkamera verbergen, und die Lauschohren befanden sich wahrscheinlich nicht einmal innerhalb des Zimmers. Aber waren sie eingeschaltet? Oder — fast eine noch schlimmere Beleidigung — machte sich Illyan vielleicht nicht einmal die Mühe, sie einzuschalten?
Im äußeren Korridor gab es eine Wache und Fernüberwachungsgeräte, aber Miles schien zur Zeit keine Nachbarn zu haben. Er entdeckte, daß er den Korridor verlassen und in den wenigen Bereichen des Gebäudes herumgehen konnte, für die nicht die höchste Sicherheitsstufe galt, doch die Wachen an den Außentüren, die über seine Identität informiert waren, wiesen ihn höflich, aber bestimmt zurück. Er stellte sich vor, die Flucht zu versuchen, indem er sich vom Dach abseilte — dabei würde er vermutlich erschossen werden und die Karriere irgendeines armen Wachsoldaten ruinieren.
Ein Sicherheitsoffizier fand ihn, wie er ziellos umherwanderte, führte ihn zu seinem Apartment zurück, händigte ihm eine Handvoll Gutscheine für die Cafeteria des Gebäudes aus und gab ihm nachdrücklich zu verstehen, man würde es zu schätzen wissen, wenn er zwischen den Mahlzeiten in seinem Quartier bliebe. Nachdem der Offizier gegangen war, zählte Miles mit morbider Neugier die Gutscheine und versuchte daraus auf die voraussichtliche Dauer seines Aufenthalts zu schließen. Es waren genau hundert Gutscheine. Miles schauderte.
Er packte seine Kiste und seinen Sack aus, sortierte alles heraus, was durch die Schallwäsche gehen sollte, um den letzten noch verbliebenen Geruch von Camp Permafrost zu beseitigen, hängte seine Uniformen auf, putzte seine Stiefel, arrangierte seine Besitztümer ordentlich in ein paar Regalfächern, duschte und zog eine frische grüne Interimsuniform an.
Damit war eine Stunde rumgebracht. Wie viele folgten noch?
Er versuchte zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren, und schließlich setzte er sich auf den bequemsten Stuhl, schloß die Augen und tat so, als sei dieses fensterlose, hermetisch abgeschlossene Zimmer eine Kabine an Bord eines Raumschiffs. Auf der Ausreise.
Zwei Abende später saß er auf demselben Stuhl und verdaute gerade ein bleischweres Abendessen aus der Cafeteria, als es an der Tür läutete.
Überrascht stand er auf und humpelte los, um eigenhändig zu öffnen. Vermutlich kein Erschießungskommando, obwohl man ja nie wußte.
Fast änderte er seine Vermutung über das Erschießungskommando, als er vor der Tür Sicherheitsoffiziere mit stahlharten Gesichtern in grünen Uniformen warten sah. »Verzeihen Sie, Fähnrich Vorkosigan«, murmelte einer mechanisch und schob sich an ihm vorbei, um eine Scanner-Überprüfung von Miles’ Unterkunft zu beginnen.
Miles blinzelte, dann sah er, wer hinter ihnen im Korridor stand. Er kapierte und hauchte: »Ah ja.« Auf einen bloßen Blick des Manns mit dem Scanner hin hob Miles folgsam seine Arme und drehte sich um, um sich abscannen zu lassen.
»In Ordnung, Sir«, berichtete der Mann mit dem Scanner, und Miles war sich sicher, daß es stimmte. Diese Burschen ließen niemals etwas aus, nicht einmal im Herzen des Sicherheitsdienstes selbst.
»Danke sehr. Lassen Sie uns bitte allein. Sie können hier draußen warten«, sagte der dritte Mann. Die Sicherheitsoffiziere nickten und stellten sich zu beiden Seiten von Miles’ Tür in Rührt-euch-Hattung auf.
Da er und sein Besucher beide grüne Interimsuniformen trugen, salutierte Miles vor dem dritten Mann, obwohl dessen Uniform weder Rang- noch Dienstbereichsabzeichen trug. Er war dünn, von mittlerer Größe, mit dunklem Haar und intensiven nußbraunen Augen. Ein schiefes Lächeln erschien in dem ernsten jungen Gesicht, dem Lachfalten fehlten.
»Majestät«, sagte Miles förmlich.
Kaiser Gregor Vorbarra machte einen Ruck mit dem Kopf, und Miles schloß die Tür vor dem Sicherheitsduo. Der dünne junge Mann entspannte sich leicht. »Hallo, Miles.«
»Hallo selbst. Uff …« Miles ging zu den Lehnstühlen. »Willkommen in meiner bescheidenen Hütte. Arbeiten die Wanzen?«
»Ich habe gebeten, daß nicht, aber ich wäre nicht überrascht, wenn Illyan mir nicht gehorcht, zu meinem eigenen Besten.«
Gregor verzog das Gesicht und folgte Miles. An seiner linken Hand hing ein Plastikbeutel, aus dem es gedämpft klirrte. Er ließ sich auf dem größeren Stuhl nieder, demselben, den Miles vorhin gerade verlassen hatte, lehnte sich zurück, hängte ein Bein über eine Armlehne und seufzte matt, als wäre alle Luft aus ihm gewichen. Er hielt den Beutel hoch.
»Hier. Elegante Anästhesie.«
Miles nahm den Beutel und guckte hinein. Zwei Flaschen Wein, bei Gott, schon gekühlt. »Gott segne dich, mein Sohn. Ich habe mir schon gewünscht, ich könnte mich tagelang besaufen. Wie hast du das herausbekommen? Apropos, wie bist du hier hereingekommen? Ich dachte, ich befände mich in Einzelhaft.«
Miles stellte die zweite Flasche in den Kühlschrank, holte zwei Gläser und blies den Staub aus ihnen fort.
Gregor zuckte die Achseln.
»Sie konnten mich schwerlich draußen halten. Ich werde immer besser darin, auf etwas zu bestehen, weißt du. Doch Illyan hat dafür gesorgt, daß mein privater Besuch wirklich privat ist, darauf kannst du wetten. Und ich kann nur bis 25 Uhr bleiben.«
Gregors Schultern sanken zusammen, niedergedrückt von seinem bis auf die Minute bestimmten Zeitplan. »Außerdem gewährt die Religion deiner Mutter eine Art gutes Karma für den Besuch von Kranken und Gefangenen, und ich habe gehört, daß du beides in einem gewesen bist.«
Aha, also hatte seine Mutter Gregor diesen Tip gegeben. Miles hätte das schon ahnen können aufgrund des privaten Etiketts der Vorkosigans auf dem Wein — Himmel, sie hatte diesen guten Stoff geschickt.
Er hörte auf, die Flasche an ihrem Hals herumzuschwenken und hielt sie mit größerem Respekt. Miles war jetzt einsam genug, um ob dieser mütterlichen Intervention eher dankbar als verlegen zu sein. Er öffnete den Wein, goß ein und nahm nach barrayaranischer Sitte den ersten Schluck. Ambrosia! Er lümmelte sich auf den anderen Stuhl in einer Haltung, die der Gregors ähnelte. »Freut mich jedenfalls, dich zu sehen.«
Miles betrachtete seinen alten Spielkameraden. Wenn sie sich vom Alter her noch etwas näher gewesen wären, dann hätten sie noch mehr die Rollen von Pflegebrüdern übernehmen können, Graf und Gräfin Vorkosigan waren Gregors offizielle Vormunde gewesen, seit dem Chaos und dem Blutvergießen während Vordarians Versuch, den Thron zu rauben.
In ihrer Kindergruppe waren sie jedenfalls als ›sichere‹ Kameraden zusammen gewesen, Miles, Ivan, Elena, die fast gleichaltrig waren, und Gregor, der sich schon damals würdevoll benahm und Spiele tolerierte, für die er eigentlich schon ein bißchen zu alt war.
Gregor nahm sein Weinglas und trank einen Schluck. »Tut mir leid, daß es sich für dich nicht so gut entwickelt hat«, sagte er schroff.
Miles legte seinen Kopf schräg. »Ein kurzer Soldat, eine kurze Karriere.« Er nahm einen größeren Schluck. »Ich hatte gehofft, ich würde den Planeten verlassen. Im Schiffsdienst.«
Gregor hatte die Kaiserliche Akademie zwei Jahre vor Miles’ Eintritt absolviert. Er hob zustimmend die Augenbrauen. »Tun wir doch alle.«
»Du hattest ein Jahr aktiven Dienst im Weltraum«, betonte Miles.
»Meistens im Orbit. Angebliche Patrouillen, umgeben von Sicherheitsshuttles. Dieses ganze So-tun-als-ob wurde nach einiger Zeit ziemlich quälend. So tun, als ob ich ein Offizier wäre, so tun, als ob ich eine Aufgabe erfüllte, anstatt die Aufgabe aller anderen bloß durch meine Anwesenheit schwerer zu machen … dir wurde zumindest echte Gefahr erlaubt.«
»Das meiste davon war ungeplant, das versichere ich dir.«
»Ich bin zunehmend überzeugt, daß das der Trick an der Sache ist«, fuhr Gregor fort. »Dein Vater, meiner, unsere beiden Großväter — alle überlebten echte militärische Situationen. Dadurch wurden sie zu echten Offizieren, nicht durch diese … Studien.« Seine freie Hand machte eine Bewegung, als wollte er etwas abhacken.
»Sie gerieten gegen ihren Willen in diese Situationen«, widersprach Miles. »Meines Vaters militärische Karriere begann offiziell an dem Tag, als das Todeskommando von Yuri dem Wahnsinnigen hereinstürmte und die meisten Mitglieder seiner Familie umbrachte — ich glaube, er war damals elf oder so. Auf eine solche Art von Initiation würde ich lieber verzichten, nein danke. So etwas würde sich niemand aussuchen, der noch bei klarem Verstand ist.«
»Mm.« Gregor sank deprimiert zusammen. Auf ihm lastete an diesem Abend, vermutete Miles, sein legendärer Vater, Prinz Serg, so wie auf Miles dessen lebender Vater, Graf Vorkosigan.
Miles dachte kurz über seine Idee von den ›Zwei Sergs‹ nach. Einer — vielleicht die einzige Version, die Gregor kannte? — war der tote Held, tapfer auf dem Schlachtfeld geopfert oder zumindest sauber im Orbit atomisiert. Der andere, der Verheimlichte Serg: der hysterische Kommandant und sadistische Sodomit, dessen früher Tod in der unseligen Invasion von Escobar vielleicht der größte politische Glücksfall gewesen war, den Barrayar je gehabt hatte …
Hatte je ein Hinweis auf die vielen Facetten dieser Persönlichkeit zu Gregor durchdringen dürfen? Niemand, der Serg gekannt hatte, sprach über ihn, Graf Vorkosigan am allerwenigsten. Miles war einmal einem von Sergs Opfern begegnet. Er hoffte, daß Gregor so etwas erspart bliebe.
Miles beschloß, das Thema zu wechseln. »Da wir nun alle wissen, was mit mir passiert ist, was war eigentlich mit dir los in den letzten drei Monaten? Es tut mir leid, daß ich deine letzte Geburtstagsparty versäumt habe. Oben auf Kyril haben sie deinen Geburtstag mit Besaufen gefeiert, was ihn praktisch ununterscheidbar von jedem beliebigen anderen Tag gemacht hat.«
Gregor grinste, dann seufzte er. »Zu viele Zeremonien. Zu viele Stunden, die ich irgendwo aufrecht herumstehen muß — ich glaube, ich könnte bei der Hälfte meiner Funktionen durch ein lebensgroßes Plastikmodell ersetzt werden, und niemand würde es merken. Eine Menge Zeit habe ich damit verbracht auszuweichen, wenn einer meiner verschiedenen Ratgeber mir einen Wink mit dem Zaunpfahl bezüglich einer Heirat gab.«
»Da ist tatsächlich etwas dran«, gab Miles zu bedenken. »Wenn du morgen … von einem Teewagen überfahren wirst, dann stellt sich für alle die Nachfolgefrage in großem Stil. Ich weiß auf Anhieb mindestens sechs Kandidaten mit vertretbaren Interessen am Kaisertum, und weitere würden bestimmt noch auftauchen. Einige ohne persönliche Ambitionen würden dennoch Morde begehen, damit einige andere nicht zum Zuge kämen. Das ist ja genau der Grund, weshalb du bisher noch keinen namentlich bestimmten Erben hast.«
Gregor hob herausfordernd den Kopf. »Du gehörst ja selbst zu den Kandidaten, wie du weißt.«
»Mit diesem Körper?« Miles schnaubte. »Sie müßten … wirklich jemanden sehr hassen, um statt dessen mich dafür auszuersehen. Dann wäre es wirklich höchste Zeit, von zu Hause wegzulaufen. Weit und schnell. Tu mir einen Gefallen. Verheirate dich, gründe eine Familie und bekomm wirklich schnell sechs kleine Vorbarras.«
Gregor schaute jetzt noch deprimierter drein. »Tja, das wäre eine Idee. Von daheim weglaufen. Ich frage mich, wie weit ich käme, bevor Illyan mich wieder einholt?«
Beide blickten unwillkürlich nach oben, obwohl Miles sich wirklich noch nicht sicher war, wo die Wanzen versteckt waren.
»Besser, wenn Illyan dich einholt, bevor es irgend jemand anderer tut.« Gott, dieses Gespräch wurde allmählich morbide.
»Ich weiß nicht mehr genau, gab es da nicht einmal einen Kaiser von China, der damit endete, daß er irgendwo mit dem Besen kehrte? Und tausend geringere Emigranten — Gräfinnen, die Restaurants betrieben … Flucht ist möglich.«
»Flucht vor der Tatsache, daß du ein Vor bist? Das wäre eher wie … zu versuchen, vor dem eigenen Schatten davonzulaufen.«
Es würde Augenblicke geben, im Dunkeln, wo es den Anschein hätte, als wäre ein Erfolg erreicht, aber dann … Miles schüttelte den Kopf und untersuchte den restlichen Inhalt des Plastikbeutels.
»Aha! Du hast ein Takti-Go mitgebracht.« Er hatte nicht die geringste Lust, Takti-Go zu spielen, es hatte ihn schon mit vierzehn Jahren gelangweilt, aber irgend etwas war besser als nichts. Er holte es heraus und stellte es mit gewellter Fröhlichkeit zwischen ihnen auf.
»Bringt alte Zeiten zurück.« Ein gräßlicher Gedanke.
Gregor raffte sich auf und machte einen Eröffnungszug. Er gab vor, daran interessiert zu sein, Miles zu vergnügen, welcher Interesse daran simulierte, Gregor aufzumuntern, welcher so tat, als ob … Miles war zerstreut und schlug Gregor in der ersten Runde zu schnell, dann spielte er aufmerksamer.
In der nächsten Runde hielt er es enger und wurde mit einem Funken echten Interesses — gesegnetes Selbstvergessen — auf Gregors Seite belohnt. Sie öffneten die zweite Flasche Wein. Zu diesem Zeitpunkt begann Miles die Wirkungen des Alkohols zu spüren, die Zunge wurde schwer, er selber wurde schläfrig und stupide, es machte ihm kaum Mühe, Gregor die nächste Runde fast gewinnen zu lassen.
»Ich glaube, ich habe dich in diesem Spiel nicht geschlagen, seit du vierzehn warst«, seufzte Gregor, der seine geheime Genugtuung darüber verbarg, daß bei der letzten Runde die Punktestände nur wenig auseinander lagen. »Du solltest Offizier bleiben, verdammt noch mal.«
»Das ist kein gutes Kriegsspiel, sagt Papa«, kommentierte Miles. »Nicht genug Zufallsfaktoren und unkontrollierte Überraschungen, um die Realität zu simulieren. Ich hab’s gern auf diese Art.« Es war fast wohltuend: eine geistlose Routine an Logik, Hindernis und Gegenangriff, multiple verkettete Züge mit immer vollkommen objektiven Optionen.
»Du solltest es ja wissen.« Gregor blickte auf. »Ich begreife immer noch nicht, warum sie dich nach Kyril geschickt haben. Du hast schon eine echte Raumflotte befehligt. Auch wenn es nur ein zerlumpter Haufen Söldner war.«
»Psst. Diese Episode ist geheim und kommt offiziell in meinen militärischen Akten nicht vor. Glücklicherweise. Es würde meine Vorgesetzten nicht entzücken. Ich hatte nämlich kommandiert, nicht gehorcht. Allerdings habe ich die Dendarii Söldner weniger kommandiert als hypnotisiert. Ohne Kapitän Tung, der sich entschloß, meine Ambitionen zugunsten seiner eigenen Zwecke zu unterstützen, hätte alles sehr unangenehm geendet. Und viel früher.«
»Ich dachte immer, Illyan würde mehr mit ihnen anfangen, danach«, sagte Gregor. »Wenn vielleicht auch ohne Absicht, so hast du doch eine ganze militärische Organisation insgeheim in den Dienst von Barrayar gebracht.«
»Ja, ohne daß sie selbst es wußten. Nun, das ist geheim. Aber gib doch zu: daß sie Illyans Abteilung unterstellt wurden, war nur eine juristische Fiktion, jedermann wußte das.« Und würde sich seine eigene Unterstellung unter Illyans Abteilung sich auch als juristische Fiktion erweisen? »Illyan ist zu vorsichtig, um sich in intergalaktische militärische Abenteuer hineinziehen zu lassen. Ich befürchte, sein Hauptinteresse an den Dendarii Söldnern besteht darin, sie so weit wie möglich von Barrayar wegzuhalten. Söldner florieren durch das Chaos anderer Leute. Außerdem haben sie eine eigentümliche Truppenstärke, weniger als ein Dutzend Schiffe, drei- bis viertausend Mann. Das ist nicht euer unsichtbares sechsköpfiges Grundteam für verdeckte Operationen, obwohl sie auch solche Teams aufstellen können, und doch sind sie zu klein, um planetarische Operationen zu übernehmen. Sie haben ihre Basis im Weltraum, sind keine Bodentruppe. Wurmlochblockaden waren ihre Spezialität.
Sicher, schonend im Umgang mit den Geräten, meistens unbewaffnete Zivilisten drangsalierend — so traf ich sie zuerst an, als unser Frachter durch ihre Blockade gestoppt wurde. Mir wird jetzt noch mulmig, wenn ich an die Risiken denke, die ich einging. Doch ich habe mich oft gefragt, ob ich, wenn ich gewußt hätte, was ich jetzt weiß, hätte können …« Miles hielt inne und schüttelte den Kopf. »Oder vielleicht ist es wie mit der Höhenangst. Besser nicht nach unten schauen. Sonst wird man starr vor Angst und stürzt hinab.« Miles mochte Höhen nicht.
»Wie war es als militärische Erfahrung verglichen mit Basis Lazkowski?«, fragte Gregor nachdenklich.
»Oh, es gab gewisse Parallelen«, gab Miles zu. »Beides waren Aufgaben, für die ich nicht trainiert worden war, beide waren potentiell tödlich. Bei beiden bin ich um Haaresbreite davongekommen — und habe ein paar Haare verloren. Die DendariiEpisode war … schlimmer. Ich verlor Sergeant Bothari. In einem gewissen Sinn verlor ich Elena. Zumindest in Camp Permafrost ist es mir gelungen, niemanden zu verlieren.«
»Vielleicht wirst du besser«, gab Gregor zu bedenken.
Miles schüttelte den Kopf und trank. Er hätte für etwas Musik sorgen sollen. Die undurchdringliche Stille dieses Zimmers war bedrückend, wenn das Gespräch stockte. Die Zimmerdecke war vermutlich keine hydraulische Konstruktion, die herunterkommen und ihn in seinem Schlaf zermalmen konnte, der Sicherheitsdienst hatte viel weniger schmutzige Methoden, um mit widerspenstigen Gefangenen fertigzuwerden. Es schien nur so, als senkte sich die Decke auf ihn herab. Nun ja, ich bin klein. Vielleicht erwischt sie mich nicht.
»Ich nehme an, es wäre … unschicklich«, begann Miles zögernd, »dich zu bitten, daß du versuchst, mich hier herauszuholen. Es ist mir immer ziemlich peinlich vorgekommen, um eine kaiserliche Gunst zu bitten. Wie Schummeln oder so etwas.«
»Was, du bittest einen Gefangenen des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes, einen anderen zu befreien?« Gregors nußbraune Augen blickten ihn unter schwarzen Augenbrauen ironisch an. »Es ist ein bißchen peinlich, gegen die Grenzen meiner absoluten kaiserlichen Herrschaft anzutreten. Dein Vater und Illyan umfassen mich wie zwei Klammern.« Mit einer quetschenden Bewegung schloß er seine gewölbten Hände.
Es war ein unterschwelliger Effekt dieses Zimmers, sagte sich Miles. Auch Gregor spürte ihn.
»Ich würde, wenn ich könnte«, fügte Gregor entschuldigend an. »Aber Illyan hat kristallklar zu verstehen gegeben, daß er dich in der Versenkung haben will. Jedenfalls für einige Zeit.«
»Zeit.« Miles nahm den letzten Schluck aus seinem Weinglas und entschied, daß er sich besser nichts mehr eingoß. Alkohol war ein Beruhigungsmittel, hieß es.
»Für wie lange Zeit? Verdammt, wenn ich nicht bald etwas zu tun bekomme, dann werde ich zum ersten auf Vid aufgezeichneten Fall von spontaner menschlicher Verbrennung.« Er machte mit dem Finger eine derbe Geste zur Zimmerdecke.
»Ich brauche nicht einmal … — ich muß nicht einmal das Gebäude verlassen, aber wenigstens könnten sie mir etwas Arbeit geben. In einem Büro oder als Hausmeister — ich bin schrecklich gut im Reinigen der Kanalisation —, irgend etwas. Als Papa mit Illyan darüber sprach, mich zum Sicherheitsdienst zu versetzen — da dies die einzige Abteilung wäre, die mich noch nähme —, da muß er an mehr gedacht haben als nur an ein M… M… Maskottchen.«
Er schenkte sich wieder ein und trank, um seinen Wortschwall zu stoppen. Er hatte zuviel gesagt. Verdammter Wein. Verdammter Wein.
Gregor hatte aus Takti-Go-Steinen einen kleinen Turm gebaut, den er jetzt mit einem Finger wieder einstürzte.
»Oh, ein Maskottchen zu sein ist keine schlechte Arbeit, wenn du dich drauf verstehst.« Er stocherte zögernd in dem Haufen Spielsteinen herum. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich verspreche nichts.«
Miles wußte nicht, ob es am Kaiser lag, an den Wanzen, oder an Rädern, die schon in Bewegung gewesen waren (sich jedoch nur langsam drehten), aber zwei Tage später fand er sich mit dem Job eines Verwaltungsassistenten des Wachkommandanten des Gebäudes betraut. Es war Komkonsolenarbeit: Zeitpläne aufstellen, Personallisten führen, Computerdateien updaten.
Der Job war eine Woche lang interessant, solange Miles ihn erlernte, danach geisttötend. Am Ende eines Monats begannen die Langeweile und die Banalität an seinen Nerven zu zehren. War er loyal oder nur dumm? Wächter, das erkannte Miles jetzt, mußten auch den ganzen Tag im Gefängnis zubringen. Tatsächlich war es jetzt für ihn als Wächter eine seiner Aufgaben, auf sich selber aufzupassen. Verdammt clever von Illyan, niemand anderer hätte ihn drinbehalten können, wenn er zur Flucht entschlossen gewesen wäre. Einmal fand er ein Fenster und blickte hinaus. Draußen fiel Schneeregen.
Würde er aus diesem verdammten Kasten noch vor dem Winterfest herauskommen? Wie lang brauchte die Welt, um ihn sowieso zu vergessen? Wenn er Selbstmord beginge, konnte er dann offiziell als von einem Wachposten auf der Flucht erschossen registriert werden? Versuchte Illyan, ihn zum Wahnsinn oder nur aus seiner Abteilung zu treiben?
Ein weiterer Monat ging vorüber. Miles beschloß, als geistige Übung seine dienstfreien Stunden damit auszufüllen, daß er jedes Trainingsvid aus der Militärbibliothek anschaute, und zwar in strikt alphabetischer Reihenfolge. Die Sammlung war wirklich erstaunlich. Besonders nachdenklich stimmte ihn ein dreißigminütiges Vid (unter ›H:Hygiene‹), das erklärte, wie man sich duscht — na ja, es gab vielleicht Rekruten aus dem Hinterland, die eine solche Anleitung wirklich nötig hatten. Nach ein paar Wochen hatte er sich durchgearbeitet bis ›L:Laser-Gewehr Modell D-67, Energiezellen-Schaltungen, Wartung und Reparatur‹ als er von einem Anruf unterbrochen wurde, der ihm befahl, sich in Illyans Büro zu melden.
Illyans Büro war fast unverändert gegenüber Miles’ letztem peinigendem Besuch — dasselbe fensterlose innere Zimmer, dessen Hauptinhalt ein Komkonsolenpult war, das aussah, als könnte man damit ein Sprungschiff steuern —, aber jetzt standen da zwei zusätzliche Stühle. Einer war vielversprechend leer. Vielleicht würde Miles in dieser Runde nicht auf dem Teppich sitzen müssen? Der andere Stuhl war besetzt von einem Mann in grüner Interimsuniform mit den Rangabzeichen eines Hauptmanns und dem Horusauge des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes am Kragen.
Interessanter Bursche, dieser Hauptmann. Miles schätzte ihn mit einem Blick aus den Augenwinkeln ab, während er vor Illyan salutierte. Vielleicht fünfunddreißig Jahre alt, hatte er etwas von Illyans unauffälligem, gleichgültig kühlem Aussehen im Gesicht, war aber schwerer gebaut. Bleich. Er konnte leicht als subalterner Bürokrat durchgehen, ein Mann, der sein Leben sitzend in einem Haus zubrachte. Aber dieser besondere Ausdruck konnte auch dadurch erworben sein, daß er viel Zeit in Raumschiffen eingepfercht gewesen war.
»Fähnrich Vorkosigan, das ist Hauptmann Ungari. Hauptmann Ungari ist einer meiner galaktischen Detektive. Er hat zehn Jahre Erfahrung im Sammeln von Informationen für diese Abteilung. Seine Spezialität ist die militärische Auswertung.«
Ungari nickte Miles’ höflich zu und bestätigte damit, daß sie damit einander vorgestellt waren. Sein emotionsloser Blick schätzte nun seinerseits Miles ab. Miles fragte sich, zu welcher Beurteilung des vor ihm stehenden zwergenhaften Soldaten der Spion wohl käme, und versuchte, aufrechter zu stehen. Aus Ungaris Reaktion auf Miles war nichts abzulesen.
Illyan lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück. »Also sagen Sie mir, Fähnrich, was haben Sie in letzter Zeit von den Dendarii Söldnern gehört?«
»Sir?« Miles war überrascht. Das war nicht die Wendung, die er erwartet hatte … »Ich … in letzter Zeit, nichts. Ich hatte eine Nachricht vor etwa einem Jahr von Elena Bothari — das heißt Bothari-Jesek. Aber die war rein privat … hm … Geburtstagsgrüße.«
»Die habe ich.« Illyan nickte.
Hast du, du Mistkerl.
»Nichts seither?«
»Nein, Sir.«
»Hm.« Illyan winkte mit der Hand auf den freien Stuhl. »Setz dich, Miles.« Seine Stimme wurde lebhafter und geschäftsmäßiger. Kamen sie jetzt endlich zum Wesentlichen? »Befassen wir uns ein bißchen mit Astrographie. Geographie ist die Mutter der Strategie, sagt man.« Illyan fummelte an ein paar Schaltern an seiner Komkonsole herum.
Über der Holovidscheibe bildete sich eine leuchtende, dreidimensionale Routenkarte des Wurmlochgeflechts. Sie sah eher aus wie ein aus Kugeln und Stäbchen gebildetes Modell irgendeines seltsamen organischen Moleküls; Kugeln stellten die zu durchquerenden Lokalräume dar, Stäbchen die zwischen ihnen liegenden Wurmlochsprünge. Das Modell war schematisch, komprimierte die Informationen und war nicht unbedingt maßstabgerecht. Illyan zoomte auf einen Teilbereich ein, rote und blaue Funken im Mittelpunkt einer sonst leeren Kugel, von der in schiefen Winkeln vier Stäbchen zu komplexeren Kugeln führten, wie bei einem abgeschrägten keltischen Kreuz. »Sieht das bekannt aus?«
»Das in der Mitte ist die Hegen-Nabe, nicht wahr, Sir?«
»Gut.« Illyan überreichte ihm sein Steuergerät. »Geben Sie mir ein strategisches Resümee der Hegen-Nabe, Fähnrich.«
Miles räusperte sich. »Sie ist ein Doppelsternsystem ohne bewohnbare Planeten, mit ein paar Stationen und Energiesatelliten und sonst sehr wenig, um sich dort länger aufzuhalten. Wie die meisten Verbindungen im Geflecht ist sie mehr eine Route als ein Ort, sie bekommt ihren Wert durch das, was ringsherum ist. In diesem Fall vier anschließende Regionen von Lokalraum mit besiedelten Planeten.« Zur Unterstreichung seiner Ausführungen ließ Miles immer den Teil des Bildes, über den er gerade sprach, heller erscheinen.
»Aslund. Aslund ist eine Sackgasse wie Barrayar, die HegenNabe ist sein einziges Tor zum größeren galaktischen Netz. Die Hegen-Nabe ist für Aslund so lebenswichtig wie unser Durchgang Komarr für uns.
Jackson’s Whole. Die Hegen-Nabe ist nur einer der fünf Ausgänge aus dem jacksonischen Lokalraum, jenseits von Jackson’s Whole liegt die Hälfte der erforschten Galaxis.
Vervain. Vervain hat zwei Ausgänge: einen zur Nabe, den anderen in diejenigen Sektoren des Geflechts, die vom cetagandanischen Imperium beherrscht werden.
Und viertens, natürlich, unser … äh … guter Nachbar, Planet und Republik von Pol. Der seinerseits Verbindung zu unserem Komarr hat, das vielfach im Geflecht verknüpft ist. Von Komarr aus gibt es auch unseren einzigen direkten Sprung in den cetagandanischen Sektor, und diese Route wird entweder strikt kontrolliert oder für cetagandanischen Verkehr total gesperrt, seit wir Komarr erobert haben.«
Miles blickte auf Illyan, ob der ihm zustimmte, er hoffte, daß er sich auf der richtigen Fährte befand. Illyan blickte auf Ungari, der seine Augenbrauen leicht hob. Was bedeutete das?
»Wurmlochstrategie. Das Fadenspiel des Teufels«, murmelte Illyan erklärend. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen auf sein leuchtendes Schema. »Vier Spieler, ein Spielbrett. Eigentlich müßte es einfach sein …«
»Auf jeden Fall«, Illyan streckte die Hand nach dem Steuergerät aus und lehnte sich mit einem Seufzer zurück, »die HegenNabe ist mehr als ein potentieller Würgepunkt für die vier angrenzenden Systeme. Fünfundzwanzig Prozent unseres eigenen Handelsverkehrs passieren sie, über Pol. Und obwohl Vervain für cetagandanische militärische Schiffe gesperrt ist, so wie Pol für die unsrigen, verschiffen die Cetas beträchtliche Mengen ziviler Handelsgüter durch den gleichen Durchgang und dann weiter hinaus an Jackson’s Whole vorbei. Alles — wie zum Beispiel ein Krieg —, was die Hegen-Nabe blockiert, erschiene für Cetaganda fast so schädlich wie für uns.
Und doch, nach Jahren kooperativen Desinteresses und gleichgültiger Neutralität wimmelt diese leere Region plötzlich von etwas, das ich nur als Wettrüsten bezeichnen kann. Alle vier Nachbarn scheinen militärische Interessen zu entwickeln. Pol hat die Bewaffnung auf allen seinen sechs mit der Nabe verknüpften Sprungpunktstationen verstärkt — und dabei sogar Kräfte von der uns zugewandten Seite abgezogen, was ich ein bißchen überraschend finde, da Pol uns gegenüber immer extrem wachsam war, seit wir Komarr eingenommen haben.
Das Konsortium von Jackson’s Whole tut dasselbe auf seiner Seite. Vervain hat eine Söldnerflotte angeheuert, die Randall’s Rangers heißt. All diese Aktivitäten verursachen eine leichte Panik unter den Aslundern, deren Interesse an der Hegen-Nabe aus offensichtlichen Gründen am kritischsten ist. Sie verwenden die Hälfte ihres militärischen Budgets in diesem Jahr für eine größere Sprungpunktstation — ha, für eine schwebende Festung — und um die Lücken während der Vorbereitungen zu schließen, haben auch sie Bewaffnete angeheuert. Mit denen bist du vielleicht vertraut. Sie wurden die Flotte der Freien Dendarii Söldner genannt.«
Illyan machte eine Pause, hob die Augenbrauen und beobachtete Miles’ Reaktion. Endlich Verbindungen — oder? Miles atmete hörbar aus. »Sie waren einmal Blockadespezialisten. Das macht Sinn, nehme ich an. Ach … wurden die Dendarii genannt? Haben sie ihr Etikett gewechselt?«
»Sie sind kürzlich anscheinend zu ihrer ursprünglichen Bezeichnung Oserische Söldner zurückgekehrt.«
»Seltsam. Warum?«
»Warum, ja warum?« Illyan preßte die Lippen zusammen.
»Eine von vielen Fragen, obwohl kaum die drängendste. Aber es ist die cetagandanische Verbindung — oder ihr Fehlen —, was mich am meisten beunruhigt. Allgemeines Chaos in der Region wäre für Cetaganda ebenso schädlich wie für uns. Aber falls nach dem Ende des Chaos Cetaganda irgendwie die Kontrolle über die Hegen-Nabe erlangt hätte — oje! Dann könnten die Cetagandaner den barrayaranischen Verkehr blockieren oder kontrollieren, so wie wir es mit dem ihrigen durch Komarr tun. In der Tat, wenn man die andere Seite des Sprunges KomarrCetaganda als unter ihrer Kontrolle befindlich betrachtet, dann würden sie über zwei unserer vier hauptsächlichen galaktischen Routen dominieren. Etwas Labyrinthisches, Indirektes — es riecht nach den Methoden von Cetaganda. Oder würde riechen, wenn ich ihre klebrigen Hände dabei ertappen könnte, daß sie irgendwelche dieser Fäden ziehen. Sie müssen da sein, selbst wenn ich sie noch nicht sehen kann …«
Illyan schüttelte grübelnd den Kopf. »Wenn der Sprung nach Jackson’s Whole abgeschnitten wäre, dann müßten alle anderen ihre Routen durch das cetagandanische Imperium verlegen … der Profit da …«
»Oder durch unser Gebiet«, betonte Miles. »Warum sollte Cetaganda uns diesen Gefallen tun?«
»Ich habe an eine Möglichkeit gedacht. Tatsächlich habe ich an neun Möglichkeiten gedacht, aber diese eine ist für dich, Miles. Was ist die beste Methode, um einen Sprungpunkt zu erobern?«
»Von beiden Enden aus zugleich«, sagte Miles automatisch auf.
»Was einer der Gründe ist, warum Pol sorgsam darauf bedacht war, uns nie eine militärische Präsenz in der Hegen-Nabe aufbauen zu lassen. Aber nehmen wir einmal an, daß irgend jemand auf Pol auf das häßliche Gerücht stößt, das aus der Welt zu schaffen mir soviel Schwierigkeiten bereitet hat, nämlich daß die Dendarii Söldner die private Armee eines bestimmten barrayaranischen Vor-Lords sind? Was werden sie denken?«
»Sie werden denken, daß wir uns darauf vorbereiten, sie zu überfallen«, sagte Miles. »Sie könnten paranoid werden — in Panik geraten —, sogar eine zeitweise Allianz mit, sagen wir mal, Cetaganda eingehen?«
»Sehr gut«, nickte Illyan.
Hauptmann Ungari, der bisher zugehört hatte mit der höflichen Geduld eines Mannes, der das alles schon einmal früher mitgemacht hat, blickte auf Miles, als sei er leicht ermutigt, und stimmte dieser Hypothese mit einem Kopfnicken zu.
»Aber selbst wenn man sie als eine unabhängige Kraft betrachtet«, fuhr Illyan fort, »dann bedeuten die Dendarii einen weiteren destabilisierenden Einfluß in der Region. Die ganze Situation ist beunruhigend — wird von Tag zu Tag gespannter, ohne ersichtlichen Grund. Nur ein kleines bißchen Gewalt mehr — ein Fehler, ein tödlicher Vorfall — könnte Turbulenzen auslösen, klassisches Chaos, den Ernstfall, unaufhaltsam. Gründe, Miles! Ich möchte Informationen haben.«
Im allgemeinen verlangte Illyan nach Informationen mit der gleichen Leidenschaft, mit der ein unter Entzugserscheinungen leidender Juba-Süchtiger nach einer Nadel verlangt. Er wandte sich jetzt an Ungari.
»Also, was meinen Sie, Hauptmann? Eignet er sich?«
Ungari ließ sich Zeit mit der Antwort. »Er ist … physisch auffälliger, als ich dachte.«
»Als Tarnung ist das nicht unbedingt ein Nachteil. In seiner Gesellschaft müßten Sie eigentlich nahezu unsichtbar sein. Als Jäger, der sich hinter einem Bock verbirgt.«
»Vielleicht. Aber kann er die Belastung aushalten? Ich werde nicht viel Zeit für Babysitting haben.« Ungaris Stimme war ein kultivierter Bariton, offensichtlich gehörte er zu den modernen, gebildeten Offizieren, obwohl er keine Akademie-Nadel trug.
»Der Admiral scheint es zu glauben. Soll ich dem widersprechen?«
Ungari blickte auf Miles.
»Sind Sie sicher, daß das Urteil des Admirals nicht durch … persönliche Hoffnungen beeinflußt ist?«
Sie meinen durch Wunschdenken, übersetzte Miles im stillen dieses leichte Zögern.
»Wenn das so wäre, dann zum ersten Mal.« Illyan hob die Schultern. Und für alles gibt es ein erstes Mal, hing unausgesprochen im Raum.
Illyan fixierte jetzt Miles mit einem Blick voller grimmiger Eindringlichkeit. »Miles, glaubst du, du könntest — falls nötig — noch einmal die Rolle von Admiral Naismith spielen, für kurze Zeit?«
Er hatte es kommen sehen, aber die laut ausgesprochenen Worte bewirkten doch einen seltsamen kalten Schauder. Diese unterdrückte Persönlichkeit wieder zu aktivieren … Es war nicht nur eine Rolle, Illyan.
»Ich könnte wieder Naismith spielen, sicher. Aufzuhören Naismith zu spielen ist, was mir Angst macht.«
Illyan gestattete sich ein frostiges Lächeln, da er dies als Scherz aufnahm. Miles’ Lächeln war etwas gezwungener. Sie wissen nicht, Sie wissen nicht, wie das war … Drei Teile Schwindel und Mumpitz, und ein Teil … etwas anderes. Zen, Gestaltpsychologie, Wahn? Unkontrollierbare Momente von Hochstimmung im Alpha-Zustand …
Konnte er es wieder tun? Vielleicht wußte er jetzt zu viel. Zuerst erstarrst du, und dann fällst du. Vielleicht wäre es diesmal nur Schauspielerei.
Illyan lehnte sich zurück, hielt seine Hände mit zusammengelegten Handflächen hoch und ließ sie dann auseinanderfallen.
»Also gut, Hauptmann Ungari. Er gehört Ihnen. Verwenden Sie ihn, wie Sie es für richtig halten. Ihre Mission ist also, Informationen über die gegenwärtige Krise in der Hegen-Nabe zu sammeln, zweitens, wenn möglich, Fähnrich Vorkosigan dazu zu verwenden, die Dendarii Söldner von der Bühne verschwinden zu lassen. Wenn Sie beschließen, sich eines Scheinvertrags zu bedienen, um sie aus der Hegen-Nabe abzuziehen, dann können Sie das Konto für verdeckte Operationen benutzen, um eine überzeugende Vorauszahlung zu leisten. Sie wissen, welche Ergebnisse ich erwarte. Es tut mir leid, daß ich meine Befehle nicht genauer ausführen kann vor dem Eintreffen der Informationen, die Sie selbst sammeln müssen.«
»Das macht mir nichts aus, Sir«, sagte Ungari und lächelte leicht.
»Hm. Genießen Sie Ihre Unabhängigkeit, solange Sie sie noch haben. Sie endet mit Ihrem ersten Fehler.« Illyans Ton war sardonisch, aber sein Blick war zuversichtlich, bis er ihn auf Miles richtete.
»Miles, du wirst als ›Admiral Naismith« reisen, der selbst wiederum incognito reist, um möglicherweise zu der Dendarii-Flotte zurückzukehren. Sollte Hauptmann Ungari entscheiden, daß du die Naismith-Rolle aktivierst, dann wird er als dein Leibwächter auftreten, damit er immer in der Lage ist, die Situation zu kontrollieren. Es ist ein bißchen zuviel verlangt von Ungari, daß er außer für seine Mission auch für deine Sicherheit verantwortlich ist, deshalb wirst du auch noch einen wirklichen Leibwächter haben. Dieses Arrangement wird Hauptmann Ungari ungewöhnliche Bewegungsfreiheit geben, denn so wird plausibel, warum du ein persönliches Raumschiff besitzt — wir haben einen Sprungpiloten und einen Schnellkurier, die wir bekommen haben von … — ach, mach dir keine Gedanken, woher, aber er hat keine Verbindung mit Barrayar. Er ist zur Zeit auf Jackson’s Whole registriert, was gut in den mysteriösen Hintergrund von Admiral Naismith paßt. Es ist so offensichtlicher Schwindel, daß niemand nach einer zweiten Schicht von … hm … Schwindelei sucht.«
Illyan machte eine Pause. »Du wirst natürlich Hauptmann Ungaris Befehlen folgen. Das versteht sich von selbst.« Illyans direkter Blick war so kalt wie Mitternacht auf Kyril.
Miles lächelte pflichtbewußt, um zu zeigen, daß er den Wink verstanden hatte. Ich werde gut sein, Sir — lassen Sie mich nur vom Planeten weg ins All! Vom Gespenst zum Bock — war das eine Beförderung?