16. Alle Wunden werden geheilt

Als Jill am nächsten Morgen in der Höhle erwachte, dachte sie einen entsetzlichen Augenblick lang, sie befände sich wieder in der Unterwelt. Aber als sie merkte, dass sie auf einem Bett aus Heidekraut lag, zugedeckt mit einem Pelzmantel, und als sie ein munter knisterndes (weil eben erst angefachtes) Feuer in einem steinernen Kamin sah und etwas weiter entfernt das Licht der Morgensonne, das durch die Höhlenöffnung hereinfiel, da erinnerte sie sich wieder an alles. Mit allen anderen in der Höhle zusammengepfercht, hatten sie ein herrliches nächtliches Mahl genossen, obwohl sie noch vor dem Ende des Mahls furchtbar müde geworden waren. Sie erinnerte sich vage an Zwerge, die sich mit Bratpfannen um das Feuer gedrängt hatten, die fast größer waren als sie selbst, an das Brutzeln und den köstlichen Duft gebratener Würstchen und an mehr und immer noch mehr Würstchen. Und es waren auch keine von diesen schrecklichen Würstchen, die zur Hälfte aus Mehl und Sojabohnen bestehen, sondern sie waren durch und durch aus Fleisch, kräftig gewürzt, prall, heiß, aufgeplatzt und ein ganz klein wenig verbrannt. Und dazu gab es große Becher mit schaumiger Schokolade, gebratene Kartoffeln und Kastanien, Bratäpfel, ausgehöhlt und mit Rosinen gefüllt, und dann, zur Erfrischung nach all den heißen Sachen, Eiskrem. Jill setzte sich auf und schaute um sich. Trauerpfützler und Eustachius lagen nicht weit von ihr und schliefen noch.

»He, ihr zwei!«, rief Jill mit lauter Stimme. »Wollt ihr nicht endlich aufstehen?«

»Ruh, Ruh!«, sagte eine dunkle verschlafene Stimme über ihr. »Zeit zum Schlafengehen. Mach auch du die Augen zu. Tu-huu!«

»Oje, ich glaube fast«, sagte Jill und sah zu einem flaumigen weißen Federbüschel hinauf, das oben auf einer Standuhr in einer Ecke der Höhle saß. »Ich glaube fast, das ist Glimmfeder!«

»So ist es, du!«, gurrte die Eule. Dabei schob sie ihren Kopf unter dem Flügel hervor und öffnete ein Auge. »Ich traf etwa um zwei Uhr mit einer Nachricht für den Prinzen ein. Die Eichhörnchen hatten uns die gute Neuigkeit übermittelt. Eine Nachricht für den Prinzen. Er ist weg. Ihr sollt nachkommen. Einen schönen Tag noch ...« Und damit verschwand der Kopf wieder.

Da keine Hoffnung zu bestehen schien, von der Eule noch mehr zu erfahren, stand Jill auf und begann sich nach einer Waschgelegenheit und einem Frühstück umzuschauen. Doch gleich kam ein kleiner Faun in die Höhle getrottet. Seine ziegenartigen Füße machten auf dem Steinfußboden laut klick-klack.

»Ah! Du bist endlich aufgewacht, Tochter Evas!«, sagte er. »Vielleicht solltest du den Sohn Adams aufwecken. Ihr müsst in ein paar Minuten aufbrechen, zwei Zentauren haben freundlicherweise angeboten euch auf ihrem Rücken hinunter nach Feeneden zu tragen.« Er fügte mit leiserer Stimme hinzu: »Sicher ist dir klar, dass es eine ganz besondere und nie da gewesene Ehre ist, auf einem Zentauren zu reiten. Ihr dürft sie nicht warten lassen.«

»Wo ist der Prinz?«, fragten Trauerpfützler und Eustachius als Erstes, nachdem man sie aufgeweckt hatte.

»Er hat sich aufgemacht um seinen Vater, den König, in Feeneden zu begrüßen«, antwortete der Faun, dessen Name Goldrenner war. »Das Schiff Seiner Majestät wird jeden Augenblick im Hafen erwartet. Anscheinend hat der König gleich zu Beginn seiner Reise Aslan getroffen – ob im Traum oder von Angesicht zu Angesicht, weiß ich nicht – und Aslan schickte ihn zurück und sagte ihm, er fände bei seiner Rückkehr seinen lange verschollenen Sohn in Narnia vor.«

Eustachius war inzwischen aufgestanden und machte sich mit Jill zusammen daran, Goldrenner bei der Bereitung des Frühstücks zu helfen. Trauerpfützler wurde befohlen im Bett zu bleiben. Ein Zentaur namens Wolkengeburt, ein berühmter Heiler oder (wie Goldrenner ihn nannte) ein »Arzt«, traf ein um sich seinen verbrannten Fuß anzusehen.

»Ah«, bemerkte Trauerpfützler in einem Tonfall, den man fast zufrieden nennen konnte. »Er will mir sicher das Bein amputieren, sollte mich nicht wundern. Ihr werdet schon sehen.« Aber er blieb recht gern im Bett.

Zum Frühstück gab es Rühreier und Toast und Eustachius fiel darüber her, als hätte er seit Wochen nichts zu sich genommen.

»Sohn Adams«, sagte der Faun und schaute fast ehrfürchtig zu, wie Eustachius riesige Bissen hinunterschlang. «So sehr braucht ihr euch auch wieder nicht zu beeilen. Ich glaube nicht, dass die Zentauren mit ihrem Frühstück schon fertig sind.«

»Dann müssen sie aber sehr spät aufgestanden sein«, meinte Eustachius. »Ich wette, es ist schon nach zehn.«

»O nein!«, widersprach Goldrenner. »Sie sind schon vor dem Hellwerden aufgestanden.«

»Dann müssen sie aber ewig lange mit dem Frühstück gewartet haben«, sagte Eustachius.

»Nein, das haben sie nicht«, erklärte Goldrenner. »Sie haben sofort nach dem Aufwachen angefangen.«

»Meine Güte!«, rief Eustachius. »Essen sie so ein großes Frühstück?«

»Verstehst du denn nicht, Sohn Adams? Ein Zentaur hat zwei Mägen, einen Menschenmagen und einen Pferdemagen. Und natürlich wollen beide ein Frühstück. Also isst er zuerst einmal Porridge und gebratene Eier mit Speck und ein Omelett und kalten Schinken und Toast und Marmelade und dazu trinkt er Kaffee und Bier. Danach widmet er sich seinem Pferdemagen, weidet eine Stunde oder so und schließt dann das Mahl mit einem Eimer Wasser, etwas Hafer und einem Sack Zucker ab. Aus diesem Grund ist es so eine ernste Angelegenheit, einen Zentauren übers Wochenende einzuladen. Wirklich eine ernste Angelegenheit.«

In diesem Augenblick hörte man Pferdehufe gegen den Felsen am Höhleneingang klopfen. Die Kinder sahen auf. Die beiden Zentauren standen wartend da, senkten den Kopf ein wenig und schauten in die Höhle herein. Dem einen hing ein schwarzer und dem anderen ein goldener Bart über die stattliche, unbekleidete Brust. Die Kinder grüßten sehr höflich und beendeten rasch ihr Frühstück. Niemand, der einen Zentauren sieht, findet diesen komisch. Zentauren sind feierliche, majestätische Geschöpfe, voll alter Weisheiten, die sie von den Sternen lernen, und es ist nicht einfach, sie zum Lachen zu bringen oder ihnen Angst einzujagen; aber ihr Zorn ist schrecklich wie eine Flutwelle, wenn er erst einmal da ist.

»Leb wohl, lieber Trauerpfützler«, sagte Jill und ging hinüber zum Bett des Moorwacklers. »Es tut mir Leid, dass wir dich einen Miesmacher genannt haben.«

»Mir auch«, erklärte Eustachius. »Du warst der beste Freund, den man sich denken kann.«

»Und ich hoffe, dass wir uns wieder sehen werden«, fügte Jill hinzu.

»Das ist recht unwahrscheinlich, nehme ich an«, entgegnete Trauerpfützler. »Ich glaube auch nicht, dass ich meinen alten Wigwam jemals wieder sehen werde. Und dieser Prinz ist zwar ein netter Kerl, aber glaubt ihr, dass er sehr kräftig ist? Sicher ist seine Gesundheit von der langen Gefangenschaft unter der Erde ruiniert – sollte mich nicht wundern. Er sieht so aus, als könnte es jeden Tag mit ihm zu Ende gehen.«

»Trauerpfützler«, sagte Jill. »Du bist wirklich ein furchtbarer Schwindler. Du hörst dich so traurig an wie ein Totengräber und dabei glaube ich, dass du vollkommen glücklich bist. Und du redest, als wärst du ein Hasenfuß, dabei bist du so mutig wie ein – wie ein Löwe.«

»Nun, da wir gerade von Beerdigungen reden ...«, begann Trauerpfützler. Doch Jill, die hörte, wie die Zentauren hinter ihr mit den Hufen klopften, bereitete ihm eine große Überraschung. Sie warf die Arme um seinen Hals und küsste sein schlammgraues Gesicht, während Eustachius ihm die Hand schüttelte. Dann rannten die beiden Kinder zu den Zentauren. Der Moorwackler ließ sich auf sein Bett zurücksinken und meinte: »Also so was! Dass sie das tut, hätte ich mir nie träumen lassen, obwohl ich ja wirklich ein gut aussehender Kerl bin.«

Ein Ritt auf dem Rücken eines Zentauren ist zweifellos eine große Ehre (und außer Jill und Eustachius lebt in unserer heutigen Welt wohl niemand, dem diese Ehre je zuteil wurde), aber so ein Ritt ist sehr unbequem. Denn niemand, dem sein Leben lieb ist, würde es wagen, einem Zentauren einen Sattel anzulegen, und ohne Sattel zu reiten ist kein Honiglecken, vor allem wenn man – wie Eustachius – überhaupt nicht reiten kann. Auf eine feierliche, wohlwollende Art und Weise waren die Zentauren sehr entgegenkommend, und während sie durch die narnianischen Wälder galoppierten, erzählten sie den Kindern (ohne den Kopf umzuwenden) von den Eigenschaften der Kräuter und Wurzeln, dem Einfluss der Planeten, den neun Namen Aslans und ihrer Bedeutung und ähnlichen Sachen. Aber so wund und durchgerüttelt die beiden Menschenkinder anschließend auch waren, heute gäben sie alles dafür, diese Reise noch einmal erleben zu dürfen: die Schneisen und Hänge noch einmal zu sehen, funkelnd vom Schnee der letzten Nacht, den Kaninchen und Eichhörnchen und Vögeln noch einmal zu begegnen, die ihnen einen guten Morgen wünschten, noch einmal narnianische Luft zu atmen und die Stimmen der narnianischen Bäume zu hören.

Sie kamen weit unterhalb der letzten Brücke (die in dem behaglichen, rot gedeckten Städtchen Beruna liegt) zum Fluss hinunter, der im winterlichen Sonnenschein hell und blau dahinfloss. Sie wurden in einer flachen Barke vom Fährmann übergesetzt. Danach ritten sie am südlichen Ufer des Flusses entlang und kamen schon bald in Feeneden an. Und bei ihrer Ankunft sahen sie dasselbe leuchtende Schiff wie damals, als sie zum ersten Mal den Fuß auf Narnia gesetzt hatten, wie einen riesigen Vogel den Fluss hinaufgleiten. Wieder war der ganze Hofstaat auf der Grünfläche zwischen Schloss und Kai versammelt, um König Kaspian zu Hause willkommen zu heißen. Rilian, der seine schwarze Kleidung abgelegt hatte und jetzt einen scharlachroten Umhang über einer silbernen Rüstung trug, stand barhäuptig nahe am Rand des Wassers um seinen Vater in Empfang zu nehmen; und der Zwerg Trumpkin saß neben ihm in seinem kleinen Eselskarren. Die Kinder sahen, dass es keine Möglichkeit gab, durch die riesige Menge zum Prinzen vorzustoßen, und sowieso waren sie ihm gegenüber jetzt ein wenig befangen. So fragten sie die Zentauren, ob sie noch ein wenig auf ihren Rücken sitzen bleiben dürften, um so über die Köpfe der Höflinge hinweg alles zu sehen. Und die Zentauren gestatteten es ihnen.

Vom Deck des Schiffes schallte ein Tusch aus silbernen Trompeten über das Wasser. Die Seeleute warfen ein Tau, Ratten (Sprechende Ratten natürlich) banden es an Land fest und dann wurde das Schiff hereingezogen. Musiker, die irgendwo in der Menge versteckt standen, begannen einen feierlichen Triumphmarsch zu spielen. Und schon bald wurde die Königsgaleone angelegt und die Ratten rannten den Laufsteg hinauf an Bord.

Jill hatte erwartet, der König würde gleich über den Laufsteg herunterkommen. Aber es schien irgendeine Verzögerung zu geben. Ein blassgesichtiger Lord kam an Land und verbeugte sich vor dem Prinzen und vor Trumpkin. Die drei steckten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander. Die Musik spielte weiter, aber man spürte, dass alle unruhig wurden. Dann erschienen vier Ritter an Bord, die eine Last trugen und sehr langsam gingen. Als sie den Laufsteg herunterkamen, konnte man erkennen, was sie da trugen: Es war der alte König, der sehr blass und regungslos auf einem Bett lag. Sie stellten ihn ab. Der Prinz kniete sich neben ihm nieder und umarmte ihn. Man konnte sehen, wie König Kaspian die Hand hob um seinen Sohn zu segnen. Und alle jubelten, doch es war nur ein halbherziges Jubeln, denn alle spürten, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Dann fiel der Kopf des Königs plötzlich zurück auf das Kissen, die Musik brach ab und es herrschte Totenstille. Der Prinz, der noch immer am Bett des Königs kniete, legte seinen Kopf darauf und weinte.

Geflüster und eine allgemeine Unruhe kamen auf. Dann sah Jill, dass alle, die einen Hut, eine Mütze, einen Helm und eine Kapuze trugen, den Kopf entblößten (auch Eustachius). Dann hörte sie ein knisterndes und flatterndes Geräusch über dem Schloss; und als sie aufschaute, sah sie, dass die große Fahne mit dem goldenen Löwen darauf auf halbmast gesenkt wurde. Und danach hob langsam, gnadenlos und mit klagenden Saiten und untröstlichen Hörnern die Musik wieder an: und diesmal mit einer Melodie, die einem fast das Herz brach.

Jill und Eustachius glitten von den Zentauren (die keine Notiz davon nahmen).

»Ich wollte, wir wären zu Hause«, erklärte Jill.

Eustachius nickte wortlos und biss sich auf die Lippen.

»Ich bin gekommen«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen. Sie wandten sich um und sahen den Löwen selbst, so strahlend und so wirklich und so stark, dass alles daneben sofort blass und schattenhaft wirkte. Und schneller, als man einen Atemzug tun kann, hatte Jill den toten König von Narnia vergessen und sie wusste nur noch, wie Eustachius durch ihre Schuld vom Felsen in den Abgrund hinuntergefallen und wie es ihr gelungen war, fast alle Zeichen zu verpassen, und auch all die schnippischen Antworten und Streitereien fielen ihr ein. Und sie wollte sagen: »Es tut mir Leid!«, doch sie konnte nicht reden. Dann zog der Löwe sie beide mit seinen Augen zu sich her, beugte sich nieder, berührte ihre blassen Gesichter mit seiner Zunge und sagte:

»Denkt nicht mehr daran. Ich werde nicht schimpfen. Ihr habt den Auftrag erfüllt, für den ich euch nach Narnia geschickt habe.«

»Bitte, Aslan«, sagte Jill, »dürfen wir nach Hause?«

»Ja. Ich bin gekommen um euch nach Hause zu bringen«, sagte Aslan. Dann öffnete er weit das Maul und blies. Doch diesmal hatten sie nicht das Gefühl, durch die Luft zu fliegen; stattdessen schienen sie stillzustehen und der mächtige Atem des Löwen blies das Schiff und den toten König und das Schloss und den Schnee und den Winterhimmel fort. Das alles flog wie Rauchwölkchen in die Luft hinauf und plötzlich standen sie auf weichem Gras, unter mächtigen Bäumen und neben einem lieblichen frischen Bach in der strahlenden Helligkeit mittsommerlichen Sonnenscheins. Sie sahen, dass sie wieder auf dem Berg Aslans standen, weit über und weit hinter dem Ende der Welt, in der Narnia liegt. Aber eigenartigerweise klang die Totenmusik für König Kaspian immer noch fort, obwohl keiner wusste, woher sie kam. Sie gingen neben dem Bach her und der Löwe schritt voraus: Und er wurde so wunderschön und die Musik wurde so traurig, dass Jill nicht wusste, was von beidem ihr die Tränen in die Augen trieb.

Dann blieb Aslan stehen und die Kinder schauten in den Bach. Und dort, auf dem goldenen Kies des Bachbettes, lag der tote König Kaspian und das Wasser floss über ihn wie flüssiges Glas. Sein langer weißer Bart schlängelte sich darin wie eine Wasserpflanze. Und alle drei standen da und weinten. Selbst der Löwe weinte:

Er weinte große Löwentränen, jede kostbarer als die ganze Erde, bestünde sie auch aus einem einzigen massiven Edelstein. Und Jill merkte, dass Eustachius weder wie ein weinendes Kind aussah noch wie ein weinender Junge, der seine Tränen verbergen will, sondern wie ein weinender Erwachsener. Zumindest war das die genaueste Beschreibung, die ihr einfiel: denn, wie sie sagte, die Leute scheinen auf diesem Berg kein bestimmtes Alter zu haben.

»Sohn Adams«, sagte Aslan. »Geh in dieses Dickicht und brich den Dorn ab, den du dort finden wirst, und bring ihn her zu mir.«

Eustachius gehorchte. Der Dorn war fast einen halben Meter lang und so scharf wie ein Dolch.

»Stoß ihn in meine Pfote, Sohn Adams«, befahl Aslan. Er hob seine rechte Vorderpfote hoch und spreizte den großen Fußballen.

»Muss ich?«, fragte Eustachius.

»Ja«, sagte Aslan.

Eustachius biss die Zähne zusammen und trieb den Dorn tief in die Pfote des Löwen. Und ein großer Blutstropfen trat hervor, röter als jedes Rot, das du je gesehen hast oder dir vorstellen kannst. Und er fiel ins Wasser auf den toten Körper des Königs. Im gleichen Augenblick verstummte die traurige Musik. Und der tote König begann sich zu verändern. Sein weißer Bart wurde grau, dann blond, wurde immer kürzer und verschwand schließlich ganz; seine eingefallenen Wangen wurden voll und frisch und seine Falten glätteten sich. Seine Augen öffneten sich und sein Mund und seine Augen lachten. Und plötzlich sprang er auf und stand vor ihnen – als sehr junger Mann oder als Junge. (Jill konnte es nicht genau sagen, weil die Leute im Lande Aslans ja kein bestimmtes Alter haben.) Und er rannte zu Aslan und warf die Arme um seinen riesigen Nacken, so weit sie nur reichen wollten, und er drückte Aslan den herzhaften Kuss eines Königs auf die Stirn und Aslan gab ihm den herzhaften Kuss eines Löwen.

Schließlich drehte sich Kaspian zu den anderen. Er brach in lautes Gelächter der Verwunderung und der Freude aus.

»Was! Eustachius!«, rief er. »Eustachius! Also hast du doch das Ende der Welt erreicht! Was ist mit meinem zweitbesten Schwert, das du an der Seeschlange zerbrochen hast?«

Eustachius streckte beide Hände aus und machte einen Schritt auf Kaspian zu, doch dann wich er mit einem etwas verblüfften Gesicht zurück. »Wie? Was?«, stammelte er. »Das ist ja alles schön und gut. Aber bist du nicht...? Ich meine, hast du nicht...«

»Ach, sei doch nicht so dumm!«, sagte Kaspian.

Eustachius schaute Aslan an und fragte: »Ist er nicht – hm – tot?«

»Ja«, antwortete der Löwe mit sehr leiser Stimme und fast so (meinte Jill), als lachte er. »Er ist gestorben. Die meisten Leute sind gestorben. Selbst ich. Es gibt sehr wenige, die nicht gestorben sind.«

»Oh«, sagte Kaspian. »Jetzt verstehe ich, was dich beunruhigt. Du meinst, ich sei ein Gespenst oder so etwas. Aber verstehst du denn nicht? Wenn ich jetzt in Narnia auftauchen würde, dann wäre ich eines: denn dort gehöre ich nicht mehr hin. Aber in seinem eigenen Land kann man kein Gespenst sein. Vielleicht wäre ich in eurer Welt eines. Ich weiß nicht. Doch ich nehme an, dass diese Welt auch nicht die eure ist, jetzt wo ihr hier seid.«

Eine große Hoffnung stieg in den Herzen der Kinder auf. Doch Aslan schüttelte seinen struppigen Kopf.

»Nein, meine Lieben«, erklärte er. »Wenn ihr mich das nächste Mal hier trefft, dann seid ihr gekommen um zu bleiben. Aber nicht jetzt. Ihr müsst noch für ein Weilchen in eure Welt zurück.«

»Herr«, sagte Kaspian. »Ich habe mir schon immer gewünscht, einmal einen Blick auf ihre Welt zu werfen. Ist das falsch?«

»Jetzt, wo du gestorben bist, mein Sohn, kannst du dir keine falschen Dinge mehr wünschen«, sagte Aslan. »Und du sollst ihre Welt sehen – nur fünf Minuten ihrer Zeit. Länger wirst du nicht brauchen um die Dinge dort in Ordnung zu bringen.« Dann erklärte der Löwe Kaspian, wohin Jill und Eustachius zurückkehrten, und er sprach von der Experimentalschule, die er genauso gut zu kennen schien wie Jill und Eustachius.

»Tochter«, sagte Aslan zu Jill. »Pflücke eine Rute von diesem Busch.« Das tat sie; und sobald sie in ihrer Hand war, verwandelte sie sich in eine schöne neue Reitgerte.

»Nun, Söhne Adams, zieht eure Schwerter«, sagte Aslan. »Aber benutzt nur die Breitseite, denn es sind nur Feiglinge und Kinder und keine Krieger, gegen die ich euch aussende.«

»Kommst du mit uns, Aslan?«, fragte Jill.

»Sie werden nur meinen Rücken sehen«, erklärte Aslan.

Er führte sie rasch durch den Wald und schon bald tauchte vor ihnen die Mauer der Experimentalschule auf. Dann brüllte Aslan, dass die Sonne am Himmel bebte und ein hundert Meter langes Stück der Mauer vor ihnen zusammenbrach. Durch die Lücke erblickten sie das Gebüsch auf dem Schulgelände und das Dach der Turnhalle und all das lag unter demselben trüben Herbsthimmel wie in der Stunde, als ihr Abenteuer begann. Aslan drehte sich zu Jill und Eustachius, ließ seinen Atem über sie streichen und berührte ihre Stirn mit seiner Zunge. Dann legte er sich in die Lücke in der Mauer, drehte England seinen goldenen Rücken zu und wandte sein königliches Antlitz zu seinen eigenen Ländern. Im gleichen Augenblick sah Jill, wie Gestalten durch das Lorbeergebüsch auf sie zugerannt kamen, die sie nur allzu gut kannte.

Die meisten von der Bande waren dabei – Adela Pennyfeather und Cholmondely Major, Edith Winterblott, »Pickelgesicht« Scorner, der dicke Bannister und die beiden grässlichen Garrett-Zwillinge. Doch plötzlich blieben sie stehen. Ihre Gesichter veränderten sich und fast die ganze Niederträchtigkeit, Eingebildetheit, Verschlagenheit und Hinterlistigkeit machten einem Ausdruck des Entsetzens Platz. Denn sie sahen die eingestürzte Mauer, den in der Lücke liegenden Löwen, fast so groß wie ein junger Elefant, und die drei Gestalten in glitzernder Kleidung, die mit Waffen in der Hand auf sie zugerannt kamen. Und mit der von Aslan verliehenen Kraft nahm sich Jill mit ihrer Reitgerte die Mädchen und Eustachius und Kaspian nahmen sich mit der flachen Klinge ihrer Schwerter die Jungen vor. Und schon zwei Minuten später rannten alle wie verrückt davon und schrien: »Mörder! Supermänner! Löwen! Das ist nicht fair!« Und dann kam die Schulleiterin herausgestürzt um zu sehen, was los war. Und als sie den Löwen und die eingestürzte Mauer und Kaspian und Jill und Eustachius sah (die sie allerdings überhaupt nicht erkannte), wurde sie hysterisch, rannte zum Haus zurück und rief die Polizei an und erzählte Geschichten von einem aus dem Zirkus ausgebrochenen Löwen, entflohenen Sträflingen, die Mauern einrissen und Schwerter trugen. Mitten in diesem allgemeinen Durcheinander schlüpften Jill und Eustachius leise ins Haus, legten ihre funkelnde Kleidung ab und zogen normale Sachen an und Kaspian kehrte in seine eigene Welt zurück. Und auf Aslans Wort hin wurde die Mauer wieder ganz. Als die Polizei anrückte und keinen Löwen, keine eingestürzte Mauer und keine Sträflinge fand und die Schulleiterin sich wie eine Verrückte aufführte, wurde die ganze Angelegenheit untersucht. Und bei dieser Untersuchung kamen alle möglichen Sachen über die Experimentalschule ans Licht und etwa zehn Leute wurden aus der Schule geworfen. Danach sahen die Freunde der Schulleiterin, dass die Schulleiterin sich nicht als Schulleiterin eignete, und so wurde sie stattdessen Schulinspektorin und nörgelte nun an anderen Schulleitern herum. Und als sich herausstellte, dass sie nicht einmal das sehr gut konnte, verschafften sie ihr einen Sitz im Parlament, wo sie von da an glücklich und zufrieden lebte.

Eustachius vergrub eines Nachts heimlich seine schönen Kleider auf dem Schulgelände, aber Jill schmuggelte ihre nach Hause und trug sie auf einem Maskenball in den nächsten Ferien. Und viele Dinge in der Experimentalschule wurden besser und so wurde es sogar eine recht gute Schule. Und Jill und Eustachius blieben für immer Freunde.

Weit weg in Narnia begrub Prinz Rilian seinen Vater Kaspian den Seefahrer, Zehnten dieses Namens, und trauerte um ihn. Rilian war ein guter König und das Land war glücklich unter seiner Regierung, obwohl Trauerpfützler (dessen Fuß innerhalb von drei Wochen so gut wie neu war) oft sagte, ein klarer Morgen zöge einen regnerischen Nachmittag nach sich und man könne nicht erwarten, dass gute Zeiten dauerhaft seien. Die Öffnung im Hügel wurde offen gelassen und an heißen Sommertagen steigen die Narnianen oft mit Schiffen und Laternen hinunter zum Wasser und segeln singend auf dem kühlen, dunklen unterirdischen Meer herum und erzählen sich Geschichten über die weit unter ihnen liegenden Städte. Wenn du jemals das Glück hast, ebenfalls nach Narnia zu gelangen, darfst du nicht vergessen dir diese Höhlen anzusehen.

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