6. Das wilde Ödland im Norden

Etwa um neun Uhr am nächsten Morgen suchten sich drei einsame Gestalten auf Sandbänken und flachen Steinen einen Weg über den Scribble. Es war ein seichter, laut brausender Fluss, und selbst Jill war nur bis zu den Knien hinauf nass, als sie am nördlichen Ufer ankamen. Etwa fünfzig Meter vor ihnen stieg das Land zu den Ausläufern des Hochmoors an. Überall war es steil und vereinzelt sah man Felsen.

»Ich glaube, dort ist unser Weg!«, rief Eustachius und deutete nach links in Richtung Westen, wo vom Moor her durch eine niedrige Schlucht ein Fluss austrat. Aber der Moorwackler schüttelte den Kopf.

»Die Riesen leben vorwiegend am Rand dieser Schlucht«, erklärte er. »Man könnte fast sagen, die Schlucht sei für sie eine Straße. Es ist besser, wenn wir geradeaus gehen, auch wenn es ein bisschen steil ist.«

Sie fanden eine Stelle, wo sie hinaufklettern konnten, und nach ungefähr zehn Minuten standen sie schnaufend oben. Sie warfen einen sehnsüchtigen Blick auf das unter ihnen liegende Narnia und wandten sich dann nach Norden. Das weite, einsame Moor erstreckte sich nordwärts, so weit sie sehen konnten. Zu ihrer Linken war es steiniger. Jill dachte sich, das müsse der Rand der Schlucht der Riesen sein, und so schaute sie nicht allzu gern in diese Richtung. Sie machten sich auf den Weg.

Auf dem federnden Boden ließ es sich gut laufen und eine fahle Wintersonne schien auf sie herab. Tiefer im Moor wurde es immer einsamer: Kiebitze waren zu hören und ab und zu ein Falke. Als sie am späten Vormittag in einer kleinen Kuhle an einem Bach rasteten und tranken, bekam Jill langsam das Gefühl, Abenteuer könnten ihr doch Spaß machen. Das sagte sie dann auch.

»Wir haben noch keines erlebt«, entgegnete der Moorwackler.

Wenn man nach einer kurzen Rast weitergeht, ist es genauso, wie wenn die Schule nach der Pause wieder anfangt oder wenn man nach dem Umsteigen mit einem anderen Zug weiterfährt – es ist hinterher nie mehr so wie vorher. Als sie sich wieder auf den Weg machten, bemerkte Jill, dass der felsige Rand der Schlucht näher gekommen war. Und die Felsen waren nicht mehr so flach wie vorher, sondern sie standen aufrecht. Tatsächlich sahen sie aus wie kleine Felsentürme. Und was für eigenartige Formen sie hatten!

Ich könnte mir vorstellen, dachte Jill, dass all die Geschichten über Riesen von diesen komischen Felsen herstammen. Wenn man hier im Halbdunkel vorbeikäme, könnte man diese Felsenhaufen sehr leicht für Riesen halten. Der da zum Beispiel! Man könnte fast meinen, der Klumpen ganz oben sei ein Kopf. Er wäre zwar ziemlich groß für den Körper, aber bei einem sehr hässlichen Riesen wäre das schon denkbar. Und das ganze buschige Zeug – ich nehme an, es sind in Wirklichkeit Heidekrautbüschel und Vögelnester – könnte ohne weiteres das Haar und der Bart sein. Und die Dinger, die an den Seiten abstehen, sehen genauso aus wie Ohren. Es wären zwar furchtbar große Ohren, aber vermutlich haben die Riesen große Ohren, genauso wie Elefanten und – oooh!.

Jill gerann das Blut in den Adern. Das Ding bewegte sich. Es war ein echter Riese. Da war kein Zweifel möglich, sie hatte ihn den Kopf drehen sehen. Sie hatte einen Blick auf das große dumme, pausbäckige Gesicht erhascht. Alle diese Dinger waren Riesen und keine Felsen. Es waren vierzig oder fünfzig, alle in einer Reihe. Offensichtlich standen sie mit den Füßen auf dem Grund der Schlucht und hatten die Ellbogen oben auf dem Rand aufgestützt.

»Geht geradeaus weiter«, flüsterte Trauerpfützler, der die Riesen ebenfalls entdeckt hatte. »Schaut sie nicht an. Und vor allem – rennt nicht! Sonst sind sie im nächsten Moment alle hinter uns her!«

Also gingen sie weiter und taten so, als hätten sie die Riesen gar nicht bemerkt. Es war, wie wenn man am Tor eines Hauses vorbeigeht, wo es einen bissigen Hund gibt, nur noch viel schlimmer. Es waren furchtbar viele Riesen. Sie sahen weder wütend noch freundlich aus und zeigten auch keinerlei Interesse. Nichts deutete darauf hin, dass sie die Wanderer gesehen hatten.

Dann – schwirr – schwirr – schwirr – kam ein schwerer Gegenstand durch die Luft geflogen und mit einem dumpfen Schlag traf ein großer Felsbrocken etwa zwanzig Schritt vor ihnen auf. Und dann – bumm! – fiel ein zweiter fünf Meter hinter ihnen zu Boden.

»Zielen sie auf uns?«, fragte Eustachius.

»Nein«, sagte Trauerpfützler. »Wir wären um einiges sicherer, wenn sie das täten. Sie versuchen das da zu treffen – den Steinhaufen dort drüben. Ihn werden sie aber nicht treffen. Er ist sicher; sie werfen furchtbar schlecht. An schönen Vormittagen sind sie meistens mit diesem Wurfspiel beschäftigt. Es ist so ziemlich das einzige Spiel, für das ihr Verstand ausreicht.«

Es war schrecklich. Die Reihe der Riesen schien nicht enden zu wollen und die Riesen hörten nicht auf Steine zu schleudern, von denen einige ganz in ihrer Nähe niederfielen. Ganz abgesehen von der Gefahr genügte schon der Anblick ihrer Gesichter und der Klang ihrer Stimmen um einem Angst einzujagen. Jill bemühte sich, nicht hinzusehen.

Nach etwa fünfundzwanzig Minuten bekamen die Riesen offensichtlich Streit. Sie hörten mit dem Wurfspiel auf, aber es ist nicht gerade angenehm, sich mitten zwischen streitenden Riesen aufzuhalten. Sie wüteten und tobten und riefen sich lange, bedeutungslose Worte zu, von denen jedes etwa zwanzig Silben hatte. Sie schäumten und bockten und hüpften in ihrer Wut und jeder Sprung brachte die Erde zum Beben. Sie schlugen sich gegenseitig mit großen, plumpen Steinhämmern auf den Kopf; aber ihre Schädel waren so hart, dass die Hämmer einfach wieder abprallten, und dann ließ derjenige, der den Schlag ausgeführt hatte, den Hammer fallen und heulte vor Schmerz auf, weil ihm die Hand wehtat. Aber er war so dumm, dass er eine Minute später wieder von vorne anfing. Auf die Dauer gesehen war das eine gute Sache, denn nach einer Stunde taten den Riesen die Hände so weh, dass sie sich hinsetzten und weinten. Wenn sie sich hinsetzten, verschwanden ihre Köpfe unter dem Rand der Schlucht und man sah sie nicht mehr; aber Jill konnte sie noch heulen und weinen und plärren hören wie große Säuglinge, als die Stätte schon einen Kilometer hinter ihnen lag.

In dieser Nacht lagerten sie auf dem kahlen Moor und Trauerpfützler zeigte den Kindern, dass man die Decken am besten ausnützen kann, wenn man Rücken an Rücken schläft (so hält man sich gegenseitig warm und kann zwei Decken über sich legen). Aber selbst dann war es noch kalt und die Erde war hart und uneben. Der Moorwackler sagte den Kindern, sie würden sich besser fühlen, wenn sie daran dächten, wie viel kälter es weiter im Norden sein würde; aber das munterte sie überhaupt nicht auf.


Sie wanderten viele Tage lang über das Ettinsmoor. Den Speck hoben sie auf und ernährten sich hauptsächlich von den hier lebenden Vögeln (es waren natürlich keine Sprechenden Vögel), die Eustachius und der Wackler schossen. Jill beneidete Eustachius, weil er schießen konnte. Das hatte er, wie schon gesagt, auf seiner Reise mit König Kaspian gelernt. Da es im Moor viele Bäche gab, wurde das Wasser nie knapp. Wenn in Büchern die Menschen von dem leben, was sie finden, dachte Jill, dann ist nie die Rede davon, welch langwierige und schmutzige Angelegenheit es ist, tote Vögel zu rupfen und auszunehmen, und was für kalte Finger man dabei bekommt. Aber das wirklich Gute war, dass sie kaum Riesen trafen. Ein Riese sah sie, aber er lachte nur dröhnend und stampfte seinen eigenen Geschäften nach.

Etwa am zehnten Tag erreichten sie eine Stelle, wo die Landschaft sich veränderte. Sie kamen zur nördlichen Grenze des Moors und blickten einen langen steilen Abhang hinab auf ein anderes noch grimmigeres Land. Am Fuß des Abhangs ragten Felsen empor; dahinter lagen hohe Berge, dunkle Senken, steinige Täler, Schluchten, so tief und so schmal, dass man nur ein kleines Stück weit hineinsehen konnte, und Flüsse, die sich aus hallenden Klammen ergossen und tosend in schwarze Tiefen stürzten. Es erübrigt sich, zu sagen, dass es Trauerpfützler war, der die Kinder auf die dünne Schneedecke hinwies, die auf den weiter entfernten Abhängen lag.

»Aber ich würde mich nicht wundern, wenn auf den Nordhängen noch mehr läge«, fügte er hinzu.

Sie brauchten eine Weile, bis sie am Fuß des Abhangs ankamen. Vom Rand des Kliffs blickten sie auf einen Fluss hinab, der unter ihnen von Westen nach Osten verlief. Er war auf beiden Seiten von steilen Hängen gesäumt, war grün und dunkel, voller Stromschnellen und Wasserfälle. Selbst da, wo sie standen, bebte die Erde unter dem Brausen des Wassers.

»Das Schöne daran ist«, sagte Trauerpfützler, »wenn wir uns beim Überklettern der Felsen das Genick brechen, müssen wir wenigstens nicht im Fluss ertrinken.«

»Was sagt ihr dazu?«, rief Eustachius plötzlich und deutete flussaufwärts. Sie schauten alle in die angegebene Richtung und sahen, was sie am allerwenigsten erwartet hatten – eine Brücke. Und was für eine Brücke! Es war ein riesiger, einzelner Brückenbogen, der die Schlucht von Kliff zu Kliff überspannte; und der höchste Punkt dieses Brückenbogens lag so hoch über dem Fluss, wie der Turm der St.-Pauls-Kirche in London über der Straße liegt.

»Meine Güte, diese Brücke müssen Riesen gebaut haben«, meinte Jill.

»Wahrscheinlich eher ein Zauberer«, entgegnete Trauerpfützler. »An einem Ort wie diesem müssen wir mit Magie rechnen. Ich glaube, es ist eine Falle. Ich glaube, sie wird sich in Nebel auflösen und wegschmelzen, gerade wenn wir in der Mitte sind.«

»Sei doch um Himmels willen kein solcher Miesmacher«, rief Eustachius aus. »Warum sollte es denn keine richtige Brücke sein?«

»Meinst du, irgendeiner der Riesen, die wir gesehen haben, hätte genug Verstand, so ein Ding zu bauen?«, fragte Trauerpfützler.

»Kann es nicht von anderen Riesen gebaut worden sein?«, wollte Jill wissen. »Ich meine von Riesen, die vor ein paar hundert Jahren gelebt haben und die viel klüger waren als die heutigen. Vielleicht ist sie von denselben Riesen errichtet worden, die auch die Riesenstadt gebaut haben, nach der wir suchen. Und das würde bedeuten, dass wir auf der richtigen Spur sind – die alte Brücke, die zur alten Stadt führt!«

»Ich glaube, du hast Recht, Jill«, sagte Eustachius. »Kommt!«

Also schlugen sie den Weg zur Brücke ein. Und als sie dort ankamen, schien sie ihnen tatsächlich sehr stabil zu sein. Die einzelnen Steine, gewaltige Blöcke, mussten einst von tüchtigen Steinmetzen behauen worden sein, obwohl sie jetzt Sprünge zeigten und stellenweise abbröckelten. Die Brüstung war offensichtlich reich verziert gewesen. Einige Spuren davon waren noch zu sehen: zerfallene Gesichter und Körper von Riesen, Minotauren, Tintenfischen, Hundertfüßlern und schrecklichen Göttern. Trauerpfützler traute der Brücke noch immer nicht, aber er willigte ein sie mit den Kindern zu überqueren.

Der Marsch zum höchsten Punkt des Brückenbogens war lang und beschwerlich. An vielen Stellen waren die großen Steine herausgefallen, was entsetzliche Lücken ergab, durch die man auf den Fluss hinabblickte, der Tausende Fuß darunter schäumte. Sie sahen einen Adler, der unter ihren Füßen hindurchflog. Und je höher sie kamen, desto kälter wurde es und der Wind blies so stark, dass sie fast weggeweht wurden. Er schien sogar an der Brücke zu rütteln.

Als sie oben ankamen und auf der anderen Seite der Brücke hinunterschauen konnten, sahen sie etwas, was so aussah wie eine alte Riesenstraße. Sie führte von ihnen weg ins Herz der Berge. Viele der Pflastersteine fehlten und zwischen den noch verbleibenden waren große Grasflecken zu sehen. Und auf dieser alten Straße kamen ihnen zwei Gestalten entgegengeritten, so groß wie normale Erwachsene.

»Weiter. Geht auf sie zu!«, sagte Trauerpfützler. »Jeder, den man an einem Ort wie diesem trifft, ist höchstwahrscheinlich ein Feind, aber sie dürfen nicht denken, wir hätten Angst vor ihnen.«

Als sie von der Brücke auf das Gras traten, waren die beiden Fremden schon ganz nah. Das eine war ein Ritter in voller Rüstung und mit geschlossenem Visier. Seine Rüstung und sein Pferd waren schwarz; auf seinem Schild war kein Zeichen und an seinem Speer kein Fähnchen. Das andere war eine Frau auf einem weißen Pferd, einem so wunderschönen Pferd, dass man sofort Lust bekam, es auf die Nase zu küssen und ihm ein Stück Zucker zu geben. Aber die Dame, die auf einem Damensattel ritt und ein langes flatterndes Kleid in strahlendem Grün trug, war noch schöner.

»Guten Tag, R-r-reisende«, rief sie mit einer Stimme, die so süß war wie der süßeste Vogelgesang, und sie rollte wunderhübsch das R. »Einige von euch sind noch sehr jung, um dieses raue Ödland zu überqueren.«

»Das ist schon möglich, meine Dame«, entgegnete Trauerpfützler sehr förmlich und auf der Hut.

»Wir suchen die Ruinenstadt der Riesen«, sagte Jill.

»Die R-r-ruinenstadt?«, fragte die Dame. »Da sucht ihr aber einen eigentümlichen Ort. Und was tut ihr, wenn ihr sie gefunden habt?«

»Wir müssen ...«, begann Jill, doch Trauerpfützler unterbrach sie.

»Mit Verlaub, meine Dame, aber wir kennen weder Euch noch Euren Begleiter – ein schweigsamer Bursche, was? –, und Ihr kennt uns nicht. Und wir möchten mit Fremden lieber nicht über unsere Geschäfte reden, wenn Ihr nichts dagegen habt. Was meint Ihr, ob es wohl bald ein wenig regnen wird?«

Die Dame lachte: Es war das vollste, melodischste Lachen, das man sich vorstellen kann. »Nun, Kinder«, sagte sie. »Ihr habt einen weisen, ernsthaften alten Führer. Ich nehme es ihm nicht übel, dass er seine Absichten für sich behält; aber ich werde nicht so verschwiegen sein. Ich habe schon oft von der Ruinenstadt der Riesen gehört, aber ich habe noch niemand getroffen, der mir den Weg dorthin sagen konnte. Diese Straße führt zur Stadt und zum Schloss Harfang, wo die sanften Riesen wohnen. Sie sind so freundlich, so höflich, so besonnen und so liebenswürdig, wie die Riesen von Ettinsmoor dumm, wild, grausam und zu jeder Scheußlichkeit bereit sind. In Harfang erfahrt ihr vielleicht etwas über die Ruinenstadt, vielleicht auch nicht, aber ganz gewiss werdet ihr dort gute Unterkunft und fröhliche Gastgeber vorfinden. Ihr würdet gut daran tun, dort zu überwintern oder zumindest ein paar Tage dort zu verweilen, es euch wohl ergehen zu lassen und auszuruhen. Dort werdet ihr dampfende Bäder, weiche Betten und hell flackernde Feuerstellen vorfinden; und Gebratenes und Gebackenes, Süßes und Saures wird viermal täglich serviert.«

»Donnerwetter!«, rief Eustachius. »Das hört sich gut an! Wenn ich nur daran denke, wieder in einem Bett zu schlafen!«

»Ja, und ein heißes Bad zu nehmen«, sagte Jill. »Meint Ihr, sie werden uns auffordern zu bleiben? Wir kennen sie ja nicht.«

»Sagt ihnen nur«, entgegnete die Dame, »dass sie, die Grüngewandete, durch euch grüßen lässt und ihnen zwei liebliche Kinder aus dem Süden zum Herbstfest schickt.«

»Oh, danke, vielen herzlichen Dank«, riefen Jill und Eustachius.

»Aber passt auf«, fügte die Dame hinzu, »dass ihr nicht zu spät am Tag ankommt. Denn sie schließen die Tore ein paar Stunden nach Mittag und es ist der Brauch des Schlosses, dass keinem geöffnet wird, wenn die Tore einmal verriegelt sind, wie laut er auch immer klopfen mag.«

Die Kinder dankten ihr noch einmal mit glänzenden Augen und die Dame winkte ihnen zu. Der Moorwackler nahm seinen spitzen Hut ab und verbeugte sich sehr förmlich. Dann ritten der stumme Ritter und die Dame mit lautem Hufgeklapper über die Brücke davon.

»Nun!«, bemerkte Trauerp fützler. »Ich würde viel dafür geben, zu erfahren, wo sie herkommt und wohin sie unterwegs ist. Sie ist nicht gerade eine von der Sorte, die man in der Wildnis des Riesenlandes erwarten würde, was? Ich wette, dass sie nichts Gutes im Schilde führt.«

»Ach was!«, meinte Eustachius. »Ich fand sie einfach großartig. Und denkt nur an die warmen Mahlzeiten und an die geheizten Zimmer! Ich hoffe nur, dass es bis Harfang nicht mehr weit ist.«

»Ich auch«, gab Jill zu. »Und hatte sie nicht ein fantastisches Kleid an? Und das Pferd!«

»Trotzdem wäre es mir recht, wenn wir etwas mehr über sie wüssten«, sagte Trauerpfützler.

»Ich hätte sie gern ein wenig ausgefragt«, erwiderte Jill, »aber wie konnte ich das denn, wo du ihr nichts über uns erzählt hast?«

»Ja«, bekräftige Eustachius. »Und warum warst du so förmlich und unfreundlich? Waren dir die beiden nicht sympathisch?«

»Die beiden?«, sagte der Wackler. »Was meinst du damit? Ich habe nur eine Person gesehen.«

»Hast du denn den Ritter nicht bemerkt?«, fragte Jill.

»Ich sah eine Rüstung«, entgegnete Trauerpfützler. »Warum hat er den Mund nicht aufgemacht?«

»Ich nehme an, er war schüchtern«, meinte Jill. »Oder vielleicht will er sie nur ansehen und ihrer wunderschönen Stimme lauschen. Ich bin sicher, dass es mir so erginge, wenn ich an seiner Stelle wäre.«

»Ich habe mich gefragt«, bemerkte Trauerpfützler, »was man wohl sähe, wenn man das Visier des Helms lüften und hineinschauen würde.«

»Ach verdammt!«, rief Eustachius. »Man braucht sich doch nur die Rüstung anzusehen. Was könnte da wohl anderes als ein Mann drinstecken?«

»Wie wäre es mit einem Skelett?«, fragte der Moorwackler mit gespenstischer Heiterkeit. »Oder vielleicht«, fügte er hinzu, »überhaupt nichts. Ich meine, nichts, was man sehen kann. Jemand Unsichtbares.«

»Also wirklich, Trauerpfützler«, sagte Jill schaudernd. »Du hast schreckliche Einfälle. Wie kommst du nur auf das alles?«

»Ach, zum Teufel mit seinen Einfällen!«, schnaubte Eustachius. »Er erwartet immer das Schlimmste und es trifft nie ein. Lasst uns an die sanften Riesen denken und so schnell wie möglich Harfang erreichen. Ich wollte, ich wüsste, wie weit es ist.«

Und jetzt hatten sie zum ersten Mal fast einen Streit, wie Trauerpfützler ihn vorhergesagt hatte, jedenfalls die erste ernsthafte Unstimmigkeit. Trauerpfützler war ganz und gar dagegen, nach Harfang zu gehen. Er meinte, er wisse nicht, was es für einen Riesen bedeutete, »sanft« zu sein, und in Aslans Zeichen sei nichts von einem Aufenthalt bei den Riesen erwähnt, seien sie nun sanft oder nicht. Doch die Kinder, die von Wind und Regen, von dürren, über dem Lagerfeuer gebratenen Vögeln und von Nächten auf kaltem, hartem Boden genug hatten, waren fest entschlossen die sanften Riesen zu besuchen. Schließlich und endlich willigte Trauerpfützler ein, aber nur unter einer Bedingung. Die beiden mussten fest versprechen den sanften Riesen nicht zu verraten, dass sie von Narnia kamen und auf der Suche nach Prinz Rilian waren, solange Trauerpfützler es ihnen nicht erlaubte. Dies versprachen sie und dann machten sie sich wieder auf den Weg.

Nach dem Gespräch mit der grünen Dame verschlechterte sich die Lage in zweierlei Hinsicht. Erstens einmal wurde das Gelände viel beschwerlicher. Der Weg führte durch endlose enge Täler, durch die ihnen unablässig ein grausamer Nordwind ins Gesicht blies. Es gab nichts, was man zum Feuermachen hätte benutzen können, und es gab keine schönen kleinen Kuhlen als Lagerstätte wie zuvor auf dem Moor. Die Erde war so steinig, dass einem tagsüber die Füße wehtaten und nachts der ganze Körper schmerzte.

Zweitens – welches Ziel die Dame auch damit verfolgt haben mochte, ihnen von Harfang zu erzählen, es hatte einen schlechten Einfluss auf die Kinder. Sie konnten an nichts anderes mehr denken als an Betten, heiße Bäder, warme Mahlzeiten und wie schön es sein würde, in einem Haus zu wohnen. Sie sprachen jetzt nie mehr von Aslan, ja nicht einmal mehr von dem verschollenen Prinzen. Und Jill gab ihre Angewohnheit auf, sich die Zeichen abends und morgens vorzusagen. Zuerst sagte sie sich, sie sei zu müde, aber schon bald vergaß sie es vollständig. Und obwohl man eigentlich erwartet hätte, die Vorfreude auf die guten Zeiten in Harfang müsse sie aufmuntern, wurden sie dadurch in Wirklichkeit nur noch unzufriedener und untereinander und gegenüber Trauerpfützler noch missmutiger und unwirscher.

Schließlich kamen sie eines Nachmittags an eine Stelle, wo die Schlucht, in der sie gingen, breiter wurde. Auf beiden Seiten erhoben sich dunkle Tannenwälder. Die Wanderer stellten fest, dass sie die Berge hinter sich gelassen hatten. Vor ihnen lag eine trostlose, felsige Ebene: dahinter wieder Berge mit schneebedeckten Kuppen. Doch zwischen ihnen und den Bergen erhob sich ein niedriger Hügel mit unregelmäßiger flacher Kuppe.

»Schaut! Schaut!«, rief Jill und deutete über die Ebene. Und dort, in der sich zusammenziehenden Dunkelheit, hinter dem flachen Hügel, sahen sie Lichter. Lichter! Kein Mondlicht, kein Feuer, nein, eine anheimelnde Reihe erleuchteter Fenster. Wenn man noch nie in unwegsamer Wildnis unterwegs gewesen ist, Tag und Nacht, wochenlang, kann man kaum verstehen, was sie fühlten.

»Harfang!«, riefen Eustachius und Jill mit glücklicher, aufgeregter Stimme. »Harfang«, wiederholte Trauerpfützler mit teilnahmsloser, düsterer Stimme. Doch er fügte hinzu: »Oh! Wildgänse!« Und hatte in der nächsten Sekunde schon den Bogen von der Schulter genommen und angelegt. Er schoss eine schöne fette Gans. Es war viel zu spät um daran zu denken, Harfang an diesem Tag zu erreichen. Aber sie hatten ein Feuer und eine heiße Mahlzeit und so fing die Nacht wärmer an als alle vorangegangenen Nächte der letzten Woche. Nachdem das Feuer verlöscht war, wurde die Nacht bitterkalt, und als sie am nächsten Morgen erwachten, waren ihre Decken steif gefroren.

»Macht nichts!«, rief Jill und stampfte mit den Füßen. »Heute Abend nehmen wir ein heißes Bad.«

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