Kurzbeschreibung

Die kryptographische Abteilung des US-Geheimdienstes NSA verfügt über einen geheimen Super-Computer, der in der Lage ist, innerhalb kürzester Zeit jeden Code (und somit jede verschlüsselte Botschaft) zu knacken. Der Rechner kommt zum Einsatz, wenn Terroristen, Drogenhändler und andere Kriminelle ihre Pläne mittels codierter Texte verschleiern und die Sicherheit der USA auf dem Spiel steht.

In der Vergangenheit konnten die Kryptographen täglich hunderte von Codes knacken – bis zu dem Tage, als Diabolus zum Einsatz kommt: Ein mysteriöses Programm, das den Super-Rechner offenbar überfordert. Der Entwickler des Programms droht, Diabolus der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Würde dieses Programm zum Verschlüsselungs-Standard werden, wäre der erfolgreichen Verbrechensbekämpfung der NSA über Nacht die Basis entzogen. Die Mitarbeiter des Geheimdienstes setzen alle Hebel in Bewegung, das drohende Desaster zu verhindern …

Dan Brown unterrichtete Englisch, bevor er sich ganz seiner Tätigkeit als Schriftsteller widmete. Als Sohn eines mehrfach ausgezeichneten Mathematik Professors und einer bekannten Kirchenmusikerin wuchs er in einem Umfeld auf, in dem Wissenschaft und Religion keine Gegensätze darstellen. Diese Kombination ist es auch, die den weltweiten Erfolg des Autors begründet. ILLUMINATI, der erste in Deutschland veröffentlichte Roman von Dan Brown, gelangte innerhalb kürzester Zeit auf die vorderen Ränge der Bestsellerliste, und mit seinem in 35 Ländern erschienenen Buch SAKRILEG wurde er zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller der letzten Jahrzehnte. Dan Brown ist verheiratet und lebt mit seiner Frau, einer Kunsthistorikerin, in Neuengland.

DAN BROWN


Für meine Eltern...

meine Mentoren und Vorbilder

Prolog

PLAZA DE ESPANA SEVILLA, SPANIEN

11.00 Uhr

Es heißt, dass sich im Tode alles klärt. Ensei Tankado wusste jetzt, dass die Redensart stimmte. Im Fallen, die Hände an die schmerzende

Brust gepresst, erkannte er seinen schrecklichen Fehler.

Besorgte Menschen tauchten in seinem Gesichtsfeld auf, beugten sich über ihn, bemühten sich, ihm zu helfen. Aber Ensei Tankado

wollte keine Hilfe – dafür war es jetzt zu spät.

Bebend hob er die linke Hand und streckte die Finger aus. Schaut auf meine Hand! Neugierige Blicke trafen ihn, doch er spürte, dass

ihn keiner verstand.

An seinem Finger steckte ein gravierter goldener Ring. Die Schriftzeichen blitzten in der andalusischen Sonne. Es war das letzte

Licht, das Ensei Tankado in seinem Leben sah.


Danksagung

Mein Dank gebührt: Thomas Dunne und der außergewöhnlich talentierten Melissa Jacobs, meinen Lektoren von St. Martins Press; meinen New Yorker Agenten George Wieser, Olga Wieser und Jake Elwell; allen, die mein Manuskript gelesen und zu seinem Entstehen beigetragen haben; vor allem jedoch meiner Ehefrau Blythe für ihre

Begeisterung und Geduld.

Und damit ich es nicht vergesse... ein diskretes Dankeschön den beiden Ex-NSA-Kryptographen, die mir über anonyme E-Mails unschätzbare Hinweise haben zukommen lassen. Ohne diese beiden freundlichen Herren hätte dieses Buch nicht geschrieben werden

können.


KAPITEL 1

Sie waren in den Smoky Mountains und lagen in einem Himmelbett ihrer Lieblingspension. David lächelte. »Was meinst du,

Liebling? Würdest du mich heiraten?«

Sie blickte zu ihm hoch und wusste, dass er der Richtige war. Für immer und ewig. Während sie in seine tiefgrünen Augen schaute, erhob sich irgendwo in der Ferne ein nervtötendes Gebimmel. Er strebte von ihr fort. Sie streckte die Arme nach ihm aus und griff ins

Leere.

Das Geklingel des Telefons riss Susan Fletcher endgültig aus ihrem Traum. Sie holte tief Luft, setzte sich auf und tastete nach dem

Hörer. »Hallo?«

»Susan, hier ist David. Habe ich dich geweckt?«

Sie lächelte und drehte sich auf die Seite. »Ich habe gerade von dir geträumt. Komm rüber! Lass uns ein paar hübsche Sachen

miteinander machen.«

Er lachte. »Draußen ist's noch dunkel.«

»Hmmm.« Sie stöhnte verführerisch. »Dann musst du erst recht rüberkommen. Bevor wir losfahren, ist noch genug Zeit zum

Ausschlafen.«

David stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Wegen der geplanten Fahrt rufe ich ja an! Wir müssen sie leider verschieben.«

Susan war mit einem Schlag hellwach. »Wie bitte?«

»Es tut mir Leid, aber ich muss verreisen. Morgen bin ich wieder


da. Wenn wir uns gleich in aller Herrgottsfrühe auf den Weg machen, haben wir immer noch zwei ganze Tage für uns.«

»Aber ich habe doch schon alles reserviert«, sagte Susan eingeschnappt. »Unser altes Zimmer im Stone Manor!«

»Ich weiß, aber...«

»Der heutige Abend sollte doch ein ganz besonderer Abend werden – zur Feier unserer ersten sechs Monate. Hast du schon

vergessen, dass wir verlobt sind?«

Er seufzte. »Susan, ich kann dir jetzt nicht alles erklären. Draußen wartet ein Wagen auf mich. Ich rufe dich vom Flieger aus an und

erkläre dir alles.«

»Vom Flieger aus?«, wiederholte sie ungläubig. »Was ist denn los? Wie kommt die Universität dazu, dich...?«

»Es hat mit der Uni nichts zu tun. Ich rufe dich später nochmal an und erkläre dir alles. Jetzt muss ich wirklich los, man ruft schon nach

mir. Ich melde mich, versprochen!« »David!«, schrie sie. »Was soll...?«

Aber David hatte schon eingehängt.

Sie lag noch stundenlang wach und wartete auf den Anruf. Doch das Telefon blieb stumm.

Susan Fletcher saß trübsinnig in der Badewanne. Es war Nachmittag geworden. Sie tauchte im Seifenwasser unter und versuchte, sich Stone Manor und die Smoky Mountains aus dem Kopf


zu schlagen. Wo steckt er nur? Warum meldet er sich nicht?

Das heiße Wasser wurde allmählich lau und schließlich kalt. Sie hatte sich gerade entschlossen, aus der Wanne zu steigen, als ihr schnurloses Telefon summte. Susan schoss hoch und griff nach dem Hörer, den sie auf dem Waschbeckenrand abgelegt hatte. Wasser

platschte auf den Boden. »David?«

»Hier spricht Strathmore«, meldete sich eine Stimme.

Ernüchtert sank Susan zurück. »Ach, Sie sind's.« Es gelang ihr nicht, die Enttäuschung zu verbergen. »Guten Tag, Commander.«

»Sie hatten wohl mit dem Anruf eines Jüngeren gerechnet?« Die Stimme klang amüsiert.

»Keineswegs, Sir.« Die Situation war Susan peinlich. »Ich möchte nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht...«

»Schon passiert.« Strathmore lachte. »David Becker ist ein prima Kerl. Den sollten Sie sich warm halten.«

»Ja, Sir.«

Die Stimme des Commanders wurde unversehens ernst. »Susan, ich melde mich, weil ich Sie hier im Laden brauche. Pronto.«

Susan versuchte, sich einen Reim auf den Anruf zu machen. »Es ist Samstagnachmittag, Sir. Normalerweise haben wir...«

»Weiß ich«, sagte Strathmore ruhig. »Aber es handelt sich um


einen Notfall.«

Susan saß senkrecht in der Wanne. Ein Notfall? Sie hatte dieses Wort noch nie über Commander Strathmores Lippen kommen hören. Ein Notfall? In der Crypto? Es war absolut unvorstellbar. »Ja. Ich

komme, so schnell ich kann.«

»Kommen Sie ruhig ein bisschen schneller!«, sagte Strathmore und legte auf.

Als Susan sich ins Badetuch hüllte, fielen Tropfen auf die fein säuberlich zusammengefalteten Kleidungsstücke, die sie am Abend zuvor herausgelegt hatte – Shorts zum Wandern, einen Pullover für die kühlen Abende in den Bergen und die Dessous, die sie extra gekauft hatte. Niedergeschlagen ging sie zum Schrank und holte eine

saubere Bluse und einen Rock heraus. Ein Notfall in der Crypto?

Auf der Treppe fragte sie sich, ob der Tag eigentlich noch beschissener werden könnte.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.


KAPITEL 2

Neuntausend Meter über einem spiegelglatten Ozean starrte David Becker bedrückt aus dem kleinen ovalen Fenster des Learjet 60. Das Bordtelefon sei gestört, hatte man ihm gesagt – und damit war der

Anruf bei Susan gestorben.

Was tust du hier eigentlich?, fragte er sich – aber die Antwort lag auf der Hand. Es gab eben Leute, denen man so leicht nichts

abschlagen konnte.

»Mr Becker?«, knisterte es aus dem Bordlautsprecher. »Wir landen in einer halben Stunde.«

Großartig! Er nickte der unsichtbaren Stimme trübsinnig zu, zog die Jalousie herunter und versuchte, noch ein Nickerchen zu machen.

Doch seine Gedanken kreisten um Susan.


KAPITEL 3

Vor dem drei Meter hohen und von Stacheldrahtrollen gekrönten Stahlzaun ließ Susan den Wagen ausrollen. Der junge Wachmann trat

an ihren Volvo und legte gebieterisch die Hand aufs Autodach.

»Ihren Ausweis, bitte.«

Susan tat wie ihr geheißen und machte sich auf die halbminütige Wartezeit gefasst. Der Wachbeamte zog ihre Ausweiskarte durch das

elektronische Lesesystem. Schließlich sah er auf.

»Danke, Miss Fletcher.« Auf sein kaum wahrnehmbares Nicken schwang das Tor auf.

Einen knappen Kilometer weiter unterzog sich Susan an einem nicht minder abweisenden elektrisch gesicherten Zaun der gleichen Prozedur noch einmal. Nun macht schon, Jungs. Ihr habt mich hier ja erst ein paar Tausend Mal durchkomplimentiert! Sie fuhr am letzten Kontrollpunkt vor. Ein untersetzter Wachmann mit zwei scharfen Hunden und einer Maschinenpistole schaute auf ihr Nummernschild und winkte sie durch. Sie fuhr knapp zweihundertfünfzig Meter auf der Canine Road weiter und bog in den Personalparkplatz C. Nicht zufassen, dachte sie. Sechsundzwanzigtausend Mitarbeiter und ein Etat von zwölf Milliarden Dollar, aber sie schaffen es nicht, ein einziges Wochenende lang ohne dich zurechtzukommen? Mit einem kurzen Tritt aufs Gaspedal ließ sie den Wagen auf ihren reservierten

Parkplatz rollen und stellte den Motor ab.

Nachdem sie den Grünstreifen überquert hatte, betrat sie das Hauptgebäude, passierte zwei weitere Sicherheitskontrollen und gelangte schließlich an den fensterlosen Durchgang, der zu dem neuen

Gebäude hinüberführte. Auf einem Hinweisschild stand zu lesen: NATIONAL SECURITY AGENCY (NSA)


CRYPTO-ABTEILUNG

FÜR UNBEFUGTE KEIN ZUTRITT

Eine Kabine mit einem digitalen Stimmerkennungssystem versperrte den Zugang. Der bewaffnete Wachposten blickte auf. »Tag,

Miss Fletcher.«

Susan lächelte matt. »Hallo John.«

»Ich habe heute gar nicht mit Ihnen gerechnet.«

»Ich auch nicht.« Sie beugte sich zu dem im Brennpunkt einer kleinen Parabolschüssel angebrachten Mikrofon. »Susan Fletcher«, sagte sie klar und deutlich. Der Computer bestätigte das Frequenzspektrum ihrer Stimme, und die Sperrschranke sprang

klickend auf.

Der Wachmann bedachte Susan mit einem bewundernden Blick. Er bemerkte, dass ihre ansonsten so fest dreinblickenden Augen etwas abwesend wirkten, aber ihre Wangen hatten eine rosige Frische, und ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar wirkte frisch geföhnt. Ein zarter Duft von Johnsons Babypuder umwehte sie. Der Blick des Wachmanns glitt an ihrem schlanken Oberkörper herab, registrierte den BH unter ihrer weißen Bluse, den knielangen Khakirock und

schließlich die Beine... Susan Fletchers Beine.

Kaum zu glauben, dass auf diesen Beinen ein IQ von 170 herumläuft, sinnierte er, während er Susan auf ihrem Weg durch die Betonröhre hinterherstarrte, bis sie in der Ferne verschwunden war. Mit einem ungläubigen Kopfschütteln riss er sich von dem Anblick

los.

Als Susan das Ende des Tunnels erreicht hatte, blockierte eine


kreisrunde Portalscheibe ihren Weg, auf der in gewaltigen Lettern CRYPTO angeschrieben stand.

Seufzend streckte sie die Hand nach dem in die Wand eingelassenen Tastenfeld aus und gab ihre PIN-Nummer ein. Sofort setzte sich die zwölf Tonnen schwere stählerne Türscheibe in Bewegung. Susan versuchte, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren,

aber ihre Gedanken glitten zurück zu David.

David Becker. Der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Als jüngster Inhaber einer Vollprofessur an der Georgetown Universität und Spezialist für Fremdsprachen war er in der akademischen Welt kein Unbekannter mehr. Mit seinem angeborenen fotografischen Gedächtnis und seiner Sprachbegabung hatte er sechs asiatische Idiome mühelos zu beherrschen gelernt, dazu noch Spanisch, Französisch und Italienisch. Seine mit Sachkunde und Begeisterung vorgetragenen Etymologie- und Linguistikvorlesungen waren stets überfüllt, wobei er sich hinterher noch weit über das Ende der Veranstaltung hinaus unverdrossen dem Kreuzfeuer der Fragen zu stellen pflegte. Die bewundernden Blicke der weiblichen Hörerschaft

schienen ihm völlig zu entgehen.

Becker war ein eher dunkler, jugendlicher Typ von fünfunddreißig Jahren mit scharf blickenden grünen Augen und nicht minder scharfem Intellekt. Sein markantes Kinn und die straffen Gesichtszüge erinnerten Susan immer an eine antike Marmorstatue. Ungeachtet seiner Größe von weit über eins achtzig flitzte Becker mit einer seinen Kollegen unbegreiflichen Behändigkeit über den Squashcourt. Wenn er dem Gegner eine solide Niederlage verpasst hatte, pflegte er zur Abkühlung den Kopf in einen Trinkwasserspender zu halten, bis das Wasser aus seinem dichten schwarzen Haarschopf troff, um sodann dem geschlagenen Gegner einen Fruchtshake und einen Bagel

auszugeben.

Wie alle Jungakademiker bezog auch David Becker kein besonders üppiges Dozentengehalt. Wenn wieder einmal der Mitgliedsbeitrag zum Squash-Club fällig war oder sein alter Dunlopschläger eine neue


Bespannung mit Natursaiten nötig hatte, pflegte er von Zeit zu Zeit sein Gehalt mit Übersetzungsaufträgen für die Regierungsbehörden in und um Washington aufzubessern. Bei einem dieser Gelegenheitsjobs

war er Susan begegnet.

Als er in den vergangenen Herbstferien an einem frischen Oktobermorgen von seiner regelmäßigen Joggingrunde in sein Dreizimmer-Apartment auf dem Universitätsgelände zurückgekehrt war, hatte der Anrufbeantworter geblinkt. Während er sich den üblichen Liter Orangensaft einverleibte, hatte er den Anruf abgehört. Die Botschaft unterschied sich in nichts von den zahlreichen früheren Anrufen – eine Regierungsbehörde wollte ihn für eine Übersetzungsarbeit im späteren Verlauf des Vormittags ein paar Stunden engagieren. Das einzig Auffallende war, dass Becker noch

nie etwas von dieser Behörde gehört hatte.

»Der Verein heißt National Security Agency«, erläuterte Becker den Kollegen, die er Rat suchend angerufen hatte.

Die Antwort war stets die gleiche gewesen. »Du meinst wohl den National Security Council, den Nationalen Sicherheitsrat?«

Becker hatte sicherheitshalber den Anruf noch einmal abgehört. »Nein, sie haben sich mit National Security Agency gemeldet.«

»Noch nie was davon gehört!«

Becker hatte im Verzeichnis der Regierungsbehörden nachgesehen, aber auch dort war die NSA nicht aufgeführt. Schließlich hatte er einen alten Squash-Kumpel angerufen, einen früheren Politikwissenschaftler, der inzwischen eine Stelle bei der Forschungsabteilung der Kongressbibliothek innehatte. Die

Ausführungen seines Bekannten hatten ihn ziemlich erschüttert. Nicht nur, dass es die NSA tatsächlich gab, sie war sogar eine der


einflussreichsten staatlichen Organisationen der Welt und hatte seit mehr als einem halben Jahrhundert auf elektronischem Wege nachrichtendienstliche Erkenntnisse gesammelt und gleichzeitig das geheimdienstliche Material der USA vor fremder Spionage geschützt. Lediglich zwei Prozent der amerikanischen Bevölkerung wussten,

dass es diese Behörde überhaupt gab.

»NSA«, witzelte der Freund, »ist die Abkürzung von ›niemand soll's ahnen‹.«

Mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen hatte Becker den Auftrag der mysteriösen Behörde angenommen. Er war gut fünfzig Kilometer weit zu dem über dreieinhalbtausend Hektar großen NSA­Hauptquartier hinausgefahren, das sich diskret in den bewaldeten Hügeln von Fort Meade in Maryland verbarg. Nach schier endlosen Sicherheitskontrollen hatte man ihm einen auf sechs Stunden ausgestellten holographischen Besucherausweis ausgehändigt und ihn in eine üppig ausgestattete Forschungseinrichtung geführt. Dort wurde ihm eröffnet, die Kryptographen – ein Eliteteam von mathematischen Genies, die sich salopp Codeknacker nannten – bräuchten ihn in den

kommenden Mittagsstunden für eine »blinde Zuarbeit«.

Während der ersten Stunde schienen sie Beckers Anwesenheit nicht einmal wahrzunehmen. Um einen riesigen Tisch geschart, unterhielten sie sich in einem Becker völlig fremden Vokabular über Datenstromchiffren, selbstdezimierende Geber, Rucksackvariablen, Blindprotokolle und Eindeutigkeitspunkte. Becker spitzte die Ohren und verstand gar nichts. Man kritzelte Symbole auf Millimeterpapier, brütete über Computerausdrucken und deutete immer wieder auf das

von einem Overhead-Projektor an die Wand geworfene Textgewirr:

JHDJA3JKHDHMADO/ERTWTJLW+JGJ328


5JHALSFNHKHHHFAFOHHDFGAF/FJ37WE

OH I93450S9DJFD2H/HHRTYFHLF89303

95JSPJF2J0890IHJ98YHFI080EWRT03

JOJR845H0R0Q+JT0EU4TQEFQE//OUJW

08UYOIHO94JTPWFIAJE0D9QUJR9GU

IVJP$DUW4H95PE8RTUGVJW3P4E/IKKC

MFFUERHFGV0Q394KJRMG+UNHVS9OER

IRK/0956Y7U0POIKI0JP9F876DQWERQI

Irgendwann wurde Becker mitgeteilt, was er sich ohnehin schon längst gedacht hatte: Das Textgewirr war ein Code – ein verschlüsselter Text aus Zahlen und Buchstabengruppen, die für verschlüsselte Wörter standen. Die Kryptographen sollten den Code analysieren und die ursprüngliche Botschaft – den »Klartext« – wiederherstellen. Da man annahm, dass die ursprüngliche Botschaft in Mandarin-Chinesisch abgefasst war, hatte man Becker herbeigerufen, um die von den Kryptographen entzifferten Schriftzeichen ins

Englische zu übertragen.

Zwei Stunden lang übersetzte Becker eine endlose Reihe von Mandarin-Schriftzeichen, aber die Kryptographen schüttelten jedes Mal entmutigt den Kopf und konnten offenbar keinen Sinn erkennen. Um den Leuten zu helfen, erklärte Becker schließlich, dass alle ihm bisher vorgelegten Schriftzeichen eines gemeinsam hätten – sie


würden auch in der japanischen Kanji-Schrift benutzt. Schlagartig wurde es still. Der Leiter der Gruppe, ein schlaksiger Kettenraucher

namens Moranti, sah Becker konsterniert an.

»Sie meinen, diese Schriftzeichen können zweierlei bedeuten?«

Becker nickte. Er erläuterte, Kanji sei ein japanisches Zeichensystem, das mit modifizierten chinesischen Schriftzeichen arbeite. Er habe allerdings auftragsgemäß bisher immer nur ins

Mandarin-Chinesisch übersetzt.

»Ach du lieber Gott!«, schniefte Moranti. »Dann wollen wir es doch mal mit Kanji versuchen.«

Wie durch ein Wunder fiel auf einmal alles wie von selbst an seinen Platz.

Die Kryptographen waren tief beeindruckt – was sie jedoch keineswegs dazu veranlasste, Becker die Schriftzeichen in der richtigen Reihenfolge vorzulegen. »Zu Ihrer eigenen Sicherheit«, erläuterte Moranti. »Auf diese Weise wissen Sie nicht, was Sie für uns

übersetzen.«

Becker lachte, aber außer ihm lachte keiner.

Als der Code komplett entschlüsselt war, hatte Becker keine Ahnung, welche dunklen Geheimnisse er ans Tageslicht zu fördern geholfen hatte, aber eines war gewiss – die NSA betrieb das Dechiffrieren nicht zum Spaß. Der Scheck in seiner Tasche war jedenfalls mehr wert als das Monatsgehalt eines

Universitätsprofessors.

Auf dem Rückweg durch den Raster der Sicherheitskontrollen verstellte ihm im Hauptflur ein Wachmann, der soeben das Telefon


aufgelegt hatte, den Weg. »Mr Becker, bitte warten Sie hier einen Augenblick.«

»Gibt es ein Problem?« Becker hatte nicht damit gerechnet, dass der Auftrag so lange dauern würde. Für sein regelmäßiges Squash-Match am Samstagnachmittag war er schon ziemlich spät dran.

Der Wachmann zuckte die Schultern. »Die Abteilungsleiterin der Crypro möchte Sie sprechen. Sie geht gerade nach Hause und ist

schon unterwegs.«

»Eine Frau?«, wunderte sich Becker und grinste. Bei der NSA war ihm bislang noch keine Frau begegnet.

»Haben Sie damit ein Problem?«, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm.

Becker drehte sich um. Er spürte das Blut jäh in seine Wangen schießen. Er starrte auf den an die Bluse der Frau gehefteten Hausausweis. Die Chefin der kryptographischen Abteilung war

zweifellos eine Frau, und eine attraktive obendrein.

»Nein«, stammelte Becker, »ich habe nur...«

»Susan Fletcher«, stellte sich die Abteilungsleiterin lächelnd vor und streckte ihm eine schlanke Hand entgegen.

Becker nahm sie in die seine. »David Becker.«

»Meinen Glückwunsch, Mr Becker. Man hat mir von Ihrer beachtlichen Leistung berichtet. Ich würde mich mit Ihnen gern ein

bisschen darüber unterhalten.«


Becker zögerte. »Um ehrlich zu sein, ich habe es im Moment leider etwas eilig.«

Er hoffte, dass es keine allzu große Dummheit war, einer leitenden Mitarbeiterin der mächtigsten Geheimdienstbehörde der Welt einen Korb zu geben, aber sein Squash-Match sollte in einer Dreiviertelstunde losgehen, und er hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Zum Squash kam David Becker niemals zu spät – zur

Vorlesung vielleicht, aber zum Squash? Niemals!

»Es wird nicht lange dauern«, sagte Susan Fletcher lächelnd. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen...?«

Fünf Minuten später saß Becker im Kasino der NSA der NSA-Chefkryptographin Susan Fletcher gegenüber und ließ sich einen Eierpfannkuchen mit Preiselbeersoße schmecken. Schnell wurde ihm klar, dass die Achtunddreißigjährige ihre hohe Stellung keineswegs irgendwelchen Kungeleien verdankte – sie war eine der intelligentesten Frauen, die er je kennen gelernt hatte. Becker bekam bei der Unterhaltung über Codes und Dechiffriermethoden die größten Schwierigkeiten, ihr zu folgen – für ihn eine völlig neue und durchaus

anregende Erfahrung.

Eine Stunde später – Becker hatte unwiderruflich sein Squash-Match verpasst, und Susan Fletcher hatte dreimal ohne mit der Wimper zu zucken ihren piepsenden Pager ignoriert – mussten sie beide lachen. Da saßen sie nun, zwei hochgradig analytisch geschulte Köpfe, mit ihrer vor sich hergetragenen Immunität gegen die Anfechtungen des Irrationalen, aber irgendwie, während sie sich über linguistische Morphologie und die Fallstricke von Zufallsgeneratoren

unterhielten, kamen sie sich vor wie zwei turtelnde Teenager.

Susan kam die ganze Zeit nicht dazu, David Becker den eigentlichen Grund zu nennen, weshalb sie ihn hatte sprechen wollen: um ihm eine Probeanstellung in der Abteilung für asiatische Kryptographie anzubieten. Bei der Begeisterung, mit der der junge


Professor über seinen Lehrberuf sprach, war ohnehin klar, dass er der Universität nicht den Rücken kehren würde.

Susan wollte die unbeschwerte Atmosphäre nicht verderben, indem sie das Gespräch auf Berufliches lenkte. Nichts sollte die schöne

Stimmung trüben. Und nichts trübte sie.

Das gegenseitige Näherkommen verlief langsam und romantisch, mit verstohlenen Ausbrüchen aus der Tagesroutine, wann immer ihre knapp bemessene Freizeit es zuließ, mit langen Spaziergängen auf dem Campus der Georgetown Universität, einem nächtlichen Cappuccino bei Merlutti und gelegentlichen Besuchen von Vorträgen und Konzerten. Susan bemerkte, dass sie mehr lachte, als sie es jemals für möglich gehalten hatte. Es gab anscheinend nichts, dem David nicht eine witzige Seite abzugewinnen vermochte. Sie genoss es als willkommene Abwechslung von der Beanspruchung, die ihr

verantwortungsvoller Posten bei der NSA mit sich brachte.

An einem kühlen Herbstnachmittag saßen sie auf den Rängen des Fußballstadions und schauten zu, wie die Kicker von Rutgers die

Mannschaft von Georgetown fertig machten.

»Was für einen Sport treibst du noch mal? Zucchini?«, neckte Susan.

David stöhnte auf. »Man nennt es Squash.«

Susan sah ihn verständnislos an.

»Es geht wie Zucchini, nur das Spielfeld ist etwas kleiner«, erläuterte David.

Susan boxte ihn in die Seite.


Der linke Verteidiger von Georgetown vergab einen Eckball. Die Menge buhte. Die Verteidiger rannten zurück in die eigene Hälfte.

»Und du?«, erkundigte sich David. »Was für einen Sport treibst du eigentlich?«

»Ich bin Weltmeisterin auf dem Hometrainer.«

David wand sich in gespieltem Abscheu. »Mir sind Sportarten lieber, bei denen man auch gewinnen kann.«

Susan grinste ihn an. »Du bist wohl ein Streber.«

Der Starverteidiger von Georgetown stoppte einen gegnerischen Querpass. Jubel erklang von der Tribüne. Susan beugte sich zu David.

»Doktor«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

David sah sie verständnislos an.

»Doktor«, wiederholte Susan. »Du musst mit dem ersten Wort antworten, das dir spontan in den Sinn kommt.«

David sah sie skeptisch an. »Ein Wortassoziationstest?«

»Standardprozedur bei der NSA. Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Sie sah ihn bedeutungsvoll an. »Also: ›Doktor‹.«

David hob die Achseln. »Doolittle.«

Susan runzelte die Stirn. »Okay, dann versuch's mal hiermit: ›Küche‹.«


»Schlafzimmer«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Susan hob leicht pikiert die Brauen. »Na gut. Und wie steht's damit: ›Natur‹.«

»Darm«, sagte David postwendend.

»Darm?«

»Na klar. Naturdarm. Die Schlägerbespannung der Squash-Cracks.«

»Ach, wie entzückend«, mokierte sich Susan.

»Und wie lautet nun deine Diagnose?«

Susan dachte kurz nach. »Du bist ein kindischer, sexuell frustrierter Squash-Fan.«

»Könnte hinkommen«, meinte David.

In diesem Stil ging es wochenlang weiter. Wenn sie in einem der vielen nachts geöffneten Schnellrestaurants beim Nachtisch saßen,

pflegte David Susan Löcher in den Bauch zu fragen. Wo hatte sie Mathematik studiert? Wie war sie an den Job bei der NSA gekommen? Wie kam es, dass sie so anziehend war?


Susan wurde rot und räumte ein, dass sie eine Spätentwicklerin sei. Während ihrer ganzen Teenagerzeit war sie ungelenk und dürr gewesen und hatte eine Zahnspange getragen. Ihre Tante Clara hatte einmal gesagt, zum Trost für ihre Unansehnlichkeit hätte ihr der liebe Gott einen schlauen Kopf gegeben. Ein voreiliger Trost, dachte

David.

Susan erzählte ihm, dass ihr Interesse an der Kryptographie in der Junior High School erwacht war. Der Leiter des Computerclubs, ein riesiger Achtklässler namens Frank Gutmann, hatte ein Liebesgedicht für sie abgetippt und mit einer numerischen Verschiebechiffre verschlüsselt. Susan hatte ihn angebettelt, ihr zu verraten, was da stand, aber Frank hatte sich geweigert. Darauf hatte sie das Werk nach Hause mitgenommen und die ganze Nacht unter der Bettdecke beim Schein einer Taschenlampe daran herumgeknobelt, bis das Geheimnis gelüftet war. Jede Ziffer stand für einen Buchstaben. Sorgfältig entschlüsselte sie den Text und erlebte das Wunder, wie ein scheinbar zufälliges Zahlengewirr sich wie durch Hexerei in wundervolle Poesie verwandelte. In dieser Nacht hatte sie ihre Berufung entdeckt – Kryptographie und Verschlüsselungssysteme sollten ihr Lebensinhalt

werden.

Zwanzig Jahre später, sie hatte an der Johns Hopkins Universität ihr Mathematikdiplom gemacht und mit einem Stipendium des MIT Zahlentheorie als Hauptfach studiert, legte sie ihre Doktorarbeit vor: Kryptographische Methoden, Protokolle und Algorithmen für manuelle Anwendungen. Offenbar war ihr Professor nicht der Einzige, der ihre Arbeit gelesen hatte, denn kurz darauf erhielt Susan einen

Anruf und ein Flugticket von der NSA.

Wer sich mit Kryptographie beschäftigte, kannte auch die NSA, denn bei dieser Behörde arbeiteten die besten Kryptographen der Welt. Wenn sich die Privatwirtschaft jeden Frühling mit geradezu obszönen Gehaltsangeboten und Aktienoptionen auf die besten Köpfe der Studienabgänger stürzte, pflegte die NSA sorgfältig das Getümmel zu beobachten, sich ihre Schäfchen auszusuchen und schließlich mit dem Doppelten des höchsten Gebots auf den Plan zu treten. Wenn die NSA etwas haben wollte, kaufte sie es eben. Vor


Aufregung bibbernd war Susan nach Washington geflogen, wo ein Wagen der NSA sie am Dulles Airport erwartet und nach Fort Meade

verfrachtet hatte.

Außer Susan hatten in jenem Jahr einundvierzig weitere Bewerber den besagten Anruf erhalten. Susan war mit ihren achtundzwanzig Jahren die jüngste und obendrein die einzige weibliche Bewerberin gewesen. Die Sache erwies sich weniger als eine Informationsplattform, sondern zu weitaus größeren Teilen als PR-Veranstaltung mit einem intensiven Beiprogramm von Intelligenztests. Susan und sechs weitere Kandidaten wurden in den folgenden Wochen noch einmal eingeladen. Susan hatte zwar Bedenken, ging aber trotzdem hin. Die Bewerber wurden sofort voneinander getrennt und mussten sich Lügendetektor-Tests, Hintergrundbefragungen, graphologischen Analysen und nicht enden wollenden Interviews unterziehen, wobei die auf Tonträger dokumentierten Befragungen auch die sexuelle Orientierung und die sexuellen Praktiken nicht ausließen. Als der Interviewer Susan fragte, ob sie schon einmal Geschlechtsverkehr mit Tieren gehabt hätte, war sie drauf und dran gewesen, aufzustehen und zu gehen. Aber das Geheimnisvolle der ganzen Veranstaltung und die Aussicht, an der vordersten Front der kryptographischen Theorie mitmischen zu können, einen Arbeitsplatz im »Rätsel-Palast« zu beziehen und Mitglied des exklusivsten Clubs der Welt zu werden – der National Security Agency -, ließen sie auch diese Situation irgendwie

überstehen.

David Becker war von ihren Erzählungen vollkommen fasziniert. »Sie haben dich tatsächlich gefragt, ob du schon einmal

Geschlechtsverkehr mit einem Tier gehabt hättest?«

Susan hob hilflos die Schultern. »Es gehört eben zum Background-Check.«

»Und...«, David versuchte ein Grinsen zu unterdrücken, »was hast du geantwortet?«


Sie trat ihn unter dem Tisch gegen das Schienbein. »Nein, natürlich! Und bis letzte Nacht hat das auch gestimmt!«

David hätte Susans Idealvorstellung von einem Mann nicht besser entsprechen können – bis auf eine unglückliche Eigenart. Wenn sie miteinander ausgingen, bestand er notorisch darauf, die Rechnung zu begleichen. Susan litt darunter, dass er für ein Dinner bei Kerzenschein einen ganzen Tagesverdienst hinblättern musste, doch David war unerbittlich. Susan gewöhnte sich an, auf Proteste zu verzichten, aber es störte sie dennoch. Das Bezahlen wäre eigentlich deine Sache, tadelte sie sich selbst. Schließlich kriegst du jeden Monat

mehr Geld aufs Konto, als du ausgeben kannst.

Wie auch immer, ungeachtet seiner altmodischen Kavaliersvorstellungen war David für Susan der ideale Mann. Er war einfühlsam, klug, lustig, und vor allem, er interessierte sich aufrichtig für ihre Arbeit. Ob bei den Besuchen des Smithonian Institute, beim Radfahren oder beim Zerkochenlassen der Spaghetti in Susans Küche, seine Neugier ließ nie nach. Susan beantwortete seine Fragen nach bestem Vermögen und gab David Einblick in die National Security

Agency – soweit es ihre Pflicht zur Geheimhaltung zuließ.

David war fasziniert von dem, was er da zu hören bekam.

Seit über fünfzig Jahren war die am vierten November 1952 um zwölf Uhr eins von Präsident Truman gegründete National Security Agency der mysteriöseste Nachrichtendienst der Welt. Die auf sieben Seiten niedergelegte ursprüngliche Doktrin der NSA gab ein klar umrissenes Aufgabengebiet vor: den umfassenden Schutz von sämtlichen hoheitlichen US-amerikanischen Kommunikationskanälen und deren Inhalten sowie das möglichst vollständige Abfangen der

Kommunikationen fremder Mächte.

Das Dach des NSA-Hauptgebäudes war mit über fünfhundert Antennen bepflastert, darunter auch zwei voluminöse Antennenkuppeln, die wie zwei riesige Golfbälle wirkten. Die


Dimensionen des Gebäudes selbst waren ebenfalls gigantisch. Mit seinen über 185000 Quadratmetern Nutzfläche war es zweimal so groß wie das Hauptquartier der CIA. An die 2440 Kilometer Kommunikationsleitungen waren in seinem Inneren verlegt, die

Fläche der versiegelten Fenster betrug zigtausend Quadratmeter.

Susan berichtete David von COMINT, der global arbeitenden Erkundungsabteilung der NSA – mit einem jede Vorstellung sprengenden Arsenal von Satelliten, Abhöranlagen, angezapften Leitungen und Agenten in aller Welt. Tag für Tag wurden Tausende von Kommunikees und Gesprächen abgefangen und den Analysten der NSA zugeleitet. Die Entscheidungsfindung des FBI, der CIA und der außenpolitischen Berater der US-Regierung stützte sich zu wesentlichen Teilen auf die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse der

NSA.

David Becker war völlig von den Socken. »Und das Dechiffrieren? Wo kommt deine Arbeit ins Bild?«

Susan erläuterte, dass häufig Nachrichten von Regierungen feindlich gesinnter Länder, von gegnerischen Gruppierungen und terroristischen Organisationen, die in zahlreichen Fällen sogar in den USA selbst tätig waren, abgefangen wurden. Die Absender sandten in der Regel verschlüsselte Botschaften – falls ihre Nachricht in die falschen Hände geraten sollte, was dank COMINT in der Regel auch geschah. Wie Susan erläuterte, hatte sie die Aufgabe, den jeweiligen Code zu knacken und die dechiffrierte Botschaft in die Kanäle der

NSA zu leiten... eine Darstellung, die allerdings nicht ganz stimmte.

Susan kam sich mies vor, weil sie ihren Geliebten belügen musste, aber etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig. Vor ein paar Jahren noch wäre diese Version einigermaßen zutreffend gewesen, aber inzwischen wehte bei der NSA ein anderer Wind. Die Welt der Kryptographie hatte sich grundlegend geändert. In Susans Aufgabengebiet herrschte strengste Geheimhaltung, selbst gegenüber

zahlreichen Inhabern höchster Machtpositionen.


»Wenn du nun so einen verschlüsselten Text vor dir hast«, wollte David wissen, »wie weißt du denn, wo du anfangen musst? Ich

meine... wie kommst du dem Code bei?«

Susan lächelte. »Also, wenn überhaupt jemand, dann müsstest du das doch wissen. Es ist wie das Erlernen einer Fremdsprache. Anfangs sieht man nur lauter unverständliches Zeug, aber wenn man allmählich in die Struktur und Regeln des Textes eindringt, gibt er

immer mehr von seiner Bedeutung preis.«

David nickte beeindruckt. Er wollte noch mehr erfahren.

Unter Benutzung der Servietten ihres Lieblings-Italieners und so mancher Konzertprogramme machte Susan sich daran, ihrem charmanten neuen Schüler eine Einführung in die Kryptographie zu

geben. Sie begann mit dem Caesar-Code.

Julius Caesar, erläuterte sie, war unter anderem auch der Erfinder eines Kodierungssystems gewesen. Als seine Boten überfallen und ihnen die geheimen Botschaften entrissen wurden, überlegte er sich eine rudimentäre Methode zum Verschlüsseln seiner Befehle. Zuerst zerlegte er den Text seiner Botschaft nach einem bestimmten System, wodurch er sinnlos wirkte, was er natürlich nicht war. Die Zahl der Buchstaben, aus denen Caesar eine Botschaft zusammensetzte, entsprach dabei stets einer vollen Quadratzahl, also zum Beispiel sechzehn, fünfundzwanzig oder einhundert, je nachdem, wie viel Text er zu übermitteln hatte. Seine Offiziere wussten, dass sie beim Eintreffen einer unverständlichen Mitteilung die Buchstaben von links nach rechts in ein quadratisches Gitter einzutragen hatten. Wenn sie nun die Buchstabenkolonnen von oben nach unten lasen, erschien auf

einmal der zuvor unlesbare geheime Text.

Im Lauf der Zeit übernahmen auch andere die von Caesar entwickelte Methode der Neuanordnung von Texten und modifizierten sie in einer weniger leicht durchschaubaren Weise. Der absolute Höhepunkt der nicht computergestützten


Verschlüsselungsverfahren wurde im Zweiten Weltkrieg erreicht,

als die Nazis eine Verschlüsselungsmaschine namens Enigma bauten. Dieser Apparat bestand aus riesigen ineinander greifenden Walzen, die sich auf raffinierte Weise gegeneinander verdrehten und den Klartext in verwirrende und scheinbar völlig sinnlose Zeichengruppen zerlegten, die nur mit einer zweiten Enigma-Maschine wieder in die richtige Reihenfolge gebracht werden konnten.

David Becker hörte wie gebannt zu. Der Lehrer war zum Schüler geworden.

Eines Abends gab Susan ihm während einer Aufführung der »Nussknacker-Suite« zum ersten Mal einen einfachen Code zu knacken. Während der ganzen Pause rätselte er mit dem Kugelschreiber in der Hand an den zwölf Buchstaben der Botschaft

herum:

HBG KHDAD CHBG

Als vor der zweiten Konzerthälfte die Lichter verlöschten, hatte er es geschafft. Susan hatte einfach die Buchstaben ihrer Botschaft gegen den jeweils vorangehenden des Alphabets ausgetauscht. Zur Entschlüsselung musste man lediglich jeden Buchstaben der Botschaft eine Position des Alphabets weiter rücken – aus A wurde B, aus B wurde C und so weiter. Schnell setzte David auch noch die restlichen Buchstaben an ihren richtigen Platz. Er hätte nie gedacht, dass ihn drei

Wörter so glücklich machen könnten:

ICH LIEBE DICH Eilends schrieb er seine Antwort nieder und hielt sie Susan hin.

HBG CHBG ZTBG


Susan las und strahlte.

David Becker musste lachen. Er war fünfunddreißig Jahre alt, und sein Herz schlug Purzelbäume. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so intensiv zu einer Frau hingezogen gefühlt. Ihre feinen Gesichtszüge und ihre sanften braunen Augen erinnerten ihn an eine Kosmetikreklame von Estée Lauder. Susan mochte zur Teenagerzeit ungelenk und dürr gewesen sein, jetzt war sie es weiß Gott nicht mehr. Irgendwann hatte sie eine gazellenhafte Grazie entwickelt. Sie war groß und schlank, mit festen vollen Brüsten und einem wunderbar flachen Bauch. David witzelte oft, ihm sei noch nie ein Model für Bademoden mit einem Doktortitel in Zahlentheorie und angewandter

Mathematik über den Weg gelaufen.

Die Monate gingen ins Land, und bei beiden verdichtete sich der Verdacht, dass sie es recht gut ein Leben lang miteinander würden

aushalten können.

Sie waren schon fast zwei Jahre zusammen, als David bei einem Wochenendausflug in die Smoky Mountains Susan aus heiterem Himmel einen Heiratsantrag machte. Sie lagen in Stone Manor in einem großen Himmelbett. David hatte noch nicht einmal einen Ring dabei. Er platzte einfach so damit heraus. Das war es, was Susan so sehr an ihm liebte – seine Spontaneität. Er zog ihr das Negligee von

den Schultern und schlang die Arme um sie.

Sie küsste ihn lang und innig.

»Ich werte das als ein Ja«, hatte er gesagt. In der behaglichen Wärme des Kaminfeuers hatten sie sich die ganze Nacht geliebt.

Diese magische Nacht war nun sechs Monate her. Inzwischen hatte man David überraschend zum Leiter des Instituts für Moderne

Sprachen berufen.


Seitdem ging es mit ihrer Beziehung unaufhaltsam bergab.


KAPITEL 4

Der Piepston der Türsteuerung der Crypto- Abteilung riss Susan aus ihrem trübsinnigen Tagtraum. Die rotierende Türplatte war bereits über die voll geöffnete Position hinausgefahren. In fünf Sekunden würde sie sich wieder geschlossen haben. Susan nahm sich zusammen

und trat durch die Öffnung. Ein Computer registrierte ihren Eintritt.

Seit der Fertigstellung der Crypto-Abteilung vor zweieinhalb Jahren hatte Susan praktisch hier gelebt, doch der Anblick brachte sie immer noch zum Staunen. Der Hauptraum war eine gewaltige halbkugelförmige geschlossene Konstruktion, die fünf Stockwerke in die Höhe ragte. Der Mittelpunkt des lichtdurchlässigen Kuppeldachs lag gut sechsunddreißig Meter über dem Boden. Ein Schutzgewebe aus Polykarbonat, das einem Explosionsdruck von zwei Megatonnen TNT standhalten konnte, war in das Acrylglas eingebettet und ließ das

Sonnenlicht in zarten filigranen Mustern auf den Wänden spielen.

Die in der Höhe stark vorkragende Wand verlief unten in Augenhöhe fast senkrecht. Sie wurde durchscheinend, dann schwarz und ging schließlich in den Boden über, eine weite schwarz geflieste Fläche von gespenstischem Hochglanz, die beim Besucher das beunruhigende Gefühl aufkommen ließ, auf durchsichtigem Grund

oder über schwarzes Eis zu wandeln.

Durch die Mitte des Bodens stieß wie die Spitze eines riesigen

Torpedos die Maschine, für die diese Kuppel erbaut worden war. Ihr schlanker schwarzer Umriss schwang sich fast sieben Meter empor, bevor er wieder in den schwarzen Boden zurücktauchte. Der Schwung und die Glätte der Hülle vermittelten den Eindruck eines mitten im Sprung in einen eisigen schwarzen Ozean eingefrorenen riesigen Killerwals.

Das war der TRANSLTR, der kostspieligste Computer der Welt – eine Rechneranlage, auf deren Nichtexistenz die NSA heilige Eide

schwor.


Ähnlich einem Eisberg verbarg diese Maschine neunzig Prozent ihrer Masse und Kraft tief unter der Oberfläche. Ihr Geheimnis war in einen keramischen Silo eingeschlossen, der sich sechs Stockwerke tief senkrecht nach unten erstreckte – eine Hülle, an deren Innenwand ein Wirrwarr von Gitterlaufstegen, Kabeln und zischenden Ventilen des Kühlsystems montiert war. Das Generatoraggregat auf dem Grund des Silos erzeugte ein unablässiges fernes Wummern, das die Akustik in

der Crypto-Kuppel ins Dumpfe und Gespenstische verfremdete.

Der TRANSLTR war wie alle großen technischen Fortschritte ein Kind der Notwendigkeit gewesen. In den achtziger Jahren erlebte die NSA jene Revolution der Telekommunikation, die die Welt der nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung für immer verändern sollte – den öffentlichen Zugriff aufs Internet und speziell

die Einführung der E-Mail.

Kriminelle, Terroristen und Spione, des leidigen Anzapfens ihrer Telefone überdrüssig, stürzten sich sofort auf dieses neue globale Kommunikationsmittel. E-Mails waren so sicher wie konventionelle Briefsendungen und hatten zudem die Geschwindigkeit einer Telefonverbindung. Da die Übertragung auf optischem Weg durch unterirdisch verlegte Glasfaserkabel und an keiner Stelle über Funkstrecken durch die Luft erfolgte, waren E-Mails absolut sicher –

glaubte man jedenfalls.

In Wirklichkeit war das Abfangen der durch das Internet sausenden E-Mails für die Techno-Gurus der NSA eine leichte Übung, war doch das Internet keineswegs die beispiellose Neuerung, für die es von PC-Nutzern gemeinhin gehalten wurde. Das US-Verteidigungsministerium hatte es schon vor drei Jahrzehnten eingerichtet – ein gewaltiges Computernetzwerk, das im Fall eines Atomkriegs die Kommunikation der Regierungsstellen

aufrechterhalten und sichern sollte.

Die NSA konnte auf alte Internetprofis zurückgreifen, die sie als ihre Augen und Ohren einzusetzen wusste. Die Superschlauen, die illegale Geschäfte per E-Mail abwickeln wollten, mussten sehr schnell


feststellen, dass ihre Geheimnisse keineswegs so geheim waren, wie sie geglaubt hatten. Von den erfahrenen Hackern der NSA tatkräftig unterstützt, konnten das FBI, die Drogenbekämpfungs­Behörde, die Steuerfahndung und andere Strafverfolgungsorgane der USA eine veritable Zahl von Festnahmen und Verurteilungen

verzeichnen.

Als die Computernutzer herausfanden, dass die US-Regierung weltweit freien Zugriff auf ihre Mails hatte, erhob sich ein gewaltiger Schrei der Empörung. Selbst Leute, die lediglich ihre Urlaubsgrüße per E-Mail verschicken wollten, reagierten empfindlich auf den Mangel an Vertraulichkeit. Auf der ganzen Welt machte man sich in den Softwarefirmen Gedanken, wie man E-Mails sicherer machen könnte. Mit dem »Public-Key«-Verschlüsselungsverfahren hatten die

Programmierer die Lösung schnell gefunden.

Die Public-Key-Chiffrierung war ein ebenso einfaches wie brillantes System. Es bestand aus einer auf jedem Heimcomputer leicht installierbaren Software, die die E-Mails des Absenders in einen sinnentleerten Zeichensalat verwandelte. Wenn der Anwender einen Brief geschrieben hatte, brauchte er ihn anschließend nur durch das Verschlüsselungsprogramm laufen zu lassen. Der Text, der beim Empfänger ankam, sah danach aus wie wirres Geschreibsel ohne Sinn und Zweck. Er war absolut unlesbar – ein Code. Wer diesen Brief abfing, bekam lediglich einen wirren Buchstabensalat auf seinen

Bildschirm.

Nur durch Eingabe des »Private-Key« des Absenders – eine geheime Zeichenfolge, die nur zum Entschlüsseln der mit dem entsprechenden Public-Key verschlüsselten Nachricht dient – konnte die Botschaft wieder lesbar gemacht werden. Der in der Regel sehr lange und komplexe Private-Key gab dem Dechiffrierungsprogramm des Empfängers die mathematischen Operationen vor, mit denen die Ursprungsform des Texts wiederhergestellt werden konnte.

Nun konnten die Anwender wieder unbesorgt vertrauliche E-Mails austauschen. Mochten die Mails auch abgefangen werden – entziffern


konnte sie nur, wer den entsprechenden privaten Schlüssel besaß.

Die neue Lage machte sich bei der NSA sofort drastisch bemerkbar. Die Codes, mit denen sie es jetzt zu tun bekam, waren keine Substitutionscodes mehr, denen man mit Bleistift und Kästchenpapier zu Leibe rücken konnte – es waren computererzeugte Hash-Funktionen, die unter Anwendung von Zufallsfunktionen und multiplen symbolischen Alphabeten die Information in willkürliche

Zeichenfolgen zerlegten.

Die anfangs benutzten Private-Keys waren noch so kurz, dass die Computer der NSA sie »erraten« konnten. Wenn ein gesuchter Private-Key zehn Stellen hatte, programmierte man einen Computer, jede mögliche Zeichenkombination zwischen oooooooooo und zzzzzzzzzz durchzuprobieren, wobei der Rechner früher oder später auf die richtige Zeichenfolge stoßen musste. Dieses Vorgehen nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum war eine Holzhammermethode, die so genannte Brute-Force-Methode, zeitaufwändig zwar, aber der

Erfolg war mathematisch gesichert.

Als sich herumsprach, dass verschlüsselte Botschaften mit der Brute-Force-Methode dechiffriert werden konnten, wurden die Private-Keys immer länger. Die für das »Erraten« des richtigen Schlüssels erforderlichen Rechenzeiten wuchsen auf Wochen, Monate

und schließlich auf Jahre.

In den Neunzigerjahren waren die Private-Keys über fünfzig Stellen lang geworden und verwendeten sämtliche Zeichen des aus Buchstaben, Zahlen und Symbolen bestehenden ASCII-Alphabets. Die Zahl der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten bewegte sich

in der Gegend von 10125, einer Zehn mit einhundertfunfundzwanzig Nullen. Das Erraten eines solchen Keys mit der Brute-Force-Methode war etwa so wahrscheinlich, wie an einem fünf Kilometer langen Strand ein bestimmtes Sandkorn zu finden. Es kursierten Schätzungen, dass die NSA mit ihrem schnellsten Computer – dem streng geheimen Cray/ Josephson 11 – für einen erfolgreichen Brute-Force-Angriff auf einen gängigen vierundsechzigstelligen Private-


Key, wie er überall im Handel war, neunzehn Jahre brauchen würde. Wenn der Computer endlich den Schlüssel erraten und den Code geknackt haben würde, war der Inhalt der Botschaft längst nicht

mehr aktuell.

Unter dem Eindruck des drohenden nachrichtendienstlichen Blackouts verfasste die NSA ein streng geheimes Memorandum mit der Bewertung der Lage und Vorschlägen zu ihrer möglichen Bewältigung. Es fand die Unterstützung des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Mit dem Geld des Bundes im Rücken und einer Blankovollmacht, alles zu unternehmen, was im Interesse der Lösung des Problems erforderlich war, machte sich die NSA daran, das Unmögliche zu ermöglichen: den Bau der ersten universell

einsetzbaren Dechiffriermaschine der Welt.

Ungeachtet der Einschätzung vieler Experten, die den geplanten Super-Codeknacker zum Hirngespinst erklärten, hielt sich die NSA unbeirrbar an ihr bewährtes Motto: Alles ist möglich, Unmögliches

dauert nur etwas länger.

Nach fünf Jahren hatte es die NSA unter Aufwendung einer halben Million Arbeitsstunden und 1,9 Milliarden Dollar wieder einmal geschafft: Der letzte der drei Millionen briefmarkengroßen Spezialprozessoren war eingesetzt, die interne Programmierung abgeschlossen und das keramische Gehäuse verschlossen. Der

TRANSLTR war geboren.

Auch wenn die geheimen inneren Funktionszusammenhänge des TRANSLTR das Produkt vieler Köpfe waren und von keiner einzelnen Person in ihrer Gesamtheit verstanden wurden – das grundsätzliche Funktionsprinzip war sehr simpel: Je mehr anpacken,

desto schneller geht es.

Die drei Millionen parallel arbeitender, auf die Entschlüsselung spezialisierter Prozessoren konnten mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit jede nur denkbare Zeichenkombination


durchprobieren. Man hoffte, dass die Zähigkeit des TRANSLTR auch Codes mit unvorstellbar langen Private-Keys in die Knie zwingen würde. Das Multimilliarden-Meisterstück machte sich beim Codeknacken die Kraft des Parallelrechners und einige streng geheime Fortschritte auf dem Gebiet der Klartexterstellung zu Nutze. Es zog seine Rechenkraft nicht nur aus der Schwindel erregenden Anzahl seiner Prozessoren, sondern ebenso aus neuen Entwicklungen der Quanten-Computertechnik – einer Technologie, die Informationen mittels quantenmechanischer Zustände und nicht als binäre

Ladungszustände zu speichern gestattet.

Der Augenblick der Wahrheit kam an einem windigen Donnerstagmorgen im Oktober: der erste Probelauf. Bei aller Ungewissheit der Ingenieure, wie schnell ihre Maschine sein würde, war man sich doch über eines einig: Wenn alle Prozessoren schön parallel arbeiteten, würde der TRANSLTR einiges leisten können. Die

Frage war, wie viel genau war »einiges«...

Die Antwort kam zwölf Minuten später, als das Geräusch des anlaufenden Klartext-Druckers in die gespannte Stille der handverlesenen kleinen Schar der Anwesenden platzte. Der TRANSLTR hatte soeben in kürzester Zeit einen vierundsechzigstelligen Schlüssel geknackt – fast eine Million mal schneller als die zwanzig Jahre, die der zweitschnellste Rechner der

NSA dafür gebraucht hätte.

Unter Führung des stellvertretenden NSA-Direktors, Commander Trevor J. Strathmore, hatte die Fertigungsabteilung der NSA triumphiert. Der TRANSLTR war ein Erfolg. Im Interesse der Geheimhaltung seines Erfolgs ließ Strathmore sofort durchsickern, das Projekt sei komplett in die Hosen gegangen. Die Geschäftigkeit in der Crypto-Kuppel sei nur ein verzweifeltes Bemühen, das Zwei­Milliarden-Fiasko noch irgendwie zu retten. Nur die oberste Führungsebene der NSA kannte die Wahrheit: Wie am Fließband

knackte der TRANSLTR täglich Unmengen von Codes.

Während man sich draußen in Sicherheit wiegte und glaubte,


computerverschlüsselte Botschaften seien sicher, liefen bei der NSA die entschlüsselten Geheimnisse in Massen auf. Drogenbarone, Terroristen und Wirtschaftskriminelle, die es leid waren, ihre Mobiltelefone abhören zu lassen, hatten sich begeistert auf das neue Medium der verschlüsselten E-Mail als weltweites verzögerungsfreies Kommunikationsmittel gestürzt. Nie mehr würden sie sich von einem Gericht die Tonbandaufnahme ihrer eigenen Stimme vorspielen lassen müssen, Beweis eines längst vergessenen belastenden Telefongesprächs, das ein Spionagesatellit der NSA aus dem Äther

gefischt hatte.

Noch nie war das Sammeln von nachrichtendienstlichem Material so einfach gewesen. Die von der NSA abgefangenen verschlüsselten Texte wurden als unleserlicher Zeichensalat in den TRANSLTR geschaufelt, der sie Minuten später als einwandfrei lesbaren Klartext

wieder ausspuckte. Mit den Geheimnissen war es vorbei.

Um den Mummenschanz ihrer Inkompetenz komplett zu machen, betätigte sich die NSA als eifrige Lobbyistin gegen jegliche neue Verschlüsselungssoftware für Heimcomputer, die auf den Markt kam. Sie klagte lauthals, diese Programme würden ihr die Hände binden und es den Strafverfolgungsbehörden unmöglich machen, Kriminelle zu enttarnen und vor Gericht zu bringen. Die Bürgerrechtsgruppen lachten sich ins Fäustchen und meinten, die E-Mails der Bürger gingen die NSA ohnehin nichts an. Verschlüsselungssoftware wurde nach wie vor massenweise auf den Markt geworfen. Die NSA hatte eine Schlacht verloren – genau wie geplant. Sie hatte es geschafft, der

ganzen Welt Sand in die Augen zu streuen... so schien es jedenfalls.


KAPITEL 5

Wo sind denn die anderen?, dachte Susan verwundert, während sie durch die verlassene Crypto-Kuppel ging. Merkwürdiger Notfall! Die meisten Abteilungen der NSA waren auch am Wochenende voll besetzt, aber in der Crypto herrschte samstags meistens Ruhe. Kryptographie-Mathematiker waren von Natur aus Workaholics. Deshalb gab es für sie die ungeschriebene Regel, am Samstag blauzumachen. Und daran mussten sie sich auch halten – falls nicht gerade eine Notsituation herrschte. Die Arbeitskraft der Codeknacker war für die NSA enorm wichtig und wertvoll. Man wollte nicht riskieren, dass die Leute ihre Arbeitskraft durch Überarbeitung

vorzeitig ruinierten.

Rechts von Susan ragte übermächtig der TRANSLTR aus dem Boden. Das aus sechs Stockwerken Tiefe heraufdringende Generatorgebrumm hatte heute einen merkwürdig bedeutungsschwangeren Unterton. Susan hatte sich nie gern allein in der Crypto aufgehalten. Sie kam sich immer vor wie mit einem riesigen futuristischen Untier im selben Käfig zusammengesperrt. Sie

beeilte sich, zum Büro des Commanders zu kommen.

Strathmores rundum verglastes Büro, das »Aquarium«, wie es wegen seines Aussehens bei geöffneten Vorhängen allenthalben hieß, hing wie ein Schwalbennest hoch an der hinteren Wand der Crypto-Kuppel. Als Susan über eine Treppe nach oben ging, fiel ihr Blick unwillkürlich auf das Wappen der NSA, das auf Strathmores schwerer

Tür prangte – ein kahlköpfiger Adler mit einem altmodischen Bartschlüssel in den Klauen. Hinter dieser Tür saß einer der großartigsten Männer, denen sie je begegnet war.

Commander Strathmore, der sechsundfünfzigjährige Vizechef der NSA, war für Susan wie ein Vater. Ihm verdankte sie ihre Anstellung. Er hatte die NSA zu ihrer Heimat gemacht. Als Susan vor gut einem Jahrzehnt in die NSA eingetreten war, hatte Strathmore noch die Entwicklungsabteilung der Crypto geleitet, eine Pflanzstätte für junge Kryptographien – junge männliche Kryptographen. Strathmore, der


Reibereien im Team seiner Mitarbeiter ohnehin in keiner Weise duldete, hielt die Hand ganz besonders über seine einzige weibliche Beschäftigte. Vorwürfe der Begünstigung entkräftete er mit der schlichten Wahrheit: Susan Fletcher war eine der fähigsten Anfängerinnen, die er je unter seinen Fittichen gehabt hatte. Er war nicht gewillt, sie wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu

verlieren.

Im ersten Jahr von Susans Anstellung hielt ein etwas älterer Kryptograph es für nötig, Strathmores Entschlossenheit auf die Probe

zu stellen.

Susan hatte eines Morgens ein paar Unterlagen aus dem neuen Aufenthaltsraum der Abteilung holen wollen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte sie auf dem schwarzen Brett ein Foto. Vor lauter Verlegenheit wäre sie am liebsten im Boden versunken. Mit nichts als

einem knappen Slip bekleidet, lag sie da auf einem Bett.

Wie sich herausstellte, hatte der besagte Kryptograph mit dem Scanner Susans Kopf auf ein Foto aus einem Männermagazin

montiert. Das Ergebnis wirkte ziemlich überzeugend.

Zum Leidwesen des Übeltäters fand Commander Strathmore die Sache überhaupt nicht witzig. Zwei Stunden später ging eine seither

unvergessene Vollzugsmeldung durch die Abteilung:

MITARBEITER CARL AUSTIN WEGEN UNGEBÜHRLICHEN VERHALTENS ELIMINIERT.


Von Stund an hatte Susan Fletcher Ruhe. Sie war Commander Strathmores »Golden Girl«.

Strathmores junge Kryptographen waren nicht die Einzigen, die ihn zu respektieren lernten. Schon früh in seiner Karriere hatte er sich seinen Vorgesetzten durch einige unorthodoxe, aber höchst wirkungsvolle nachrichtendienstliche Operationen empfohlen, die auf seinen Vorschlag hin durchgeführt wurden. Während Trevor Strathmore sich allmählich emporarbeitete, machte er sich für seine klugen und das Wesentliche kurz und bündig herausarbeitenden Analysen hochkomplexer Situationen einen Namen. Er schien eine nachgerade unheimliche Fähigkeit zu haben, ohne Gewissenskonflikte und unbelastet von der komplizierten moralischen Einbettung der schwierigen Entscheidungen der NSA, allein dem Gemeinwohl

verpflichtet denken und handeln zu können.

An Strathmores Vaterlandsliebe bestand für niemand auch nur der geringste Zweifel. Seine Kollegen schätzten ihn als Patrioten und Visionär... als einen Ehrenmann in einer Welt der Unaufrichtigkeit

und Täuschungen.

In den Jahren vor Susans Eintritt in die NSA hatte Strathmore einen kometenhaften Aufstieg vom Abteilungsleiter zum stellvertretenden NSA-Direktor absolviert. Es gab nur noch einen Mann über ihm: Direktor Leland Fontaine, den geheimnisumwitterten, alles beherrschenden Hausherrn des Rätsel-Palasts – nie gesehen, selten gehört und allzeit gefürchtet. Er und Strathmore hatten wenig persönlichen Kontakt, aber wenn es doch einmal dazu kam, war es eher ein Zusammenprall von Giganten. Fontaine war ein Titan unter Titanen, aber das schien Strathmore wenig zu beeindrucken – er vertrat seine Vorstellungen vor seinem obersten Chef mit der Zurückhaltung eines Preisboxers. Noch nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten nahm sich heraus, Fontaine in der Weise anzugehen, wie Strathmore es tat. Ein solches Verhalten konnte sich nur jemand leisten, der politisch immun war – oder absolut

indifferent, wie Strathmore. Susan war am Ende des Treppenaufgangs angekommen. Sie hatte noch nicht geklopft, als Strathmores Türöffner


bereits summte. Die Tür schwang auf, und der Commander winkte sie herein.

»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Sie haben jetzt bei mir einen Gefallen gut.«

»Keine Ursache.« Lächelnd nahm Susan vor seinem Schreibtisch Platz.

Strathmore war ein hoch gewachsener kräftiger Mann, dessen gleichmütiger Gesichtsausdruck seine unbeirrbare Effizienz und seinen Perfektionsdrang kaum ahnen ließ. Die grauen Augen, sonst ein Spiegel seines aus langer Erfahrung gewonnenen Selbstvertrauens

und seiner Besonnenheit, blickten beunruhigt und unstet in die Welt.

»Sie sehen ziemlich fertig aus«, bemerkte Susan.

»Allerdings«, seufzte Strathmore. »Es ist mir schon mal besser gegangen.«

Das kann man aber laut sagen!, dachte Susan. Strathmore sah schlechter aus, als sie ihn je erlebt hatte. Sein dünner werdendes Haar war zerwühlt. Ungeachtet der voll aufgedrehten Klimaanlage standen Schweißperlen auf seiner Stirn. Er wirkte, als hätte er in den Kleidern

geschlafen.

Strathmore saß an einem modernen Schreibtisch mit zwei in die Platte eingelassenen Keypads und einem Monitor. Der mit Computerausdrucken übersäte Tisch mitten in dem von den vorgezogenen Vorhängen abgeschirmten Raum sah aus wie ein

futuristisches Cockpit.

»Harte Woche?«, erkundigte sich Susan.


»Das Übliche«, gab Strathmore achselzuckend zurück. »Die EFF macht mir wieder einmal mit ihrem ewigen Datenschutz die Hölle

heiß.«

Susan lachte verständnisvoll. Die Electronic Frontier Foundation, oder kurz EFF, war eine weltweite Vereinigung von Computernutzern, die sich zu einer machtvollen Bürgerrechtslobby zusammengeschlossen hatten. Sie trat für das Recht auf freie Meinungsäußerung im Internet ein und versuchte der Öffentlichkeit die Gefahren einer durch die elektronischen Medien beherrschten Welt nahe zu bringen. Die EFF befand sich auf einem Dauerkreuzzug gegen die »in orwellsche Dimensionen ausufernden Abhörmöglichkeiten des Regierungsapparats«, speziell der NSA. Sie

war ein Pfahl in Strathmores Fleisch.

»Klingt eigentlich, als wäre alles wie immer«, sagte Susan. »Worin besteht denn nun der schlimme Notfall, für den Sie mich aus der

Wanne geholt haben?«

Strathmore saß regungslos da. Geistesabwesend befingerte er den in die Schreibtischplatte eingelassenen Trackball. Nach längerem Schweigen sah er Susan fest in die Augen. »Wie lange hat der TRANSLTR Ihres Wissens bei seinem bisher längsten Recheneinsatz

an einem Code herumgerechnet?«

Strathmores Frage traf Susan völlig unvorbereitet. Sie konnte sich nicht vorstellen, worauf der Commander hinauswollte. Dafür hat er

dich antreten lassen?

»Nun...« Sie zögerte. »Vor ein paar Wochen hat COMINT eine Mail abgefangen, für die wir ungefähr eine Stunde gebraucht haben.

Aber sie hatte auch einen abartig langen Schlüssel...«

»Eine Stunde?«, grunzte Strathmore. »Und die Testprogramme für die Rechnerleistung, die bei uns gelaufen sind?«


Susan zuckte die Achseln. »Wenn Diagnoseprogramme mitlaufen, dauert es natürlich etwas länger.«

» Wie viel länger?«

Susan hatte immer noch keine Ahnung, in welche Richtung Strathmores Fragen zielten. »Im vergangenen März, Sir, habe ich einen Algorithmus mit einem segmentierten Mega-Bit-Schlüssel getestet. Dazu illegitime Schleifenfunktionen, Zellularautomaten, eben alles, was einem Rechner Mühe macht. Der TRANSLTR hat es

trotzdem geschafft.«

»Und wie lang hat er gebraucht?« »Drei Stunden.«

Strathmore hob die Brauen. »Drei Stunden? So lang?«

Etwas befremdet runzelte Susan die Stirn. Während der letzten drei Jahre war die Feinabstimmung des geheimsten Computers der Welt ihr Arbeitsgebiet gewesen. Der größte Teil der Programmierung, die ihn so schnell gemacht hatte, war auf ihr Konto gegangen. Ein Schlüssel mit einer Million Bit war wohl kaum ein realistisches

Szenario.

»Okay«, sagte Strathmore. »Bisher hat also selbst unter extremen Bedingungen kein Code länger als drei Stunden im TRANSLTR

überlebt?«

»So ist es.«

Strathmore machte eine Pause, als befürchte er, etwas preiszugeben, das er später bedauern könnte. Schließlich hob er den


Blick. »Unser TRANSLTR ist auf etwas gestoßen...« Er verstummte.

Susan wartete ab. »Er rechnet schon länger als drei Stunden?«, erkundigte sie sich schließlich.

Strathmore nickte.

Susan schien sich keine Sorgen zu machen. »Vielleicht ein neues Diagnoseprogramm? Etwas von der System-Security-Abteilung?«

Strathmore schüttelte den Kopf. »Eine Datei von draußen.«

Susan wartete auf die Pointe, aber es kam keine. »Eine Datei von draußen? Das ist doch nicht Ihr Ernst!«

»Ich wünschte, es wäre so. Ich habe sie gestern Nacht gegen halb elf Uhr eingegeben. Die Dechiffrierung läuft immer noch.«

Susan blieb der Mund offen stehen. Sie schaute auf ihre Uhr und dann wieder zu Strathmore. »Sie läuft immer noch? Seit über

fünfzehn Stunden?«

Strathmore beugte sich vor und drehte Susan den Monitor zu. Der Bildschirm war schwarz bis auf ein kleines gelbes Textfenster, das in

der Mitte blinkte.

BISHERIGE RECHENZEIT: 15:09:33 VORAUSSICHTLICHE RECHENZEIT:


Susan starrte auf den Bildschirm. Sie konnte nur noch staunen. Der TRANSLTR arbeitete schon seit über fünfzehn Stunden an ein und demselben Code, und ein Ende war noch gar nicht abzusehen? Sie wusste, dass seine Prozessoren jede Sekunde dreißig Millionen mögliche Schlüsselkombinationen durchprobierten – das machte pro Stunde über hundert Milliarden! Wenn der TRANSLTR immer noch mit dem Durchzählen beschäftigt war, musste der Schlüssel gigantisch sein – über zwanzig Milliarden Stellen lang. Es war der absolute

Wahnsinn.

»Das ist unmöglich!«, sagte sie entschieden. »Haben Sie schon nach Fehlermeldungen gesucht? Vielleicht hat der TRANSLTR eine

kleine Macke und...«

»Er läuft absolut sauber.«

»Aber dann muss der Schlüssel riesig sein!«

Strathmore schüttelte den Kopf. »Es ist ein handelsüblicher Schlüssel. Ein Vierundsechzig-Bit-Key, nehme ich an.«

Susan schaute durch einen Spalt in den Vorhängen hinunter zum TRANSLTR. Diese Maschine konnte einen Vierundsechzig-Bit-Schlüssel erfahrungsgemäß in weniger als zehn Minuten knacken. »Es

muss doch eine Erklärung geben!«

Strathmore nickte. »Die gibt es auch. Aber sie wird Ihnen nicht gefallen.«

Susan sah ihn unbehaglich an. »Ist mit dem TRANSLTR etwas nicht in Ordnung?«

»Er funktioniert tadellos.«


»Haben wir uns einen Virus eingefangen?«

Strathmore verneinte kopfschüttelnd. »Keinesfalls. Lassen Sie mich erklären.«

Susan war sprachlos. Der TRANSLTR hatte es noch nie mit einem Code zu tun bekommen, den er nicht in weniger als einer Stunde entschlüsselt hätte. Normalerweise spie Strathmores Druckermodul den Klartext schon innerhalb von Minuten aus! Sie warf einen Blick auf den Hochgeschwindigkeitsdrucker hinter Strathmores

Schreibtisch. Der Ausgabeschacht war leer.

»Susan«, begann Strathmore ruhig, »Sie werden mir wahrscheinlich nicht glauben, aber bitte hören Sie mir jetzt eine Minute lang zu.« Er kaute auf seiner Unterlippe herum. »Dieser Code, an dem der TRANSLTR jetzt arbeitet – er ist einzigartig. Er ist mit nichts von dem zu vergleichen, was uns bisher begegnet ist.« Strathmore zögerte, als ob der nächste Satz nicht über seine Lippen

kommen wollte. »Dieser Code ist nicht dechiffrierbar.«

Susan schaute ihn entgeistert an. Fast hätte sie laut losgeprustet. Nicht dechiffrierbar? Was sollte das denn heißen? Es gab keinen nicht dechiffrierbaren Code – bei dem einen dauerte es eben etwas länger als beim anderen, aber knacken konnte man sie alle. Der TRANSLTR musste früher oder später den richtigen Schlüssel erraten, das garantierte ein mathematisches Gesetz! »Habe ich Sie richtig

verstanden?«

»Dieser Code ist unentschlüsselbar«, wiederholte Strathmore ungerührt.

Unentschlüsselbar? Susan konnte kaum glauben, dass einem Mann mit siebenundzwanzigjähriger Berufserfahrung in der Analyse von Verschlüsselungsverfahren ein solches Wort über die Lippen

gekommen war.


»Unentschlüsselbar, Sir? Und was ist mit dem Bergofsky-Prinzip?«

Susan hatte schon ganz zu Anfang ihrer Karriere mit dem Bergofsky-Prinzip, dem Grundstein der Brute-Force-Technologie, Bekanntschaft gemacht. Schließlich hatte es Strathmore zum Bau des TRANSLTR inspiriert! Es sagte aus, dass ein Computer mit mathematischer Sicherheit den richtigen Schlüssel finden musste, wenn er nur eine ausreichende Zahl von Möglichkeiten durchprobierte. Die Sicherheit eines Code-Schlüssels bestand nicht in seiner Unauffindbarkeit, sondern darin, dass die meisten Leute weder

die Zeit noch die Mittel hatten, ihn zu suchen.

Strathmore schüttelte den Kopf. »Bei diesem Code ist es anders.«

»Inwiefern anders?« Susan musterte Strathmore verstohlen. Ein unentschlüsselbarer Code ist mathematisch unmöglich. Das muss er

doch wissen!

Strathmores Hand glitt über seinen schweißnassen Schädel. »Dieser Code basiert auf einem völlig neuen Algorithmus. So etwas

ist uns noch nie begegnet.«

Susans Skepsis wuchs. Verschlüsselungs-Algorithmen waren lediglich mathematische Formeln, Rezepte zur Verwandlung von Klartext in chiffrierten Text. Mathematiker und Programmierer entwickelten täglich neue Algorithmen. Sie waren zu Hunderten auf dem Markt – PGP, Diffie-Hellman, ZIP, IDEA, El Gamal. Der TRANSLTR knackte die mit ihrer Hilfe erzeugten Codes Tag für Tag ohne Probleme. Für diesen Megarechner sahen alle Codes gleich aus,

egal, mit welchem Algorithmus sie geschrieben waren.

»Das verstehe ich nicht«, wandte Susan ein. »Wir reden hier nicht vom Aufdröseln einer komplexen mathematischen Funktion, wir reden hier von der Brute-Force-Methode. PGP, Lucifer, DSA — darauf kommt es doch gar nicht an! Der Algorithmus generiert einen


Schlüssel, den er für unentschlüsselbar hält, und unser TRANSLTR probiert einfach so lange sämtliche Kombinationen

durch, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hat!«

Strathmore antwortete mit der schwer zu erschütternden Geduld eines guten Pädagogen. »Richtig, Susan, unser TRANSLTR wird den Schlüssel immer finden – egal, wie groß er ist.« Strathmore machte

eine bedeutungsschwere Pause. »Es sei denn...«

Susan wollte etwas einwenden, aber es war klar, dass Strathmore gleich die Bombe platzen lassen würde. Es sei denn... was?

»Es sei denn, er merkt nicht, wann er es geschafft hat.«

»Wie bitte?« Susan wäre fast vom Stuhl gefallen.

»Ja, der Computer errät zwar den richtigen Schlüssel, rechnet dann aber trotzdem weiter, weil er nicht erkennt, dass er ihn schon hat.« Strathmore machte ein undurchdringliches Gesicht. »Ich glaube,

dieser Algorithmus hat einen rotierenden Klartext.«

Susan blieb wieder einmal der Mund offen stehen.

Die Idee eines rotierenden Klartexts war zum ersten Mal 1987 in einem obskuren Artikel des ungarischen Mathematikers Josef Harne aufgetaucht. Da die nach der Brute-Force-Methode arbeitenden Computer den Text auf identifizierbare Wortmuster durchsuchten, mittels deren sie ihn Stück für Stück in Klartext zurückverwandeln konnten, schlug Harne einen Verschlüsselungs-Algorithmus vor, der zusätzlich zur üblichen Verschlüsselung bereits verschlüsselte Textbestandteile längs einer Zeitvariablen verschob. In der Theorie bewirkte diese kontinuierliche Mutation, dass der angreifende Computer nie auf erkennbare Muster stieß, anhand deren er feststellen konnte, wann er den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Die Idee erinnerte ein wenig an die Kolonisierung des Mars – als intellektuelles


Planspiel durchaus denkbar, aber praktisch noch weit außerhalb jeglicher Möglichkeiten.

»Wo haben Sie dieses Programm denn her?«, wollte Susan wissen.

»Ein kommerzieller Programmierer hat es geschrieben.«

»Wie bitte?« Susan war völlig perplex. »In unserem Laden arbeiten die besten Programmierer der Welt! Und keiner hat es bisher auch nur im Ansatz geschafft, ein Programm mit rotierender Klartextfunktion zu entwickeln. Wollen Sie mir etwa erzählen,

irgendein kleiner Hacker mit einem PC hätte es zusammengebastelt?«

Strathmore senkte die Stimme, als gälte es, Susan zu beruhigen. »Einen kleinen Hacker würde ich diesen Urheber nicht unbedingt

nennen.«

Susan hörte ihm gar nicht zu. Sie war überzeugt, dass es eine andere Erklärung geben musste: eine Macke im Rechner, einen Virus.

Alles war wahrscheinlicher als ein nicht dechiffrierbarer Code!

Strathmore sah sie bedeutungsvoll an. »Diesen Algorithmus hat einer der brillantesten Kryptographien aller Zeiten entwickelt.«

Susans Zweifel wurden noch größer. Die brillantesten Kryptographen aller Zeiten saßen in ihrer Abteilung! Wenn einer von ihnen einen solchen Algorithmus entwickelt hätte, wäre sie längst im

Bilde.

»Und wer?«, wollte sie wissen.

»Ich denke, Sie werden von alleine darauf kommen«, sagte Strathmore. »Es handelt sich um jemand, der uns nicht besonders


wohl gesinnt ist.«

»Na, wer soll denn da noch übrig bleiben?«, sagte sie sarkastisch.

»Er hat am TRANSLTR-Projekt mitgearbeitet, aber sich nicht an die Regeln gehalten. Er hätte um ein Haar einen nachrichtendienstlichen Super-GAU losgetreten. Ich habe ihn in die

Wüste schicken müssen.«

Susans anfangs noch ausdrucksloses Gesicht wurde schneeweiß. »Oh, mein Gott...«

Strathmore nickte. »Er hat sich schon das ganze vergangene Jahr gebrüstet, er hätte einen Algorithmus in der Mache, dem mit Brute-Force nicht beizukommen sei.«

»A... aber«, stammelte Susan, »ich habe immer gedacht, das wären alles nur Hirngespinste. Dann hat er es tatsächlich geschafft?«

»Das hat er. Unser guter Ensei Tankado hat sich als der absolut unschlagbare, ultimative Code-Programmierer erwiesen.«

Susan schwieg eine beträchtliche Zeit. »Aber... das bedeutet doch...«

Strathmore sah ihr tief in die Augen. »Jawohl, Susan. Tankado hat unseren TRANSLTR soeben zum alten Eisen gemacht.«


KAPITEL 6

Auch wenn Ensei Tankado zur Zeit des Zweiten Weltkriegs noch nicht geboren war, hatte er sich eingehend mit diesem Thema beschäftigt – vor allem mit dem Ereignis, in dem der Krieg kulminiert war: die Atombombe, in deren Explosionsblitz hunderttausende seiner

Landsleute zu Asche verbrannt waren.

Hiroschima, sechster August 1945, acht Uhr fünfzehn: ein schändlicher Akt der Zerstörung, die sinnlose Machtdemonstration eines Landes, das den Krieg längst gewonnen hatte. Ensei Tankado hätte sich mit alldem abfinden können, aber nicht damit, dass die Bombe ihn der Möglichkeit beraubt hatte, seine Mutter kennen zu lernen. Sie war bei seiner Geburt gestorben – an einer Komplikation, die der Verstrahlung zuzuschreiben war, die sie sich viele Jahre zuvor

zugezogen hatte.

Im Jahre 1945, Ensei war noch nicht geboren, hatte sich seine Mutter wie viele ihrer Freundinnen und Bekannten bei einem der Hilfszentren für die verbrannten Strahlenopfer von Hiroschima als freiwillige Helferin gemeldet. Dort wurde sie selbst zur Hibakusha, zur Verstrahlten. Neunzehn Jahre später lag die nunmehr Sechsunddreißigjährige mit unstillbaren inneren Blutungen im Kreißsaal. Sie wusste, dass sie dem Tod geweiht war. Aber sie wusste nicht, dass ihr der vorzeitige Tod das ultimative Entsetzen ersparen

würde: Ihr einziges Kind war missgebildet.

Enseis Vater schaute seinen Sohn kein einziges Mal an. Vom

Verlust seiner Frau aus der Fassung gebracht und enttäuscht und beschämt über die Ankunft eines Sohnes, der nach Auskunft der Schwestern missgebildet war und vermutlich die Nacht nicht überleben würde, verschwand er aus der Klinik und ward nie mehr gesehen. Ensei Tankado kam in ein Waisenhaus.

Jede Nacht betrachtete der kleine Ensei seine verkrüppelten Fingerchen, mit denen er mühsam seine Schmusepuppe hielt. Er schwor Rache gegen das Land, das ihm die Mutter geraubt und seinen


Vater dazu getrieben hatte, ihn aus schamvoller Verzweiflung zu verstoßen — ohne zu ahnen, dass das Schicksal in absehbarer Zeit

intervenieren würde.

Im Februar vor Enseis zwölftem Geburtstag meldete sich ein Computerhersteller bei seinen Pflegeeltern und erkundigte sich, ob ihr Pflegekind an einem Test von speziellen Computertastaturen teilnehmen dürfe, die diese Firma für behinderte Kinder entwickelt

hatte. Die Pflegeeltern stimmten zu.

Ensei Tankado hatte noch nie einen Computer gesehen, aber er schien instinktiv zu wissen, wie man mit diesem Gerät umging. Es öffnete ihm den Zugang zu einer Welt, die er sich nie erträumt hatte. Binnen kürzester Zeit wurde der Computer sein Leben. Schon als Heranwachsender verdiente er sich mit Computerunterricht etwas Geld und bekam schließlich ein Stipendium der Doshisha-Universität. Bald war Ensei Tankado in ganz Tokio als fugusha kisai bekannt –

das verkrüppelte Genie.

Im Lauf der Zeit erfuhr Ensei aus seinen Büchern auch vom japanischen Angriff auf Pearl Harbor und den japanischen Kriegsverbrechen. Sein Hass auf Amerika verlor sich allmählich. Er vergaß den Racheschwur seiner Kindheit und wurde überzeugter Buddhist. Der einzige Weg zur Erleuchtung führte über die

Vergebung.

Mit zwanzig war Ensei Tankado in Programmiererkreisen so etwas

wie eine Kultfigur geworden. Die Firma IBM bot ihm eine Stellung in Texas samt dem erforderlichen Arbeitsvisum an. Ensei sagte mit Begeisterung zu. Drei Jahre darauf hatte er bei IBM aufgehört, lebte in New York und entwickelte eigene Software. Von der neuen Welle der Public-Key-Chiffrierung nach oben getragen, verdiente er mit seinen Chiffrierprogrammen ein Vermögen.

Wie viele andere Spitzenprogrammierer von Verschlüsselungs­Algorithmen wurde auch Tankado von der NSA umworben. Die


Ironie der Situation entging ihm nicht, bot man ihm doch an, im Herzen des Staatswesens eben jenes Landes zu arbeiten, dem er einst Rache geschworen hatte. Er beschloss, sich dem Bewerbungsgespräch zu stellen. Seine Zweifel lösten sich in Wohlgefallen auf, als er auf Commander Strathmore traf. Sie unterhielten sich freimütig über Tankados Hintergrund, seine mögliche feindselige Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten und über seine Pläne für die Zukunft. Ensei Tankado unterzog sich einem Lügendetektor-Test und einer rigorosen fünfwöchigen psychologischen Überprüfung. Er nahm alle Hürden. Sein Hass war der Hingabe an Buddha gewichen. Vier Monate später begann er in der kryptographischen Abteilung der National Security

Agency zu arbeiten.

Ungeachtet seines großzügigen Gehalts kam Ensei auf einem klapprigen Moped zum Dienst und nahm mittags am Schreibtisch ein karges Mahl ein, anstatt mit dem Rest der Abteilung die Feinschmeckerküche des Betriebskasinos zu genießen. Seine Kollegen verehrten ihn. Er war brillant – der kreativste Programmierer, den sie je erlebt hatten. Man schätzte ihn als freundlichen, ruhigen und aufrichtigen Mitarbeiter, seine anständige Gesinnung war allseits über jeden Zweifel erhaben. Moralische Integrität war für ihn ein unverzichtbarer Wert. Der Schock, den seine Entlassung aus der NSA

ausgelöst hatte, war enorm gewesen.

Wie alle anderen Mitarbeiter der Crypto-Abteilung hatte auch Ensei Tankado am TRANSLTR – Projekt in dem Glauben mitgewirkt, dass der Großrechner, sollte sein Bau gelingen, nur bei Vorliegen einer Genehmigung durch das Justizministerium zur Dechiffrierung von E-Mails herangezogen werden dürfe. Der Einsatz des TRANSLTR der NSA sollte auf ganz ähnliche Weise reguliert werden wie die Telefon-Abhörpraxis des FBI, das auch in jedem einzelnen Fall die Erlaubnis eines Bundesgerichts einzuholen hatte. Obendrein sollten dem TRANSLTR Passwörter einprogrammiert werden, die unter Verschluss des Bundesschatzamtes und des Justizministeriums zu halten waren, damit bestimmte Dateien ausschließlich durch diese Behörden eingesehen werden konnten. So sollte verhindert werden, dass die NSA unterschiedslos Einblick in vertrauliche Mitteilungen

gesetzestreuer Bürger nehmen konnte.


Als die entsprechenden Programmierschritte vorgenommen werden sollten, hieß es auf einmal, man habe den Plan ändern müssen. Da die NSA in Fällen der Terrorismusbekämpfung häufig unter enormen Zeitdruck geriet, sollte der TRANSLTR ein frei verfügbares Dechiffriergerät bleiben, über dessen täglichen Einsatz einzig und

allein die NSA zu entscheiden hatte.

Ensei Tankado war empört – denn das bedeutete, dass die NSA jedermanns E-Mails öffnen und ohne Wissen des Absenders darin herumschnüffeln konnte. Genauso gut hätte man in jedem Telefon der Welt eine Wanze installieren können. Strathmore versuchte beharrlich, Tankado den TRANSLTR als Instrument der Strafverfolgung schmackhaft zu machen, aber es war zwecklos. Tankado war nicht davon abzubringen, dass hier eine massive Verletzung von Bürger- und Menschenrechten vorlag. Er kündigte fristlos und setzte sich schon innerhalb der nächsten Stunden über den ungeschriebenen Ehrenkodex der NSA hinweg, indem er mit der Electronic Frontier Foundation Kontakt aufzunehmen versuchte. Tankado war im Begriff, die Computernutzer der ganzen Welt mit der Enthüllung aufzurütteln, dass die amerikanische Regierung die Öffentlichkeit mit einer geheimen Dechiffriermaschine auf die niederträchtigste Weise hinters Licht führe. Der NSA blieb keine

andere Wahl, als ihn mundtot zu machen.

Tankados Schicksal fand in Online-Newsgroups ein ausgiebiges Echo. Es wurde für ihn zu einer fatalen öffentlichen Blamage. Die NSA hatte befürchtet, dass es ihm gelingen könnte, die Öffentlichkeit von der Existenz des angeblich gescheiterten TRANSLTR zu überzeugen. Die Schadensbegrenzungs-Experten der NSA hatten entgegen Strathmores ausdrücklichem Wunsch Gerüchte in Umlauf gesetzt, die Tankados Glaubwürdigkeit gründlich erschütterten, worauf er in Fachkreisen kein Bein mehr auf den Boden bekam. Niemand wollte etwas mit einem der Spionage verdächtigten Krüppel zu tun haben, schon gar nicht, wenn er sich mit absurden Behauptungen über eine geheime US-Dechiffriermaschine die Freiheit

zu erkaufen suchte.

Das Merkwürdigste an der ganzen Sache war, dass Tankado für die


gegen ihn in Gang gesetzte Verleumdungskampagne Verständnis aufzubringen schien. So lief das eben im nachrichtendienstlichen Milieu. Tankados Reaktion ließ weder Zorn noch Wut erkennen, nur eiserne Entschlossenheit. Als der Sicherheitsdienst ihn abführte, hatte er Strathmore mit stoischer Ruhe eine letzte Warnung zukommen

lassen.

»Jedermann hat ein Recht auf Geheimnisse«, hatte Tankado erklärt. »Der Tag wird kommen, an dem ich dafür sorge, dass es dabei

bleibt.«


KAPITEL 7

In Susans Hirn ging es drunter und drüber – Ensei Tankado hat ein Programm geschrieben, das unentschlüsselbare Codes erzeugt? Die

Vorstellung wollte ihr einfach nicht in den Kopf.

»Er hat es Diabolus genannt«, sagte Strathmore. »Es ist eine Art digitale Festung, das Nonplusultra der Spionageabwehr. Wenn dieses Programm auf den Markt kommt, kann jeder Volksschüler mit einem Modem verschlüsselte Nachrichten verschicken, an denen die NSA

sich die Zähne ausbeißt. Dann können wir einpacken.«

Susans Überlegungen kreisten um etwas ganz anderes als die politischen Implikationen von Diabolus. Sie war immer noch nicht bereit zu glauben, dass ein solches Programm überhaupt möglich war. Sie hatte ihr ganzes Leben lang Codes dechiffriert, stets in der festen Überzeugung, dass es den ultimativen Code nicht geben konnte. Jeder Code kann geknackt werden – so verlangt es das Bergofsky-Prinzip!

Sie kam sich vor wie eine Atheistin, der der liebe Gott erschienen war.

»Wenn dieser Code auf den Markt kommt«, flüsterte sie, »ist die Kryptographie als Wissenschaft erledigt.«

Strathmore nickte. »Mag sein, aber das ist noch unser geringstes Problem.«

»Können wir Tankado nicht mit Geld locken? Ich weiß, dass er Sie hasst – aber könnte man ihm nicht ein paar Millionen Dollar anbieten,

damit er das Programm nicht auf den Markt bringt?«

Strathmore lachte auf. »Ein paar Millionen Dollar? Wissen Sie überhaupt, was so ein Programm wert ist? Die Regierungen der ganzen Welt werden sich gegenseitig überbieten! Stellen Sie sich doch mal vor, wir müssten unserem Präsidenten sagen, dass wir zwar immer noch in den Dateien von Terroristen herumschnüffeln, aber


leider könnten wir ihre Nachrichten nicht mehr lesen! Es geht hier nicht bloß um die NSA, es geht um unser gesamtes nachrichtendienstliches System! Unser Laden ist der Lieferant für alle, das FBI, die CIA, die DEA! Sie werden alle in den Blindflug übergehen müssen. Man wird die Rauschgiftlieferungen der Drogenkartelle nicht mehr verfolgen können, die Steuerbehörde wird nur noch hilflos zusehen, wenn die großen Konzerne ohne einen Schnipsel Papier zu hinterlassen ihre Gewinne verschieben, und Terroristen werden demnächst völlig ungestört per Internet ein

Schwätzchen halten – in kürzester Frist hätten wir das totale Chaos!«

»Für die EFF wird das ein Festtag«, sagte Susan, die blass geworden war.

»Die EFF hat keinen Schimmer, was wir hier eigentlich leisten«, schimpfte Strathmore ärgerlich. »Die würden anders reden, wenn sie wüssten, wie oft wir einen Angriff von Terrororganisationen nur deshalb vereiteln konnten, weil wir die Codes der Terroristen

entziffern können!«

Susan sah die Sache genauso, aber sie kannte auch die Realitäten. Die EFF würde niemals erfahren, wie wichtig der TRANSLTR war. Dieser Computer hatte Dutzende von Angriffen zum Scheitern gebracht, aber das waren Informationen der höchsten Geheimhaltungsstufe, die auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen durften. Die Begründung war einfach. Die Regierung hätte mit der Veröffentlichung der Wahrheit eine Massenhysterie riskiert. Kein Mensch konnte vorhersagen, wie die Bevölkerung reagieren würde, wenn herauskam, dass die Vereinigten Staaten in der jüngsten Vergangenheit bereits zwei Mal nur knapp einem Nuklearanschlag

durch fundamentalistische Gruppen entgangen waren.

Nuklearanschläge waren nicht die einzige Bedrohung. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der TRANSLTR einen raffiniert eingefädelten Terroranschlag vereitelt. Eine regierungsfeindliche Organisation hatte einen Plan mit der Bezeichnung »Sherwood Forest« entwickelt, der zur »Umverteilung des Reichtums« gegen die New Yorker Börse ins


Werk gesetzt worden war. Im Verlauf von sechs Tagen hatten Mitglieder der Organisation sieben Behälter mit Magnetbomben in den Gebäuden rings um die Börse platziert. Bei der relativ harmlosen Explosion dieser Behälter entsteht eine Welle von außerordentlich starken Magnetfeldern. Eine exakt zeitgleiche Explosion von sieben gut platzierten Bomben hätte ein Magnetfeld von solcher Intensität hervorgerufen, dass in der Börse sämtliche magnetischen Datenträger gelöscht worden wären – die Computerfestplatten, die riesigen MOD­Speicher, die Speicherbänder und sogar ganz normale Disketten. Sämtliche Belege, aus denen hervorging, wem was gehört, wären

unwiederbringlich vernichtet worden.

Da die erforderliche absolut zeitgleiche Detonation eine haarfeine Koordination zur Voraussetzung hatte, waren die Magnetbomben per Internet miteinander vernetzt. Die eingebauten Uhren der Magnetbomben tauschten während des zweitägigen Countdowns zu ihrer Synchronisation endlose Datenströme aus. Die NSA registrierte zwar die Datenimpulse als Netzwerkanomalie, interpretierte sie aber als einen harmlosen Austausch von Datenmüll und maß dem Vorgang zunächst keinerlei Bedeutung bei. Nach der Dechiffrierung der Datenströme durch den TRANSLTR erkannten die Analysten jedoch sofort einen über das Internet synchronisierten Countdown. Erst knapp drei Stunden vor der geplanten Explosion gelang es, die

Magnetbomben zu lokalisieren und unschädlich zu machen.

Susan wusste, dass die NSA ohne ihren TRANSLTR gegen progressiven elektronischen Terrorismus hilflos war. Sie warf einen Blick auf den Kontrollmonitor. Er zeigte inzwischen eine Rechenzeit von knapp sechzehn Stunden an. Selbst wenn Tankados Datei jetzt, in diesem Moment, geknackt wurde, war die NSA am Ende, denn es hätte die Crypto-Abteilung auf die Entschlüsselung von noch nicht einmal zwei Dateien pro Tag zurückgeworfen. Schon bei der gegenwärtigen Rate von einhundertfünfzig Dechiffrierungen pro Tag war ein beträchtlicher Rückstau unentschlüsselter Dateien

aufgelaufen.

»Tankado hat mich letzten Monat angerufen«, sagte Strathmore.


Seine Bemerkung riss Susan aus ihren Gedanken. Sie blickte auf. »Tankado hat mit Ihnen telefoniert?« Strathmore nickte. »Er wollte mich warnen.«

»Warnen? Er hasst Sie doch!«

»Er hat mich angerufen und verkündet, er sei drauf und dran, einen Algorithmus zur Erzeugung von unentschlüsselbaren Codes zu

perfektionieren. Ich habe es ihm damals nicht abgenommen.«

»Aber wozu sollte er Sie überhaupt einweihen?«, fragte Susan. »Wollte er Ihnen den Algorithmus verkaufen?«

»Nein, es war eine Erpressung.«

Susan sah auf einmal klar. »Natürlich! Er wollte, dass Sie seinen Namen wieder salonfähig machen!«, sagte sie bewundernd.

»Keineswegs. Er wollte den TRANSLTR.«

»Den TRANSLTR?«

»Ja. Er hat von mir verlangt, öffentlich zu beichten, dass wir diese Maschine haben. Er hat gesagt, wenn wir zugeben, dass wir jedermanns E-Mails lesen können, würde er sein Programm

vernichten.«

Susan sah ihn skeptisch an.

Strathmore zuckte die Achseln. »Wie auch immer, jetzt ist es zu


spät. Er hat Diabolus auf seiner Website ins Internet gestellt. Jeder kann es sich herunterladen, auf der ganzen Welt.«

Susan wurde schneeweiß. »Er hat was?«

»Nur ein PR-Manöver, um auf sich aufmerksam zu machen. Wir brauchen uns darüber keine grauen Haare wachsen zu lassen. Die Version im Internet ist verschlüsselt. Die Leute können sie zwar herunterladen, aber nicht aufmachen. Das ist schon raffiniert! Der

Quellcode für Diabolus ist verschlüsselt.«

Susan staunte. »Genial! Jeder kann das Programm haben, aber keiner kann es öffnen.«

»Genau«, sagte Strathmore. »Es ist die Möhre, die Tankado allen vor der Nase baumeln lässt.«

»Haben Sie den Algorithmus schon gesehen?«

Der Commander sah sie überrascht an. »Natürlich nicht. Ich sagte doch, er ist verschlüsselt.«

Susan gab seinen Blick nicht weniger überrascht zurück. »Aber haben wir nicht den TRANSLTR? Warum entschlüsseln wir den Algorithmus nicht einfach?« Ein zweiter Blick in Strathmores Gesicht belehrte sie, dass sich die Spielregeln geändert hatten. »Oh, mein Gott!«, stöhnte sie und hatte auf einmal alles begriffen. »Diabolus ist

mit sich selbst verschlüsselt!«

»Bingo«, sagte Strathmore trocken und nickte.

»Wie bei Biggleman's Safe«, flüsterte Susan beeindruckt.


Strathmore nickte. Biggleman's Safe war ein hypothetisches kryptographisches Szenario, bei dem ein Tresorfabrikant Pläne für einen einbruchsicheren Geldschrank entwirft. Um die Pläne geheim zu halten, baut er den Safe und schließt die Baupläne darin ein. Nichts anderes hatte Tankado mit Diabolus getan. Er hatte die Pläne durch die Verschlüsselung mit der in eben diesen Plänen niedergelegten

Formel jedem Zugriff entzogen.

»Und die Datei ist jetzt im TRANSLTR?«, wollte Susan wissen.

»Wie alle anderen Interessenten habe auch ich sie von Tankados Website heruntergeladen. Die NSA ist jetzt stolze Besitzerin des

Algorithmus von Diabolus, kann aber leider nichts damit anfangen.«

Susan konnte nicht umhin, Tankados Schlauheit zu bewundern. Ohne seinen Algorithmus preiszugeben, hatte er der NSA den Beweis

geliefert, dass er nicht entschlüsselbar war!

Strathmore reichte Susan die Übersetzung eines Zeitungsausschnitts aus der »Nikkei Schinbun«, dem japanischen Äquivalent des »Wall Street Journal«, wo geschrieben stand, der japanische Programmierer Ensei Tankado habe eine mathematische Formel entwickelt, mit der er nach eigenen Angaben unentschlüsselbare Codes schreiben könne. Die Formel trage die Bezeichnung Diabolus und stehe über das Internet jedermann zur Begutachtung zur Verfügung. Sie werde von ihrem Entwickler gegen Höchstgebot versteigert. Im Folgenden wurde noch ausgeführt, in Japan rege sich bereits großes Interesse, einige amerikanische Softwarefirmen hätten ebenfalls von Diabolus Notiz genommen, Tankados Behauptungen jedoch als unseriös abgetan – ähnlich dem Ansinnen, Blei in Gold zu verwandeln. Sie bezeichneten das Gerede von der Formel als eine Ente, die man nicht weiter ernst zu nehmen

brauche.

Susan sah auf. »Eine Versteigerung?«


Strathmore nickte. »Inzwischen hat sich jede japanische Software­Firma eine verschlüsselte Kopie von Diabolus heruntergeladen, und alle versuchen, sie aufzubekommen. Mit jeder Sekunde, in der sie es

nicht schaffen, steigt das Gebot.«

»Das ist doch absurd«, wandte Susan heftig ein. »Alle neueren chiffrierten Dateien sind unentschlüsselbar, sofern man keinen TRANSLTR hat. Diese Firmen könnten Diabolus auch dann nicht knacken, wenn es lediglich ein üblicher marktgängiger Algorithmus

wäre.«

»Aber ein brillanter Marketing-Schachzug ist es allemal«, meinte Strathmore. »Sehen Sie: Jedes ordentliche kugelsichere Glas kann eine Kugel aufhalten, egal, wer der Hersteller ist. Aber wenn eine Firma öffentlich dazu auffordert, ein Loch in ihr Glas zu schießen,

will es auf einmal jeder eigenhändig versuchen.«

»Und die Japaner glauben wirklich, dass Diabolus etwas ganz Besonderes ist? Besser als alles, was bisher auf den Markt gekommen

ist?«

»Ensei Tankado mag von allen geschnitten worden sein, aber schließlich weiß jeder, dass er ein Genie ist. In Hackerkreisen ist er praktisch eine Kultfigur. Wenn Tankado sagt, der Algorithmus sei

unentschlüsselbar, dann ist er unentschlüsselbar.«

»Aber soweit die Öffentlichkeit weiß, sind doch alle Algorithmen unentschlüsselbar!«

»Ja, schon...«, sagte Strathmore nachdenklich. »Im Moment jedenfalls.«

»Was soll denn das nun wieder heißen?«


Strathmore seufzte. »Vor zwanzig Jahren hat noch kein Mensch damit gerechnet, dass man jemals verschlüsselte Datenströme von zwölf Bit knacken könnte. Aber vergessen Sie nicht den technischen Fortschritt. Den gibt es immer. Von einem gewissen Punkt ab werden die Softwarehersteller davon ausgehen, dass es Computer wie den TRANSLTR gibt. Die Technologie entwickelt sich exponentiell. Irgendwann werden unsere derzeit auf dem Markt erhältlichen Chiffrierprogramme nicht mehr als sicher gelten. Man wird bessere Algorithmen brauchen, wenn man der Leistung der Computer von

morgen immer eine Nasenlänge voraus sein will.«

»Und Diabolus ist so ein Algorithmus?«

»Genau. Als Algorithmus, dem mit Brute-Force nicht beizukommen ist, kann das Programm nicht veralten, gleichgültig, wie stark die Entschlüsselungscomputer werden. Er würde über Nacht

zum Weltstandard.«

Susan holte tief Luft. »Gott steh uns bei«, flüsterte sie. »Aber können wir nicht mitbieten?«

Strathmore schüttelte den Kopf. »Tankado hat uns unsere Chance gegeben. Das hat er deutlich genug gesagt. Außerdem wäre es zu riskant. Wenn wir dabei erwischt werden, haben wir praktisch zugegeben, dass wir vor seinem Algorithmus Angst haben. Es käme nicht nur dem öffentlichen Eingeständnis gleich, dass wir den TRANSLTR haben, wir würden auch zugeben, dass Diabolus immun

ist.«

»Wie sieht denn unser Zeitrahmen aus?«

Strathmore runzelte die Stirn. »Tankado plant, das höchste Gebot morgen Mittag bekannt zu geben.«

Susan spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. »Und wie


geht es dann weiter?«

»Anschließend soll der Sieger den Private-Key erhalten.«

»Den Private-Key!«.

»Das gehört zu Tankados Spiel. Da inzwischen jeder sein Programm hat, versteigert er den Schlüssel, mit dem man es öffnen

kann.«

»Natürlich«, sagte Susan. Das Ganze war perfekt aufgezogen. Klar und einfach. Tankado hatte Diabolus verschlüsselt und besaß als Einziger den Private-Key, mit dem man das Programm öffnen konnte. Irgendwo da draußen — vielleicht auf einem Zettel in Tankados Hosentasche – befand sich ein vierundsechzigstelliger Schlüssel, der die Datenbeschaffung der amerikanischen Nachrichtendienste für

immer lahm legen konnte. Unfassbar.

Als Susan sich die Lage in allen Einzelheiten ausmalte, wurde ihr fast schlecht. Tankado würde der höchstbietenden Firma den Schlüssel aushändigen, mit dem sie die Diabolus-Datei öffnen konnte. Anschließend würde das Unternehmen den Algorithmus beispielsweise in einem manipulationsgeschützten Chip speichern, und innerhalb von maximal fünf Jahren würde jeder neue Computer bereits mit einem Diabolus-Chip ausgerüstet auf den Markt kommen. Und Diabolus konnte nie veralten. Diesem Programm war wegen seiner rotierenden Klartext-Funktion mit der Brute-Force-Methode nicht beizukommen. Es war der neue Verschlüsselungsstandard, auf immer und ewig. Bankiers, Börsenmakler, Terroristen und Spione: Alle saßen in einem Boot. Eine globalisierte Welt – ein globaler

Algorithmus.

Globale Anarchie.

»Was haben wir für Optionen?«, bohrte Susan. Sie war sich


durchaus im Klaren, dass in einer verzweifelten Lage auch verzweifelte Maßnahmen in Betracht gezogen werden mussten.

»Eliminieren können wir Tankado nicht«, sagte Strathmore, »falls Sie das meinen.«

Genau das hatte Susan gemeint. In den Jahren bei der NSA hatte sie von losen Verbindungen der Behörde zu Profikillern munkeln hören – angeheuerte Spezialisten, die für den Nachrichtendienst die

Schmutzarbeit erledigten.

Strathmore schüttelte den Kopf. »Tankado ist zu schlau, um uns diese Möglichkeit zu lassen.«

Susan fühlte sich seltsam erleichtert. »Hält er sich an einem geschützten Ort auf?«

»Nicht unbedingt.«

»Dann ist er wohl untergetaucht, oder?«

Strathmore hob die Schultern. »Tankado hat Japan verlassen. Er wollte die Angebote per Telefon verfolgen. Wir wissen aber, wo er

sich aufhält.«

»Und Sie werden nichts unternehmen?«

»Nein. Tankado hat sich eine Rückversicherung zugelegt. Er hat einem anonymen Dritten ein Duplikat des Schlüssels anvertraut... falls

ihm selbst etwas zustößt.«

Aber natürlich, dachte Susan, ein Schutzengel. »Und ich nehme an, wenn Tankado etwas zustößt, wird der geheimnisvolle Dritte den


Schlüssel verkaufen.«

»Schlimmer noch. Wenn Tankado etwas passiert, wird sein Partner den Key veröffentlichen. '. '.

»Er soll ihn veröffentlichen?«, sagte Susan verdutzt.

Strathmore nickte. »Ins Internet stellen, in der Zeitung abdrucken lassen, Plakate kleben, egal was – kurzum, er soll den Key

verschenken.«

Susan riss die Augen auf. »Kostenlose Downloads?«

»Genau. Tankado muss sich gedacht haben, wenn er tot ist, nützt ihm das Geld sowieso nichts mehr. Warum also der Welt nicht ein

kleines Abschiedsgeschenk machen?«

Eine lange Stille entstand. Susan holte tief Luft, als versuche sie,

die furchtbare Wahrheit zu verdauen. Ensei Tankado hat einen unknackbaren Algorithmus entwickelt und uns zu seinen Geiseln gemacht.

Sie erhob sich jäh. »Wir müssen mit Tankado Kontakt aufnehmen«, sagte sie entschlossen. »Es muss doch möglich sein, ihn zu überzeugen, dass er den Schlüssel keinesfalls veröffentlichen darf. Wir können ihm das Dreifache des höchsten Gebots bieten, seine

Rehabilitation! Alles!«

»Zu spät«, sagte Strathmore und sog tief die Luft ein. »Ensei Tankado lebt nicht mehr. Man hat ihn in Sevilla gegen Mittag Ortszeit

tot aufgefunden.«


KAPITEL 8

Der zweistrahlige Learjet 60 setzte auf der glühend heißen

Landebahn auf. Die andalusische Landschaft, die draußen vor dem Fenster vorbeiraste, verringerte ihre Geschwindigkeit allmählich zum

Kriechtempo.

»Mr Becker?«, knisterte es aus dem Bordlautsprecher. »Wir sind da.«

David Becker stand auf und streckte sich. Als er gewohnheitsmäßig nach dem Gepäckfach über seinem Kopf griff, fiel ihm ein, dass er gar kein Gepäck dabeihatte. Zum Packen war keine Zeit gewesen – aber wozu auch? Es war ja nur eine Stippvisite, hatte

man ihm versichert. Rein und gleich wieder raus.

Die Maschine rollte mit auslaufenden Triebwerken aus dem Sonnenglast in einen verlassenen Hangar am Ende der Landebahn. Der Pilot tauchte aus dem Cockpit auf und betätigte den Ausstieg. Becker goss den Rest seines Preiselbeersafts hinunter, deponierte das

Glas auf einer Theke und griff nach seinem Jackett.

Der Pilot stand schon draußen und half Becker auszusteigen. Er zog einen dicken braunen Umschlag aus der Fliegerkombination. »Das soll ich Ihnen geben«, sagte er und drückte Becker den Umschlag in die Hand. Vorne drauf standen mit blauem

Kugelschreiber flüchtig hingeworfen die Worte: Behalten Sie das Wechselgeld.

Becker griff hinein und ließ den dicken Packen Geldscheine durch die Finger gleiten. »Was ist... denn das?«

»Hiesiges Geld«, sagte der Pilot ungerührt.


»Das weiß ich selbst, aber es ist doch viel zu viel!«, stotterte Becker. »Ich brauche nur etwas Geld fürs Taxi.« Er überschlug den

Gegenwert der Scheine. »Das sind mindestens zehntausend Dollar!«

»Ich habe meine Befehle, Sir.« Der Pilot drehte sich abrupt um und schwang sich wieder hinauf in die Kabine. Der Einstieg glitt hinter

ihm ins Schloss.

Becker betrachtete das Flugzeug und dann wieder das Geld in seiner Hand. Er stand eine Weile unschlüssig in dem Hangar herum. Schließlich steckte er das Geld in die Brusttasche, warf sich das Jackett über die Schulter und machte sich die Landebahn entlang auf den Weg. Was für ein seltsamer Anfang! Becker versuchte, nicht mehr daran zu denken. Mit ein bisschen Glück war er zeitig genug zurück, um seinen Ausflug mit Susan nach Stone Manor wenigstens

teilweise noch zu retten.

Rein und raus, dachte er frohgemut. Rein und raus!


KAPITEL 9

Phil Charturkian, ein Techniker der für die Systemüberwachung und – Wartung zuständigen Abteilung, wollte eigentlich nur kurz bei der Crypto vorbeischauen, um ein paar Unterlagen zu holen, die vom Vortag noch dort lagen. Er schlenderte durch die Kuppel und trat ins Laboratorium der Techniker der System-Security-Abteilung, die jeder nur Sys-Sec nannte. Schon beim Hereinkommen fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Das Kontrollterminal für die internen Abläufe

des TRANSLTR war nicht besetzt, der Bildschirm abgeschaltet.

»Hallo? Jemand da?«

Keine Antwort. Alles wirkte aufgeräumt – als wäre schon lange keiner mehr da gewesen.

Charturkian gehörte erst seit relativ kurzer Zeit zum Sys-Sec-Team, aber ungeachtet seiner dreiundzwanzig Jahre war er bestens ausgebildet, und vor allem kannte er die Vorschriften: Im Crypto-Lab musste immer ein dienstbereiter Sys-Sec-Mann sitzen, besonders am

Samstag, wenn von den Kryptographen keiner da war.

Er schaltete den Bildschirm an. Während er daraufwartete, dass der Monitor hell wurde, schaute er auf den Dienstplan an der Wand und ging die Namensliste durch. »Wer hat denn Wachdienst?«, fragte er laut. Nach Dienstplan hätte ein junger Hüpfer namens Seidenberg in der vorangegangenen Nacht um Mitternacht eine Doppelschicht

antreten müssen. Charturkian sah sich in dem leeren Laboratorium um. »Wo zum Teufel steckt der Kerl?«

Während er auf den immer noch blinden Bildschirm starrte, fragte er sich, ob Strathmore wusste, dass die Sys-Sec-Abteilung unbesetzt war. Beim Hereinkommen war ihm aufgefallen, dass die Vorhänge von Strathmores Büro vorgezogen waren, was bedeutete, dass der Boss da war – samstags keineswegs ungewöhnlich. Ungeachtet seiner strikten Anweisung an die Mitarbeiter, am Samstag nicht zu arbeiten,


schien er selbst dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr voll durchzuackern.

Eines stand für Charturkian zweifelsfrei fest: Wenn Strathmore dahinter kam, dass die Sys-Sec-Abteilung nicht besetzt war, würde der junge Spund hochkant fliegen. Mit einem Blick zum Telefon überlegte er, ob er den säumigen Kollegen anrufen sollte, um ihm unangenehme Konsequenzen zu ersparen. Sys-Secs deckten einander den Rücken, das verlangte ein ungeschriebenes Gesetz. Sie waren in der Crypto-Abteilung lediglich das Fußvolk, das mit seinen Gebietern im Dauerzwist lag. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Kryptographien die eigentlichen Herren dieses Multi-Milliarden-Etablissements waren. Die Sys-Secs musste man dulden, weil sie für das reibungslose Funktionieren des teuren Spielzeugs der

Herrschaften unentbehrlich waren.

Charturkian hatte sich entschieden. Er griff nach dem Telefon – aber der Hörer gelangte nicht bis an sein Ohr. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Mit offenem Mund starrte er auf den Bildschirm vor seinen Augen, auf dem soeben ein kleines Anzeigefenster Gestalt

annahm. Wie in Zeitlupe legte Charturkian den Hörer wieder auf.

In seinen acht Monaten als NSA-Sys-Sec hatte Phil Charturkian auf dem TRANSLTR-Kontrollmonitor noch nie eine Anzeige gesehen, die nicht mit zwei Nullen begann. Heute war es zum ersten

Mal anders.

BISHERIGE RECHENZEIT: 15:17:21

»Fünfzehn Stunden und siebzehn Minuten?«, keuchte er. »Das gibt es doch nicht!«

Mit einem Stoßgebet zum Himmel schaltete er den Bildschirm aus


und ließ ihn gleich wieder hochfahren in der Hoffnung, dass es eine fehlerhafte Anzeige gewesen war. Das Ergebnis blieb

unverändert.

Charturkian fröstelte. Als Sys-Sec für die Crypto hatte er vor allem eine Aufgabe: Den TRANSLTR »sauber« zu halten – frei von Viren.

Eine Rechenzeit von fünfzehn Stunden konnte nur eines bedeuten: Verseuchung. Eine verseuchte Datei war in den TRANSLTR gelangt und legte die Programmierung lahm. Charturkians Reflexe setzten ein. Das verlassene Sys-Sec-Lab und der abgeschaltete Bildschirm waren jetzt nebensächlich, nur das anstehende Problem zählte noch – der TRANSLTR. Er rief umgehend die Liste der in den letzten

achtundvierzig Stunden eingegebenen Dateien auf und ging sie durch.

Sollte tatsächlich eine infizierte Datei durchgekommen sein?, rätselte er. Ist den Sicherheitsfiltern etwas entgangen?

Als Vorsichtsmaßnahme musste jede in den TRANSLTR eingegebene Datei zuerst im »Gauntlet«-Filter durch eine Reihe starker Circuit Level Gateways, Paketfilter und Antivirenprogramme sozusagen Spießruten laufen. Gauntlet filzte die ankommenden Dateien auf Computerviren und potenziell gefährliche Subroutinen. Wenn Dateien Programmierungen aufwiesen, die Gauntlet nicht kannte, wurden sie gnadenlos zurückgewiesen und mussten noch einmal von Hand überprüft werden. Wegen unbekannter Programmbefehle hatte Gauntlet auch schon völlig harmlose Dateien zurückgewiesen, die von der Sys-Sec-Abteilung anschließend im Handbetrieb eingehend überprüft und für harmlos befunden worden waren. Erst dann, und nur dann, wenn absolut sichergestellt war, dass

eine Datei »sauber« war, durfte sie unter Umgehung des Filtersystems direkt in den TRANSLTR eingegeben werden.

Computerviren standen in ihrer Vielfalt den natürlichen Viren in nichts nach. Wie ihre physiologischen Brüder kannten sie nur ein Ziel: in einen Wirt eindringen und sich vermehren. Im vorliegenden Fall


war der Wirt der TRANSLTR.

Charturkian konnte nur darüber staunen, dass die NSA nicht schon längst Probleme mit Viren bekommen hatte. Das Gauntlet-System war bestimmt ein guter Wächter, aber die NSA war sozusagen ein Schlammfresser, der riesige digitale Informationsmengen aus allen möglichen und unmöglichen Quellen der ganzen Welt wahllos in sich hineinschaufelte. Die Datenschnüffelei hatte gewisse Ähnlichkeiten mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr – Schutz hin oder her,

früher oder später fing man sich eben etwas ein.

Als Charturkian am Ende der Auflistung angekommen war, wunderte er sich noch mehr als zuvor. Jede Datei war überprüft

worden. Gauntlet hatte nichts Auffälliges bemerkt. Die Datei im

TRANSLTR war vollkommen sauber.

»Warum zum Teufel dauert es dann so lang?«, rätselte er in den leeren Raum hinein. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Ob er

Strathmore stören sollte?

»Ein Antivirenprogramm«, sagte er laut und bestimmt. »Du musst ein Antivirenprogramm laufen lassen.«

Es wäre ohnehin das Erste gewesen, was Strathmore zu tun verlangt hätte. Mit einem Blick hinaus in die verlassene Crypto-Kuppel entschloss sich Charturkian, das Antivirenprogramm zu laden und in den Rechner zu schicken. Das Ergebnis würde ihm in etwa

einer Viertelstunde vorliegen.

»Komm bloß schön sauber wieder zu Papi zurück!«, flüsterte er beschwörend.

Aber Charturkian fühlte, dass er sich nicht »vertan« hatte. Instinktiv wusste er, dass sich in den Eingeweiden des großen


Dechiffrierungsungetüms etwas Außergewöhnliches tat.


KAPITEL 10

Ensei Tankado ist tot? Man hat ihn also doch umbringen lassen? Ich dachte, Sie hätten gesagt ...« Susan wurde es flau im Magen.

»Wir haben ihn nicht angerührt«, sagte Strathmore beruhigend. »Er ist an einem Herzinfarkt gestorben, COMINT hat sich heute früh telefonisch gemeldet. Ihr Computer ist über Interpol in einem

Verzeichnis der Polizei von Sevilla auf Tankados Namen gestoßen.«

»Herzinfarkt?« Susan sah Strathmore zweifelnd an. »Er war doch erst dreißig.«

»Zweiunddreißig«, verbesserte Strathmore, »und er hatte einen angeborenen Herzfehler.«

»Das habe ich gar nicht gewusst.«

»Es steht in unserem Befund über seinen Gesundheitszustand. Er hat nie viel Aufheben davon gemacht.«

Susan war nicht ganz überzeugt. Der Zeitpunkt von Tankados Tod kam einfach zu gelegen. »Ein Herzfehler soll ihn umgebracht haben –

einfach so?«

Strathmore zuckte die Achseln. »Ein schwaches Herz ... die Hitze in Spanien ... dazu noch der Stress, den er sich mit der Erpressung der NSA eingebrockt hat ...«

Susan schwieg einen Moment. Ungeachtet der Umstände empfand sie den Tod des brillanten Kryptographien und ehemaligen Kollegen als betrüblichen Verlust. Strathmores ernste Stimme riss sie aus ihren

Gedanken.


»Das einzig Tröstliche an diesem ganzen Fiasko ist die Tatsache, dass Tankado allein unterwegs war. Es kann gut sein, dass sein Partner bislang noch gar nicht weiß, dass er tot ist. Die spanischen Behörden haben uns versprochen, die Information so lang wie möglich zurückzuhalten. Wir haben es ja selbst nur erfahren, weil COMINT am Ball war.« Strathmore sah Susan eindringlich an. »Ich muss den Partner finden, bevor er erfährt, dass Tankado tot ist. Das ist auch der Grund, weshalb ich Sie gebeten habe, zu kommen. Ich

brauche Ihre Hilfe.«

Susan verstand nicht ganz. Mit Tankados Tod schien für sie das Problem gelöst. »Commander«, meinte sie, »die Behörden sagen doch, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist. Damit sind wir aus dem Spiel, und der Partner wird wissen, dass die NSA nicht

verantwortlich ist.«

»Nicht verantwortlich?« Strathmore riss ungläubig die Augen auf. »Da erpresst jemand die NSA und ist ein paar Tage später tot – und wir sind nicht dafür verantwortlich? Ich wette mein letztes Hemd, dass Tankados geheimnisvoller Freund das anders sieht! Egal, was passiert ist, wir werden als die Schuldigen dastehen! Vielleicht war es Gift, oder die Autopsie war getürkt – was weiß ich?« Strathmore hielt inne und sah Susan an. »Was war denn Ihre erste Reaktion, als ich Ihnen

gesagt habe, dass Tankado tot ist?«

Susan runzelte verlegen die Stirn. »Ich habe natürlich gedacht, die NSA hätte ihn umgebracht.«

»Na, sehen Sie! Wenn die NSA fünf Satelliten über dem Nahen Osten in eine geostationäre Umlaufbahn schießen kann, dann dürften wir wohl auch in der Lage sein, ein paar spanische Polizisten zu

bestechen!« Der Commander hätte es nicht klarer ausdrücken können.

Ensei Tankado ist tot. Die NSA steht als Täter da. »Können wir den Partner noch früh genug aufspüren?«, überlegte Susan.


»Ich denke, schon. Wir haben jedenfalls eine gute Spur. Tankado

hat immer wieder öffentlich erklärt, er würde mit einem Partner zusammenarbeiten. Er hat wohl darauf vertraut, dass das die Softwarekonkurrenz davon abhält, ihm ans Leder zu gehen oder seinen Key zu klauen. Er hat gedroht, bei unlauterem Spiel würde sein Partner sofort den Key veröffentlichen, und dann würden natürlich sämtliche Softwarefirmen alt aussehen, denn sie hätten die Konkurrenz einer Gratis-Software am Hals.«

Susan nickte. »Raffiniert!«

»Tankado hat den Namen seines Partners ein paar Mal erwähnt«, setzte Strathmore hinzu. »Er nannte ihn North Dakota.«

»North Dakota? Offenbar ein Tarnname.«

»Ja, aber ich habe sicherheitshalber eine Internet-Recherche mit North Dakota als Suchbegriff durchgeführt. Ich habe selbst nicht geglaubt, dass ich etwas finden würde, aber ich bin auf einen E-Mail-Account gestoßen.« Strathmore hielt inne. »Ich habe natürlich nicht gedacht, dass es der von mir gesuchte North Dakota wäre, aber ich habe mal auf Verdacht in dem Account herumgestöbert, und stellen Sie sich meine Überraschung vor: Er war voll mit E-Mails von Ensei Tankado!« Strathmore hob die Brauen. »Und in den Mails wimmelte es von Bezugnahmen auf Diabolus und Tankados Pläne, die NSA

vorzuführen.«

Susan sah Strathmore skeptisch an. Sie war überrascht, dass der Commander sich so leicht an der Nase herumführen ließ. »Commander«, sagte sie, »Tankado weiß doch ganz genau, dass die NSA in E-Mails herumschnüffelt. Gerade er würde doch niemals Geheiminformationen über das Internet verschicken. Das ist eine Falle! Tankado hat Ihnen mit diesem North Dakota einen Bären aufgebunden. Er zuusste, dass Sie eine Suche starten würden. Er wollte, dass Sie diese Informationen finden. Er hat eine falsche Fährte

ausgelegt.«


»Vom Gefühl her richtig«, gab Strathmore bissig zurück, »wenn da nicht noch ein paar Kleinigkeiten wären. Ich habe nämlich anfänglich unter North Dakota nichts gefunden und deshalb den Suchbegriff leicht modifiziert. Der besagte Account fand sich unter der Adresse

NDAKOTA.«

Susan schüttelte den Kopf. »Akronyme einzuführen ist doch ein Standardverfahren. Tankado konnte getrost davon ausgehen, dass Sie es mit Akronymen oder Permutationen probieren, wenn Sie nicht

fündig werden. NDAKOTA ist doch viel zu simpel.«

»Vielleicht«, meinte Strathmore, während er hastig etwas auf einen Zettel schrieb, den er Susan reichte. »Aber sehen Sie sich das mal an.«

Susan las. Auf einmal begriff sie Strathmores Gedankengang. Auf dem Zettel stand die E-Mail-Adresse von North Dakota:

NDAKOTA@ARA.ANON.ORG

Susans Interesse galt den Buchstaben ara in der Adresse. Sie standen für American Remailers Anonymous, einen bekannten Provider für anonymen Service. Solche Gesellschaften schützten die Privatsphäre ihrer Kunden, indem sie sich gegen Gebühr als Mittelsmann für deren E-Mails zur Verfügung stellten. Es funktionierte ähnlich wie ein Nummernpostfach – der Inhaber kann Post empfangen, ohne je Namen oder Adresse preisgeben zu müssen, ARA nahm die an einen Decknamen adressierten E-Mails entgegen und leitete sie an die richtige Adresse weiter, wobei der Provider vertraglich verpflichtet war, Identität und Adresse des Kunden

vertraulich zu behandeln.

»Das ist zwar kein Beweis«, sagte Strathmore, »aber ziemlich verdächtig ist es schon.«

Susan nickte. Das überzeugte sie schon eher. »Sie meinen also,


Tankado konnte es egal sein, wenn jemand nach North Dakota sucht, weil ARA seinen Namen und seine Adresse schützt.«

»Genau.«

Susan dachte kurz nach. »ARA bedient vor allem Accounts in den Vereinigten Staaten. Halten Sie es für möglich, dass wir North Dakota

irgendwo hier bei uns suchen müssen?«

Strathmore hob die Schultern. »Könnte sein. Mit einem amerikanischen Partner hätte Tankado die beiden Schlüssel auch geographisch voneinander getrennt. Es wäre ein kluger Schachzug.«

Susan überlegte. Tankado dürfte den Schlüssel sinnvollerweise nur einem sehr guten Freund anvertraut haben, aber wie Susan sich

erinnerte, hatte er in den Vereinigten Staaten kaum Freunde gehabt.

»North Dakota«, sinnierte sie. Ihr kryptographisch geschultes Gehirn versuchte dem Decknamen eine mögliche Bedeutung abzugewinnen. »Kennen wir auch den Inhalt der E-Mails dieses North

Dakota an unseren Tankado?«

»Nein. COMINT hat nur Tankados abgehende Mails abgefangen. Zurzeit haben wir von North Dakota lediglich eine anonyme

Adresse.«

Susan dachte nach. »Wäre es möglich, dass es wieder eine Finte ist?«

Strathmore hob die Brauen. »Wieso?«

»Tankado könnte doch mit Bedacht E-Mails an eine Scheinadresse geschickt haben, in der Hoffnung, dass wir sie abfangen, während er in Wirklichkeit alleine arbeitet. Wir würden denken, er sei geschützt,


und er müsste sich nicht auf das Risiko einlassen, einem Partner seinen Private-Key preiszugeben.«

Strathmore lachte anerkennend auf. »Keine schlechte Idee, bis auf eines. Er benutzt nicht seine üblichen Privat- oder Geschäfts­Internetadressen. Er hat sich in den Großrechner der Doshisha-Universität eingeklinkt. Offenbar hat er dort einen Account, den er bislang geheim halten konnte. Er ist in der Tat sehr gut versteckt. Ich bin nur durch einen Zufall darüber gestolpert.« Strathmore hielt inne. »Wenn es also Tankados Absicht war, dass wir seine Mails abfangen

– warum hat er dann einen geheimen Account benutzt?«

Susan dachte über das Problem nach. »Vielleicht, damit wir nicht Lunte riechen? Vielleicht hat er den Account mit Bedacht gewählt,

sodass Sie mit ein bisschen Glück, über das Sie sich auch noch gefreut haben, darüber stolpern mussten. Es würde seine Pseudo-E­Mails doppelt glaubhaft machen.«

»An Ihnen ist eine Agentin verloren gegangen«, erwiderte Strathmore lachend. »Sie haben wirklich gute Ideen. Aber leider hat Tankado auf jede E-Mail auch eine Antwort bekommen. Tankado

schreibt, und sein Partner antwortet.«

Susan runzelte die Stirn. »Na gut. Sie halten North Dakota also für echt.«

»Ich fürchte, mir bleibt nichts anderes übrig. Und wir müssen ihn finden. Aber ohne jedes Aufsehen. Wenn er Wind davon bekommt,

dass wir hinter ihm her sind, ist alles vorbei.«

Jetzt hatte Susan begriffen, wozu Strathmore sie gerufen hatte. »Lassen Sie mich mal raten«, sagte sie. »Ich soll in den gut gesicherten Datenspeicher von ARA eindringen und Ihnen die wahre

Identität von North Dakota liefern.«


Strathmore lächelte. »Miss Fletcher, Sie können Gedanken lesen.«

Für heimliche Internetrecherchen war Susan Fletcher die richtige Adresse. Vor ein paar Jahren waren einem hochrangigen Beamten im Weißen Haus per E-Mail Drohbriefe eines Schreibers mit einer anonymen E-Mail-Adresse zugegangen. Man hatte die NSA gebeten, den Täter aufzuspüren. Die NSA hätte zwar die Befugnis gehabt, vom Provider die Preisgabe des Verfassers der Briefe zu verlangen, aber

man entschied sich für eine diskretere Methode – einen »Tracer«.

Susan hatte damals im Prinzip ein Suchprogramm geschrieben, das sie als E-Mail getarnt an die anonyme Adresse beim Provider schickte. Der Provider reichte die Mail vertragsgemäß an die richtige Adresse weiter. Dort angekommen, registrierte die entsprechend programmierte Mail ihre Position im Internet und benachrichtigte die NSA, um sich sodann spurlos in nichts aufzulösen. Zumindest für die NSA waren anonyme Accounts von diesem Tag an allenfalls noch ein

lästiger Störfaktor.

»Können Sie ihn finden?«, erkundigte sich Strathmore.

»Sicher. Warum haben Sie mich eigentlich nicht schon längst gerufen?«, wollte Susan wissen.

»Um ehrlich zu sein...«, Strathmore legte die Stirn in Falten, »ich habe Sie ursprünglich überhaupt nicht rufen wollen. Ich wollte dieses Ding alleine durchziehen. Ich habe selbst versucht, Ihren Tracer loszuschicken, aber nachdem Sie das verdammte Ding in einer von diesen neuen hybriden Programmiersprachen geschrieben haben, konnte ich ihn nicht ans Laufen bekommen. Er hat zwar Daten geliefert, aber sie ergaben keinen Sinn. Schließlich ist mir nichts

anderes übrig geblieben, als Sie zu rufen.«

Susan kicherte geschmeichelt. Strathmore war als kryptographischer Programmierer ein Genie, aber sein Repertoire beschränkte sich auf die Arbeit mit Algorithmen. In den Untiefen der


weniger abgehobenen Alltagsprogrammiererei war er oft etwas hilflos. Zudem hatte Susan ihren Tracer in einer neuen Misch­Programmiersprache namens LIMBO verfasst. Dass Strathmore damit Probleme hatte, war verständlich. »Ich werde mich darum kümmern«, sagte sie und wandte sich lächelnd zum Gehen. »Sie finden mich an

meinem Terminal.«

»Können Sie in etwa sagen, wie lange es dauern wird?«

Susan zögerte. »Nun... das kommt darauf an, wie prompt ARA die Mails weiterleitet. Wenn North Dakota hier in den Staaten bei einer Firma wie AOL oder CompuServe ist, kann ich an seine Kreditkartendaten heran, und die Adresse liegt uns in einer Stunde vor. Wenn er bei einer Universität oder bei einem großen Konzern ist, kann es ein bisschen länger dauern.« Sie lächelte befangen. »Der Rest

liegt dann bei Ihnen.«

Susan wusste, der »Rest« bestand aus einem Einsatzkommando der NSA, das dem Betreffenden den Strom abstellte und Betäubungswaffen schwingend durch klirrende Fensterscheiben in sein Haus eindrang – vermutlich in dem Glauben, eine Verhaftung im Drogenmilieu vorzunehmen. Anschließend würde Strathmore zweifellos eigenhändig aus den Resten der Einrichtung den Vierundsechzig-Bit-Schlüssel herausklauben. Und dann würde er ihn vernichten. Diabolus würde auf ewig im Internet herumspuken, unbenutzbar und für alle Zeiten gesperrt.

»Seien Sie vorsichtig mit Ihrem Tracer«, sagte Strathmore. »Wenn North Dakota in Erfahrung bringt, dass wir ihm auf der Spur sind, macht er sich vielleicht mit dem Key aus dem Staub, bevor unsere

Leute vor Ort sein können.«

»Keine Sorge«, versicherte Susan. »Wenn das Programm den Account gefunden hat, löst es sich im selben Moment auch schon auf.

Kein Mensch merkt, dass es überhaupt da gewesen ist.«


Der Commander nickte müde. »Danke, Susan.«

Susan lächelte ihm voll Mitgefühl zu. Sie war immer wieder erstaunt über die Ruhe, die der Commmander selbst angesichts einer drohenden Katastrophe bewahrte. Sie war überzeugt, dass seine Karriere, die ihn in die obersten Machtzentralen gelangen ließ, von

dieser Eigenschaft getragen war.

Auf dem Weg zur Tür schaute Susan hinunter zum TRANSLTR. Die Vorstellung, dass es einen nicht zu entschlüsselnden Algorithmus geben sollte, wollte ihr immer noch nicht in den Kopf. Hoffentlich

gelang es ihr, North Dakota schnell genug aufzuspüren.

»Wenn Sie sich beeilen«, rief Strathmore ihr nach, »können Sie bei Einbruch der Dunkelheit in den Smoky Mountains sein.«

Susan blieb wie angewurzelt stehen. Sie war absolut sicher, Strathmore gegenüber den geplanten Wochenendausflug mit keinem Wort erwähnt zu haben. Hört die NSA jetzt schon deinen

Privatanschluss ab? Sie fuhr herum.

Strathmore lächelte sie schuldbewusst an. »David hat mir heute früh von Ihrem geplanten Ausflug erzählt. Er hat gesagt, dass Sie über

die Verschiebung ganz schön sauer sein würden.«

Susan verstand gar nichts mehr. »Sie haben heute früh mit David gesprochen?«

»Natürlich.« Susans Reaktion schien Strathmore zu irritieren. »Ich musste ihm doch Instruktionen geben.«

»Instruktionen? Wofür?«

»Na, für seine Reise nach Spanien! David ist doch in meinem


Auftrag nach Spanien geflogen!«


KAPITEL 10

David ist in meinem Auftrag nach Spanien geflogen. Der Satz des Commanders haute Susan fast um.

»David ist in Spanien?« Susan konnte es kaum fassen. Zorn kam in ihr hoch. »Sie haben ihn nach Spanien geschickt? Wie kommen Sie

dazu?«

Strathmore sah sie perplex an. Er war es nicht gewohnt, angepfiffen zu werden, selbst von seiner Chefkryptographin nicht. Er streifte Susan mit einem überraschten Blick. Fauchend wie eine

Tigerin, die ihr Junges verteidigt, stand sie vor ihm.

»Susan«, sagte er, »haben Sie denn nicht mit David gesprochen? Hat er Ihnen denn nicht alles erklärt?«

Susan war zu schockiert, um zu antworten. Spanien. Deshalb hat David unseren Ausflug nach Stone Manor verschoben!

»Ich habe ihn heute früh mit einem Wagen abholen lassen. Er hat gesagt, er würde Sie vor der Abfahrt noch anrufen. Es tut mir wirklich

Leid, aber ich dachte...«

»Wozu haben Sie David nach Spanien geschickt?«

Strathmore sah sie verdutzt an. »Damit er den einen Key beschafft.«

»Welchen Key?«

»Na, den von Tankado!«


Susan blickte nicht mehr durch. »Wovon ist denn nun die Rede?«

Strathmore seufzte. »Als Tankado starb, hatte er bestimmt seinen Schlüssel bei sich. Ich kann es mir bei Gott nicht leisten, dass der Key irgendwo in einer spanischen Leichenhalle herumliegt!«

»Und da ist Ihnen nichts Besseres eingefallen, als David Becker loszuschicken?« Susan war zu besorgt, um sich noch aufzuregen. Das Ganze war viel zu absurd. »Einen Mann, der noch nicht einmal für Sie

arbeitet!«

Strathmore zuckte leicht zusammen. In diesem Ton hatte noch niemand mit dem Vizedirektor der NSA gesprochen. »Susan«, sagte

er betont ruhig, »das ist es ja gerade. Ich brauchte jemanden...«

Die Tigerin schlug zu. »Sie haben zwanzigtausend Untergebene! Was gibt Ihnen das Recht, ausgerechnet meinen Verlobten

loszuschicken?«

»Ich habe für diesen Kurierdienst einen Normalbürger gebraucht, jemand, der mit den Regierungsbehörden nicht das Geringste zu tun hat! Wenn ich den Dienstweg gewählt und jemand Wind davon

bekommen hätte, dass...«

»Und David Becker ist wohl der einzige Normalbürger, den Sie kennen!«

»Nein! David Becker ist nicht der einzige Normalbürger, den ich kenne, aber heute früh um sechs Uhr musste leider alles ziemlich schnell gehen! David Becker spricht die Landessprache, er ist nicht auf den Kopf gefallen, ich kann ihm vertrauen, und außerdem habe ich

gedacht, ich könnte ihm einen Gefallen tun.«

»Einen Gefallen?«, schnaubte Susan empört. »Hals über Kopf nach


Spanien geschickt zu werden soll wohl ein Gefallen sein?«

»Jawohl! Schließlich bekommt er von mir für diesen einen Tag Arbeit zehntausend Dollar und muss dafür nichts weiter tun, als Tankados Habseligkeiten abholen und wieder nach Hause fliegen!

Wenn das kein Gefallen ist!«

Susan verstummte. Sie hatte begriffen. Es ging wieder einmal nur ums liebe Geld. Ihre Gedanken glitten fünf Monate zurück zu jenem unseligen Abend, an dem David vom Rektor der Georgetown Universität die Beförderung zum Leiter des Fachbereichs für Sprachen angeboten worden war. Der Rektor hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er vermutlich seine Lehrtätigkeit würde einschränken müssen, weil mehr Verwaltungsarbeit auf ihn zukäme – aber dafür sei sein Gehalt natürlich um einiges höher. David, lass die Finger davon, hätte Susan am liebsten geschrieen, du wirst es bereuen! Wir haben doch Geld genug. Kann es denn so wichtig sein, wer von uns es nach Hause bringt? Aber sie wollte David nicht bevormunden. Am Ende hatte sie sich kommentarlos mit seiner Entscheidung abgefunden. Als sie an diesem Abend einschliefen, versuchte Susan, sich für David zu freuen, aber eine innere Stimme hatte ihr gesagt, dass sie sich auf dem besten Weg in eine Katastrophe befanden. Sie hatte Recht behalten – aber niemals hätte sie geglaubt,

wie sehr.

»Sie haben ihn mit zehntausend Dollar geködert?«, schimpfte sie. »Das ist ein gemeiner Trick!«

Strathmore wurde allmählich sauer. »Ein Trick? Ach was, über Geld ist überhaupt nicht gesprochen worden! Ich habe David lediglich gefragt, ob er mir einen Gefallen tun würde, und er hat sich aus völlig

freien Stücken dazu bereit erklärt.«

»Natürlich hat er sich dazu bereit erklärt – schließlich sind Sie mein Chef und der Vizedirektor der NSA! Wie hätte er sich da

weigern können?«


»Recht haben Sie!«, schoss Strathmore zurück. »Und genau aus diesem Grund habe ich ihn auch angerufen. Ich konnte mir nämlich

nicht den Luxus leisten, zu riskieren...«

»Weiß der Direktor, dass Sie einen behördenfremden Zivilisten losgeschickt haben?«

»Susan«, sagte Strathmore, dem offensichtlich langsam die Geduld ausging, »der Direktor hat mit dieser Sache überhaupt nichts zu tun,

und darum weiß er auch nichts davon.«

Susan starrte Strathmore fassungslos an. Sie hatte das Gefühl, mit einem Unbekannten zu reden. Der Commander hatte ihren Verlobten – einen Universitätsdozenten – mit einer Geheimdienstmission der NSA betraut und es noch nicht einmal für nötig befunden, seinen Vorgesetzten von der größten Krise in der Geschichte dieser Behörde

zu benachrichtigen!

»Sie haben Leland Fontaine nicht unterrichtet?«

Strathmore war am Ende seines Geduldsfadens angekommen. »Susan!«, explodierte er, »nun hören Sie mir mal gut zu! Ich habe Sie herbestellt, weil ich einen Bundesgenossen brauche und keinen Staatsanwalt! Ich habe einen mörderischen Vormittag hinter mir. Nachdem ich Tankados Datei letzte Nacht heruntergeladen hatte, habe ich stundenlang hier neben dem Drucker auf der Lauer gelegen und gebetet, dass der TRANSLTR sie endlich knackt. Am frühen Morgen habe ich schließlich meinen Stolz heruntergeschluckt und die Nummer unseres Direktors gewählt. Und da, das dürfen Sie mir glauben, hatte ich wieder einmal ein Gespräch von der Sorte vor mir, die ich ganz besonders liebe: ›Guten Morgen, Sir, entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe. Weshalb ich anrufe? Ach, wissen Sie, ich habe gerade gemerkt, dass wir den TRANSLTR auf den Müll schmeißen können. Da hat nämlich jemand ein Programm entwickelt, von dem meine Spitzenverdiener im Crypto-Team noch nicht einmal

träumen können!‹« Seine Faust krachte auf die Schreibtischplatte.


Susan stand wie angewurzelt da und gab keinen Ton mehr von sich. In zehn Jahren hatte sie so gut wie nie erlebt, dass Strathmore die

Beherrschung verlor — und schon gar nicht wegen ihr.

Zehn Sekunden vergingen. Keiner sagte ein Wort. Strathmore, der aufgesprungen war, setzte sich wieder hin. Susan hörte, wie sich sein Atem allmählich beruhigte. Als er schließlich wieder das Wort ergriff,

sprach er mit gespenstisch ruhiger, kontrollierter Stimme.

»Es stellte sich jedoch heraus, dass unser Direktor wegen einer Konferenz mit dem Präsidenten von Kolumbien in Südamerika weilt. Da er von dort aus absolut nichts unternehmen kann, hatte ich zwei Optionen – ihn zu bitten, seinen Besuch abzubrechen und herzukommen, oder allein mit der Situation fertig zu werden.« Wieder herrschte ein langes Schweigen, bis Strathmore endlich aufblickte und seinen müden Blick auf Susan richtete. Sein Gesichtsausdruck wurde weich. »Susan, es tut mir Leid. Ich bin total erledigt. Das ist ein Albtraum, wie er im Buche steht. Ich kann verstehen, dass Sie wegen David aufgebracht sind. Es ist mir unangenehm, dass Sie auf diese Weise von seiner Reise erfahren haben. Ich dachte, Sie wüssten Bescheid.«

Susan bekam Gewissensbisse. »Ich habe überreagiert. Es tut mir Leid. David war eine gute Wahl.«

Strathmore nickte abwesend. »Heute Abend ist er wieder zurück.«

Susan führte sich vor Augen, was der Commander alles am Hals hatte: die Verantwortung für den TRANSLTR, den endlosen Dienst und die vielen Konferenzen. Es wurde gemunkelt, dass die Frau, mit der er dreißig Jahre verheiratet war, ihn verlassen wollte. Und zu alldem kam jetzt auch noch Diabolus – für die NSA die größte Bedrohung der nachrichtendienstlichen Arbeit in ihrer ganzen Geschichte. Und der arme Mann musste damit ganz allein fertig werden. Kein Wunder, dass er am Rande des Nervenzusammenbruchs

stand.


»In Anbetracht der Lage bin ich der Meinung, dass Sie vielleicht doch lieber den Direktor anrufen sollten«, riet Susan.

Strathmore schüttelte den Kopf. Ein paar Schweißperlen tropften auf seinen Schreibtisch herab. »Ich bin nicht bereit, mich auf das Risiko eines Informationslecks einzulassen und die Sicherheit unseres Direktors zu gefährden, indem ich ihn in einer Krise anrufe, an der er

ohnehin nichts ändern kann.«

Susan musste zugeben, dass Strathmore Recht hatte. Selbst in Augenblicken wie diesem behielt er einen klaren Kopf. »Haben Sie

schon daran gedacht, den Präsidenten anzurufen?«

Strathmore nickte. »Habe ich, aber ich habe den Gedanken verworfen.«

Susan hatte mit nichts anderem gerechnet. Leitende NSA-Beamte waren befugt, in nachrichtendienstlichen Ausnahmesituationen ohne Benachrichtigung der Exekutive zu handeln. Die NSA war der einzige Geheimdienst der Vereinigten Staaten, der völlige Immunität genoss und sich in keiner Weise vor der Gerichtsbarkeit zu verantworten hatte. Strathmore pflegte dieses Privileg gern in Anspruch zu nehmen.

Er zog es vor, seine Wundertaten in völliger Isolation zu vollbringen.

»Commander, das ist eine Nummer zu groß, um allein damit fertig zu werden«, gab Susan zu bedenken. »Sie brauchen jemand an Ihrer

Seite, der ebenfalls Bescheid weiß.«

»Susan, die Existenz von Diabolus wird sich entscheidend auf die Zukunft unserer Organisation auswirken. Ich habe nicht die Absicht, hinter dem Rücken unseres Direktors den Präsidenten anzurufen. Wir haben eine Krise, und ich werde allein mit ihr fertig werden.« Er sah Susan nachdenklich an. »Ich bin der Vizedirektor dieser Organisation.« Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und außerdem – ich bin nicht allein. Ich habe Susan Fletcher an meiner


Seite.«

Susan wurde bewusst, was sie an Trevor Strathmore so sehr schätzte. Seit zehn Jahren, durch dick und dünn, hatte er sich vor sie gestellt, standhaft und unerschütterlich. Sie bewunderte seine Hingabe und Einsatzbereitschaft, seine bedingungslose Treue zu seinen Grundsätzen, seinen Idealen und seinem Land. Komme, was da wolle, Trevor Strathmore war ein Leitstern in einer Welt der absurden

Entscheidungszwänge.

»Sie sind doch an meiner Seite?«, vergewisserte er sich. Susan lächelte. »Jawohl, Sir, das bin ich. Hundert Prozent.« »Gut. Dann lassen Sie uns an die Arbeit gehen.«


KAPITEL 12

Beerdigungen und die dazugehörigen Leichen waren für David Becker nichts Neues. Aber dieser Leichnam hatte etwas besonders Unheimliches an sich, handelte es sich doch keineswegs um einen schön zurechtgemachten und in einem mit Seide ausgeschlagenen

Sarg ruhenden Verstorbenen.

Es war eine nackte Leiche, die man sang- und klanglos auf einem Aluminiumtisch abgeladen hatte. In den Augen des Toten war noch nicht der leere starre Blick eingekehrt, vielmehr glotzten sie in einem wie durch ein Blitzlicht eingefrorenen Ausdruck des Schreckens und

Bedauerns unverwandt an die Decke.

»lüönde es tán sus cosas?«, erkundigte sich Becker in flüssigem kastilischen Spanisch. »Wo sind seine Sachen?«

»AM«, antwortete der Polizeileutnant, wobei seine gelben Zähne zum Vorschein kamen. Er deutete auf einen Tisch, auf dem ein paar

Kleidungsstücke und persönliche Gegenstände herumlagen. »tEs todo? Ist das alles?«

»Si.«

Becker bat um einen Pappkarton. Der Leutnant machte sich auf die Suche.

Es war Samstagabend. Das Leichenschauhaus von Sevilla war eigentlich schon längst geschlossen. Der junge Polizeileutnant hatte Becker auf unmittelbaren Befehl des Chefs der Guardia Civil von Sevilla eingelassen — der Besucher aus Amerika schien

einflussreiche Freunde zu haben.


Becker betrachtete das Häuflein Kleider. In die Schuhe hatte man Pass, Brieftasche und eine Brille gestopft. Außerdem lag da noch eine kleine Reisetasche, die von der Polizei aus dem Hotel des Toten abgeholt worden war. Becker hatte unmissverständliche Anweisungen: nichts anrühren, nichts lesen, einfach nur die Sachen einsammeln und zurückbringen. Restlos alles. Keinesfalls etwas

liegen lassen.

Becker runzelte die Stirn. Was will die NSA bloß mit diesem Krempel?

Der Leutnant kam mit einem Karton wieder. Becker machte sich daran, die Sachen zu verstauen.

Der Polizist tippte mit dem Finger an das Bein des Toten. »¡Quien es? Wer ist das?«

»Keine Ahnung.«

»Sieht chinesisch aus.«

Japanisch, dachte Becker.

»Armes Schwein. Herzinfarkt, oder?«

Becker nickte vage. »Hat man mir jedenfalls gesagt.«

Der Leutnant seufzte und schüttelte teilnahmsvoll den Kopf. »Die Sonne von Sevilla kann grausam sein. Seien Sie morgen vorsichtig.«

»Danke«, sagte Becker, »aber morgen bin ich schon wieder zu Hause.«


Der Polizist sah ihn erstaunt an. »Sie sind doch gerade erst angekommen!«

»Weiß ich, aber der Mann, der mein Ticket bezahlt hat, wartet ungeduldig auf die Sachen.«

Der Leutnant sah gekränkt aus, wie nur ein in seinem Stolz verletzter Spanier gekränkt aussehen kann. »Soll das heißen, dass Sie

unserer Stadt nicht die Ehre erweisen?«

»Ich bin früher schon einmal hier gewesen. Eine wunderschöne Stadt. Ich wünschte, ich könnte länger bleiben.«

»Dann haben Sie La Giralda also schon gesehen?«

Becker nickte. Er hatte den alten Turm aus maurischen Zeiten zwar nicht bestiegen, aber gesehen hatte er ihn.

»Und was ist mit dem Alcázar?«

Becker nickte noch einmal. Er erinnerte sich an den Abend, an dem er im Innenhof ein Gitarrenkonzert von Paco de Lucia gehört hatte – Flamenco unter dem Sternenhimmel, in einem Schloss aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Hätte er nur Susan damals schon

gekannt!

»Und natürlich Christoph Kolumbus!«, sagte der Polizist mit einem strahlenden Lächeln. »Er ruht in unserer Kathedrale.«

»Tatsächlich?« Becker blickte auf. »Ich dachte immer, er wäre in der Dominikanischen Republik begraben.«

»Ach was! Wer setzt denn solche Märchen in die Welt? Kolumbus


ruht hier in Spanien. Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten studiert?«

»An diesem Tag muss ich wohl gefehlt haben.«

»Die spanische Kirche ist sehr stolz auf die Reliquien von Kolumbus.«

Die spanische Kirche. Becker wusste, Spanien kannte nur eine Kirche - die römischkatholische. In Spanien spielte der Katholizismus

eine größere Rolle als im Vatikan.

»Wir haben natürlich nicht den ganzen Leichnam«, räumte der Leutnant ein. »So/o los testículos.«

Becker hielt inne und starrte den Leutnant an. Er bemühte sich, nicht zu grinsen. »Nur die Testikel?«

Der Polizist nickte stolz. »Jawohl. Wenn die Kirche in den Besitz der sterblichen Überreste eines großen Mannes kommt, wird er heilig gesprochen, und seine Körperteile werden als Reliquien auf die Kathedralen verteilt, damit jedermann am Glanz des Heiligen

teilhaben kann.«

»Und Sie haben hier die ...« Becker unterdrückte den Drang zu lachen.

»jOye! Das ist ein wichtiger Körperteil!«, beharrte der Leutnant. »Das ist nicht bloß eine lächerliche Rippe oder ein Knöchel wie bei diesen Kirchen in Galizien. Sie sollten wirklich hier bleiben und es

sich ansehen!«

Becker nickte höflich. »Ich werde versuchen, auf meinem Weg aus der Stadt in der Kathedrale vorbeizuschauen.«


»jMala suerte!«, seufzte der Polizist. »Was für ein Pech! Die Kathedrale ist bis zur Frühmesse geschlossen.«

»Dann eben ein andermal«, erwiderte Becker lächelnd und nahm den Karton an sich. »Ich werde mich jetzt auf den Weg machen. Mein Flugzeug wartet.« Sein Blick glitt noch einmal prüfend durch den

Raum.

»Soll ich Sie zum Flughafen bringen?«, fragte der Polizist. »Meine Moto Guzzi steht vor der Tür.«

»Vielen Dank. Ich nehme ein Taxi.« Becker war im College Motorrad gefahren und hatte sich damals um ein Haar selbst umgebracht. Er hatte keinerlei Bedürfnis, sich jemals wieder auf ein

solches Gefährt zu setzen, gleichgültig, wer fuhr.

»Wie Sie meinen«, sagte der Polizist und ging zur Tür. »Ich mache das Licht aus.«

Becker klemmte sich den Karton unter den Arm. Hast du auch wirklich alles? Er musterte ein letztes Mal die Leiche auf dem Blechtisch, die splitternackt und mit dem Gesicht nach oben unter dem Licht der Leuchtstoffröhren lag. Die merkwürdig deformierten

Hände zogen Beckers Blick auf sich. Er betrachtete sie lange.

Er wollte sie sich gerade genauer ansehen, als der Polizist das Licht ausschaltete. Der Raum lag im Dunkeln.

»Einen Moment!«, rief Becker. »Machen Sie doch bitte noch einmal das Licht an.«

Flackernd wurden die Leuchtstoffröhren wieder hell. Becker stellte die Schachtel auf dem Boden ab und trat zur Leiche. Über den Toten

gebeugt, betrachtete er dessen linke Hand.


»Pah, wie hässlich!«, sagte der Polizist, der Beckers Blick gefolgt war.

Aber Beckers Aufmerksamkeit galt nicht der Missbildung. Etwas anderes war ihm aufgefallen. Er drehte sich zu dem Polizisten um. »Sind Sie sicher, dass alles, was dem Toten gehört, sich hier in

meinem Karton befindet?«

Der Polizist nickte. »Na klar, mehr war hier nicht.«

Die Fäuste in die Hüften gestemmt, dachte Becker einen Moment lang nach. Er hob den Karton auf, trug ihn zum Tisch und kippte ihn aus. Sorgsam schüttelte er ein Kleidungsstück nach dem anderen aus. Dann leerte er die Schuhe und schlug sie gegeneinander, als wolle er ein Steinchen herausschütteln. Nachdem er die Prozedur wiederholt

hatte, trat er stirnrunzelnd einen Schritt zurück. »iProblema?«, erkundigte sich der Polizist. »Sí«, sagte Becker. »Es fehlt etwas.«


KAPITEL 13

Tokugen Numataka stand in seiner prachtvoll ausgestatteten Penthouse-Bürosuite und schaute hinaus auf die Skyline von Tokio. Seine Angestellten und seine Konkurrenten nannten ihn hitokuizame – der Killerhai. Seit drei Jahrzehnten hatte er seiner japanischen Konkurrenz mit schlauen Geschäftsmanövern, Dumpingpreisen und raffinierter Werbung das Leben schwer gemacht. Jetzt war er im

Begriff, auch auf dem Weltmarkt ein Gigant zu werden.

Der Abschluss des größten Geschäfts seines Lebens stand unmittelbar bevor – eines Geschäfts, das aus seiner »Numatech Corporation« die Firma Microsoft der Zukunft machen würde. Das Adrenalin strömte belebend durch seine Adern. Konkurrenzkampf war

Krieg – und Krieg war erregend.

Als vor drei Tagen das Telefon zum ersten Mal geklingelt hatte, war Tokugen Numataka noch äußerst skeptisch gewesen, aber inzwischen kannte er die Wahrheit. Er war mit myori gesegnet – mit

Glück. Er war ein Günstling der Götter.

»Ich habe den Schlüssel für Diabolus«, hatte eine Stimme mit amerikanischem Akzent gesagt. »Wollen Sie ihn kaufen?«

Numataka hätte beinahe laut gelacht. Er wusste, dass es nur ein Scheinangebot sein konnte. Die Numatech Corporation hatte Ensei Tankado für sein neues Programm ein überaus großzügiges Angebot gemacht. Und jetzt versuchte ein Konkurrenzunternehmen

herauszufinden, wie hoch es gewesen war.

Numataka heuchelte Interesse. »Sie haben den Key?«, hatte er gesagt.

»Gewiss. Mein Name ist übrigens North Dakota.«


Numataka unterdrückte ein Lachen. Jeder war über North Dakota im Bilde. Da Tankado sich nicht sicher fühlen konnte, hatte er der Presse von seinem geheimen Partner erzählt. Es war ein durchaus gewitzter Zug, denn unlautere Geschäftspraktiken waren auch in

Japan an der Tagesordnung.

Numataka nahm einen tiefen Zug von seiner Umami-Zigarre und ging auf das dumme Spielchen ein. »Sie wollen mir also Ihren Schlüssel verkaufen?«, sagte er. »Interessant. Und wie steht Mr Ensei

Tankado dazu?«

»Mr Tankado interessiert mich nicht. Er war töricht genug, mir zu vertrauen. Der Key ist hundertmal mehr wert als der Betrag, den er

mir für meine treuhänderischen Bemühungen bezahlt.«

»Tut mir Leid«, sagte Numataka, »aber Ihr Key ist keinen Pfifferling wert. Wenn Ihnen Mr Tankado auf die Schliche kommt,

wird er seinerseits den Schlüssel preisgeben, und der Fall ist erledigt.«

»Sie werden beide Schlüssel erhalten«, sagte der Anrufer. »Meinen und den von Mr Tankado.«

Numataka legte eine Hand über den Hörer und brach in lautes Gelächter aus. »Wie viel wollen Sie denn für die beiden Schlüssel?«,

erkundigte er sich amüsiert. »Zwanzig Millionen Dollar.«

Zwanzig Millionen entsprach fast haargenau Numatakas Angebot.

»Zwanzig Millionen?«, japste er in gespieltem Entsetzen. »Sie sind wohl verrückt geworden!«

»Ich habe das Programm gesehen. Sie können mir glauben, es ist


diesen Betrag wert.«

Von wegen, dachte Numataka, es ist das Zehnfache wert! Er war

das Spielchen leid. »Unglücklicherweise wissen wir beide«, sagte er, »dass Mr Tankado auf keinen Fall mitspielen wird. Vergessen Sie nicht die urheberrechtlichen Konsequenzen.«

Der Anrufer machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Und falls Mr Tankado nicht mehr im Spiel wäre?«

Numataka wollte lachen, doch in der Stimme des Anrufers lag eine irritierende Entschlossenheit. »Wenn Mr Tankado nicht mehr im Spiel wäre?« Numataka dachte kurz nach. »Dann könnten wir vielleicht

miteinander ins Geschäft kommen.«

»Sie hören von mir!«, sagte der Anrufer. Die Verbindung brach ab.


KAPITEL 14

Becker betrachtete die Leiche. Auf dem Gesicht des Asiaten glühte selbst Stunden nach dem Tod noch das Rosa eines frischen Sonnenbrands. Der Rest des Mannes war blassgelb – bis auf eine

violette Verfärbung direkt über dem Herzen.

Vielleicht von der Herzmassage, dachte Becker. Schade nur, dass sie nicht gefruchtet hat.

Er befasste sich wieder mit den Händen des Toten. Hände wie diese mit ihren jeweils nur drei verdreht abstehenden Fingern hatte er noch nie gesehen. Doch es war nicht die Missbildung, die sein

Interesse erregte.

»Sieh mal einer an«, grunzte der Polizeileutnant. »Tatsächlich ein Japaner und kein Chinese.«

Becker sah auf. Der Beamte stand am Tisch und blätterte im Pass des Toten herum. »Es wäre mir lieber, wenn Sie das nicht tun

würden«, sagte Becker. Nichts anfassen, nichts anschauen.

»Ensei Tankado, geboren am... »

»Bitte!« Becker versuchte höflich zu bleiben. »Legen Sie das wieder hin!«

Der Polizist löste sich zögernd von dem Dokument und warf es auf den Haufen zurück.

»Der Mann hat ein Dauervisum! Damit hätte er jahrelang hier bleiben können.«

Becker stippte mit dem Kugelschreiber an die Hand des Toten.


»Vielleicht hat er hier gewohnt.«

»Nein. Das Einreisedatum war letzte Woche.«

»Er könnte gerade mit dem Umzug beschäftigt gewesen sein«, meinte Becker knapp.

»Ja, vielleicht. Beschissener Einstand. Erst ein Sonnenstich und zur Krönung der Herzinfarkt. Armes Schwein!«, sagte der Polizist.

Becker ging nicht mehr darauf ein. Er untersuchte die Hand. »Wissen Sie, ob der Mann bei seinem Tod einen Ring getragen hat?«,

erkundigte er sich schließlich.

Der Beamte hob den Kopf. »Einen Ring?« »Ja. Sehen Sie sich das mal an.«

Der Polizist trat neben Becker.

Tankados Linke war sonnenverbrannt bis auf ein schmales helles Band um den kleinsten der drei Finger.

Becker zeigte auf die helle Stelle. »Sehen Sie? Hier ist die Haut nicht gerötet. Sieht aus, als hätte er einen Ring getragen.«

»Einen Ring?«, wiederholte der Beamte ziemlich perplex. Er betrachtete eingehend den Finger der Leiche und wurde auf einmal verlegen. »Mierda, « stotterte er, »dann hat die Geschichte also doch

gestimmt.«

Becker bekam plötzlich ein flaues Gefühl. »Bitte, welche


Geschichte?«

Der Polizist schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich hätte es Ihnen vielleicht schon früher sagen sollen... aber ich habe gedacht, der alte

Knabe hätte einen Sprung in der Schüssel.«

Beckers Lächeln war erstorben. »Welcher alte Knabe?«

»Der Alte, der den Krankenwagen gerufen hat. Ein kanadischer Tourist. Er war ganz aus dem Häuschen und hat mir die Ohren voll gesabbelt wegen einem Ring. Im schlimmsten Spanisch, das ich je

gehört habe.«

»Er hat also gesagt, Mr Tankado hätte einen Ring getragen?«

Der Beamte nickte. Er fischte eine Ducado-Zigarette aus der Brusttasche, beäugte kurz das NO-FUMAR-Schild und steckte sich den Glimmstängel an. »Ich hätte es Ihnen besser gleich gesagt, aber ich habe gedacht, der Alte ist total loco.«

Becker runzelte nachdenklich die Stirn. Strathmores Worte klangen ihm noch in den Ohren. Ich brauche alles, was Ensei Tankado bei sich hatte. Restlos alles. Lassen Sie nichts liegen, und

wenn's nur ein Zettelchen ist.

»Wo ist der Ring jetzt?«, wollte Becker wissen.

Der Polizist stieß eine Rauchwolke aus. »Das ist eine lange Geschichte.«

Becker hatte das unbestimmte Gefühl, dass das keine gute Nachricht war. »Erzählen Sie mir die Geschichte trotzdem.«


KAPITEL 15

Susan Fletcher saß an ihrem Computerterminal in Node 3, wie der in Anlehnung an einen Netzwerkknoten benannte schalldichte private Arbeits- und Aufenthaltsraum der Kryptographen genannt wurde, der sich an den von der Kuppel überwölbten Hauptraum seitlich anschloss. Durch eine fünf Zentimeter starke geschwungene Panoramaverglasung aus Einwegspiegelglas hatten die Kryptographen ungehinderte Sicht auf das Geschehen draußen im Hauptraum der

Kuppel, während sie selbst unsichtbar blieben.

Im hinteren Bereich des reichlich bemessenen Quartiers war ein Ring von zwölf Computerterminals aufgebaut. Die Kreisform sollte den intellektuellen Austausch unter den Kryptographen fördern und sie gleichzeitig daran erinnern, dass sie Teil eines großen Teams

waren.

Im als »Laufstall« apostrophierten Node 3 war vom sterilen Ambiente der übrigen Crypto-Abteilung nichts zu spüren. Die Ausstattung des Raums war darauf angelegt, eine Art Wohnzimmeratmosphäre zu vermitteln – dicke Teppiche, eine hochwertige Stereoanlage, eine kleine Küche mit stets gefülltem Kühlschrank, sogar ein Basketballring. Die NSA betrieb die Crypto-Abteilung mit einer klaren Philosophie: Wer ein paar Milliarden in einen Dechiffriercomputer steckt, muss auch den Besten der Besten

einen Grund geben, hier zu bleiben und das Ding zu benutzen.


Susan schlüpfte aus ihren flachen Salvatore-Ferragamo-Slippern und ließ die bestrumpften Füße im dicken Flausch des Teppichs versinken. Besser bezahlten Regierungsbeamten wurde nahe gelegt, ihre Wohlsituiertheit nicht zur Schau zu stellen. Susan hatte damit keine Probleme. Mit einer konservativen Garderobe und ihrem schlichten zweitürigen Volvo war sie vollkommen zufrieden. Aber Schuhe waren etwas anderes. Schon im College hatte sie an den

Schuhen nicht gespart und immer nur das Beste gekauft.

Wie willst du nach den Sternen greifen, wenn dir die Füße wehtun?, hatte ihre Tante einmal gesagt. Und wenn du da oben ankommst, wo du hinwillst, dann sieh gefälligst zu, dass du auch

blendend aussiehst!

Susan gönnte sich den Luxus, sich kurz zu räkeln, und rief ihr Tracer-Programm auf. Sie betrachtete die E-Mail-Adresse, die

Strathmore ihr gegeben hatte:

NDAKOTA@ARA.ANON.ORG

Sie begann mit der Konfiguration. Der Mann, der sich North Dakota nannte, hatte einen anonymen E-Mail-Account, aber nicht mehr lange. Der Tracer würde bei ARA auflaufen, an North Dakota weitergeleitet werden und von dort eine Reihe Informationen

inklusive der wahren E-Mail-Adresse des Teilnehmers zurücksenden.

Wenn alles gut ging, war North Dakota schon bald dingfest gemacht, und Strathmore konnte dessen Schlüssel aus dem Verkehr ziehen. Dann war nur noch Tankados Key im Spiel. Wenn David ihn gefunden hatte, konnte auch dieser Schlüssel vernichtet werden, und damit war Tankados Zeitbombe entschärft – eine tödliche

Sprengladung zwar, aber ohne Zünder.

Susan verglich noch einmal die in das Datenfeld eingegebene E­Mail-Adresse mit ihrem Zettel. Sie fand es amüsant, dass Strathmore


es nicht geschafft hatte, den Tracer selbst loszuschicken. Offenbar hatte er bei zwei Versuchen jedes Mal Tankados Adresse zurückbekommen, statt der von North Dakota. Er hat sich vermutlich vertan und die Datenfelder vertauscht, dachte Susan, und dann hat der Tracer nach dem falschen Account gesucht. Susan hatte die Konfiguration abgeschlossen. Sie wählte sich ins Internet ein und

drückte die Enter-Taste. Der Computer piepste:

TRACER ABGESCHICKT

Jetzt begann das Warten.

Susan atmete tief aus. Ihre heftige Reaktion gegenüber dem Commander machte ihr zu schaffen. Wenn überhaupt jemand mit der bedrohlichen Lage im Alleinflug fertig werden konnte, dann war es Commander Trevor Strathmore — mit seiner geradezu unheimlichen

Fähigkeit, jeden Herausforderer aufs Kreuz zu legen.

Als vor längerer Zeit die EFF mit der Geschichte hausieren ging, ein Unterseeboot der NSA würde transozeanische Telefonkabel anzapfen, lancierte Strathmore in aller Seelenruhe die Ente, das besagte U-Boot würde in Wirklichkeit illegal hochtoxische Abfälle verklappen. Die EFF und die Meeres-UmWeltschützer gerieten sich daraufhin endlos darüber in die Haare, welche Version die richtige sei. Die Medien waren die Geschichte bald leid und gingen zu anderen

Themen über.

Strathmore unternahm keinen Schritt, ohne ihn sorgfältig und bis ins letzte Detail durchzuplanen, wobei er sich beim Entwurf und bei der Überprüfung massiv auf seinen Computer stützte. Wie viele NSA­Beamte benutzte auch er eine von der NSA entwickelte Software namens BrainStorm – eine bewährte Methode, um »Was-wäre-wenn-Szenarien« risikolos auf dem Computer durchzuspielen.

BrainStorm war eine künstliche Spielwiese für das


nachrichtendienstliche Milieu, das von seinen Entwicklern als Ursache-Wirkung-Simulator bezeichnet wurde. Ursprünglich war das Programm für Wahlkampagnen entwickelt worden, um Echtzeitmodelle von gegebenen politischen »Environments« zu berechnen. Das mit einer Unmenge von Daten gefütterte Programm erzeugte ein relationales Netz – ein hypothetisches Interaktionsmodell zahlreicher politischer Variablen, einschließlich der gegenwärtigen Politprominenz und ihrer Stäbe, der gegenseitigen Beziehungen, der heißen Themen und der Motivation der einzelnen Bewerber, gewichtet mit Variablen wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, finanzieller Rückhalt und Macht. Der Anwender konnte ein beliebiges hypothetisches Ereignis in das Programm eingeben, worauf

BrainStorm die Auswirkung auf das »Environment« berechnete.

Commander Strathmore arbeitete hingebungsvoll mit diesem Simulationsprogramm, das generell eine zeitbezogene Abbildung von im Fluss befindlichen Ereignissen ermöglichte: ein äußerst effektives Werkzeug zur Planung komplexer Strategien und zur Vorhersage ihrer möglichen Schwächen. Susan hatte den Verdacht, dass in Strathmores Computer Pläne schlummerten, die geeignet waren, eines Tages die

Welt zu verändern.

Ja, du bist zu heftig gewesen, dachte sie.

Das Zischen der pneumatischen Schiebetüren von Node 3 riss sie aus ihren Gedanken. Strathmore kam hereingeplatzt.

»Susan«, rief er, »David hat gerade angerufen. Es gibt eine Verzögerung.«


KAPITEL 16

Es fehlt ein Ring?« Susan machte ein skeptisches Gesicht. »Tankados Ring ist abhanden gekommen?«

»Ja. Wir können von Glück sagen, dass David es gemerkt hat. Er hat aufgepasst wie ein Schießhund«, sagte Strathmore anerkennend.

»Aber Sie sind doch hinter einem Schlüssel her und nicht hinter einem Ring.«

»Das schon«, sagte Strathmore, »aber ich glaube, es könnte ein und dasselbe sein.«

Susan sah ihn verständnislos an.

»Das ist eine lange Geschichte.«

Susan zeigte auf das Tracer-Programm auf ihrem Bildschirm. »Bislang habe ich noch kein Ergebnis.«

Mit einem tiefen Seufzer begann Strathmore auf und ab zu gehen. »Es hat offenbar Zeugen von Tankados Tod gegeben. Laut Aussage des Polizisten, der im Leichenschauhaus war, hat heute Vormittag ein kanadischer Tourist völlig außer sich die Guardia Civil angerufen. Er sagte, in einem Park habe ein Japaner einen Herzanfall erlitten. Als der Polizist dort ankam, war Tankado schon tot, der Kanadier aber noch da. Der Beamte hat dann über Funk Krankenwagen und Notarzt gerufen. Der Krankenwagen hat Tankado umgehend ins Leichenschauhaus gebracht. Der Polizist hat versucht, aus dem Kanadier herauszubekommen, was passiert war. Der Tourist muss

unentwegt von einem Ring gequasselt haben, den Tankado unmittelbar vor seinem Tod weggegeben hatte.«


Susan sah Strathmore zweifelnd an. »Tankado hat einen Ring weggegeben ?«

»Ja. Offenbar hat er dem alten Kanadier mit dem Ring vor dem Gesicht herumgefuchtelt – wie um ihn anzuflehen, ihn an sich zu nehmen. Mir scheint, der alte Herr hat den Ring aus nächster Nähe sehen können.« Strathmore hörte auf, hin und her zu gehen. »Er hat

gesagt, auf dem Ring sei etwas eingraviert gewesen – eine Inschrift.«

»Eine Inschrift?«

»Jawohl, und seinen Angaben zufolge war es keine englische Inschrift.« Strathmore hob viel sagend die Brauen.

»Japanisch?«

Strathmore schüttelte den Kopf. »Das war auch mein erster Gedanke. Aber hören Sie sich das an: Der Kanadier hat sich beschwert, dass die Buchstaben überhaupt keinen Sinn ergeben hätten. Buchstaben! Japanische Schriftzeichen und unsere lateinischen Buchstaben kann man wohl kaum miteinander verwechseln. Der Alte hat gesagt, die Inschrift hätte ausgesehen, als sei eine Katze über die

Tastatur einer Schreibmaschine spaziert.«

Susan lachte ungläubig. »Commander, Sie glauben doch nicht etwa...«

»Susan«, fiel Strathmore ihr ins Wort, »ist es denn nicht sonnenklar? Tankado hat den Key für Diabolus in diesen Ring eingravieren lassen! Gold ist dauerhaft. Ob er schläft, duscht, isst – er hat die Schlüsselsequenz immer bei sich, jederzeit griffbereit zur

sofortigen Veröffentlichung.«

»Am Finger, einfach so, ganz offen?«, wandte Susan ein.


»Warum nicht? Spanien ist nicht unbedingt ein Tummelplatz für Kryptographen. Kein Mensch hätte sich einen Reim darauf machen können, was die Inschrift bedeutet. Und außerdem, selbst bei hellstem

Tageslicht könnte niemand sämtliche Zeichen fehlerfrei ablesen und sich dann auch noch komplett einprägen.«

»Und Tankado hat diesen Ring einen Augenblick vor seinem Tod einem ihm völlig fremden Menschen aufgedrängt? Aber warum

denn?«, fragte Susan ratlos.

Strathmores Augen verengten sich. »Was würden Sie denken, warum?«

Es dauerte nur einen Moment, dann hatte Susan begriffen. Ihre Augen weiteten sich.

Strathmore nickte. »Tankado hat versucht, den Ring loszuwerden! Er hat gedacht, wir hätten ihn umgebracht. Als er merkte, dass es mit ihm zu Ende ging, hat er natürlich angenommen, dass wir dahinter stecken. Der Zeitpunkt konnte für ihn kein Zufall sein. Er hat geglaubt, wir hätten ihn aufgespürt und ihn vergiftet oder sonst was, vielleicht mit einem langsam wirkenden Herzlähmungsgift. Er muss geglaubt haben, dass wir North Dakota bereits aufgespürt hätten, denn

sonst hätten wir uns nicht an ihn herangewagt.«

Susan fröstelte. »Natürlich!«, flüsterte sie. »Tankado dachte, wir hätten seine Rückversicherung neutralisiert, damit wir ihn ebenfalls liquidieren können.« Sie hatte alles begriffen. Der Herzanfall war zu einem der NSA so hervorragend ins Konzept passenden Zeitpunkt gekommen, dass Tankado die NSA einfach für verantwortlich halten musste. Sein letzter Impuls war Rache gewesen. Ensei Tankado hatte den Ring in einem verzweifelten letzten Aufbäumen verschenkt, damit der Schlüssel vielleicht doch noch öffentlich bekannt wurde. Und jetzt war ein ahnungsloser kanadischer Tourist im Besitz des Schlüssels für das wirksamste Chiffrierungs-Programm aller Zeiten. Es war kaum zu

fassen.


Susan holte tief Luft. »Wo ist dieser kanadische Tourist jetzt?«, stellte sie die längst fällige Frage.

Strathmore blickte finster drein. »Da liegt das Problem.«

»Weiß der Polizist denn nicht, wo er ist?«

»Nein. Die Geschichte des alten Kanadiers war für den Polizisten so absurd, dass er gedacht hat, der Alte steht entweder unter Schock oder er ist senil. Er hat den Kanadier jedenfalls auf den Sozius seines Motorrads geladen, um ihn in sein Hotel zu fahren. Aber der alte Mann, der offenbar nicht wusste, dass man sich auf einem Motorrad ordentlich festhalten muss, ist schon nach ein paar Metern wieder heruntergefallen, hat sich den Schädel aufgeschlagen und außerdem

das Handgelenk gebrochen.«

»Ach du liebe Zeit!«, rief Susan aus.

»Der Polizist wollte den Mann in ein Krankenhaus bringen, aber der alte Kanadier war fuchsteufelswild – er hat gesagt, eher würde er zu Fuß nach Kanada zurücklaufen, als sich noch einmal auf dieses verdammte Motorrad zu setzen. Da ist dem Polizisten nichts anderes übrig geblieben, als den Verletzten zu Fuß zu einer Klinik in der Nähe des Parks zu begleiten, wo er ihn abgeliefert hat, damit er versorgt

wird.«

»Damit wäre auch die Frage beantwortet, wohin David jetzt unterwegs ist«, sagte Susan stirnrunzelnd.


KAPITEL 17

David trat hinaus auf die glühende Plaza de Espana. Vor ihm erhob sich hinter Baumgruppen der Palacio de Espana aus einer über zwölftausend Quadratmeter großen Fläche weißblauer Fayencekacheln, den Olambrillas. Die arabischen Türmchen und die reich gestaltete Fassade gaben dem Bau eher das Aussehen eines Herrscherpalastes als eines öffentlichen Gebäudes. Das prächtige Bauwerk wurde von den Touristen vor allem deshalb besucht, weil das Fremdenverkehrsbüro damit warb, dass es in dem Film Lawrence von Arabien die Staffage für das Armee-Hauptquartier der Engländer abgegeben hatte. Für die Filmgesellschaft Columbia Pictures war es billiger gewesen, in Spanien zu drehen als in Ägypten, und außerdem war der maurische Einfluss im Stadtbild von Sevilla immer noch markant genug, um beim Zuschauer die Illusion zu wecken, er hätte

Kairo vor sich.

Becker stellte auf seiner Seiko die Ortszeit ein – einundzwanzig Uhr dreißig, nach lokalen Vorstellungen immer noch so etwas wie Spätnachmittag. Ein echter Spanier nahm die Abendmahlzeit nie vor Sonnenuntergang ein, und die träge andalusische Sonne sank selten

vor zehn Uhr abends hinter den Horizont.

Obwohl es so früh am Abend noch mächtig heiß war, strebte Becker im Eiltempo durch den Park. Strathmores Ton war weitaus ungeduldiger gewesen als am Morgen. Seine neuen Direktiven ließen für Interpretationen keinen Spielraum: Machen Sie den Kanadier ausfindig, und beschaffen Sie sich den Ring. Egal, wie Sie es

anstellen: Beschaffen Sie sich diesen Ring!

Becker fragte sich, was es mit diesem buchstabenübersäten Ring auf sich hatte. Strathmore hatte keine Erklärung geliefert, und Becker hatte ihn nicht danach gefragt. NSA, dachte Becker, niemand soll's

ahnen.

Die Klinik auf der anderen Seite der Avenida Isabela Católica war anhand des auf das Dach gemalten internationalen


Erkennungszeichens inzwischen deutlich auszumachen: ein rotes Kreuz in einem weißen Kreis. Der Polizist hatte den Kanadier schon vor Stunden dort eingeliefert. Gebrochenes Handgelenk, Beule am Kopf – der Patient war bestimmt längst versorgt und nach Hause geschickt worden. Becker hoffte, dass die Klinik Entlassungspapiere ausgestellt hatte, aus denen ein Hotel in der Stadt oder eine Telefonnummer hervorging, wo man den Mann erreichen konnte. Mit ein bisschen Glück, dachte Becker, hast du ihn schnell gefunden und

kannst dich mit dem Ring in der Tasche auf den Heimflug machen.

»Wenn es sein muss, nehmen Sie eben die zehn Riesen und kaufen dem Mann den Ring ab«, hatte Strathmore gesagt. »Das Geld

bekommen Sie von mir zurück.«

»Das ist nicht nötig«, hatte Becker geantwortet. Er hätte das Geld ohnehin zurückgegeben. Er war nicht des Geldes wegen nach Spanien gefahren, sondern für Susan. Commander Trevor Strathmore war Susans Mentor und Schutzengel. Susan hatte ihm sehr viel zu verdanken. Einen Tag zu opfern, um für Strathmore etwas zu

besorgen, war das Mindeste, was Becker tun konnte.

Unglücklicherweise hatte am Vormittag nicht alles geklappt wie von Becker geplant. Er hatte gehofft, Susan vom Flugzeug aus anrufen zu können, um alles zu erklären. Er hatte sogar erwogen, den

Piloten zu bitten, über Funk eine Nachricht an Strathmore abzusetzen, damit der Commander Susan unterrichten konnte, aber er wollte den stellvertretenden Direktor der NSA dann doch nicht mit seinen

privaten Beziehungsproblemen belasten.

Becker hatte inzwischen drei Mal versucht, Susan anzurufen – zuerst vom Flugzeug aus mit einem nicht funktionierenden Bordtelefon, dann aus einer Telefonzelle am Flughafen und zuletzt noch einmal aus dem Leichenschauhaus. Susan war jedes Mal nicht zu Hause. David fragte sich, wo sie stecken mochte. Der Anrufbeantworter war angesprungen, aber Becker hatte keine Nachricht hinterlassen. Ein derartiges Gerät war nicht der geeignete


Empfänger für das, was er zu sagen hatte.

Als er sich am Ende des Parks der Straße näherte, sah er eine Telefonzelle. Er lief hin, riss den Hörer von der Gabel, schob die Telefonkarte in den Schlitz und wählte. Es dauerte ewig, bis die

Verbindung zustande kam. Schließlich hörte er es klingeln. Nun mach schon! Und sei gefälligst zu Hause.

Nach fünf Klingelzeichen knackte es im Hörer.

»Hallo, hier spricht Susan Fletcher. Leider bin ich im Moment nicht zu Hause, aber wenn Sie Ihren Namen und ...«

Becker hörte sich die Ansage an. Wo zum Teufel steckt sie nur? Susan war inzwischen wohl der Panik nahe. Ob sie vielleicht nach

Stone Manor vorausgefahren war? Der Piepston kam.

»Hallo, hier ist David.« Er wusste nicht, was er sagen sollte, und verstummte. An Anrufbeantwortern hasste er am meisten, dass sie einen abwürgten, sobald man nicht mehr weiterwusste. »Tut mir Leid, dass ich dich nicht anrufen konnte«, sagte er gerade noch so rechtzeitig, dass das Gerät nicht abschaltete. Er überlegte, ob er Susan sagen sollte, was los war, ließ es aber sein. »Ruf Commander Strathmore an. Er wird dir alles erklären.« Beckers Herz pochte. Oh, wie verfahren das alles ist!, dachte er. »Ich liebe dich!«, setzte er noch schnell hinzu und hängte ein. Susan nahm inzwischen bestimmt schon

das Schlimmste an. Es war überhaupt nicht seine Art, sich nicht zu melden, zumal wenn er es versprochen hatte.

Becker wartete eine Lücke im Verkehr ab, um die Avenida Borbolla zu überqueren. Er trat hinaus auf den vierspurigen Boulevard. Rein und raus, murmelte er vor sich hin. Rein und raus. Er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um den Mann mit der Nickelbrille zu bemerken, der ihn von der anderen Straßenseite aus


beobachtete.


KAPITEL 18

Tokugen Numataka stand vor dem riesigen Panoramafenster eines Wolkenkratzers in der Innenstadt von Tokio. Lächelnd nahm er einen tiefen Zug von seiner Zigarre. Unglaublich, wie sehr ihn das Glück begünstigt hatte! Er hatte inzwischen ein zweites Mal mit dem Amerikaner gesprochen. Wenn alles nach Plan verlaufen war, war

Ensei Tankado schon eliminiert und sein Key geborgen.

Welch eine Ironie, dachte Numataka, dass das Schicksal ausgerechnet ihm am Ende Tankados Schlüssel zuspielen sollte. Vor vielen Jahren war er Ensei Tankado schon einmal begegnet, als sich der damals noch sehr junge Programmierer frisch vom College bei der

Numatech Corporation beworben hatte.

Numataka hatte ihn nicht genommen. Tankados fachliche Kompetenz stand außer Frage, aber zu jener Zeit spielten noch andere Überlegungen eine Rolle. Japan befand sich zwar schon im Wandel, aber Numatako war in der alten Schule groß geworden und lebte noch nach dem Verhaltenscode des menboku – der Ehre und des Gesichtwahrens. Unvollkommenes konnte nicht geduldet werden. Einen Krüppel einzustellen hätte Schande über sein Unternehmen gebracht. Tankados Bewerbungsunterlagen hatte er beiseite gelegt,

ohne einen Blick darauf zu werfen.

Numataka schaute wieder auf die Uhr. Der Anruf des

Amerikaners, North Dakota, war inzwischen überfällig. Numataka spürte einen Anflug von Nervosität. Hoffentlich war nichts schief gegangen.

Wenn Diabolus leistete, was man ihm versprochen hatte, würde er das begehrteste Produkt des Computerzeitalters erhalten – einen absolut unverwundbaren digitalen Verschlüsselungs-Algorithmus. Numataka würde damit einen manipulationsgeschützten, versiegelten hochintegrierten Mikroprozessor, einen VLSI-Chip, programmieren und Weltweit massenweise vertreiben – an Computerhersteller, Zulieferindustrien, Regierungen und vielleicht sogar in dunkle


Kanäle ... den Markt des internationalen Terrorismus.

Numataka lächelte. Wie gewöhnlich schien er auch diesmal die Gunst der shichifukujin gefunden zu haben – der sieben Glücksgötter. Seine Numatech Corporation war drauf und dran, die alleinige Kontrolle über Diabolus zu bekommen. Zwanzig Millionen Dollar war enorm viel Geld – aber angesichts eines solchen Produkts war es

der Spottpreis des Jahrhunderts!


KAPITEL 19

Und wenn noch jemand anders hinter dem Ring her ist?«, fragte Susan, die plötzlich nervös geworden war. »Wäre das für David nicht

gefährlich?«

Strathmore schüttelte den Kopf. »Kein Mensch weiß, dass es diesen Ring überhaupt gibt. Ich habe David ja gerade deswegen geschickt, weil mir daran gelegen ist, dass es auch so bleibt. Einem

Lehrer sind normalerweise keine Schnüffler auf den Fersen.«

»David ist Professor!«, verbesserte Susan und bedauerte die Klarstellung noch im selben Atemzug. Leider hatte sie häufig das Gefühl, dass David dem Commander irgendwie nicht gut genug war. Strathmore schien zu glauben, Susan hätte etwas Besseres verdient als

einen Pauker.

»Commander«, sagte sie, um beim ursprünglichen Thema zu bleiben. »Sie haben David heute früh doch per Autotelefon instruiert.

Könnte da nicht jemand mitgehört...«

»Die Wahrscheinlichkeit ist eins zu eine Million«, fiel ihr Strathmore ins Wort. »Der Lauscher hätte sich im engsten Umkreis befinden und außerdem wissen müssen, worum es überhaupt geht.« Er legte Susan beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich hätte David niemals losgeschickt, wenn ich die Sache in irgendeiner Weise für gefährlich gehalten hätte.« Er lächelte. »Vertrauen Sie mir. Beim

geringsten Anzeichen von Ärger schicke ich meine Profis ins Feld.«

Ein heftiges Pochen gegen die gläserne Schiebetür von Node 3 akzentuierte Strathmores Worte. Susan und Strathmore fuhren herum.

Draußen presste der System- Security-Techniker Phil Charturkian verzweifelt das Gesicht gegen das Spiegelglas der Schiebetür und versuchte etwas zu erkennen, wobei er wie wild gegen die dicken


Scheiben hämmerte. Dass er aufgeregt etwas rief, war zwar zu sehen, aber durch die schalldichte Verglasung nicht zu hören.

Charturkian sah aus, als wäre ihm ein Gespenst begegnet.

»Was zum Teufel hat der Mann hier zu suchen?«, brummte Strathmore ärgerlich. »Er hat doch heute keinen Dienst!«

»Das sieht nach Ärger aus«, meinte Susan. »Vermutlich hat er auf seinem Monitor die Kontrollanzeige gesehen.«

»Verdammt!«, fluchte Strathmore. »Ich habe den Sys-Sec vom Dienst gestern Nacht extra noch angerufen und ihm gesagt, dass er

nicht zu kommen braucht!«

Susan war nicht überrascht – eine Sys-Sec-Schicht abzublasen war mehr als ungewöhnlich. Strathmore hatte natürlich ungestört sein wollen. Diabolus an die große Glocke zu hängen, weil ein nervöser Sys-Sec meinte, Lärm schlagen zu müssen, war das Letzte, woran ihm

gelegen sein konnte.

»Wir sollten einen Programmabbruch vornehmen«, sagte Susan. »Dann fängt der Kontrollmonitor vom TRANSLTR wieder bei null an zu zählen, und wir können behaupten, Phil hätte sich etwas

eingebildet.«

»Nein, noch nicht«, sagte Strathmore nach kurzem Nachdenken. »Der TRANSLTR fährt jetzt seinen Angriff seit fünfzehn Stunden. Ich möchte ihn volle vierundzwanzig Stunden durchlaufen lassen –

um endgültig sicher zu sein.«

Susan musste ihm Recht geben. Diabolus war das erste Chiffrierprogramm mit rotierendem Klartext. Vielleicht hatte Tankado etwas übersehen. Vielleicht würde es der TRANSLTR nach vollen vierundzwanzig Stunden doch geschafft haben. Aber Susan wollte

nicht so recht daran glauben.


»Der TRANSLTR läuft weiter«, entschied Strathmore. »Ich muss wissen, ob dieser Algorithmus unangreifbar ist.«

Charturkian hämmerte immer noch gegen die Schiebetür.

Strathmore holte tief Luft und machte sich auf zum Eingang. »Alsdann«, sagte er, »decken Sie mir den Rücken.« Der Fußkontakt

sprach an, und die Scheiben fuhren zischend auseinander.

Charturkian kam praktisch hereingeflogen. »Commander, Sir... es tut mir Leid, dass ich Sie störe, aber... der Kontrollmonitor... Ich habe

schon ein Antivirenprogramm laufen lassen, aber...«

»Phil, Phil, Phil«, sagte der Commander beruhigend und legte dem jungen Techniker väterlich die Hand auf die Schulter. »Nun mal

langsam. Wo drückt uns denn der Schuh?«

Dem Ton des Commanders war in keiner Weise anzuhören, dass um ihn herum die Welt zusammenbrach. Er trat einen Schritt beiseite und komplimentierte Charturkian in die heiligen Hallen von Node 3. Zögernd wie ein gut dressierter Hund, der weiß, was er darf und was

nicht, trat der Techniker näher.

An Charturkians verblüfftem Gesichtsausdruck war deutlich abzulesen, dass er diesen Ort noch nie von innen gesehen hatte. Die Ursache seiner Panik trat vorübergehend in den Hintergrund. Neugierig sah er sich in dem gepflegten Ambiente um, registrierte den Kranz der Terminals, die Bücherregale, die Polstermöbel und die gedämpfte Beleuchtung. Als sein Blick auf Susan Fletcher fiel, die Statthalterin dieses Ortes, senkte er schnell den Blick. Susan Fletcher schüchterte ihn maßlos ein. Ihr Gehirn schien auf einer ihm unzugänglichen Ebene zu funktionieren, und außerdem war sie auf eine beklemmende Weise schön. Wenn er vor ihr stand, wollte ihm kein vernünftiger Satz mehr gelingen, und ihre legere Art machte alles

noch schlimmer.


»Wo brennt's denn?«, sagte Strathmore und öffnete den Kühlschrank. »Möchten Sie was trinken?«

»Nein, äh... nein, danke, Sir.« Charturkian schien die Zähne nicht auseinander zu bekommen. Er war unsicher, ob er tatsächlich willkommen war. »Sir... ich glaube, es gibt ein Problem mit dem

TRANSLTR.«

Strathmore machte den Kühlschrank wieder zu und streifte Charturkian leichthin mit einem Blick. »Ach, Sie meinen, wegen des

Kontrollmonitors?«

Charturkian war perplex. »Dann... dann haben Sie es schon bemerkt?«, stotterte er.

»Aber sicher. Der TRANSLTR müsste jetzt seit ungefähr sechzehn Stunden laufen, wenn ich mich nicht irre.«

Charturkian schaute ratlos drein. »Jawohl, Sir, sechzehn Stunden. Aber das ist noch nicht alles, Sir. Ich habe ein Antivirenprogramm

laufen lassen, und das Ergebnis war lauter komisches Zeug.«

»So, so.« Der Commander schien sich keine Sorgen zu machen. »Komisches Zeug also.«

Susan war beeindruckt, wie der Commander die Situation meisterte.

Charturkian versuchte es noch einmal. »Der TRANSLTR muss auf etwas gestoßen sein, das er noch nicht kennt, etwas, was das Filtersystem noch nicht gesehen hat. Ich fürchte, der TRANSLTR hat

sich einen Virus eingefangen.«

»Einen Virus?« Strathmore lachte amüsiert auf, allerdings nicht


ohne eine gewisse Herablassung. »Phil, ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen, ganz bestimmt. Aber Miss Fletcher und ich lassen gerade ein neues Diagnoseprogramm laufen, eine sehr fortschrittliche Entwicklung. Ich hätte Sie natürlich davon in Kenntnis gesetzt, aber

es ist mir leider entgangen, dass Sie heute Dienst haben.«

Der Sys-Sec-Techniker versuchte verzweifelt, geschickt zu parieren. »Ich... ich habe mit dem Neuen getauscht. Ich habe seine

Wochenendschicht übernommen.«

Strathmores Augen wurden schmal. »Das ist aber merkwürdig. Als ich gestern Nacht mit dem Mann telefoniert habe, um ihm zu sagen, dass er nicht zu kommen braucht, hat er von einem Tausch der

Schichten überhaupt nichts erwähnt.«

Charturkian bekam einen Kloß im Hals, der immer dicker wurde. Eine peinliche Stille entstand.

»Na gut«, sagte Strathmore schließlich und seufzte. »Hier liegt wohl ein unglückliches Missverständnis vor.« Er legte dem Techniker den Arm um die Schulter und schob ihn sanft zur Tür. »Sie dürfen sich jetzt darüber freuen, dass Sie hier nicht mehr gebraucht werden. Miss Fletcher und ich werden den ganzen Tag hier sein und die

Stellung halten. Machen Sie sich ein angenehmes Wochenende.«

Charturkian zögerte. »Commander, ich glaube wirklich, dass wir...«

»Phil«, sagte Strathmore nun schon etwas gereizt, »der TRANSLTR ist in Ordnung! Wenn Sie bei Ihrer Überprüfung auf etwas Merkwürdiges gestoßen sind, dann deshalb, weil Miss Fletcher und ich es so gewollt haben. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen...« Strathmore verstummte. Charturkian verstand. Seine Zeit war

abgelaufen.


Ein Diagnoseprogramm?, murmelte Charturkian vor sich hin, während er wütend in die Sys-Sec-Abteilung zurücktrottete. Die wollen dich wohl verarschen! Eine Schleifenfunktion, an der drei

Millionen Prozessoren sechzehn Stunden lang herumknacken!

Charturkian überlegte, ob er seinen Abteilungsleiter anrufen sollte. Verdammtes Kryptographenpack! Von Computertechnik keine

Ahnung!

Der Diensteid ging ihm durch den Kopf, den er zu Beginn seiner Anstellung in der Sys-Sec-Abteilung geleistet hatte. Er hatte gelobt, nach besten Kräften Können, Wissen und Instinkt zum Schutz der

Milliardeninvestition der NSA einzusetzen.

Instinkt! Man braucht kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass das kein vermaledeites Diagnoseprogramm ist! Das sagt einem doch schon der Instinkt!

Charturkian stapfte trotzig zu seinem Terminal und rief alles auf, was er an Systemüberwachungs- Software auf Lager hatte.

Mein lieber Commander, Ihr Spielzeug ist in Gefahr!, schimpfte er vor sich hin. Mein Instinkt ist Ihnen nicht seriös genug? Ich werd's

Ihnen beweisen!


KAPITEL 20

La Clinica de Sanidad Pública war eigentlich eine zweckentfremdete Volksschule. Das lang gestreckte einstöckige Backsteingebäude mit großen Fenstern und rostigen Kinderschaukeln im Hof hatte mit der landläufigen Vorstellung von einem Krankenhaus wenig zu tun. Becker stieg die bröckelnden Stufen

hinauf.

Drinnen war es düster und laut. Das Wartezimmer bestand aus einer Reihe von Klappstühlen, die in einem schmalen und endlos langen Korridor herumstanden. In einem hölzernen Bock klemmte ein Pappschild mit der Aufschrift OFICINA und einem Pfeil, der den

Korridor hinunterwies.

Becker ging den spärlich beleuchteten Flur hinunter. Er kam sich vor wie in der Szenerie eines drittklassigen Horrorfilms. Es roch nach Urin, und auf den letzten zwölf bis fünfzehn Metern war auch noch der letzte Rest der Beleuchtung kaputt. Seine Wahrnehmung reduzierte sich auf schemenhafte Silhouetten –eine blutende Frau... ein heulendes Pärchen... ein betendes kleines Mädchen. Becker hatte das Ende des Korridors erreicht. Links war eine angelehnte Tür. Er stieß sie auf. Der Raum war vollkommen leer bis auf eine nackte

Greisin, die mit ihrem Nachtgeschirr kämpfte.

Na prächtig! Becker schloss die Tür. Wo zum Teufel ist die Aufnahme?

Der Korridor machte einen Knick. Becker hörte laute Stimmen. Er folgte dem Geschrei und gelangte zu einer Milchglastür, hinter der ein Streit in Gang zu sein schien. Zögernd drückte er die Tür auf. Die

Aufnahme. Totales Chaos. Wie schon befürchtet.

Drängelnd, schreiend und gestikulierend standen etwa zehn Personen an. Eine einzige Schwester saß hinter dem Empfangstresen und versuchte, der zeternden Patienten Herr zu werden. Spanien war


nicht gerade für zügige Abfertigung bekannt. Bis Becker die Entlassungspapiere des Kanadiers zu Gesicht bekam, konnte er sich hier vermutlich die ganze Nacht die Beine in den Bauch stehen. Er stand unschlüssig zwischen Tür und Angel und überlegte, was er

machen sollte. Gab es keine bessere Möglichkeit?

»jCon permiso!«, schrie ein Pfleger, der im Eiltempo eine Krankenbahre herbeischob.

Becker fuhr herum und sprang aus dem Weg. »iDonde esta el teléfono?«, rief er dem bereits wieder entschwindenden Pfleger

hinterher.

Ohne das Tempo im Geringsten zu verringern, deutete der Mann auf eine Schwingtür und war schon um die Ecke verschwunden.

Becker ging zu der Tür und trat durch die wippenden Flügel.

Vor ihm lag ein riesiger Saal - die ehemalige Turnhalle. Der blassgrüne Boden verschwamm unter den summenden Leuchtstoffröhren vor seinen Augen. An der Wand hing ein schlapper Basketballkorb an seinem Brett. Ein paar Dutzend Patienten lagen auf niedrigen, willkürlich über den Raum verteilten Feldbetten. In der hintersten Ecke hing unter einer blind gewordenen Anzeigetafel ein alter Münzfernsprecher an der Wand. Becker konnte nur hoffen, dass

er noch funktionierte.

In der Tasche wühlend, ging er darauf zu. Er fand das Wechselgeld vom Taxi - gerade genug für drei Ortsgespräche. Becker hob den Hörer von der Gabel und wählte die Auskunft. Dreißig Sekunden

später hatte er die Nummer der Aufnahme dieser Klinik.

Weltweit schien es für öffentliche Dienststellen eine allgemeinverbindliche Regel zu geben: Ein Telefon darf nicht unbeantwortet klingeln! Stets wurde sofort abgehoben und alles andere stehen und liegen gelassen, gleichgültig, wie viele Leute auf


ihre Abfertigung warteten.

Becker wählte die sechsstellige Nummer. Die Aufnahme der Klinik würde umgehend mit ihm sprechen. Heute war bestimmt nur ein einziger Kanadier mit gebrochenem Handgelenk und Gehirnerschütterung eingeliefert worden. Die Unterlagen mussten leicht zu finden sein. Becker rechnete zwar damit, dass man einem Unbekannten nur ungern den Namen des Patienten und die

Entlassungsadresse nennen würde, aber er hatte einen Plan.

Das Telefon begann zu klingeln. Beckers Erwartung, dass man nach längstens fünf Klingelzeichen abheben würde, wurde herb

enttäuscht. Es läutete neunzehn Mal.

»jCUnica de Sanidad Püblica!«, bellte die Stimme einer aufgebrachten Schwester aus dem Hörer.

»Hier spricht David Becker«, sagte Becker auf Spanisch mit schwerem frankokanadischem Akzent. »Ich bin vom kanadischen Konsulat. Sie haben heute einen unserer Staatsbürger versorgt. Ich hätte gern seine Personalien, damit das Konsulat die

Behandlungskosten übernehmen kann.«

»Sehr schön«, antwortete die Schwester. »Ich schicke Ihrem Konsulat gleich am Montag die Rechnung zu.«

»Es ist leider unerlässlich, dass ich sie sofort bekomme«, drängelte Becker.

»Unmöglich«, sagte die Schwester, »wir haben unheimlich viel zu tun.«

»Es handelt sich leider um eine außergewöhnlich dringliche Angelegenheit«, sagte Becker und bemühte sich um einen offiziellen


Tonfall. »Der Mann hatte ein gebrochenes Handgelenk und eine Kopfverletzung. Er ist im Laufe des heutigen Vormittags von Ihnen

versorgt worden. Seine Papiere müssten noch ganz obenauf liegen.«

Becker hatte seinem Akzent eine noch penetrantere Färbung gegeben. Sein Spanisch war gerade noch verständlich genug, um sein Anliegen vorzutragen, andererseits schon so miserabel, dass es der Schwester auf die Nerven gehen musste. Leute, denen man auf die

Nerven ging, ließen oft fünf gerade sein, nur um Ruhe zu haben.

Nicht so diese Schwester. Sie warf ihm ein paar Grobheiten an den Kopf, beschimpfte ihn als eingebildeten Amerikaner und schmiss den

Hörer hin.

Stirnrunzelnd legte Becker den Hörer wieder auf die Gabel. Fehlanzeige. Der Gedanke, womöglich stundenlang anstehen zu müssen, behagte ihm gar nicht. Die Uhr tickte. Der alte Kanadier konnte inzwischen sonstwo sein, möglicherweise bereits auf der Heimreise nach Kanada, und vielleicht hatte er den Ring sogar verkauft. Becker hatte nicht die Zeit, stundenlang Schlange zu stehen. Entschlossen griff er wieder zum Telefon und wählte die Nummer noch einmal. Den Hörer ans Ohr gepresst, lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand. Es begann zu klingeln. Einmal... zweimal...

dreimal...

Ein plötzlicher Adrenalinstoß jagte durch seinen Körper. Er legte den Hörer auf die Gabel zurück. In maßlosem Erstaunen glotzte er stumm in die Halle. Ein älterer Mann mit einem Stapel schmuddeliger Kissen im Rücken lag direkt vor ihm auf einem Feldbett. Sein

Handgelenk steckte in einem frischen weißen Gipsverband.


KAPITEL 21

Der Amerikaner am anderen Ende von Tokugen Numatakas Privatanschluss schien es eilig zu haben.

»Mr Numataka, ich habe nur einen Augenblick Zeit.«

»Gut. Ich darf wohl annehmen, dass Sie inzwischen über beide Schlüssel verfügen.«

»Es wird eine kleine Verzögerung geben.«

»Das ist inakzeptabel!«, zischte Numataka. »Sie haben gesagt, bis zum Ende des heutigen Tages seien beide Schlüssel in Ihrem Besitz!«

»Es gibt gewisse Schwierigkeiten.«

»Ist Tankado noch nicht ausgeschaltet?«

»Oh doch«, sagte die Stimme. »Mein Mann hat ihn liquidiert, aber leider den Key nicht bergen können. Tankado hat ihn kurz vor seinem

Tod fortgegeben. An einen Touristen.«

»Das ist unerhört!«, brüllte Numataka. »Wie kommen Sie dazu, mir die exklusiven...«

»Beruhigen Sie sich«, sagte der Amerikaner. »Sie werden Ihre exklusiven Rechte bekommen. Das garantiere ich Ihnen. Diabolus

wird Ihnen gehören, sobald der fehlende Schlüssel geborgen ist.« »Aber er könnte inzwischen kopiert worden sein!«


»Jeder, der den Key zu sehen bekommt, wird eliminiert.«

Ein langes Schweigen entstand. Numataka ergriff schließlich das Wort. »Wo ist der Key jetzt?«

»Für Sie ist nur von Interesse, dass er gefunden werden wird.«

»Was gibt Ihnen diese Gewissheit?«

»Weil ich nicht als Einziger danach suche. Der amerikanische Geheimdienst hat von dem fehlenden Schlüssel Wind bekommen. Aus nahe liegenden Gründen ist ihm daran gelegen, dass Diabolus nicht auf den Markt kommt. Man hat einen Mann geschickt, der den

Schlüssel beschaffen soll. Er heißt David Becker.« »Woher wissen Sie das?«

»Das geht Sie nichts an.«

Numataka überging die Unverschämtheit. »Und wenn dieser Becker nun den Schlüssel findet?«

»Mein Mann wird sich von ihm den Schlüssel aushändigen lassen.«

»Wie das?«

»Das braucht Sie nicht zu kümmern«, sagte der Amerikaner kalt. »Wenn Mr Becker den Key gefunden hat, wird ihn mein Mann

entsprechend belohnen.«


KAPITEL 22

Nach wenigen Schritten stand David Becker bei dem alten Mann, der auf dem Feldbett schlief. Er betrachtete ihn. Der alte Herr mochte zwischen sechzig und siebzig sein. Sein schlohweißes Haar war auf der Seite ordentlich gescheitelt. Mitten auf seiner Stirn prangte ein dickes Veilchen, das sich bis zum rechten Auge zog. Sein rechtes

Handgelenk war eingegipst.

Eine kleine Beule?, dachte Becker, dem die Worte des Polizisten noch in den Ohren klangen. Er betrachtete die Hände des Mannes. Nirgendwo ein goldener Ring. Becker bückte sich und rüttelte den

alten Herrn leicht am Arm. »Sir? Entschuldigen Sie ... Sir?«

Der Mann rührte sich nicht.

Becker versuchte es noch einmal, diesmal ein wenig nachdrücklicher. »Sir?«

Der Mann bewegte sich. »Qu'est-ce ... quelle heure est...« Langsam schlug er die Augen auf und sah Becker an. Unwillig über

die Störung, runzelte er die Stirn. »Quest-ce-que vous voulez?«

Aha, dachte Becker, ein Franko-Kanadier. Er lächelte den Mann an. »Haben Sie einen Augenblick für mich Zeit?«

Becker sprach zwar fließend Französisch, aber er benutzte bewusst die Sprache, die dieser Mann hoffentlich weniger gut beherrschte: Englisch. Einen völlig Unbekannten dazu zu bewegen, einen goldenen Ring herauszugeben, konnte schwierig werden. Ein kleiner

Heimvorteil kann da nicht schaden, dachte Becker.

Eine lange Pause entstand. Der Mann kam allmählich zu sich. Er musterte seine Umgebung und zupfte mit einem langen Finger den


kraftlos herabhängenden weißen Schnurrbart zurecht. »Was wollen Sie«, sagte er endlich. Sein Englisch hatte einen nasalen Unterton.

»Sir«, sagte Becker überdeutlich wie zu einem Schwerhörigen, »ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Der Mann sah ihn von unten herauf an. »Haben Sie irgendwie ein Sprachproblem?«, sagte er pikiert in makellosem Englisch.

Becker verfiel sofort in einen normalen Ton. »Sir, ich bedauere, Sie belästigen zu müssen, aber waren Sie heute vielleicht zufällig auf

der Plaza de Espana?«

Die Augen des alten Herrn wurden eng. »Kommen Sie von der Stadtverwaltung?«

»Nein, ich bin...«

»Vom Fremdenverkehrsbüro?«

»Nein, von...«

»Sehen Sie, ich weiß sehr wohl, warum Sie hier sind.« Der Alte versuchte mühsam, sich aufzusetzen. »Aber ich werde mich nicht einschüchtern lassen! Auch Ihnen sage ich, was Ihresgleichen schon tausend Mal von mir zu hören bekommen haben – Pierre Cloucharde schreibt genau das, was er erlebt hat, und nichts anderes! Es mag Kollegen geben, die für einen lustigen Abend auf Kosten des Veranstalters so manches unter den Teppich kehren, aber ich bin Reisejournalist des ›Montreal Herald‹ und als solcher nicht zu

bestechen! Nicht mit mir!«

»Es tut mir Leid, Sir, aber ich glaube, Sie missverstehen...«


»Merde alors! Ich verstehe nur allzu gut!« Der Alte wackelte mit einem knochigen Finger vor Beckers Nase herum. »Sie sind nicht der Erste!« Seine Stimme schallte durch die Turnhalle. »Das Gleiche hat man schon im Moulin Rouge versucht, in Brown's Palace und im Golfigno in Lagos. Aber was wurde gedruckt? Die Wahrheit! Das zäheste Steak Wellington, das man mir je zu servieren gewagt hat! Die schmutzigste Badewanne, die man mir je zugemutet hat! Und der steinigste Strand, auf den ich je meinen Fuß setzen musste! Das bin

ich meinen Lesern schuldig!«

In der Nähe wurde man aufmerksam. Ein paar Patienten setzten sich neugierig auf. Becker sah sich nervös nach einer allfälligen Krankenschwester um. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war

ein Rausschmiss.

Cloucharde war richtig in Fahrt gekommen. »Diese miserable Karikatur eines Polizisten arbeitet für Ihre Stadt! Er hat mich genötigt, auf sein Motorrad zu steigen! Und nun sehen Sie sich das an!« Er versuchte, den Arm zu heben. »Wer soll denn jetzt meine Kolumne

schreiben?«

»Sir, ich...«

»In meinen vierzig Jahren als Reisejournalist musste ich mir noch nie eine derartige Zumutung gefallen lassen! Sehen Sie sich diesen

Stall an! Sie sollten wissen, dass meine Kolumne in über...«

»Sir, bitte!« Mit erhobenen Händen signalisierte Becker Waffenstillstand. »Ihre Kolumne interessiert mich nicht! Ich komme vom kanadischen Konsulat. Ich will mich nur vergewissern, dass es

Ihnen an nichts fehlt.«

Schlagartig war Ruhe. Der alte Herr beäugte argwöhnisch den Eindringling.


»Ich bin hier«, fuhr Becker fast flüsternd fort, »weil ich wissen möchte, ob ich Ihnen vielleicht helfen kann.« Zum Beispiel mit der

Zwangsverabreichung von etwas Valium...

Nach langer Pause meldete sich Cloucharde wieder zu Wort. »Sie sind vom Konsulat?« Er wirkte erheblich milder gestimmt.

Becker nickte.

»Sie sind also nicht wegen meiner Kolumne hier?«

»Aber nein, Sir.«

Es war, als hätte man aus Pierre Cloucharde die Luft herausgelassen. Langsam sank er wieder in seinen Kissenberg zurück. »Ich habe gedacht, Sie kämen von der Stadt... und wollten mich dazu bewegen...«, sagte er tief enttäuscht. Er verstummte und sah Becker an. »Wenn Sie nicht wegen meiner Kolumne gekommen sind,

weshalb sind Sie dann überhaupt hier?«

Gute Frage, dachte Becker und stellte sich die Smoky Mountains vor. »Es ist nur ein informeller Besuch. Eine kleine Aufmerksamkeit

auf diplomatischer Ebene«, log er.

Der Mann sah ihn überrascht an. »Eine Aufmerksamkeit auf diplomatischer Ebene?«

»Jawohl, Sir. Wie ein Mann in Ihrer Stellung gewiss weiß, ist die kanadische Regierung sehr darum bemüht, ihre Bürger vor den Unzulänglichkeiten dieser, äh... sagen wir, weniger zivilisierten

Länder zu schützen.«

Clouchardes schmale Lippen teilten sich zu einem wissenden


Lächeln. »Aber natürlich, wie freundlich.«

»Sie sind doch Kanadier?«

»Selbstverständlich, natürlich. Wie dumm von mir. Bitte, haben Sie Verständnis. Ein Mann in meiner Position wird oft mit gewissen

Ansinnen konfrontiert, die... nun... Sie verstehen.«

»Aber ja, Mr Cloucharde, gewiss doch! Das ist nun mal der Fluch der Prominenz.«

»So ist es.« Cloucharde, ein unfreiwilliger Märtyrer des trostlosen Massengeschmacks, stieß einen tragischen Seufzer aus. »Was soll man zu einem so heruntergekommenen Ort wie diesem sagen?« Er verdrehte die Augen. »Es ist einfach unglaublich. Und man will mich

auch noch über Nacht hier behalten!«

Becker ließ den Blick durch die Halle schweifen. »Ich weiß. Ein Affront geradezu! Es tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, bis

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