»Man bemüht sich derzeit um die genaue Lokalisierung, Herr Direktor.«
»Sehr gut. Unterrichten Sie mich, wenn Sie Näheres wissen.«
Die Telefonistin verbeugte sich und verschwand.
Numataka spürte, wie die Spannung aus seinem Körper wich. Ländercode I. Das war in der Tat eine gute Nachricht.
KAPITEL 54
Susan Fletcher ging ungeduldig in der Toilette auf und ab und zählte langsam bis fünfzig. Ihr Kopf dröhnte. Hale ist North Dakota!
Und jetzt nochmal bis zwanzig, ermahnte sie sich.
Sie hätte gern gewusst, was Hale im Schilde führte. Hatte er vor, den Schlüssel öffentlich preiszugeben? Oder war er so gewinnsüchtig, dass er versuchen würde, den Algorithmus zu verkaufen? Susan hielt
die Warterei nicht mehr aus. Sie musste zu Strathmore gehen.
Vorsichtig zog sie die Tür einen Spalt weit auf und spähte zu der spiegelnden Glaswand auf der anderen Seite der Kuppel hinüber. Es gab keine Möglichkeit festzustellen, ob Hale sie noch beobachtete. Sie musste schleunigst zu Strathmore hinauf, allerdings auch nicht zu überstürzt. Hale sollte nicht gleich merken, dass sie ihm auf die Schliche gekommen war. Als Susan die Tür ganz öffnen wollte,
vernahm sie etwas. Stimmen. Männerstimmen.
Sie kamen aus dem Ventilationsschacht neben der Tür. Susan ließ die Klinke los und trat an die Lüftungsöffnung. Die einzelnen Wörter gingen im Generatorgebrumm fast unter. Es klang, als kämen die Stimmen von dem Gittersteg unter dem Kuppelboden herauf. Eine der
Stimmen, schrill und wütend, hörte sich an wie Phil Charturkian. »Sie halten mich wohl für verrückt?« Heftiger Wortwechsel. »Wir haben uns einen Virus eingefangen!« Barsches Gebrüll. »Wir müssen Jabba verständigen!«
Jetzt klang es wie ein Handgemenge.
»Lassen Sie mich durch!«
Ein kaum noch menschlicher Laut folgte, ein langer gellender Schrei des Entsetzens. Es klang wie der Todesschrei einer gequälten Kreatur. Susan erstarrte neben dem Luftauslass. Die Geräusche hörten
so plötzlich auf, wie sie begonnen hatten. Stille breitete sich aus.
Wie in einem billigen Horrorfilm wurde es in der Toilette auf einmal dunkel. Die Leuchtröhren flackerten noch ein letztes mal, dann
war Susan in absoluter Finsternis gefangen.
KAPITEL 55
Eh, du Arsch, du hockst auf meinem Platz!«, pflaumte jemand Becker in amerikanischem Slang an.
Becker hob den Kopf. Spricht denn keiner in diesem verdammten Land Spanisch?
Ein etwas zu kurz geratener pickeliger Jüngling mit Glatze glotzte ihn an. Die Glatze war halb rot, halb blau eingefärbt. Der Bengel sah aus wie ein Osterei. »Ich habe gesagt, du sitzt auf meinem Platz, du
Arsch!«
»Ich habe dich schon beim ersten Mal verstanden«, erwiderte Becker und stand auf. Er hatte keine Lust auf eine Rangelei. Es war
Zeit zu verschwinden.
»Wo hast du meine Flaschen hingetan?«, kreischte ihn der Junge an. Eine Sicherheitsnadel steckte in seiner Nase.
Becker deutete auf die Flaschen auf dem Boden. »Das ist doch nur Leergut.«
»Aber mein Scheiß-Leergut!«
»Entschuldigung!«, sagte Becker und wollte gehen.
Der Punker vertrat ihm den Weg. »Aufheben!«
Becker blinzelte ihn an. »Das soll wohl ein Witz sein?« Er war einen ganzen Kopf größer und fünfzig Pfund schwerer als diese halbe
Portion.
»Seh ich aus wie einer, der Witze macht?« Becker hielt es für besser, zu schweigen.
»Aufheben!« Die Stimme des Bürschchens überschlug sich fast.
Becker versuchte, ohne weiteren Kommentar an dem Jungen vorbeizukommen.
Der Knirps stellte sich ihm wieder in den Weg. »Verdammt nochmal, ich habe gesagt: Aufheben!«
Die zugedröhnten Punks an den Tischen in der Nähe wurden aufmerksam. Sie drehten die Köpfe, um nichts zu verpassen.
»Nun mach keinen Ärger, der dir hinterher Leid tut, mein Junge«, sagte Becker versöhnlich.
»Ich warne dich«, zischte der Punker. »Das ist mein Tisch, eh! Ich bin jeden Abend hier. Und jetzt: Aufheben!«
Beckers Geduld war zu Ende. Wollte er nicht eigentlich in den Smoky Mountains sein? Was hatte er sich hier in Spanien mit einem
durchgedrehten Halbwüchsigen herumzustreiten?
Ohne jede Warnung packte er den Knaben unter den Achseln, hob ihn hoch und knallte ihn mit dem Hintern auf den Tisch. »Du Lausebengel wirst jetzt schön Ruhe geben, oder ich rupf dir die Sicherheitsnadel aus deiner Rotznase und verschließ dir damit deine
große Klappe, verstanden?« Der Knabe wurde blass.
Becker ließ ihn einen Moment zappeln, ehe er ihn freigab. Ohne das erschrockene Bürschchen aus den Augen zu verlieren, bückte er sich, hob die Flaschen auf und stellte sie auf den Tisch. »Gut so?«,
sagte er.
Der Punker glotzte blöd.
»Man sagt Dankeschön!«, belehrte ihn Becker. Der Kerl ist ein wandelndes Argument für Empfängnisverhütung!
»Verpiss dich!«, schrie der Junge, der gemerkt hatte, dass seine Kumpels über ihn lachten. »Arschgeige!«
Becker rührte sich nicht. Der Junge hatte etwas gesagt, das bei ihm hängen geblieben war. Ich bin jeden Abend hier. Vielleicht konnte der Bursche ihm weiterhelfen. »Tut mir Leid, ich habe deinen Namen
nicht mitbekommen«, sagte Becker.
»Two-Tone«, zischte der Knirps, als wär's ein Todesurteil.
»Two-Tone?«, sagte Becker tiefsinnig. »Lass mich raten. Wegen deinem zweifarbigen Kopf?«
»Mann, du merkst auch alles! Klugscheißer.«
»Guter Name. Selbst drauf gekommen?«
»Aber klar«, kam die stolze Antwort. »Werd's mir patentieren lassen.«
Becker sah ihn stirnrunzelnd an. »Du meinst wohl: schützen lassen.«
Der Junge machte große Augen.
»Für einen Namen brauchst du einen Gebrauchsmusterschutz«, erläuterte Becker. »Patentieren geht da nicht.«
»Mir doch scheißegal!«, kreischte der Junge frustriert.
Das desolate Sortiment von besoffenen und zugedröhnten Halbwüchsigen an den umstehenden Tischen wieherte inzwischen
hysterisch. Two-Tone stand auf. »Eh, Mann, was liegt überhaupt an?«
Was anliegt? Dass du dir die Rübe wäschst, eine vernünftige Ausdrucksweise angewöhnst und einen Job besorgst, das liegt an!, dachte Becker versonnen. »Ich hätte gern ein paar Informationen«,
sagte er.
»Leck mich am Arsch.« »Ich suche jemanden.«
»Hab niemanden gesehen.«
Becker winkte einer vorbeikommenden Bedienung. Er erstand zwei Flaschen Águila-Bier und hielt eine davon dem Jungen hin. Two-Tone war sprachlos. Er nahm einen kräftigen Zug aus der
Flasche und beäugte argwöhnisch seinen Wohltäter.
»Soll das 'ne Anmache sein, Mister?«
Becker lächelte Two-Tone an. »Ich suche ein Mädchen.« Two-Tone lachte schrill. »Eh, Alter, so krass wie du angezogen
bist, läuft hier gar nichts!«
»Es soll auch nichts laufen«, meinte Becker. »Ich möchte das Mädchen nur mal sprechen. Würdest du mir helfen, die Kleine zu
finden?«
Two-Tone ließ die Bierflasche sinken. »Bist du 'n Bulle?«
Becker schüttelte den Kopf.
Der Halbwüchsige sah ihn aus Augenschlitzen an. »Siehst aber aus wie 'n Bulle.«
»Junge, ich komme aus Maryland. Wenn ich ein Bulle wäre, wäre ich hier wohl ein bisschen weitab von meinem Zuständigkeitsbereich,
meinst du nicht auch?«
Das Problem schien dem Jungen zu schaffen zu machen.
»Ich heiße David Becker.« Becker streckte lächelnd die Hand über den Tisch.
Der Punker zuckte angeekelt zurück. »Pfoten weg, schwule Sau!«
Becker zog die Hand zurück.
»Wenn ich dir helfen soll«, sagte der Bursche verächtlich, »dann kostet das was.«
Becker ging darauf ein. »Wie viel?«
»Hundert Dollar.«
»Ich habe aber nur Peseten.«
»Mir egal. Dann eben hundert Peseten.«
Wechselkurse gehörten offensichtlich nicht zu Two-Tones Stärken. Hundert Peseten waren etwas über achtzig Cent. »Abgemacht!«, sagte
Becker und knallte die Bierflasche auf den Tisch.
Der Junge verzog zum ersten Mal das Gesicht zu einem Lächeln. »Abgemacht!«
»Okay«, sagte Becker kumpelhaft. »Es könnte sein, dass die Kleine, die ich suche, hier rumhängt. Sie hat rot-weiß-blaue Haare ...«
Two-Tone zog den Rotz hoch. »Judas Taboo hat heute seinen Memorial-Day. Jeder Arsch hat heute .. .«
»Gut. Sie hat ein T-Shirt mit der britischen Flagge an und einen Totenkopf als Ohrhänger an einem Ohr.«
Ein Ausdruck des Erkennens huschte über Two-Tones Gesicht. In
Becker keimte neue Hoffnung auf. Aber Two-Tones Miene schlug sogleich um. Er knallte die Flasche hin und packte Becker am Hemd. »Das ist die Schnecke von Eduardo, du Wichser! Wenn ich du wäre, würde ich höllisch aufpassen. Wenn du die anmachst, macht er dich
kalt!«
KAPITEL 56
Midge Milken stapfte wütend in den Konferenzraum. Die Ausstattung des Raums umfasste neben dem neun Meter sechzig langen Konferenztisch mit dem in Schwarzkirsche und Nussbaum eingelegten Wappen der NSA drei Marion Pike Aquarelle, einen Bostonfarn, eine Bar und natürlich den unverzichtbaren Wasserspender für gekühltes Trinkwasser. Midge genehmigte sich
einen Becher, um das innere Gleichgewicht wiederzugewinnen.
Beim Trinken schaute sie zum Fenster. Durch die offenen Lamellenjalousien fiel das Licht des Mondes herein und spielte auf der Maserung der Tischplatte. Midge war seit jeher der Meinung gewesen, das Büro des Direktors wäre hier wesentlich besser aufgehoben als an der Vorderfront des Gebäudes, wo Fontaine derzeit residierte. Statt auf den Parkplatz, hatte man von hier einen Ausblick auf eine stattliche Anzahl eindrucksvoller NSA-Gebäude – darunter auch die Crypto-Kuppel, jene High-Tech-Insel, die abseits vom Hauptgebäude aus über zwölftausend Quadratmetern Waldgelände herausragte. Von den meisten Fenstern des NSA-Komplexes war die mit Bedacht hinter einen Ahornhain gesetzte Kuppel kaum auszumachen, aber von hier aus lag sie prächtig im Blick. Für Midge wäre dies der ideale Söller für den weit über das Reich schweifenden königlichen Ausblick ihres Chefs gewesen. Vor längerer Zeit hatte sie
Leland Fontaine vorgeschlagen, sein Büro nach hier zu verlegen, was er allerdings mit dem knappen Kommentar abgetan hatte: »Hinten heraus? Niemals.« Fontaine war nicht der Mann, der sich mit der Rückseite von was auch immer begnügte.
Midge zog die Jalousien beiseite und schaute hinaus in die Hügellandschaft. Mit einem wehmütigen Seufzer suchte ihr Blick die Crypto-Kuppel, einen Anblick, den sie immer als tröstlich empfunden hatte, wie den eines Leuchtturms, der sein Licht beständig und verlässlich zu jeder Stunde scheinen ließ. Aber als sie jetzt hinausschaute, konnte von Trost keine Rede sein. Sie starrte in eine dunkle Leere. Das Gesicht an die Fensterscheibe gepresst, verlor sich ihr Blick in endloser Finsternis. Ein hysterischer Angstzustand machte
sich in ihr breit. Die Crypto-Kuppel hatte sich verflüchtigt!
KAPITEL 57
Von absoluter Finsternis umfangen, stand Susan Fletcher regungslos in der fensterlosen Toilette der Crypto-Kuppel. Von aufsteigender Panik bedrängt, versuchte sie, sich zu orientieren. Der grässliche Schrei aus dem Lüftungsschacht hing immer noch allgegenwärtig in der Luft. Ungeachtet ihrer beherzten Bemühung, das Entsetzen niederzukämpfen, wurde sie von Angstgefühlen
überschwemmt.
Grapschend und tastend glitten ihre Hände im Dunkeln über Waschbecken und Toilettentüren. Desorientiert drehte sie sich mit ausgestreckten Armen um sich selbst und versuchte, dem pechschwarzen Dunkel ein Bild des Raumes abzugewinnen. Sie stieß einen Abfallbehälter um und prallte gegen eine Kachelwand, an der sie sich schließlich entlangtastete, bis sie die Türklinke fand. Sie riss
die Tür auf und stolperte hinaus in die Kuppel.
Sie erstarrte abermals.
Hier sah nichts mehr so aus wie noch wenige Augenblicke zuvor. Die Beleuchtung war komplett ausgefallen. Nicht einmal die Tastenfelder der elektronischen Türöffner leuchteten noch. Im schwachen Streulicht, das aus der Kuppel herabfiel, hob sich der
TRANSLTR als graue Silhouette ab.
Nachdem sich Susans Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte sie ein mattes Licht, das aus der geöffneten Bodenklappe kam – ein sanfter roter Schimmer des unterirdischen Arbeitslichts. Sie
trat an die Bodenklappe. Schwacher Ozongeruch stieg ihr in die Nase.
Sie spähte hinunter in das Loch. Die Überdruckventile des Kühlsystems bliesen wirbelnde Wolken in das rote Licht. Die höhere Klangfarbe des Generatorgedröhns verriet Susan, dass das Notstromaggregat angesprungen war. Durch den Dunst konnte sie Strathmore auf der obersten Plattform stehen sehen. Über das
Geländer gebeugt, starrte er in die brüllende Tiefe des Aggregatesilos hinab.
»Commander?«
Keine Antwort.
Susan stieg auf die Leiter. Heiße Dunstschwaden fuhren ihr unter den Rock. Die Sprossen waren schlüpfrig vom Kondensat. Unten
angekommen, trat sie auf den Gitterlaufsteg.
»Commander?«
Strathmore reagierte nicht. Er wirkte wie in Trance und starrte mit dem Ausdruck des Entsetzens nach unten. Susan folgte seinem Blick. Anfangs konnte sie außer wehenden Dunstschleiern nichts erkennen, bis plötzlich sechs Stockwerke tiefer kurzzeitig etwas aus dem Nebel auftauchte. Da war es wieder – eine wirre Masse von grotesk
verrenkten Gliedern . . . Knapp dreißig Meter unter ihr lag Phil Charturkians geschwärzte und verbrannte Leiche auf den Anschlussklemmen des Hauptgenerators. Sein Sturz hatte die Hauptstromversorgung der Kuppel durch einen Kurzschluss lahm
gelegt.
Doch nicht so sehr dieses Bild ließ Susan das Blut in den Adern stocken. Auf halber Höhe des Treppenabgangs kauerte im Halbdunkel
eine muskulöse Gestalt. Greg Hale.
KAPITEL 58
Megan gehört meinem Kumpel Eduardo!«, kreischte der Punker. »Lass bloß die Finger davon!«
»Wo ist sie jetzt?« Beckers Herz raste.
»Leck mich!«
»Der Fall ist aber ernst«, knurrte Becker und packte den Burschen am Arm. »Es geht um einen Ring, der mir gehört. Ich würde ihr Geld
dafür geben. Einen Haufen Geld!«
Two-Tone lachte kreischend. »Dieses Stück Scheiße gehört also dir?«
Becker riss die Augen auf. »Du hast den Ring gesehen?«
Two-Tone nickte.
»Und wo ist er jetzt?«
»Keine Ahnung.« Two-Tone kicherte. »Megan war hier und wollte das Teil verhökern.«
»Sie wollte ihn verkaufen!«
»Keine Panik, Mann. So 'ne Scheiße will hier keiner haben. Dein Geschmack ist total Müll.«
»Weißt du genau, dass ihr niemand den Ring abgekauft hat?«
»Eh, Mann, du tickst wohl nicht richtig! Für vierhundert Dollar? Ich hätte vielleicht fünfzig abgedrückt, aber sie wollte krasse
vierhundert. Für ein Flugticket–Last-Minute.«
Becker spürte, wie er blass wurde. »Ein Ticket? Wohin?«
»Scheiß-Connecticut«, empörte sich Two-Tone. »Eduardo ist tierisch sauer.«
»Nach Connecticut?«
»Scheiße, ja. Zurück zu den Kalkleisten in's gemachte Bett. Keinen Bock mehr auf Spanien. Die Gastfamilie hat ihr zu viel
herumgenörgelt. Und null warmes Wasser.«
Becker spürte einen Kloß im Hals. »Wann will sie fort?«
Two-Tone sah ihn groß an. »Wann sie fort will? Sie hat sich längst verpisst! Ist vor zwei Stunden zum Flughafen aufgebrochen. Der beste Platz, um einen Ring zu verhökern – reiche Touristensäcke und so.
Sobald sie den Kies hat, düst sie ab.«
Eine dumpfe Übelkeit machte sich in Beckers Eingeweiden breit. Das kann doch alles nicht wahr sein! Er brauchte eine Weile, bis er sich wieder gefasst hatte. »Wie heißt denn Megan mit
Familiennamen?«
Two-Tone schien intensiv nachzudenken. Er hob ratlos die Schultern.
»Welchen Flug wollte sie nehmen?«
»Sie hat was vom Shit-Bomber gefaselt.«
»Vom Shit-Bomber?«
»Ja, der Wochenend-Nachtflieger–Sevilla, Madrid, La Guardia. Die Kids nehmen ihn immer, weil er billig ist. Man kann sich gut
hinten reinhocken und die Joints reinziehen.«
Na, prima. Becker fuhr sich seufzend mit den gespreizten Fingern durchs Haar. »Wann geht der Flug?«
»Zwei Uhr nachts, jeden Sonntag. Megan ist jetzt schon irgendwo über dem Atlantik.«
Becker sah auf die Uhr. Ein Uhr fünfundvierzig. Er schaute Two-Tone verwirrt an. »Hast du gesagt, das Flugzeug geht um zwei?«
Der Punker lachte sich halb tot. »Sieht so aus, als wärst du am Arsch, Alter!«
Becker zeigte zornig auf seine Uhr. »Aber es ist doch erst Viertel vor!«
Two-Tone beäugte die Uhr. »Echt?«, wunderte er sich. »So breit bin ich normalerweise erst um vier.«
»Wie komme ich am schnellsten zum Flugplatz?«, drängte Becker ungeduldig.
»Taxi. Draußen stehen welche.«
Becker griff nach einem Tausend-Peseten-Schein und stopfte ihn Two-Tone in die Hand.
»Hey, Mann, fett!«, rief der Punker ihm nach. »Sag Megan einen
schönen Gruß von mir, wenn du sie siehst, eh.« Aber Becker war schon fort.
Two-Tone seufzte und taumelte zur Tanzfläche. Er war zu betrunken, um den Mann mit der Nickelbrille zu bemerken, der ihm
folgte.
Becker hielt vor dem Club nach einem Taxi Ausschau. Nirgendwo war eines zu sehen. Er rannte zu einem bulligen Rausschmeißer.
»Taxi!«
Der Rausschmeißer schüttelte den Kopf. »Demasiado temprano — zu früh!«
Zu früh?, fluchte Becker. Wir haben zwei Uhr nachts!
»Llamame uno — rufen Sie mir eins!«
Der Mann zog ein Walkie-Talkie heraus und sprach ein paar Sätze hinein. » Veinte minutos«, verkündete er.
»In zwanzig Minuten? Y el Autobus?«, fragte Becker.
Der Rausschmeißer hob die Schultern. »In fünfundvierzig Minuten.«
Becker warf die Arme in die Luft. Traumhaft!
Das Geräusch eines Zweitakters ließ ihn herumfahren. Es klang wie eine Kettensäge. Ein riesenhafter Halbwüchsiger und seine Begleiterin kamen auf einer Vespa 250 auf den Parkplatz gekurvt. Becker rannte hin. Nicht zu glauben, dass du so was machst!, dachte
er. Motorräder sind für dich doch der Horror!
»Zehntausend Peseten, wenn Sie mich zum Flugplatz fahren!«, schrie er dem Fahrer entgegen.
Der Junge schien ihn gar nicht zu bemerken und stellte den Motor ab.
»Zwanzigtausend!«, stieß Becker hervor. »Ich muss zum Flughafen!«
Der Bursche sah ihn verständnislos an. »Scusi?« Aha, ein Italiener. »Aeroporto! Per favore, sulla Vespa! Venti mila Pesete!«
Der Italiener streifte seine klapprige Vespa mit einem abschätzenden Blick. »Venti mil?. Pesete? La Vespa?«
»Cinquanta mila!«, erhöhte Becker. »Fünfzigtausend!« Es waren etwa vierhundert Dollar.
Der Italener lachte ungläubig auf. »Dove sono i soldi? Zeig mir die Kohle!«
Becker zog fünf Zehntausend-Peseten-Scheine aus der Tasche und hielt sie dem Burschen hin. Der Italiener schaute die Scheine an und dann seine Freundin. Das Mädchen schnappte das Geld und ließ es im
Ausschnitt verschwinden.
»Grazie!«, sagte der Italiener. Er warf Becker den Zündschlüssel zu, packte seine Freundin an der Hand und rannte lachend mit ihr in
den Club.
»Aspetta!«, schrie Becker hinterher. »Warte, ich wollte doch nur gefahren werden!«
KAPITEL 59
Commander Strathmore half Susan die Leiter hinauf in die Kuppel zurück. Sie hielt sich an seiner Hand fest. Das Bild des zerschmettert auf dem Generator liegenden Phil Charturkian hatte sich in ihr Hirn eingebrannt. Bei dem Gedanken, dass sich Hale in den Eingeweiden der Kuppel verborgen hielt, wurde ihr flau. Eines stand fest – Hale
hatte Charturkian hinuntergestoßen.
Susan stolperte am TRANSLTR vorbei zum Haupteingang der Kuppel, durch den sie einige Stunden zuvor eingetreten war. Ihr hektisches Herumtippen auf dem unbeleuchteten Tastenfeld blieb wirkungslos. Das riesige Portal setzte sich nicht in Bewegung. Sie saß in der Falle. Die Crypto-Kuppel war zum Gefängnis geworden. Wie ein Satellit stand der lediglich durch das rotierende Hauptportal zugängliche Kuppelbau gut hundert Meter abseits vom Hauptgebäude im Gelände. Da er eine eigene Stromversorgung hatte, merkte die
Schaltzentrale vielleicht noch nicht einmal, dass es hier Probleme gab.
»Unser Hauptaggregat hat sich verabschiedet«, sagte Strathmore, der hinter Susan aufgetaucht war. »Wir fahren auf Notstrom.«
Die Notstromversorgung gab dem TRANSLTR und seinem Kühlsystem Vorrang vor allen anderen Stromverbrauchern, einschließlich der Beleuchtung und der Schließsysteme. So wurde sichergestellt, dass der TRANSLTR während einer wichtigen Dechiffrierung nicht durch einen unvorhergesehenen Stromausfall lahm gelegt werden konnte, und vor allem, dass der Großrechner nie ohne sein Kühlsystem lief. In einem geschlossenen ungekühlten Gehäuse konnte die von Millionen von Prozessoren erzeugte Wärme schnell gefährlich hohe Werte erreichen, vielleicht sogar die Prozessoren in Brand setzen und den Rechner in einem feurigen Inferno enden lassen – ein Szenario, das sich niemand in letzter Konsequenz ausmalen wollte.
Susan versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Das Bild des verschmorten Systemtechnikers auf dem Generator beherrschte ihre
Gedanken. Sie stocherte erneut auf dem Tastenfeld herum. Keine Reaktion. »Machen Sie einen Programmabbruch!«, forderte sie Strathmore auf. Wenn der TRANSLTR den Befehl erhielt, die Suche nach dem Schlüssel abzubrechen, würde das Abschalten seiner Schaltkreise genügend Energie für den Motor des Kuppelportals
verfügbar machen.
»Ruhig Blut, Susan«, sagte Strathmore und tätschelte ihr beschwichtigend die Schulter.
Die beruhigende Berührung erlöste Susan aus ihrer Benommenheit. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, was sie eigentlich von Strathmore wollte. Sie fuhr herum. »Commander, Greg
Hale ist North Dakota!«
Nach einer schier endlosen Stille antwortete Strathmore aus der Dunkelheit. Seine Stimme klang eher befremdet als schockiert.
»Wovon reden Sie?«
»Hale...«, flüsterte Susan. »Greg Hale ist North Dakota!«
Wieder herrschte Stille, während Strathmore über Susans Worte nachdachte.
»Der Tracer?« Er schien nicht ganz zu verstehen. »Der Tracer hat Hale gemeldet?«
»Nein, Hale hat das Programm beim ersten Mal abgebrochen. Ich habe den Tracer ein zweites Mal losschicken müssen.«
Susan berichtete von Hales Eingriff in ihr Suchprogramm, was sie
dazu gebracht hatte, in Hales Terminal nachzuforschen, wobei die EMails von Tankado zutage gekommen waren. Wieder war es lange still.
Strathmore schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich halte es für ganz und gar ausgeschlossen, dass ausgerechnet Greg Hale Tankados Rückversicherung sein soll. Das ist einfach absurd! Tankado hätte
jemandem wie Hale niemals vertraut.«
»Commander«, beharrte Susan, »Hale hat uns damals mit Skipjack schon einmal Knüppel zwischen die Beine geworfen! Tankado hat
ihm vertraut.«
Strathmore schien sprachlos geworden zu sein.
»Stellen Sie den TRANSLTR ab«, flehte Susan. »Jetzt wissen wir doch, wer North Dakota ist. Rufen Sie den Sicherheitsdienst an, damit
wir hier herauskommen.«
Strathmore hob die Hand. Er brauchte einen Moment Ruhe zum Nachdenken.
Susan schaute nervös in Richtung Bodenklappe. Die Einstiegsöffnung wurde vom TRANSLTR knapp verdeckt, aber der rötliche Schimmer ergoss sich über die schwarzen Hochglanzkacheln wie Feuer über Eis. Nun mach schon, Commander! Ruf den
Sicherheitsdienst! Stell den Rechner ab! Bring uns hier raus!
Strathmore wurde auf einmal lebendig. »Folgen Sie mir!«, sagte er und marschierte zur Bodenklappe.
»Commander, Hale ist gefährlich! Er hat ...«
Strathmore war schon fast im Dunkeln verschwunden. Susan rannte seiner Silhouette hinterher. Der Commander bog um den TRANSLTR und trat an die Einstiegsluke im Boden. Nachdem er zuerst in die dunstgeschwängerte Höhlung und dann ins Dunkel der Kuppel gespäht hatte, stemmte er sich gegen die hoch stehende
Bodenklappe, die langsam nach vorne schwang und, einmal losgelassen, ins Schloss polterte. Die Crypto-Kuppel war wieder eine
schweigende schwarze Höhle.
Strathmore ließ sich auf die Knie nieder und drehte die schwere Halteklaue fest. Die Untermaschinerie war wieder hermetisch verschlossen — North Dakota schien in der Falle zu sitzen.
Weder Strathmore noch Susan vernahmen die schleichenden Schritte, die sich in Richtung Node 3 entfernten.
KAPITEL 6 0
Two-Tone strebte durch den verspiegelten Tunnel, der vom Patio zur Tanzfläche führte. Als er stehen blieb, um im Spiegel den Sitz seiner Sicherheitsnadel zu überprüfen, spürte er hinter sich eine große Gestalt. Er wollte weglaufen, aber es war zu spät. Ein Paar
bärenstarker Arme presste ihn mit dem Gesicht gegen das Glas.
Two-Tone versuchte, sich loszuschlängeln. »Eduardo? Hey, Mann, bist du das?« Eine Hand griff nach dem Ausweis in seiner Tasche, dann lehnte sich jemand mit gnadenloser Gewalt in sein Kreuz. »Eddie!«, schrie Two-Tone, »mach doch kein Scheiß! Irgend so 'n
Wichser hat sich nach Megan erkundigt!«
Die Gestalt hielt ihn wie im Schraubstock fest.
»Hey, Eddie, Mann, hör auf!« Als es Two-Tone gelang, das Gesicht von der verglasten Wandung zu lösen, erkannte er, dass er
keineswegs von seinem Freund bedrängt wurde.
Das Gesicht des Mannes war pockennarbig und verschrammt. Zwei leblose Augen stierten wie schwarze Anthrazitbrocken durch den Rahmen einer Nickelbrille. Der Mann legte den Mund an Two-Tones Ohr. »lAdönde fué? W o ist er hin?«, fragte er mit merkwürdig keuchender Stimme.
Two-Tone wurde starr vor Angst.
»lAdöndefue?«, wiederholte die Stimme. »El Americano.«
»Zum Flughafen ... al Aeropuerto«, stotterte Two-Tone.
»lAeropuerto?«, wiederholte der Fremde. Seine dunklen Augen hatten Two-Tones Lippen beim Sprechen beobachtet. Two-tone
nickte.
»iTenia el anillo? Hat er den Ring?« Two-Tone schüttelte verängstigt den Kopf. »No.«
»iVistes el anillo? Hast du den Ring gesehen?« Two-Tone überlegte. Was war die richtige Antwort? »iVistes el anillo?«, insistierte die dumpfe Stimme. Two-Tone nickte eifrig und hoffte, dass sich die Wahrheit auszahlen würde. Sie tat es nicht. Mit
gebrochenem Genick sank er zu Boden.
KAPITEL 6 1
Den Lötkolben in der Hand, eine Mini-Taschenlampe zwischen den Zähnen und mit einem riesigen Schaltplan auf der Wampe lag Jabba mit dem ganzen Oberkörper im Gehäuse eines zerlegten Großrechners. Er war dabei, einen neuen Satz Dämpfungselemente in
eine defekte Hauptplatine einzulöten, als sein Handy piepste.
»Scheiße!«, fluchte er und angelte im Drahtgewirr nach dem Quälgeist. »Hier Jabba.«
»Jabba, ich bin's, Midge.«
Jabbas Laune verbesserte sich schlagartig. »Zweimal in einer Nacht? Du bringst uns noch ins Gerede!«
»In der Crypto gibt's Probleme.« Migdes Stimme hatte einen angespannten Unterton.
Jabba zog die Stirn kraus. »Aber das hatten wir doch schon. Vergessen?«
»Es ist ein Problem mit dem Strom.«
»Ich bin kein Elektriker. Ruf die Haustechnik an.«
»Die Kuppel ist dunkel.«
»Du siehst Gespenster. Du solltest endlich heimgehen.« Jabba befasste sich wieder mit seinem Schaltplan.
»In der Kuppel ist es stockfinster!«, schrie Midge.
Seufzend nahm Jabba die Taschenlampe aus dem Mund. »Midge, erstens: Da drin gibt es ein Notstromaggregat! Stockfinster kann die Kuppel gar nicht werden. Zweitens dürfte Strathmore einen etwas besseren Überblick über die Kuppel haben als ich im Moment.
Warum rufst du ihn nicht an?«
»Weil es um ihn geht. Er versucht, etwas unter den Teppich zu kehren.«
Jabba verdrehte die Augen. »Midge, Süße, ich stecke hier bis unter die Achseln in einem Drahtverhau! Falls du mit mir was unternehmen willst, strample ich mich gerne frei – ansonsten musst du die
Haustechnik anrufen.«
»Jabba, das ist was Ernstes. Ich fühle es.«
Oje, sie fühlt es. Na, dann ist es amtlich, dachte Jabba. Midge hatte wieder einmal einen ihrer Zustände. »Strathmore scheint sich keine
Sorgen zu machen. Wieso soll ich es dann?«, meinte er. »In der Crypto ist alles stockfinster, verdammt nochmal!« »Vielleicht betätigt sich Strathmore als Sterngucker?«
»Jabba, mir ist nicht zum Scherzen zu Mute!«
»Okay, okay«, murrte Jabba und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Vielleicht ist ein Generator ausgefallen. Wenn ich hier fertig bin,
werde ich mal bei der Crypto vorbeischauen und ...«
»Was ist mit dem Notstrom?«, wollte Midge wissen. »Wenn ein Generator ausgefallen ist, warum gibt es dann keinen Notstrom?«
»Wie soll ich das wissen?«, wehrte sich Jabba. »Vielleicht ist der Notstrom ausgelastet, weil Strathmore den TRANSLTR laufen lässt.«
»Warum macht er dann keinen Abbruch? Es könnte ja ein Virus sein. Du hast doch zuvor schon etwas von einem Virus gesagt.«
»Verdammt, Midge!« Jabba riss der Geduldsfaden. »Ich habe gesagt, dass ein Virus in der Crypto völlig ausgeschlossen ist! Hör
auf, überall Gespenster zu sehen!«
Es war lange still am anderen Ende der Leitung.
»Ach, Scheiße!«, verteidigte sich Jabba unwillig. »Midge, lass es
dir erklären: Erstens haben wir Gauntlet – da kommt kein Virus durch. Zweitens, wenn es ein Stromausfall ist, dann ist das ein Hardwareproblem. Ein Virus verursacht keinen Stromausfall, ein Virus greift die Software und die Daten an. Was auch immer in der Crypto los sein mag, ein Virus kommt dafür überhaupt nicht in Frage!«
Schweigen.
»Midge? Bist du noch dran?«
»Jabba, ich habe hier einen Job zu erledigen«, kam die eisige Antwort. »Ich möchte nicht dafür angeblafft werden, dass ich meiner Verantwortung gerecht werde. Wenn ich mich telefonisch erkundige, warum eine Multimilliardenanlage im Dunkeln liegt, darf ich eine
professionelle Antwort erwarten.«
»Jawohl, Ma'am.«
»Ein simples Ja oder Nein genügt. Ist es möglich, dass das
Problem in der Crypto-Abteilung von einem Virus kommt?« »Midge ... ich habe dir bereits gesagt ...« »Ja oder nein? Könnte der TRANSLTR einen Virus haben?« Jabba seufzte. »Nein, Midge. Völlig ausgeschlossen.«
»Vielen Dank.«
Jabba bemühte sich um einen versöhnlichen Ausklang. »Es sei denn«, kicherte er, »Strathmore hat selber einen Virus fabriziert und
meine Filter umgangen.«
Erschrockenes Schweigen. Als Midge wieder das Wort ergriff, hatte ihre Stimme einen unguten Beiklang. »Strathmore kann das
Gauntlet-System umgehen?«
»Midge, war doch nur Blödsinn!« Jabba seufzte. Hätte er bloß die Schauze gehalten! Aber nun war es zu spät.
KAPITEL 62
Strathmore und Susan standen neben dem verschlossenen Einstieg und diskutierten, was als Nächstes geschehen sollte.
»Dort unten liegt die Leiche Phil Charturkians«, gab Strathmore zu bedenken. »Wenn wir Hilfe rufen, bricht hier im Handumdrehen das
Chaos aus.«
»Aber was sollen wir denn sonst tun?«, fragte Susan, die nichts anderes wollte, als schleunigst zu verschwinden.
Strathmore überlegte. »Fragen Sie mich nicht, wie das passiert ist«, sagte er mit einem Blick auf die geschlossene Bodenklappe, »aber mir scheint, wir haben North Dakota ungewollt lokalisiert und neutralisiert.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Wir haben Glück gehabt, wenn Sie mich fragen.« Die Vorstellung, dass Hale in Tankados Plan eine Rolle spielte, schien Strathmore immer noch nicht in den Kopf zu wollen. »Ich vermute, dass Hale den Key irgendwo in seinem Terminal gespeichert hat. Vielleicht hat er auch noch eine
Kopie davon zu Hause. Wie auch immer, er sitzt in der Falle.«
»Warum rufen wir dann nicht den Sicherheitsdienst und lassen ihn verhaften?«
»Noch nicht«, sagte Strathmore. »Unsere Sys-Sec-Leute werden auf Protokolle von diesem endlosen Rechengang stoßen, und dann haben wir neue Probleme am Hals. Ich möchte, dass sämtliche Spuren
von Diabolus getilgt sind, wenn die Tür aufgeht.«
Susan nickte, wenn auch zögernd. Strathmores Gedankengang war nicht von der Hand zu weisen. Wenn die Sicherheitsleute Hale aus der Untermaschinerie herausholten und ihm Charturkians Tod zur Last gelegt wurde, würde er Diabolus unweigerlich an die große Glocke hängen. Sofern aber jeder Beweis gelöscht war, konnte Strathmore
sich dumm stellen. Ein endloser Rechengang? Ein nicht zu entschlüsselnder Algorithmus? Aber das ist doch völliger Unsinn! Hat
Mr Hale denn noch nie etwas vom Bergofsky-Prinzip gehört?
Strathmore umriss seinen Plan. »Wir löschen sämtliche Korrespondenz zwischen Hale und Tankado, sämtliche Belege, dass ich Gauntlet umgangen habe, sämtliche Analysebefunde von Charturkian, die Kontrollmonitorprotokolle, einfach alles. Diabolus wird sich in Luft auflösen. Wir vernichten Hales Key und beten zu
Gott, dass David Tankados Schlüssel findet.«
David!, dachte Susan, verdrängte ihn jedoch sogleich wieder aus ihren Gedanken. Sie brauchte ihren Kopf für die anstehenden
Probleme.
»Ich übernehme das Sys-Sec-Lab«, sagte Strathmore, »die Kontrollmonitorprotokolle, die Datenänderungsprotokolle und was es sonst noch gibt. Sie befassen sich inzwischen mit Hales Termial in
Node 3 . Löschen Sie sämtliche E-Mails von Hale, sämtliche Hinweise auf seine Korrespondenz mit Tankado, einfach alles, worin
Diabolus vorkommen könnte.«
»Okay«, sagte Susan, »ich werde einfach Hales Festplatte neu formatieren. Dann ist alles gelöscht.«
»Nein, tun Sie das nicht!«, sagte Strathmore erschrocken. »Hale hat höchstwahrscheinlich auch den Key in seinem Computer
gespeichert, aber den muss ich haben!«
Susan sah ihn verständnislos an. »Sie wollen den Schlüssel haben? Aber wozu denn? Ich dachte, er soll vernichtet werden!«
»Das soll er auch. Ich möchte nur zuvor Tankados verdammte Datei öffnen und mir das Programm ansehen.«
Susan war nicht weniger neugierig als Strathmore, aber der Instinkt sagte ihr, dass es nicht ratsam war, die Datei zu öffnen, so interessant sie auch sein mochte. Noch war das tödliche Programm in seinem verschlüsselten Kerker eingesperrt und völlig unschädlich. Aber wenn
es erst einmal entschlüsselt war...
»Commander, wäre es nicht besser, wenn wir einfach nur . . .«
»Ich will den Schüssel«, insistierte Strathmore.
Susan musste zugeben, dass sie selbst vom ersten Augenblick an neugierig gewesen war, wie Tankado das Diabolus-Programm aufgezogen hatte. Seine Existenz widersprach den fundamentalsten Gesetzen der Kryptographie. Susan sah den Commander an. »Aber wenn wir uns den Algorithmus angesehen haben, werden Sie ihn doch
sofort vernichten!«
»Selbstverständlich!«
Mit gerunzelter Stirn überlegte Susan, dass es nicht einfach sein würde, Hales Key zu finden. Die Suche nach einem Schlüssel aus zufälligen Zeichen glich der Suche nach einer einzelnen Socke in einem Schlafzimmer so groß wie Texas. Computer-Suchprogramme setzten voraus, dass man in etwa wusste, wonach sie suchen sollten, aber dieser Schlüssel war ein rein zufälliges Konstrukt. Da sich die Crypto-Abteilung oft mit Zufallszahlen herumschlagen musste, hatte Susan mit ein paar Kollegen für solche Fälle ein komplexes SuchProgramm entwickelt, eine so genannte Nonkonformitäts-Suche. Hierbei tat der Computer im Grunde nichts anderes, als jede Zeichenfolge mit einem riesigen Lexikon sinnvoller Zeichenfolgen zu vergleichen und sämtliche Folgen anzuzeigen, die für ihn sinnentleert oder rein zufällig aussahen, wobei die Suchparameter laufend
verfeinert wurden. Das war nicht einfach, aber es war machbar.
Susan seufzte. »Wenn alles klappt, bin ich in etwa einer halben Stunde fertig«, meinte sie. Die Suche nach dem Schlüssel war
logischerweise an ihr hängen geblieben. Hoffentlich würde sie es nicht bereuen!
»Dann lassen Sie uns loslegen«, sagte Strathmore. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und geleitete sie durch die Finsternis zu Node
3 . Ein prächtiger Sternenhimmel wölbte sich über der Kuppel.
An der schweren Glas-Schiebetür angekommen, stieß Strathmore einen leisen Fluch aus. Das Tastenfeld für die Türbetätigung war dunkel, der Mechanismus gesperrt. »Verdammt, kein Strom! Daran habe ich nicht gedacht.« Er wischte sich die Handflächen an der Hose trocken, legte die Hände flach auf das Glas und versuchte, die Scheiben auseinander zu stemmen. Ein Spalt öffnete sich. Susan kam Strathmore zu Hilfe. Die Tür ging ein paar Zentimeter weiter auf,
doch als der Gegendruck größer wurde, schnappte sie wieder zu.
»Warten Sie«, sagte Susan und bezog vor Strathmore Aufstellung. »Okay, jetzt noch einmal!«
Wieder konnten sie die Tür ein paar Zentimeter weit auseinander
drücken. In Node 3 war ein schwacher blauer Lichtschimmer zu erkennen, der vom Bildschirm an Susans Terminal kam. Die Terminals funktionierten noch, da sie als unverzichtbar eingestuft
waren und ebenfalls am Notstromaggregat hingen.
Susan drückte, was das Zeug hielt. Die Tür bewegte sich ein weiteres Stück. Strathmore trat noch näher und stemmte sich gegen die linke Türhälfte, während Susan die rechte übernahm. Ganz langsam und gegen größten Widerstand gaben die Tür-Hälften nach.
Sie standen jetzt schon fast dreißig Zentimeter weit auseinander.
»Nicht locker lassen«, keuchte Strathmore. »Nur noch ein kleines Stück!«
Susan arbeitete sich mit der Schulter in den Spalt. Die Tür wollte nicht nachgeben, aber Susan hatte jetzt einen besseren Halt.
Bevor Strathmore sie davon abhalten konnte, hatte sie ihren schlanken Körper ganz in den Spalt gequetscht. Strathmore protestierte, doch sie achtete nicht auf ihn. Sie wollte raus aus der Kuppel, aber sie kannte Strathmore gut genug, um zu wissen, dass sie
nirgendwohin gehen würde, solange Hales Key nicht gefunden war.
Sie steckte nun mitten in der Öffnung und drückte mit aller Kraft. Der Gegendruck der Tür war enorm. Susans Hände rutschten von der Glaskante ab. Während Strathmore nach Kräften versuchte, das Zusammenschlagen der Türhälften zu verhindern, konnte sich Susan in allerletzter Sekunde nach innen durchquetschen. Sie fiel zu Boden.
Die Türhälften knallten hinter ihr zusammen.
Der Commander zwängte die Tür wieder einen winzigen Spalt auseinander. »Mein Gott, Susan!«, rief er von draußen herein, »sind
Sie verletzt?«
Susan stand auf und klopfte sich ab. »Alles in Ordnung!«
Sie sah sich um. Der lediglich von ihrem Monitor spärlich beleuchtete Raum wirkte völlig verlassen. Das bläuliche Zwielicht
verlieh Node 3 etwas Gespenstisches. Susan wandte sich um zu Strathmores Gesicht hinter dem Türspalt, das in dem schwachen
blauen Licht kränklich und fahl aussah.
»Susan«, rief er, »geben Sie mir zwanzig Minuten! Sobald die Dateien im Sys-Sec-Lab gelöscht sind, gehe ich sofort hinauf zu
meinem Terminal und schalte den TRANSLTR ab.«
»Machen Sie das!«, rief sie in den Spalt. Sie betrachtete die schwere Glasschiebetür. Solange der TRANSLTR den gesamten
Notstrom fraß, saß sie wie eine Gefangene in Node 3 .
Strathmore ließ die Scheiben los. Der Türspalt schnappte zu. Der Commander war verschwunden.
KAPITEL 63
Beckers neu erworbene Vespa quälte sich die Zufahrtsstraße zum Aeropuerto de Sevilla hinauf. Er hatte die ganze Strecke völlig verkrampft auf dem Roller gehockt. Seine Armbanduhr zeigte die
Ortszeit, zwei Uhr früh.
Vor dem Empfangsgebäude holperte er den Bordstein hinauf, sprang von dem noch fahrenden Roller ab und ließ ihn aufs Pflaster kippen. Die Vespa spuckte noch ein paar Mal, dann erstarb der Motor. Mit weichen Knien wankte Becker durch die Drehtür. Nie wieder!,
schwor er sich.
Die sterile Abfertigungshalle war hell erleuchtet. Außer einem Mann, der den Boden wienerte, und einer Angestellten der Iberia Airlines, die gerade den Schalter schließen wollte, war kein Mensch
zu sehen. Kein gutes Zeichen, dachte Becker.
Er rannte an den Schalter. »¿El vuelo a los Estados Unidos? Der Flug in die Vereinigten Staaten!»
Die attraktive Andalusierin hinter dem Schalter blickte auf und lächelte Becker an. »Acaba de salir, señor. Sie haben ihn leider
verpasst.« Die Worte hingen bleiern in der Luft.
Du hast den Flug verpasst. Beckers Schultern sanken herab. »Gab es Platz für Last-Minute-Buchungen?«
»Sehr viel sogar«, sagte die Angestellte. »Die Maschine war fast leer. Aber für die Maschine morgen um acht Uhr gibt es auch noch...«
»Ich würde gerne wissen, ob eine Bekannte von mir dieses Flugzeug genommen hat. Sie wollte Last-Minute fliegen.«
»Es tut mir Leid, Señor. Wir hatten einige Last-Minute Buchungen, aber aus Datenschutzgründen ...«
»Es ist sehr wichtig für mich«, drängte Becker. »Ich möchte einfach nur wissen, ob meine Bekannte diesen Flug genommen hat.
Das ist alles.«
Die Angestellte nickte. »Ein Streit unter Verliebten?«
Becker stutzte, dann grinste er die Angestellte albern an. »Ist mir das so deutlich anzusehen?«
Sie zwinkerte ihm zu. »Wie heißt sie denn?«
»Megan«, sagte Becker geknickt.
Die Angestellte lächelte. »Hat Ihre Freundin auch einen Familiennamen?«
Becker ließ langsam die Luft aus den Lungen entweichen. Hat sie, aber du kennst ihn nicht! »Wissen Sie, die Sache ist etwas kompliziert. Aber Sie haben doch gesagt, dass das Flugzeug fast leer
war. Vielleicht könnten Sie ...«
»Ohne einen Familiennamen kann ich wirklich nichts ...«
»Sagen Sie«, fiel ihr Becker ins Wort, dem ein anderer Gedanke gekommen war, »haben Sie hier schon den ganzen Abend über
Dienst?«
Die Angestellte nickte. »Von sieben bis sieben.«
»Dann müssten Sie das Mädchen eigentlich gesehen haben. Es ist
noch sehr jung, etwa fünfzehn oder sechzehn. Die Haare sind ...« Die Worte waren noch nicht heraus, da wusste Becker schon, dass er
einen Fehler gemacht hatte.
Die Augen der Angestellten verengten sich. »Sie haben ein Verhältnis mit einer Fünfzehnjährigen?«
»Nein!«, beteuerte Becker. Mist. »Bitte, Sie müssen mir helfen! Es ist wahnsinnig wichtig.«
»Bedauere«, sagte die Angestellte kühl.
»Sie haben einen völlig falschen Eindruck bekommen. Wenn Sie vielleicht nur ...«
»Gute Nacht, Señor!« Die Angestellte zog die Jalousie ihres Schalters zu und verschwand durch eine Tür im Hintergrund.
Becker verdrehte stöhnend die Augen. Saubere Arbeit, David! Er ließ den Blick durch die Weite der Halle schweifen. Nichts. Megan muss den Ring verkauft und das Flugzeug genommen haben. Er ging zu dem Mann mit der Bohnermaschine. »iHas visto a una niña?«, rief er ihm über das Geheul der Maschine zu. »Haben Sie ein Mädchen
gesehen?«
Der Alte griff nach unten und stellte den Motor ab. »iEh?«
»Una niña«, wiederholte Becker, »pelo rojo, bianco, y azul. Ein Mädchen, mit rot-weiß-blauen Haaren.«
Der Alte lachte. »jQuefea! Wie scheußlich!« Kopfschüttelnd machte er sich wieder an die Arbeit.
David Becker stand ratlos mitten in der verlassenen Empfangshalle des Flughafens. Wie sollte es nun weitergehen? Der Abend hatte sich zu einer Komödie der Irrungen ausgewachsen. Strathmores Worte dröhnten in seinem Kopf. Rufen Sie mich erst wieder an, wenn Sie den
Ring haben.
Eine tiefe Erschöpfung ergriff von Becker Besitz. Wenn Megan den Ring verkauft und das Flugzeug genommen hatte, war der Verbleib des Rings nicht mehr feststellbar. Er schloss die Augen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Was nun? Er musste in Ruhe darüber nachdenken. Aber zuerst wollte er sich den längst
überfälligen Gang zur Toilette gönnen.
KAPITEL 64
Susan stand allein in der Düsternis von Node 3 . Ihre Aufgabe war klar umrissen: Hales Terminal aktivieren, den Key lokalisieren und die Kommunikation zwischen ihm und Tankado komplett löschen.
Kein Hinweis auf Diabolus durfte zurückbleiben.
Ihr Unbehagen meldete sich wieder. Nachdem bislang alles so glücklich verlaufen war, fand sie es im Grunde vermessen, mit der Bergung des Schlüssels und dem Öffnen von Diabolus das Schicksal herauszufordern. North Dakota war unversehens direkt vor ihrer Nase aufgetaucht und saß jetzt in der Falle. Der einzige ungeklärte Punkt betraf David. Er musste noch den anderen Schlüssel auftreiben.
Hoffentlich kommt er gut voran, dachte Susan.
Sie trat tiefer in den Raum und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Seltsamerweise fühlte sie sich trotz der vertrauten
Umgebung unwohl in ihrer Haut. In der Düsternis kam ihr Node 3 fremdartig vor. Aber da war noch etwas anderes. Zögernd blickte sie
zurück zu der außer Funktion gesetzten Tür. Aus Node 3 gab es kein
Entkommen. Noch zwanzig Minuten, dachte sie.
Als sie sich Hales Terminal zuwandte, bemerkte sie einen merkwürdigen Geruch – eindeutig keiner der üblichen Gerüche von
Node 3 . Sie überlegte, ob es an der ausgefallenen Entionisierungsanlage liegen könnte. Der Geruch war ihr irgendwie
bekannt und brachte sie zum Frösteln. Sie musste an Hale denken, der unten im dunstgeschwängerten Silo eingeschlossen war. Sie sah zu den Schlitzen der Klimaanlage hinauf und schnüffelte, doch der Geruch schien aus nächster Nähe zu kommen.
Jetzt erkannte sie den Geruch. Herrenparfüm ... und Männerschweiß. Ihr Blick fiel auf die Gittertür der Küche.
Durch die Lattenschlitze starrte ein Augenpaar zu ihr heraus. Sie prallte zurück. Die schreckliche Erkenntnis traf sie wie ein
Keulenschlag. Greg Hale war keineswegs im Orkus eingesperrt – er
war hier in Node 3 ! Er musste die Leiter erklommen haben, bevor Strathmore die Bodenklappe wieder verschlossen hatte. Er war auch
kräftig genug gewesen, die Schiebetür allein aufzubekommen.
Susan hatte gehört, Entsetzen würde lähmen, aber nun wusste sie, dass das ein Märchen war.
Ihr Gehirn hatte die Lage noch nicht vollständig registriert, da war sie schon in Bewegung – zurück in die Dunkelheit, mit einem einzigen Gedanken: Flucht.
Im gleichen Moment schon krachte es hinter ihr, als Hale, der stumm auf dem Herd gesessen hatte, die Beine wie zwei Rammböcke gegen die Schwingtür stieß, die splitternd aus den Scharnieren flog.
Mit großen kraftvollen Sätzen setzte er ihr nach.
Susan warf Hale eine Stehlampe als Stolperfalle in den Weg, doch er sprang geschickt darüber hinweg und kam schnell näher. Wie eine stählerne Klammer glitt sein Arm von hinten um ihre Taille. Sein Bizeps presste ihr die Luft aus den Lungen. Susan schrie auf vor
Schmerz.
Wild um sich schlagend, setzte sie sich zur Wehr. Als ihr Ellbogen eher zufällig gegen etwas Knorpeliges stieß, fiel Hales Umklammerung von ihr ab. Er schlug die Hände schützend über die
Nase und ging schreiend in die Knie.
Susan flitzte zum Ausgang und sprang auf die Kontaktplatte. Sie flehte zum Himmel, Strathmore möge in diesem Augenblick wieder
für Strom sorgen und die Tür aufgehen lassen, aber die Flucht endete mit einer hilflosen Trommelei ihrer Fäuste gegen das dicke Glas.
Hale torkelte mit blutender Nase herbei. Im Nu umklammerte sein Arm wieder Susans Taille. Seine Gürtelschnalle bohrte sich in ihr Kreuz, seine rechte Hand umfasste fest ihre linke Brust. Als er Susan
von der Tür fortzerrte, verlor sie die Schuhe.
Sie ruderte schreiend mit den Armen, doch ihre Gegenwehr war fruchtlos. Hale besaß unglaubliche Kräfte. In einer einzigen fließenden Bewegung hob er Susan hoch und legte sie neben dem
Rundtisch mit den Terminals auf dem Teppichboden ab.
Susan fand sich plötzlich auf dem Rücken wieder. Ihr Rock war bis zu den Hüften hochgerutscht, einige Blusenknöpfe aufgesprungen. Ihre Brust wogte im bläulichen Licht. Hale hatte sich mit seinem vollen Gewicht rittlings auf sie gehockt und presste sie auf den Boden. Voller Entsetzen starrte Susan ihn an. Ein schwer deutbarer Ausdruck
stand in seinen Augen – es mochte Wut sein, oder war es etwa Angst? Hales Blicke bohrten sich in Susans Leib. Eine neue Welle der Panik rollte über sie hinweg. Alles, was sie je zum Thema Selbstverteidigung gelernt hatte, schoss ihr durch den Kopf. Sie versuchte, zu kämpfen, aber ihre Glieder versagten ihr den Dienst.
Gefühllos geworden, schloss sie die Augen. Oh Gott, bitte nicht!
KAPITEL 65
Brinkerhoff ging in Midges Büro hin und her. »Kein Mensch kann Gauntlet umgehen! Ausgeschlossen!«
»Falsch!«, gab sie zurück. »Ich habe gerade mit Jabba gesprochen. Letztes Jahr hat er eigens einen Programmschalter dafür installiert.«
Brinkerhoff sah sie skeptisch an. »Davon habe ich noch nie etwas gehört.«
»Da bist du nicht der Einzige. Das ist damals ganz heimlich über die Bühne gegangen.«
»Aber Midge«, wandte Brinkerhoff ein, »Jabba ist in Sachen Computersicherheit doch geradezu ein Zwangsneurotiker! Niemals
würde er...«
»Strathmore hat ihn praktisch dazu gezwungen«, fiel ihm Midge ins Wort.
Brinkerhoff hörte die Rädchen in ihrem Kopf arbeiten.
»Weißt du noch, letztes Jahr, als Strathmore diesen antisemitischen Terroristenring in Kalifornien auf dem Kieker hatte?«
Brinkerhoff nickte. Es war damals einer der größten Coups Strathmores gewesen. Bei der Dechiffrierung eines abgefangenen Codes mit Hilfe des TRANSLTR war er auf den Plan eines Bombenattentats auf eine jüdische Schule in Los Angeles gestoßen. Die verschlüsselte Nachricht der Terroristen konnte erst zwölf Minuten vor der geplanten Bombenexplosion geknackt werden. In letzter Sekunde hatte Strathmore mit ein paar Blitztelefonaten dreihundert Schulkinder retten können.
»Dazu muss man aber wissen«, sagte Midge und senkte dramatisch die Stimme, »dass Strathmore die verschlüsselte Nachricht schon
sechs Stunden vor dem geplanten Bombenattentat abgefangen hatte.«
Brinkerhoff war einen Moment sprachlos. »Aber... aber warum hat er dann so lange gewartet ...«
»Weil der TRANSLTR die Datei nicht angenommen hat! Strathmore hat alles versucht, aber die Gauntlet-Filter haben die Datei immer wieder zurückgewiesen. Sie war mit einem Public-Key-Algorithmus chiffriert, den die Filter noch nicht kannten. Jabba hat fast sechs Stunden gebraucht, bis er die Filter entsprechend
umprogrammiert hatte.«
Brinkerhoff war platt.
»Strathmore hat natürlich gekocht und von Jabba verlangt, dass er ihm einen Programmschalter zum Umgehen von Gauntlet installiert,
damit so was nicht wieder vorkommmt.«
»Mann, oh Mann.« Brinkerhoff pfiff durch die Zähne. »Das war mir völlig unbekannt.« Seine Augen verengten sich. »Und worauf
willst du hinaus?«
»Ich glaube, dass Strathmore heute wieder einmal auf diesen Programmschalter gedrückt hat, um eine Datei zu bearbeiten, die
Gauntlet zurückgewiesen hat.«
»Na und? Dazu ist dieser Schalter doch da, oder?«
»Nicht, wenn die Datei einen Virus hat.«
Brinkerhoff machte einen Satz. »Einen Virus? Wie kommst du auf
einen Virus?«
»Das ist die einzige logische Erklärung«, sagte Midge. »Jabba sagt, nur ein Virus könne den TRANSLTR so lange auf Trab halten,
also ...«
»Moment mal!« Brinkerhoff wedelte mit dem Zeigefinger. »Strathmore hat gesagt, dass alles in bester Ordnung sei!«
»Strathmore lügt.«
Brinkerhoff blickte nicht mehr durch. »Willst du etwa behaupten, Strathmore hätte absichtlich dem TRANSLTR einen Virus verpasst?«
»Ach was!«, winkte Midge ab. »Natürlich nicht. Ich glaube, er ist hereingelegt worden.«
Brinkerhoff wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Mit Midge Milken war offenbar die Fantasie durchgegangen.
»Das würde so manches erklären«, beharrte sie, »zum Beispiel, warum Strathmore schon die ganze Nacht zu Gange ist.«
»Um seinen eigenen Computer mit einem Virus zu verseuchen?«
»Nein«, sagte Midge ärgerlich, »um seinen Fehler zu vertuschen. Und weil der Virus sämtliche Prozessoren blockiert, kriegt er den TRANSLTR nicht mehr abgeschaltet, und folglich hat er auch nicht
genügend Strom für das Licht in der Kuppel.«
Brinkerhoff verdrehte die Augen. Midge hatte in der Vergangenheit schon öfter Ahnungen gehabt, aber hier war wohl die Fantasie mit ihr durchgegangen. Er versuchte, sie wieder auf den
Teppich zu bekommen. »Jabba scheint sich keine besonderen Sorgen zu machen.«
»Jabba ist ein Idiot!«, zischte Midge.
Brinkerhoff sah sie überrascht an. Einen Idioten hatte Jabba noch keiner genannt – ein Schwein vielleicht, aber nicht einen Idioten. »Hier steht wohl deine weibliche Intuition gegen Jabbas anerkannten
Sachverstand.«
Midge schoss einen missbiligenden Blick auf ihn ab.
Brinkerhoff hob begütigend die Hände. »Nichts für ungut. Ich nehme alles zurück.« Er musste zugeben, Midge hatte ein besonderes Talent, krumme Dinger zu wittern. »Midge«, sagte er begütigend,
»ich weiß ja, dass du Strathmore nicht leiden kannst, aber...«
»Strathmore ist für mich schon längst aus dem Spiel!« Midge war
bereits voll in Fahrt. »Wir müssen uns jetzt die Bestätigung verschaffen, dass Strathmore die Gauntlet-Filter umgangen hat, und dann wird der Chef angerufen.«
»Hervorragende Idee«, stöhnte Brinkerhoff. »Dann sollten wir Strathmore anrufen und ihn bitten, eine eidesstattliche Erklärung
abzugeben.«
»Nein«, sagte Midge, ohne den Sarkasmus zur Kenntnis zu nehmen. »Strathmore hat uns heute schon einmal für dumm verkaufen wollen.« Sie sah Brinkerhoff prüfend an. »Du hast doch einen
Schlüssel für Fontaines Büro.«
»Natürlich, schließlich bin ich sein persönlicher Referent!«
»Gib ihn mir.«
Brinkerhoff sah Midge erstaunt an. »Midge, und wenn du dich auf den Kopf stellst, ich werde dich niemals in Fontaines Büro lassen!«
»Du musst aber!« Midge wandte sich ab und tippte auf der Tastatur von Big Brother herum. »Ich brauche eine Warteschlangenliste vom TRANSLTR. Wenn Strathmore die Gauntlet-Filter umgangen hat, wird man es auf dem Ausdruck der
Liste sehen können.«
»Und wozu musst du dafür in Fontaines Büro?«
Midge wirbelte herum. »Wie du eigentlich wissen solltest, kann man sich die Warteschlangenliste nur auf Fontaines eigenem Drucker
ausdrucken lassen!«
»Jawohl, Midge, weil die Liste nämlich der Geheimhaltung unterliegt!«
»Wir haben eine Notsituation. Ich muss diese Liste einsehen.«
Brinkerhoff legte ihr die Hände auf die Schultern. »Midge, bitte beruhige dich. Du weißt genau, dass ich niemanden...«
Sie schnaubte vernehmlich und wandte sich wieder ihrem Keyboard zu. »Ich werde jetzt den Druckbefehl für die Warteschlangenliste eingeben. Dann gehe ich in das Büro, hole die Liste aus dem Drucker und gehe wieder raus, mehr nicht. Gib mir jetzt
den Schlüssel.« »Midge ...«
Sie beendete die Befehlseingabe und drehte sich um. »Chad, die Liste kommt in dreißig Sekunden aus dem Drucker. Ich mache dir ein Angebot. Du gibst mir den Schlüssel. Wenn Strathmore die Filter umgangen hat, rufen wir den Sicherheitsdienst. Wenn ich mich getäuscht habe, gehe ich nach Hause, und du kannst Carmen Huerta so viel Honig auf die Titten schmieren, wie du willst.« Sie lächelte ihn hinterhältig an und streckte die Hand aus. »Den Schlüssel bitte, ich
warte!«
Brinkerhoff stöhnte auf. Er bereute zum zweiten Mal, dass er Midge zurückgerufen hatte. Er betrachtete die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. »Midge, hier geht es um Geheimmaterial, das sich im Verfügungsbereich des Direktors befindet. Machst du dir überhaupt eine Vorstellung davon, was passiert, wenn man uns
erwischt?«
»Der Direktor ist in Südamerika.«
»Tut mir Leid. Das kann ich nicht machen, und damit basta!« Brinkerhoff drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum.
Midge starrte ihm hinterher. In ihren grauen Augen funkelte es. »Und ob du das machen kannst«, flüsterte sie. Sie wandte sich Big
Brother zu und rief das Video-Archiv auf.
Midge wird sich schon wieder einkriegen, dachte Brinkerhoff, während er sich an den Schreibtisch setzte, um die restlichen Berichte durchzugehen. Schließlich konnte Midge nicht von ihm erwarten, dass er ihr jedes Mal, wenn sie Gespenster sah, den Schlüssel zum Büro
des Direktors aushändigte.
Er hatte sich soeben in den Bericht über die COMSEC-Ausfälle vertieft, als er störendes Stimmengewirr vernahm. Er unterbrach seine
Arbeit und ging zur Tür.
Der Flur war dunkel, bis auf einen schwachen gräulichen Lichtschimmer, der aus Midges halb geöffneter Bürotür fiel. Er
lauschte. Die Stimmen brachen nicht ab. Sie klangen erregt. »Midge?«
Keine Antwort.
Er näherte sich ihrem Büro. Die Stimmen kamen ihm irgendwie bekannt vor. Er machte die Tür ganz auf. Das Büro war leer. Brinkerhoffs Blick folgte den Stimmen, die von den Videomonitoren kamen. Auf jedem der zwölf Bildschirme spielte die gleiche Szene – eine Art pervers choreographiertes Ballett. Brinkerhoff stützte sich auf die Lehne von Midges Schreibtischsessel. Entsetzt betrachtete er die
Bilder. Es wurde ihm fast schlecht.
»Chad?«, sagte jemand hinter ihm draußen auf dem Gang.
Er fuhr herum und spähte ins Dunkel.
Midge Milken lehnte auf der anderen Seite des Empfangsbereichs lässig im Rahmen der Doppeltür zum Büro des Direktors und streckte
die Hand aus. »Den Schlüssel, Chad.«
Puterrot wandte sich Brinkerhoff wieder den Monitoren zu. Er versuchte, die Bilder an sich abgleiten zu lassen, aber vergeblich. Auf allen Bildschirmen war zu sehen, wie er vergnügt an Carmen Huertas
honigbekleckerten kleinen Brüsten nuckelte.
KAPITEL 66
David Becker durchquerte die Empfangshalle. Vor der Tür mit dem Schild CABALLEROS standen ein orangefarbener Pylon und ein Putzwagen mit Putzmitteln und Mopps. Er betrachtete eine Tür
daneben mit der Aufschrift SEÑORAS , bevor er hinüberging und
laut anklopfte.
»¿Hallo?«, rief er und öffnete die Tür ein paar Zentimeter, »¿Con permiso?«
Als keine Antwort kam, trat er ein.
Die Toilette bot das typische Bild einer spanischen Einrichtung dieser Art – absolut quadratisch, eine einzige nackte Birne an der Decke, und wie üblich ein Toilettenhäuschen und ein Urinal. Ob das Urinal in einer Damentoilette jemals Verwendung fand, stand nicht zur Debatte. Seine Installation ersparte dem Bauunternehmer die
Kosten für den Einbau eines zweiten Häuschens.
Becker betrachtete schaudernd das schmutzstarrende Ambiente. Im Waschbecken stand eine dunkelbraune Brühe, der Abfluss war verstopft. Überall lagen schmutzige Papierhandtücher herum. Der antiquierte Föhn in der Wandhalterung war mit grünlichen Flecken
übersät.
Becker trat vor den Spiegel und seufzte. Die Augen, die ihn normalerweise wach und klar aus dem Spiegel entgegenblickten, hatten ihren Glanz verloren. Wie lange bist du eigentlich schon auf den Beinen?, fragte er sich, kam aber zu keinem genauen Ergebnis. Aus purer Gewohnheit zog er den Windsorknoten seiner Krawatte
fest.
Er stellte sich vor das Urinal. Ob Susan inzwischen zu Hause war? Wo mochte sie hingegangen sein? Auf eigene Faust nach Stone
Manor?
»Hey!«, rief hinter ihm eine zornige Frauenstimme.
Becker führ zusammen. »Ich habe nur...«, stotterte er und zog schnell den Reißverschluss seiner Hose wieder zu. »Es tut mir Leid,
ich...«
Er wandte sich um. Ein adrett gekleidetes junges Mädchen war eingetreten. Mit seiner klassisch geschnittenen Karohose und einer weißen ärmellosen Bluse sah es aus wie den Seiten eines Modemagazins entsprungen. Es schleppte eine rote Nylonreisetasche
mit sich. Das blonde Haar war makellos in Fasson geföhnt.
»Entschuldigen Sie.« Becker versuchte unauffällig den Gürtel zuzumachen. »Die Herrentoilette war... na ja... ich bin schon fort.«
»Verdammter Wichser!«
Becker prallte zurück. Die ordinäre Ausdrucksweise passte ganz und gar nicht zum Erscheinungsbild des Mädchens. Es war, als flösse Jauche aus einer Kristallkaraffe. Je länger Becker das Mädchen ansah, desto mehr bröckelte sein erster Eindruck. Ihre Augen waren verquollen und blutunterlaufen, ihr linker Unterarm geschwollen.
Unter der stark geröteten Haut zeichneten sich bläuliche Flecken ab.
Mein Gott, dachte Becker, Drogen in die Armvene! Wer hätte das gedacht?
»Raus jetzt!«, schrie das Mädchen.
Becker vergaß den Ring, die NSA, das ganze Theater. Er machte sich Sorgen um das junge Ding. Die Eltern hatten es vermutlich als Austauschschülerin mit einer Kreditkarte herübergeschickt – und das
Ende vom Lied war ein nächtlicher Schuss in einer Toilette.
»Sind Sie okay?«, fragte er, schon auf dem Weg zur Tür.
»Mir geht es prima.« Ihre Stimme war heiser. »Hauen Sie bloß ab!«
Mit einem Blick auf ihren Unterarm wandte Becker sich endgültig zum Gehen. David, da ist nichts mehr zu machen. Lass die Finger
davon.
»Raus!«
Becker nickte. Im Hinausgehen lächelte er dem Mädchen zu. »Passen Sie gut auf sich auf!«
KAPITEL 67
» Susan!«, keuchte Hale. Sein Gesicht war dicht vor dem ihren.
Die Beine angewinkelt, hockte er mit seinem vollen Gewicht auf Susans Leib. Durch den dünnen Stoff von Susans Rock bohrte sich sein Steißbein schmerzhaft in ihre Schamgegend. Aus seiner Nase troff Blut auf sie herab. Seine Hände waren an ihrer Brust. Susan
spürte den Mageninhalt hochkommen.
Sie war gefühllos geworden. Es dauerte einige Zeit, bis sie merkte, dass Hale ihre Bluse zuknöpfte und ihren Rock wieder in Form
brachte.
»Susan«, keuchte er atemlos, »du musst mich hier herausbringen!«
Sie war wie betäubt. Nichts passte mehr zusammen.
»Susan, du musst mir helfen! Strathmore hat Charturkian umgebracht! Ich hab's gesehen!«
Susan brauchte einen Moment, bis sie den Satz verdaut hatte. Strathmore soll Charturkian umgebracht haben? Hale wusste
offenbar nicht, dass sie ihn dort unten gesehen hatte.
»Strathmore weiß, dass ich ihn beobachtet habe«, stieß Hale hervor. »Er wird auch mich umbringen!«
Susan wagte vor lauter Angst kaum zu atmen, sonst hätte sie Hale laut ins Gesicht gelacht. Sie erkannte die Taktik des ausgebildeten Marinesoldaten. Teile und herrsche – Lügen erfinden, die Leute
gegeneinander ausspielen.
»Ich erzähle keine Märchen, es stimmt!«, schrie er. »Wir müssen Hilfe herbeirufen. Ich sage dir, wir schweben beide in höchster Gefahr!«
Susan glaubte ihm kein Wort.
Hales Beine verkrampften sich. Beim Verlagern des Gewichts erhob er sich ein klein wenig in die Hocke. Er wollte etwas sagen,
aber dazu kam er nicht.
Als sich Hales schwerer Körper hob, strömte schlagartig wieder das Blut in Susans Beine. Bevor sie begriffen hatte, was geschah, schnellte ihr linkes Knie reflexhaft hoch und grub sich in Hales
Weichteile.
Hale fiel jaulend in sich zusammen. Sein Geschlecht in den Händen bergend, kippte er zur Seite. Susan schlängelte sich unter ihm hervor und machte ein paar taumelnde Schritte zum Ausgang, doch sie wusste nur zu gut, dass ihre Kräfte zum Offnen der Tür nicht
ausreichten.
Einer Eingebung folgend, blieb sie an der Schmalseite des langen Besprechungstischs aus Ahorn stehen. Sie stemmte die Füße in den Teppichboden und schob den Tisch mit aller Kraft wie einen Rammbock zur Glaswand. Zum Glück hatte das Monstrum Rollen und ließ sich hervorragend schieben. Auf halbem Weg zur
Spiegelwand war Susan schon in vollem Lauf.
Anderthalb Meter vor dem Aufprall ließ sie den Tisch fahren, warf sich zur Seite und bedeckte die Augen. Es gab ein wüstes Krachen, und die Einweg-Spiegelwand zerbarst in einem Scherbenregen. Zum ersten Mal seit dem Bau der Anlage drangen die Geräusche der
Kuppel herein.
Susan hob den Kopf. Durch das gezackte Loch konnte sie gerade
noch den Tisch in weitem Schwung über den Kachelboden gleiten und in der Dunkelheit verschwinden sehen.
Sie fuhr in ihre herumliegenden Schuhe. Mit einem letzten Blick auf Greg Hale, der sich immer noch vor Schmerzen wand, rannte sie
durch ein Meer von Scherben in die Kuppel hinaus.
KAPITEL 6 8
» Na, das war doch gar nicht so schwer!«, sagte Midge und feixte, während sie von Brinkerhoff den Schlüssel für Leland Fontaines Büro
entgegennahm.
Brinkerhoff bot den Anblick eines geschlagenen Mannes.
»Ich werde das Band vor dem Nachhausegehen löschen«, stellte Midge in Aussicht, »es sei denn, das Ehepaar Brinkerhoff legt Wert
darauf, es seiner Privatsammlung einzuverleiben.«
»Hol dir bloß den verdammten Ausdruck«, zischte Brinkerhoff, »und dann verschwinde!«
»Sí, señor«, schnarrte Midge mit puertoricanischem Akzent. Sie blinzelte Brinkerhoff zu und schloss die Doppeltür auf.
Leland Fontaines Büro glich in nichts dem Rest der Chefetage. Keine Bilder an der Wand, keine Polsterfauteuils, keine Ficuspflanzen im Topf, keine antike Uhr. Alles war bis ins Letzte auf Zweckmäßigkeit angelegt. Der Schreibtisch mit Glasplatte und der schwarze Ledersessel waren unmittelbar vor dem Panoramafenster aufgestellt. In der Ecke standen drei Aktenschränke, daneben ein kleiner Tisch mit einer französischen Kolbenfilter-Kaffeekanne. Der Mond hing hoch am Himmel über Fort Meade. Das durch das Fenster hereinfallende blasse Licht ließ die Kargheit des Chefbüros
ungemildert hervortreten.
Worauf hast du dich da bloß eingelassen? fragte sich Brinkerhoff.
Midge ging zum Drucker und zog die Warteschlangenliste aus dem Schacht. »Ich kann nichts erkennen«, meckerte sie. »Mach doch mal
das Licht an!«
»Du wirst die Liste draußen lesen, meine Liebe, und nun komm!«
Midge schien die Situation bis zur Neige auskosten zu wollen. Sie stöckelte zum Fenster, wo sie den Ausdruck schräg ins Mondlicht
hielt, um ihn besser lesen zu können. »Midge ...«
Sie ließ sich nicht stören.
Brinkerhoff trat von einem Bein aufs andere. »Midge, nun mach schon. Das ist das Büro des Chefs!«
»Ich weiß, dass es hier irgendwo stehen muss«, murmelte sie. »Strathmore hat die Filter schachmatt gesetzt. Ich weiß es einfach.«
Sie trat noch näher an die Scheibe.
Brinkerhoff fing an zu schwitzen.
Midge las in aller Seelenruhe weiter. Plötzlich schnappte sie nach Luft. »Ich hab's doch gewusst! Strathmore hat die Gauntlet-Filter umgangen. Dieser Idiot!« Triumphierend wedelte sie mit dem Ausdruck in der Luft herum. »Er hat Gauntlet umgangen! Hier, sieh's
dir an!«
Brinkerhoff schaute einen Moment lang dumm aus der Wäsche, dann rannte er quer durch das Büro seines Chefs zu Midge und drängte sich neben sie ans Fenster. Sie deutete auf das Ende des
Ausdrucks.
Brinkerhoff konnte nicht glauben, was er da las. »Was zum Teufel hat ...«
Auf dem Ausdruck stand eine Liste der letzten sechsunddreißig in den TRANSLTR eingegebenen Dateien. Hinter jedem Eintrag stand ein vielsteiliger Gauntlet-Freigabecode. Bei der letzten Datei jedoch
fehlte er. Stattdessen stand dort FILTER MANUELL UMGANGEN.
Ach du dickes Ei, dachte Brinkerhoff. Midge hat wieder einmal zugeschlagen.
»Dieser Schwachkopf!«, zischte Midge. »Sieh dir das an! Gauntlet hat die Datei zweimal abgewiesen. Wegen Mutationsketten. Und er hat die Filter trotzdem umgangen! Was hat sich dieser Idiot dabei nur
gedacht?«
Brinkerhoff hatte weiche Knie bekommen. Zu gern hätte er gewusst, warum Midge am Ende immer Recht behielt.
Sie bemerkten beide nicht das Spiegelbild, das neben ihnen im Glas der Fensterscheibe auftauchte. In der offenen Tür von Fontaines
Büro stand eine wuchtige Gestalt.
»Mein Gott!«, keuchte Brinkerhoff, »du glaubst also wirklich, dass wir einen Virus haben?«
Midge seufzte. »Was soll es denn sonst sein?«
»Jedenfalls nichts, was Sie beide etwas angeht!«, dröhnte eine Stimme hinter ihnen.
Sie fuhren herum. Midge knallte mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe, Brinkerhoff stolperte über den Drehfuß des Schreibtischsessels seines Chefs. Er wusste sofort, wer dort im
Türrahmen stand.
»Herr Direktor!«, japste er und eilte mit zum Gruß weit
ausgestreckter Hand zur Tür. »Willkommen zu Hause, Sir!«
Der hünenhafte Mann ignorierte die Hand.
»Ich... ich habe gedacht, Sie wären in Südamerika«, stotterte Brinkerhoff und ließ die Hand sinken.
Leland Fontaine durchbohrte seinen Referenten mit Blicken wie Dolche. »Gewiss. Aber jetzt bin ich wieder hier.«
KAPITEL 69
»Hey, Mister!«
Becker war auf dem Weg zu einer Batterie von Münzfernsprechern. Er blieb stehen und drehte sich um. Das Mädchen, das ihn in der Damentoilette überrascht hatte, winkte.
»Mister, warten Sie!«
Das wird ja immer besser, stöhnte Becker. Will sie dich jetzt wegen sexueller Belästigung anzeige n?
Die große Reisetasche hinter sich herzerrend, kam das Mädchen herbeigelaufen. Als es vor ihm stand, lächelte es ihn freundlich an. »Tut mir Leid, dass ich Sie in der Toilette so angeschrien habe. Ich
habe mich einfach nur erschreckt.«
»Schon vergessen«, sagte Becker. »Eigentlich hatte ich dort ja auch nichts zu suchen.«
»Halten Sie mich bitte nicht für verrückt«, sagte die Halbwüchsige und blinzelte mit den rot geränderten Augen, »aber hätten Sie
vielleicht ein paar Mäuse übrig, die Sie mir pumpen könnten?«
Becker schaute sie mit ungläubigen Augen an. »Wofür wollen Sie das Geld denn haben?« Deine Drogensucht werde ich dir nicht
finanzieren, meine Liebe, falls du das im Sinn hast!
»Ich möchte nach Hause fliegen«, sagte das Mädchen. »Würden Sie mir helfen?«
»Sie haben wohl Ihr Flugzeug verpasst.«
Sie nickte. »Ich hab mein Ticket verloren, und da wollten mich die Arschlöcher nicht an Bord lassen. Und jetzt habe ich kein Geld mehr, um mir ein neues Ticket zu kaufen.«
»Wo sind Sie denn zu Hause?«
»In den Staaten.«
»Können Sie nicht Ihre Eltern anrufen?«
»Nein, schon probiert. Vermutlich sind sie zum Wochenende mit irgendjemand segeln gegangen.«
»Haben Sie denn keine Kreditkarte?«, sagte Becker mit einem Blick auf die teure Kleidung des Mädchens.
»Ja, hatte ich, aber mein Dad hat sie sperren lassen. Er glaubt, ich würde Drogen nehmen.«
»Nehmen Sie denn Drogen?«, sagte Becker mit ausdruckslosem Gesicht. Er beäugte den geschwollenen Unterarm des Mädchens.
Das Mädchen starrte ihn empört an. »Natürlich nicht!«, sagte es und tat beleidigt. Becker bekam das Gefühl, dass er über den Tisch
gezogen werden sollte.
»Nun machen Sie keinen Aufstand«, sagte es. »Sie sehen aus wie jemand, der Kohle hat. Könnten Sie nicht ein bisschen davon abdrücken, damit ich nach Hause fliegen kann? Ich schicke Ihnen die
Knete auch wieder zurück.«
Für Becker war klar, dass jeder Peso, den er dem Mädchen gab, im Nu in den Klauen eines Drogenhändlers von Triana landen würde.
»Ich gehöre nicht zu den Leuten, die Kohle haben«, entgegnete Becker. »Aber ich sage Ihnen, was wir machen können...« Ich werde dich beim Wort nehmen, mein Kind. »Was halten Sie davon, wenn ich
Ihnen das Ticket kaufe?«
Das Mädchen schaute ihn verdattert an. »Das würden Sie tun?«, stammelte es, die Augen hoffnungsvoll aufgerissen. »Sie würden mir ein Ticket kaufen, damit ich nach Hause fliegen kann? Oh Gott, wie
soll ich Ihnen dafür danken?«
Becker war sprachlos. Offenbar hatte er das Mädchen falsch eingeschätzt.
Das Mädchen schlang ihm die Arme um den Hals. »Das war ein ganz beschissener Sommer«, schluchzte es. »Oh danke, vielen Dank. Ich muss unbedingt weg von hier.«
Becker drückte es halbherzig. Das Mädchen ließ ihn los. Er betrachtete wieder die bläulichen Male an ihrem Unterarm.
Es folgte seinem Blick. »Sieht schaurig aus, nicht?«
Becker nickte. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Sie keine Drogen nehmen.«
Das Mädchen lachte. »Das ist blauer Marker! Er ist total verschmiert. Ich habe mir fast die Haut abgerubbelt, bis ich ihn wieder
runter hatte.«
Becker sah genauer hin. Im Licht der Leuchtstoffröhren konnte er auf dem rötlich geschwollenen Arm undeutlich eine Schrift erkennen.
»Aber ... Ihre Augen!«, sagte Becker einigermaßen ratlos. »Die
sind doch ganz rot!«
Sie lachte auf. »Ich habe geheult, wissen Sie, weil ich meinen Flug verpasst habe. Habe ich Ihnen doch gesagt!«
Becker betrachtete wieder die Schrift auf dem Arm.
Das Mädchen zog peinlich berührt die Stirn kraus. »Man kann es immer noch lesen, nicht wahr?«
Becker kam etwas näher. Die vier Wörter waren noch gut zu erkennen, die Botschaft hätte klarer nicht sein können. Vor seinem inneren Auge rasten die letzten zwölf Stunden im Schnelllauf vorbei. Er war wieder im Hotel Alfonso XIII in Suite 301. Der Deutsche patschte auf seinen Unterarm und sagte in miserablem Englisch fock
off and die.
»Sie sehen auf einmal so komisch aus!«, sagte das Mädchen und schaute Becker unsicher an, der wie weggetreten wirkte.
Becker hob den Blick nicht von ihrem Arm. Er war wie vom Donner gerührt. Auf dem Arm des Mädchens standen vier Wörter,
FUCK OFF AN DIE:
»Das hat ein Freund von mir draufgeschrieben«, sagte das Mädchen. Es war ihm sichtlich unangenehm. »Ziemlich blöd, was?«
Becker fand keine Worte. Fuck off and die. Er konnte es nicht fassen. Der Deutsche hatte ihn nicht beleidigen wollen – er wollte ihm helfen! Becker hob den Blick und betrachtete das Gesicht des Mädchens. Blau-weiß-rote Farbspuren schimmerten im Licht der
Leuchtstoffröhren in seinem blonden Haar.
»Sie ... Sie tragen nicht zufällig Ohrringe?«, stotterte Becker und spähte nach einem Loch in ihrem Ohrläppchen.
Das Mädchen sah ihn merkwürdig berührt an. Es zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche und hielt ihn Becker hin.
»Ein Ohrclip?«, sagte Becker fassungslos und starrte den Totenkopf an, der an einem Kettchen baumelte.
»Na klar! Ich habe keinen Bock, mir Löcher in die Ohren stechen zu lassen. Wenn ich Nadeln sehe, mache ich mir vor lauter Angst
immer in die Hosen!«, sagte das Mädchen.
KAPITEL 70
David Becker stand mitten im menschenleeren Empfangsgebäude. Seine Beine drohten nachzugeben. Er betrachtete das Mädchen, das vor ihm stand. Die Suche war vorbei. Megan war noch nicht unterwegs nach New York. Sie hatte sich umgezogen und die Haare gewaschen – vielleicht weil sie hoffte, den Ring so besser an den
Mann bringen zu können.
Becker bemühte sich, ruhig zu bleiben. Seine Irrfahrt war so gut wie beendet. Er betrachtete Megans Finger. Nirgendwo ein Ring. Er betrachtete ihre Reisetasche. Da ist er drin, dachte er. Da muss er drin
sein.
Er lächelte. Es gelang ihm kaum, seine Erregung zu kaschieren. »Es hört sich vielleicht verrückt an, aber Sie dürften etwas haben, das
ich dringend brauche.«
»Oh?«, machte Megan. Sie wirkte auf einmal befangen.
Becker griff nach der Brieftasche. »Es wird mir natürlich eine Freude sein, Sie dafür zu bezahlen.« Er begann, ein paar Scheine
abzuzählen.
Megan, die ihn beobachtete, sog erschrocken die Luft ein und schickte einen ängstlich abschätzenden Seitenblick zur Drehtür ... fünfzig Meter.
»Ich werde Ihnen reichlich Geld geben, wenn Sie ...«
»Sagen Sie es nicht!«, stieß Megan hervor. »Ich glaube, ich weiß genau, was Sie wollen.« Sie beugte sich über ihre Reisetasche und
begann, hektisch darin herumzuwühlen.
Ein Schwall der Hoffnung überflutete Becker. Sie hat ihn!, triumphierte er. Sie hat den Ring! Er begriff zwar nicht so recht, woher sie so genau wusste, was er wollte, aber er war zu müde, um sich darüber lange Gedanken zu machen. Jeder Muskel seines Körpers entspannte sich. Er sah sich bereits dem stellvertretenden Direktor der NSA den Ring aushändigen. Wenig später würde er mit Susan in Stone Manor im großen Himmelbett liegen und alles Versäumte
nachholen.
Megan schien endlich gefunden zu haben, wonach sie gesucht hatte. Sie kam plötzlich mit einer kleinen Sprühdose hoch, feuerte Becker einen Strahl Pfefferspray in die Augen, packte ihre Tasche und rannte zum Ausgang. Als sie unterwegs einen Blick über die Schulter
warf, lag Becker auf dem Boden und krümmte sich.
KAPITEL 71
Tokugen Numataka zündete sich die vierte Zigarre an. Er tigerte immer noch auf und ab. Schließlich schnappte er den Telefonhörer
und rief die Hausvermittlung an.
»Hat sich wegen dieser Telefonnummer schon etwas getan?«, sagte er, ohne die Meldung der Telefonistin abzuwarten.
»Bislang noch nicht. Es dauert etwas länger als erwartet – der Anruf ist von einem Mobiltelefon gekommen.«
Von einem Handy?, sinnierte Numataka.
»Die Relaisstation steht in dem Gebiet mit dem Code 202«, setzte die Telefonistin hinzu. »Die Nummer haben wir allerdings noch
nicht.«
»202? Und wo ist das?« Wo in diesem riesigen Amerika hält sich North Dakota versteckt?
»Irgendwo in der Nähe von Washington, D.C.«
Numataka hob die Brauen. »Melden Sie sich sofort, wenn Sie die Nummer haben!«
KAPITEL 72
Susan Fletcher machte sich über die im Dunkeln liegende Gittertreppe auf den Weg zu Strathmores Büro – so weit weg von
Hale, wie es in dem verschlossenen Komplex eben ging.
Oben angekommen, fand sie die Bürotür des Commanders unverschlossen in den Angeln hängend vor. Der Stromausfall hatte die elektronische Schließvorrichtung schachmatt gesetzt. Sie stürzte in
das von Strathmores Bildschirm schwach beleuchtete Büro.
»Commander!«, rief sie. »Commander!«
Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass Strathmore im Sys-Sec-Lab war. Susan drehte nervöse Kreise in dem leeren Büro. Die Panik von dem Kampf mit Hale steckte ihr noch in den Knochen. Diabolus hin oder her – sie musste aus der Kuppel heraus, und zwar sofort. Es war an
der Zeit, den TRANSLTR abzuschalten und zu verschwinden.
Sie streifte Strathmores leuchtenden Monitor mit einem Blick. Von diesem autorisierten Terminal aus war das Abschalten kein Problem. Im nächsten Augenblick stand sie hinter dem Schreibtisch. Susan
manövrierte sich in das entsprechende Befehlsfenster und tippte:
PROGRAMM ABBRECHEN
Ihr Finger schwebte über der Enter-Taste.
»Susan!«, bellte eine Stimme an der Tür. Entsetzt fuhr sie hoch, aber es war nicht Hale, wie befürchtet, sondern Strathmore. Im Licht des Bildschirms stand er blass und gespenstisch auf der Schwelle.
Sein Atem ging schwer. »Was zum Teufel treiben Sie hier?«
»Commander!«, japste Susan, »Hale ist in Node 3 ! Er ist gerade auf mich losgegangen!«
»Was? Wie kann das sein? Er ist doch unten in ...«
»Nein, ist er nicht, er läuft frei herum! Wir müssen den Sicherheitsdienst rufen! Ich bin gerade dabei, den TRANSLTR
abzuschalten.« Susans Hand fuhr wieder zur Tastatur.
»FINGER WEG!«, brüllte Strathmore. Mit einem Sprung war er an seinem Terminal und riss Susans Hand fort.
Susan zuckte zurück. Sie starrte den Commander an. Zum zweiten Mal an diesem Tag erkannte sie ihn nicht wieder.
Sie fühlte sich auf einmal sehr einsam.
Erschrocken bemerkte Strathmore das Blut auf Susans Bluse. Er bedauerte seinen Ausbruch sofort. »Susan, mein Gott, sind Sie
verletzt?«
Sie antwortete nicht.
Strathmore bedauerte, dass er sie angefahren hatte, aber seine Nerven lagen blank. Er musste an allen Ecken und Enden Löcher stopfen, und in seinem Kopf gingen Dinge vor, von denen Susan Fletcher keine Ahnung hatte. Dinge, in die er sie nicht eingeweiht
hatte und hoffentlich niemals würde einweihen müssen.
»Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Erzählen Sie, was geschehen ist.«
Susan wandte sich ab. »Das ist jetzt gleichgültig. Das Blut ist
übrigens nicht von mir. Bringen Sie mich einfach nur hier raus.«
»Sind Sie wirklich nicht verletzt?« Strathmore wollte Susan die
Hand auf die Schulter legen, doch sie wich ihm aus. Er ließ die Hand sinken und wandte den Blick ab. Als er Susan wieder ansah, schien sie über seine Schulter hinweg etwas anzustarren, das sich hinter ihm an der Wand befand.
Strathmore folgte stirnrunzelnd Susans Blick. Ein kleines Tastenfeld leuchtete hinter ihm unverdrossen in die Dunkelheit. Er hatte gehofft, Susan würde das betriebsbereite Panel seines Privatlifts nicht bemerken, der ihm und hochrangigen Gästen zur Verfügung stand, um die Crypto-Kuppel von den Mitarbeitern unbemerkt betreten zu können. Der Lift fuhr fünfzehn Meter nach unten und dann durch eine verstärkte horizontale Tunnelröhre hinüber in die Kelleretagen des NSA-Gebäudekomplexes. Die Stromversorgung erfolgte vom Hauptgebäude aus, weshalb der Lift trotz des
Stromausfalls in der Crypto-Abteilung noch funktionierte.
Strathmore hatte die ganze Zeit gewusst, dass sein Lift noch ging, es aber für sich behalten – auch als Susan unten in der Kuppel gegen das verschlossene Drehtor des Hauptzugangs gehämmert hatte. Er konnte sich nicht leisten, sie gehen zu lassen – noch nicht, wobei er derzeit nicht abzuschätzen vermochte, wie viel er ihr preisgeben
musste, damit sie von sich aus blieb.
Susan drängte sich an Strathmore vorbei und lief zur Rückwand des Büros, um wie wild auf den beleuchteten Tasten herumzutippen.
»Oh, bitte!«, flehte sie, aber die Lifttür blieb zu.
»Susan«, sagte Strathmore ruhig, aber bestimmt, »für diesen Lift braucht man ein Passwort.«
»Ein Passwort?«, wiederholte sie ärgerlich. Unter dem HauptTastenfeld befand sich ein zweites, kleineres mit zahlreichen kleinen Knöpfen, die jeweils einen Buchstaben des Alphabets trugen. Susan
fuhr herum. »Und wie lautet das Passwort?«
Strathmore schien nachzudenken. »Susan, bitte setzen Sie sich«, sagte er und seufzte.
Susan sah ihn an, als ob sie sich verhört hätte.
»Setzen Sie sich«, wiederholte der Commander.
»Lassen Sie mich hinaus!« Susans Augen flogen ängstlich zur Bürotür.
Mit einem Blick auf Susan Fletcher begab sich Strathmore zu seiner Bürotür, trat hinaus auf den davor liegenden Treppenabsatz und spähte in die Dunkelheit. Von Hale war nichts zu sehen und zu hören. Strathmore kam wieder herein, schob die Tür zu und stellte einen Stuhl davor, damit sie nicht wieder aufschwang, ging an seinen Schreibtisch und holte etwas aus der Schublade. Im blassblauen Bildschirmlicht konnte Susan erkennen, was es war. Sie erbleichte. Es
war eine Pistole.
Strathmore zog zwei bequeme Stühle heran und rückte sie der angelehnten Tür gegenüber in die Mitte seines Büros. Er setzte sich, hob die matt glänzende Beretta Halbautomatik und zielte auf die Tür, um die Waffe nach einer Weile wieder sinken zu lassen und in den
Schoß zu legen.
»Susan, hier sind wir sicher«, sagte er feierlich. »Wenn Greg Hale sich zu dieser Tür hereinwagen sollte ...« Er ließ den Satz unvollendet.
Susan fehlten die Worte.
Im schwachen Licht seines Büros sah Strathmore Susan auffordernd an. »Susan, wir müssen uns jetzt einmal in aller Ruhe unterhalten.« Er klopfte mit der flachen Hand auf das Polster des zweiten Stuhls. »Setzten sie sich. Ich muss Ihnen etwas sagen.« Susan rührte sich nicht. »Wenn ich fertig bin, werde ich Ihnen das Passwort für den Lift geben. Sie können dann selbst entscheiden, ob Sie gehen
oder hier bleiben wollen.«
Es war lange still. Schließlich kam Susan wie in Trance herbei und ließ sich neben Strathmore nieder.
»Susan«, hob er an, »ich bin nicht ganz ehrlich zu Ihnen gewesen.«
KAPITEL 73
David Becker kam sich vor, als hätte man sein Gesicht mit Benzin übergossen und angezündet. Er rollte sich auf die Seite und spähte dem Mädchen hinterher, das sich schon auf halbem Weg zur Drehtür befand. In kurzen Spurts, die große Tasche hinter sich herziehend, lief es davon. Becker versuchte, auf die Beine zu kommen, schaffte es aber nicht. Rot glühendes Feuer raubte ihm die Sicht. Du darfst sie
nicht entkommen lassen!
Er versuchte, dem Mädchen hinterherzurufen, aber in seinen Lungen gab es keine Luft, nur brennenden Schmerz. »Nein, bleiben
Sie!« Es war ein tonloses Hüsteln.
Wenn das Mädchen durch diese Tür verschwand, war es für immer fort. Becker versuchte abermals zu rufen, aber seine Kehle brannte
wie Feuer.
Das Mädchen hatte die Drehtür fast erreicht. Schwankend und um Atem ringend kam Becker auf die Füße und taumelte hinterher. Mit der roten Tasche im Schlepptau schlüpfte das Mädchen in eine Kammer der Drehtür. Zwanzig Meter zurück tapste Becker halbblind
der Tür entgegen.
»Warten Sie!«, keuchte er. »Warten Sie doch!«
Das Mädchen stemmte sich mit aller Kraft gegen die Querscheibe. Die Tür drehte sich ein Stück und blieb hängen. Die Reisetasche hatte sich im Türspalt verkeilt. Das blonde Mädchen fuhr ängstlich herum, kniete sich hin und versuchte krampfhaft, die Tasche zu sich
hereinzuzerren.
David Beckers verschwommener Blick heftete sich an das aus dem Spalt herausragende rote Stück Nylongewebe. Mit einem Hechtsprung
warf er sich ihm entgegen.
Als er auf dem Boden landete, die vorgereckten Hände nur noch Zentimeter von dem roten Stoff entfernt, glitt sein Ziel in den Spalt und verschwand. Beckers Hände griffen ins Leere. Die Drehtür kam
in Gang. Mädchen und Tasche trudelten auf die Straße hinaus.
»Megan!«, schrie Becker. Glühend heiße Nadeln bohrten sich in seine Augenhöhlen. Sein Gesichtsfeld schrumpfte zu einem schwarzen Tunnel, eine neue Woge der Übelkeit schlug über ihm zusammen. Wie ein fernes Echo hallte seine eigene Stimme aus der
Schwärze.
Megan!
David Becker wusste nicht, wie lange er dort gelegen hatte, als auf einmal das Summen der Leuchtröhren an der Decke in sein Bewusstsein drang. Ansonsten nur Stille. Er vernahm eine Stimme. Jemand rief. Er versuchte, den Kopf zu heben. Die Welt wirkte wässrig und verzerrt. Wieder diese Stimme. Er blinzelte in die Halle.
Zwanzig Meter entfernt stand eine Gestalt.
»Mister?«
Becker erkannte die Stimme. Sie gehörte dem Mädchen. Die Tasche an die Brust gepresst, stand es in der Nähe eines weiter unten in der Halle gelegenen Eingangs und wirkte noch verängstigter als
zuvor.
»Mister«, rief es mit bebender Stimme, »ich habe Ihnen doch gar nicht gesagt, wie ich heiße! Woher kennen Sie meinen Namen?«
KAPITEL 74
Direktor Leland Fontaine war ein Schrank von einem Mann. Der Dreiundsechzigjährige trug einen militärischen Haarschnitt und befleißigte sich eines ebensolchen Auftretens. Wenn er ärgerlich war, und das war fast immer, glühten seine schwarzen Augen wie Kohlen. Durch harte Arbeit, exakte Planung und das berechtigte Wohlwollen seiner Vorgänger hatte er als erster Afro-Amerikaner den Aufstieg zum Direktor der National Security Agency geschafft – ein Tatbestand, den jeder mit Bedacht unerwähnt ließ. Fontaines Politik
war entschieden farbenblind, und sein Stab eiferte ihm darin nach.
Wortlos zelebrierte er das Rital der Zubereitung eines Bechers Kaffee. Midge und Brinkerhoff durften ihm stehend zusehen. Mit dem Kaffee in der Hand ließ er sich am Schreibtisch nieder, um die beiden
wie zwei zum Direktor bestellte Schüler zu vernehmen.
Midge übernahm das Reden. Sie berichtete von der ungewöhnlichen Abfolge der Ereignisse, die sie dazu ermutigt hatte,
die Heiligkeit von Fontaines Büro zu verletzen.
»Ein Virus?«, sagte Fontaine kühl. »Sie glauben, wir haben uns einen Virus eingefangen?«
»Genau das, Sir!«, trumpfte Midge auf.
Brinkerhoff zuckte zusammen.
»Strathmore soll die Gauntlet-Filter umgangen haben?« Fontaines Blick streifte den Ausdruck, der vor ihm lag.
»Jawohl!«, bestätigte Midge. »Der TRANSLTR arbeitet seit zwanzig Stunden an einer Datei, die er immer noch nicht geknackt
hat.«
Fontaine legte die Stirn in Falten. »Falls Ihre Daten stimmen!«
Midge wollte schon protestieren, verzichtete aber darauf. Stattdessen ging sie auf's Ganze. »In der Crypto herrscht
Stromausfall.«
Fontaine hob den Kopf. Die Überraschung war gelungen.
Midge bestätigte mit einem knappen Nicken. »Der ganze Strom ist weg. Jabba glaubt, dass vielleicht ...«
»Sie haben Jabba angerufen?«
»Jawohl, Sir! Ich ...«
»Jabba?« Fontaine erhob sich drohend. »Warum zum Teufel haben Sie nicht Strathmore angerufen?«
»Das haben wir doch getan!«, verteidigte sich Midge. »Er hat behauptet, alles sei in bester Ordnung.«
Fontaine stand schwer atmend vor ihr. »Dann besteht auch kein Anlass, an seiner Aussage zu zweifeln!« Sein Ton hatte etwas Endgültiges. Er setzte sich wieder hin und nahm einen Schluck Kaffee. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich habe zu
tun!«
Brinkerhoff war schon auf dem Weg zur Tür, aber Midge stand wie angewurzelt da. »Wie darf ich das bitte verstehen?«
»Mrs Milken, ich habe Ihnen einen guten Abend gewünscht. Sie können gehen.«
»Aber ... aber Sir, ich muss leider protestieren. Ich glaube ...«
»Sie müssen protestieren?«, sagte Fontaine schon mehr als ungnädig und stellte den Becher hin. »Wenn hier jemand protestieren muss, dann wohl ich! Ich protestiere dagegen, dass Sie in mein Büro eindringen! Ich protestiere gegen Ihre Unterstellung, dass der
stellvertretende Direktor dieser Behörde lügt! Ich protestiere...« »Sir, wir haben einen Virus! Mein Instinkt sagt mir ... »
»Dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass Ihr Instinkt Sie trügt!«
Midge gab keinen Zentimeter Boden preis. »Sir, Commander Strathmore hat die Gauntlet-Filter umgangen!«
Fontaine trat in kaum noch kontrollierter Verärgerung hinter dem Schreibtisch hervor und kam auf Midge zu. »Das ist sein gutes Recht! Sie werden von mir dafür bezahlt, auf die Analysten und das Dienstpersonal aufzupassen, und nicht, um meinen Stellvertreter auszuspionieren! Wenn Strathmore nicht gewesen wäre, müssten wir den Codes immer noch mit Kästchenpapier und Bleistift zu Leibe rücken! Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen?« Er streifte Brinkerhoff, der bleich und zitternd in der Tür stand, mit einem Blick.
»Das gilt auch für Sie!«
»Sir«, meldete sich Midge unverzagt zu Wort, »bei allem gebotenen Respekt möchte ich doch empfehlen, dass wir ein Sys-Sec-Team in die Crypto schicken, nur für alle Fälle, falls . ..«
»Das kommt gar nicht in Frage!«
Ein paar spannungsgeladene Augenblicke verstrichen. »Nun gut«, sagte Midge und nickte, »dann gute Nacht.« Sie drehte sich um und rauschte hinaus. Brinkerhoff sah ihren Augen an, dass sie noch lange
nicht bereit war, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Er schaute zu seinem Chef hinüber, der massig und aufgebracht an seinem Schreibtisch stand. Das war nicht der Leland Fontaine, den er kannte. Der Chef, den er kannte, hatte eine Vorliebe fürs Detail, liebte sauber gemachte Hausaufgaben und wurde nicht müde, seinen Mitarbeitern einzuschärfen, Unstimmigkeiten des täglichen Ablaufs penibel auf den Grund zu gehen, egal, wie unbedeutend die Sache erscheinen mochte. Und nun stand dieser Mann vor ihnen und verlangte, vor einer bizarren Häufung von merkwürdigen Zufällen die
Augen zu verschließen!
Der Direktor hatte offensichtlich etwas zu verbergen, aber
Brinkerhoff wurde dafür bezahlt, seinem Chef zur Hand zu gehen, und nicht, um ihn zu kritisieren. Fontaine hatte Mal für Mal bewiesen, dass er mit Hingabe im Interesse aller zu handeln verstand. Wenn ihm jetzt damit gedient war, dass Brinkerhoff sich dumm stellte, dann sei's drum.
Bei Midge lag die Sache leider anders. Sie erhielt ihr Geld, um Fragen zu stellen. Brinkerhoff befürchtete, dass sie schon zur Crypto-Kuppel unterwegs war, um genau das zu tun.
Zeit, wieder einmal eine Bewerbung zu schreiben, dachte Brinkerhoff, während er sich im Türrahmen umdrehte.
»Chad!«, bellte es hinter ihm. Auch Fontaine war der Ausdruck in Midges Augen nicht entgangen. »Sorgen Sie dafür, dass Mrs Milken
unseren Bürotrakt nicht verlässt!«
Nickend eilte Brinkerhoff Midge hinterher.
Fontaine seufzte und stützte den Kopf in die Hände. Seine pechschwarzen Augen wurden ihm schwer. Er hatte eine lange und unerwartete Heimreise hinter sich. Der letzte Monat war für ihn ein
Monat der großen Erwartungen gewesen. Bei der NSA taten sich zurzeit Dinge, die den Lauf der Geschichte verändern konnten, aber er, der Chef des Nachrichtendienstes, war ironischerweise nur durch
Zufall darauf gestoßen.
Vor drei Monaten war ihm zu Ohren gekommen, dass Commander Strathmores Frau im Begriff war, ihren Ehemann zu verlassen. Gleichzeitig hatte er gehört, dass Strathmore unter der gewaltigen Arbeitslast, die er sich auflud, zusammenzubrechen drohe. Ungeachtet der vielfältigen Meinungsverschiedenheiten mit Strathmore hatte Fontaine seinen Stellvertreter stets außerordentlich geschätzt. Strathmore war ein brillanter Fachmann, möglicherweise der beste, den die NSA überhaupt hatte, stand aber seit dem Fiasko mit Skipjack unter enormem Druck. Fontaine behagte diese Situation keineswegs. Commander Strathmore hatte in der NSA eine Schlüsselstellung inne – was Fontaine im Interesse seiner Behörde nicht außer Acht lassen
durfte.
Fontaine brauchte jemand, der den möglicherweise angeschlagenen Strathmore daraufhin beobachtete, ob er hundertprozentig funktionierte – keine leichte Aufgabe. Strathmore war ein selbstbewusster und mächtiger Mann in der Behörde. Fontaine durfte nicht riskieren, durch die Überwachung das Selbstvertrauen
und die Autorität dieses Mannes zu beschädigen.
Aus Respekt vor Strathmore entschloss sich Fontaine, die Aufgabe selbst zu übernehmen. Er ließ in Strathmores Computer eine unsichtbare Wanze installieren, die ihm Zugang zu Strathmores EMails, seiner behördeninternen Korrespondenz, seinem Brainstorming und allem anderen verschaffte. Falls Strathmore am Rande einer Krise stand, würde Fontaine die Warnsignale erkennen können. Aber statt der Vorzeichen eines Zusammenbruchs entdeckte Fontaine die Vorarbeiten zu einem nachrichtendienstlichen Coup von solcher Raffinesse, wie er ihm noch nie begegnet war. Kein Wunder, dass Strathmore wie besessen schuftete. Wenn es ihm gelang, diesen Plan durchzuziehen, war die Scharte mit Skipjack mehr als hundertfach
ausgewetzt.
Fontaine hatte daraus den Schluss gezogen, dass Strathmore in bester Verfassung war. Der Commander arbeitete mit hundertfünfzigprozentigem Einsatz – umsichtig, klug und patriotisch wie eh und je. In seiner Eigenschaft als Direktor konnte Fontaine nichts Besseres tun, als sich herauszuhalten und Strathmore ungestört seine Wundertat vollbringen zu lassen. Der Commander verfolgte
einen Plan . .. und Fontaine hatte nicht die Absicht, ihm in die Quere
zu kommen.
KAPITEL 75
Kochend vor Zorn befingerte Strathmore die Beretta auf seinem Schoß. Er war zwar auf klares Denken programmiert, aber dass Greg Hale es gewagt hatte, Hand an Susan Fletcher zu legen, machte ihn fuchsteufelswild. Dass es letzten Endes durch sein eigenes
Verschulden dazu gekommen war, machte alles noch schlimmer –
hatte nicht er Susan in Node 3 hineingeschickt? Aber Strathmore war durchaus in der Lage, die Gefühle von seinen Entscheidungen zu trennen. Emotionen hatten in seinem Umgang mit Diabolus nichts zu suchen. Er war der stellvertretende Direktor der National Security Agency. Und heute hing mehr denn je alles davon ab, wie er mit
seiner Aufgabe fertig wurde.
Strathmore zwang sich, ruhiger zu atmen. »Susan, sind Hales EMails gelöscht?«, sagte er. Sein Ton war geschäftsmäßig und
emotionslos.
»Nein«, antwortete sie, verwirrt von der Frage. »Haben Sie den Key?«
Susan schüttelte den Kopf.
Strathmore kaute stirnrunzelnd auf seiner Unterlippe herum. Die Gedanken jagten sich in seinem Kopf. Natürlich hätte er in seinen Lift das Passwort eingeben können, aber dann war Susan fort, und er brauchte sie hier, brauchte ihre Hilfe, um Hales Schlüssel aufzuspüren. Bislang hatte er Susan vorenthalten, dass das Auffinden dieses Schlüssels von einem weit höheren als lediglich akademischen Interesse für ihn war – es war eine absolute Notwendigkeit. Strathmore vermutete zwar, dass er die Nonkonformitätssuche auch ohne Susan durchführen und den Key alleine finden könnte, aber andererseits hatte er schon mit dem Tracer Schwierigkeiten gehabt. Er
war nicht gewillt, sich erneut auf ein solches Risiko einzulassen.
»Susan«, sagte er und stieß resolut die Luft aus, »ich möchte, dass Sie mir helfen, Hales Key zu finden.«
»Was?« Susan sprang auf und sah ihn ungehalten an.
Strathmore bezwang seinen Drang, ebenfalls aufzuspringen. Er kannte sich in Verhandlungstaktik gut genug aus, um zu wissen, dass die Machtposition immer bei dem lag, der saß. Er hoffte, Susan würde
sich wieder hinsetzen. Sie tat es nicht. »Susan, setzen Sie sich.« Sie beachtete ihn nicht.
»Setzen sie sich!« Es war ein Befehl.
Susan blieb stehen. »Commander, wenn Sie immer noch darauf bestehen, Tankados Algorithmus zu knacken, dann machen Sie das
bitte alleine. Ich will hier raus!«
Strathmore senkte den Kopf und holte tief Luft. Es war klar, dass er ohne zusätzliche Erklärungen nicht weiterkam. Sie verdient das auch, dachte er. Er beschloss, ihr reinen Wein einzuschenken.
Hoffentlich ist das kein Fehler.
»Susan«, fing er an, »es hätte eigentlich gar nicht zu dieser Situation kommen sollen.« Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel. »Es gibt einiges, das ich Ihnen noch nicht gesagt habe. In meiner Position ist man manchmal gezwungen...« Er verstummte, als hätte er ein peinliches Geständnis zu machen. »Ein Mann in meiner Position muss manchmal seinen Leuten, obwohl er sie schätzt, die Wahrheit vorenthalten. Heute war ein solcher Tag.« Er sah Susan betrübt an. »Ich verrate Ihnen jetzt etwas, das ich Ihnen eigentlich
niemals verraten wollte ... weder Ihnen noch sonst jemand.« Das
Gesicht des Commanders war todernst geworden.
Susan lief es kalt über den Rücken. Offenbar betrieb Strathmore auch Dinge, die sich ihrem Wissen entzogen. Sie setzte sich.
Strathmore blickte an die Decke und sammelte seine Gedanken. Eine lange Pause entstand. »Susan«, sagte er schließlich mit brüchiger Stimme, »ich habe keine Familie mehr.« Seine Augen suchten ihren Blick. »Ich führe keine Ehe mehr, die diese Bezeichnung verdient. Mein Leben besteht nur noch aus meiner Liebe zu diesem Land. Die
Arbeit hier bei der NSA ist mein ganzes Leben.«
Susan hörte ihm schweigend zu.
»Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, möchte ich bald in den Ruhestand gehen, aber ich möchte es mit Stolz tun können. Ich möchte meinen Abschied in dem Bewusstsein nehmen können, dass
ich etwas bewirkt habe.«
»Aber Sie haben doch etwas bewirkt«, erwiderte Susan. »Sie haben den TRANSLTR gebaut.«
Strathmore schien sie gar nicht zu hören. »Im Laufe der vegangenen Jahre ist unsere Arbeit hier bei der NSA immer schwieriger geworden. Wir haben es mit Gegnern zu tun bekommen, von denen wir niemals gedacht hätten, dass sie uns eines Tages herausfordern würden. Ich rede von unseren eigenen Bürgern. Die Bürgerrechtsfanatiker, die EFF, die Anwälte – sie spielen eine wichtige Rolle, aber es betrifft bei weitem nicht nur sie. Es betrifft unser ganzes Volk. Es hat den Glauben und die Zuversicht verloren. Die Leute leben in einem Wahn! Auf einmal sind wir ihr Feind, Menschen wie Sie und ich, Menschen, denen das Wohl der Nation am Herzen liegt! Auf einmal sehen wir uns gezwungen, uns das Recht, unserem Land zu dienen, zu erkämpfen! Auf einmal sind wir nicht mehr Garanten des Friedens, sondern Spanner und Lauscher an der Wand und eine Bedrohung der Bürgerrechte!« Strathmore ließ einen
tiefen Seufzer los. »Leider gibt es in dieser Welt viel zu viele naive Gemüter, die sich überhaupt nicht vorstellen können, welchen schauerlichen Zuständen sie ausgesetzt wären, wenn wir nicht eingreifen würden. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es unsere Aufgabe ist, diese Menschen vor ihrer eigenen Dummheit zu schützen.«
Susan wartete darauf, dass der Commander zur Sache kam.
Strathmore starrte müde auf den Boden. Schließlich hob er den Blick. »Susan, hören Sie mich bitte an«, sagte er und lächelte ihr liebevoll zu. »Sie wollen, dass ich jetzt das Programm abbreche, aber bitte, hören Sie mich an! Ich fange nun schon seit ungefähr zwei Monaten Tankados E-Mails ab. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, war ich ziemlich schockiert, als ich die E-Mail an North-Dakota gelesen habe, in der er zum ersten Mal einen undechiffrierbaren Algorithmus namens Diabolus angekündigt hat. Ich habe nicht an eine solche Möglichkeit geglaubt. Aber je mehr Botschaften ich abgefangen habe, desto überzeugender hörten sie sich an. Als ich von den Mutationsketten las, die er benutzt hat, um eine rotierende Klartextfunktion zu schreiben, wurde mir klar, dass er uns um Lichtjahre voraus war. Keiner von uns hat diesen Ansatz jemals
verfolgt.«
»Wozu auch?«, sagte Susan. »Es wäre kaum sinnvoll gewesen.«
Strathmore erhob sich und ging auf und ab. Mit einem Auge beobachtete er die Tür. »Als ich vor ein paar Wochen gewahr wurde, dass Diabolus meistbietend versteigert werden soll, habe ich akzeptieren müssen, dass Tankado es ernst meint. Mir war klar, dass wir erledigt sind, wenn er den Algorithmus an eine japanische Softwarefirma verkauft. Also habe ich mich hingesetzt und überlegt, was ich dagegen unternehmen könnte. Ich habe sogar daran gedacht, Tankado liquidieren zu lassen. Aber bei dem Aufsehen, das sein Algorithmus und seine jüngsten Behauptungen zum Thema TRANSLTR erregt haben, hätte natürlich sofort alles mit dem Finger auf uns gezeigt. Und da ist mir aufgegangen...«, er blieb vor Susan
stehen, »dass ich Diabolus eben gerade nicht verhindern sollte.«
Susan sah ihn verständnislos an.
»Ich habe in Diabolus die Chance meines Lebens erkannt«, fuhr Strathmore fort. »Ich habe auf einmal begriffen, dass Diabolus mit ein paar kleinen Änderungen für uns und nicht gegen uns arbeiten
würde ...«
Susan hatte selten einen solchen Blödsinn gehört. Diabolus war ein nicht dechiffrierbarer Algorithmus. Er würde ihnen das Lebenslicht
ausblasen.
»Wenn ich«, fuhr Strathmore fort, »ja, wenn ich eine winzige
Veränderung an dem Algorithmus vornehmen könnte .., selbstverständlich, bevor er auf den Markt kommt...« Er blinzelte
Susan verschwörerisch zu.
Es dauerte nur einen Moment, bis bei Susan der Groschen gefallen war. Strathmore konnte es an ihren Augen ablesen. Aufgeregt erläuterte er ihr seinen Plan. »Wenn ich den Schlüssel in die Hand bekomme, kann ich unsere Version von Diabolus öffnen und die
Veränderung einfügen.«
»Ein Hintertürchen!« Susan hatte bereits vergessen, dass der Commander nicht aufrichtig zu ihr gewesen war. »Genau wie bei
Skipjack!«, sagte sie erwartungsvoll.
Strathmore nickte. »Anschließend würden wir im Internet Tankados frei herunterladbare Version gegen unsere modifizierte Version austauschen. Diabolus ist ein japanischer Algorithmus. Kein Mensch wird auf die Idee kommen, dass die NSA mit von der Partie
ist. Wir müssten bloß diesen Austausch bewerkstelligen.«
Susan musste zugeben, dass dieser Plan mehr als genial war. Das war Strathmore pur: Sich zum Geburtshelfer eines Algorithmus
machen, den die NSA knacken konnte!
»Diabolus wird über Nacht zum globalen Verschlüsselungsstandard werden – und wir hätten freien Zugriff!«
»Über Nacht?«, wandte Susan ein. »Was macht Sie da so sicher? Selbst wenn Diabolus von jedermann gratis heruntergeladen werden könnte, würden die meisten Computernutzer schon aus reiner Bequemlichkeit noch einige Zeit ihre alten Algorithmen weiter
benutzen. Wieso sollten sie auf Diabolus umstellen?«
Strathmore lächelte. »Ganz einfach. Es wird ein Geheimhaltungsleck geben. Alle Welt wird plötzlich wissen, dass wir
den TRANSLTR haben.«
Susan staunte mit offenem Mund.
»So einfach ist das, Susan. Wir müssen nur dafür sorgen, dass die Welt von dem Computer der NSA erfährt, der sämtliche Algorithmen
knacken kann – außer eben Diabolus!«
Susan konnte sich nur noch wundern. »Und jeder wird schleunigst zu Diabolus wechseln, aber nicht wissen, dass wir es lesen können.«
Strathmore nickte. »Genau.« Eine lange Stille entstand. »Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht die Wahrheit gesagt habe, aber Diabolus
umzuschreiben ist kein Kinderspiel. Ich wollte Sie da heraushalten.«
»Ich... ich verstehe«, sagte Susan nachdenklich. Sie staunte immer noch, wie brillant das alles eingefädelt war. »Als Lügner sind Sie gar
nicht schlecht!«
»Das macht die jahrelange Übung«, schmunzelte Strathmore. »Ich wollte die Sache im kleinen Kreis halten.«
»Und wie klein ist der Kreis?«
»Sie haben ihn vor sich.«
Susan lächelte zum ersten Mal seit einer Stunde. »Dass Sie das sagen würden, habe ich schon befürchtet.«
Strathmore hob die Schultern. »Sobald Diabolus an Ort und Stelle ist, werde ich unseren Direktor informieren.«
Susan war beeindruckt. Strathmore hatte im Alleingang einen globalen nachrichtendienstlichen Rundumschlag von bisher unvorstellbarem Ausmaß eingefädelt, und es sah durchaus danach aus, dass der Plan funktionieren würde. Tankado war tot, sein Partner war
ausfindig gemacht, und unten wartete der Key.
Susan schwieg nachdenklich.
Tankado ist tot. Sein Tod passte ausgezeichnet ins Konzept. Susan dachte an all die Unwahrheiten, mit denen Strathmore sie eingedeckt hatte. Sie fröstelte. »Haben Sie Ensei Tankado umbringen lassen?«,
fragte sie und sah den Commander unbehaglich an.
Strathmore schüttelte überrascht den Kopf. »Natürlich nicht. Ich hatte gar keine Veranlassung, ihn umzubringen. Tatsache ist, dass es mir viel lieber wäre, wenn er noch leben würde. Sein Tod könnte Diabolus ins Zwielicht bringen. Ich möchte den Austausch der Algorithmen so glatt und unauffällig wie möglich durchziehen. Der ursprüngliche Plan sah vor, dass Tankado nach dem Austausch den
Schlüssel verkauft.«
Susan musste zugeben, dass das Argument zog. Für Tankado hätte es keinen Grund zu der Annahme gegeben, dass der Algorithmus im Internet nicht mehr seinem Original entsprach. Außer ihm selbst und North Dakota konnte ja niemand das Programm öffnen. Tankado würde nichts von dem Hintertürchen merken, es sei denn, er würde sich die Mühe machen, das Programm nach seiner Veröffentlichung noch einmal komplett zu überprüfen. Aber vermutlich hatte er sich mit Diabolus so lange herumgequält, dass er von der Programmiererei die
Nase voll hatte und nie wieder etwas davon sehen wollte.
Susan musste sich all das erst einmal durch den Kopf gehen lassen. Jetzt verstand sie auch das Bedürfnis des Commanders nach Ungestörtheit. Er hatte sich eine delikate und zeitaufwändige Aufgabe gestellt – in einen komplexen Algorithmus ein heimliches Hintertürchen hineinzuschmuggeln und einen unbemerkten Austausch im Internet vorzunehmen! Heimlichkeit war das oberste Gebot. Schon der leiseste Verdacht, dass an Diabolus etwas faul sein könnte, hätte
den Plan des Commanders zum Scheitern gebracht.
Nun begriff sie auch, weshalb Strathmore darauf bestanden hatte, dass der TRANSLTR weiterlief. Wenn Diabolus das neue Baby der NSA werden soll, muss er sicher sein, dass das Programm nicht zu
knacken ist.
»Wollen Sie immer noch raus?«, erkundigte sich Strathmore.
Susan hob den Kopf. Irgendwie waren ihre Ängste durch das Herumsitzen in Gesellschaft des großen Trevor Strathmore wie weggeblasen. Diabolus umzuschreiben war eine Chance, Geschichte zu machen – eine Chance, dem Land einen unermesslichen Dienst zu erweisen. Strathmore konnte ihre Hilfe dabei gut gebrauchen. Susan
lächelte zögernd. »Was ist unser nächster Zug?«
Strathmore strahlte. Er beugte sich zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich danke Ihnen!«, sagte er lächelnd. Dann wurde er wieder ernst. »Wir gehen jetzt zusammen hinunter, und Sie
durchsuchen Hales Terminal, während ich Ihnen den Rücken decke.« Er hielt die Beretta hoch.
Der Gedanke, wieder in die Kuppel hinuntersteigen zu müssen, ließ Susan frösteln. »Können wir nicht warten, bis sich David mit
Tankados Schlüssel meldet?«
Strathmore schüttelte den Kopf. »Je früher wir den Austausch vornehmen, desto besser. Wir wissen ja noch nicht einmal mit Sicherheit, ob David den Schlüssel überhaupt findet. Wenn in Spanien irgendetwas schief geht und der Schlüssel in die falschen Hände gerät, hätte ich den Algorithmenaustausch lieber schon erledigt, denn dann ist es egal, wo der Schlüssel letzen Endes landet. Sein Besitzer würde auf jeden Fall unsere Version herunterladen.« Strathmore packte die Pistole und stand entschlossen auf. »Wir müssen uns Hales Schlüssel
besorgen.«
Susan verstummte. Das Argument des Commanders stach. Sie brauchten Hales Key, und zwar sofort.
Als Susan aufstand und an Hale dachte, zitterten ihr die Knie. Sie wünschte, sie hätte noch härter zugetreten. Beim Anblick von
Strathmores Waffe bekam sie plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. »Sie würden Greg Hale tatsächlich erschießen?«
»Ach was!«, sagte Strathmore und schritt zur Tür. »Wir wollen nur hoffen, dass er das nicht weiß.«
KAPITEL 76
Vor dem Flughafen von Sevilla stand ein Taxi. Der Motor lief, das Taxameter auch. Der Fahrgast mit der Nickelbrille schaute aus dem Taxi in die hell beleuchtete Abfertigungshalle. Er war noch rechtzeitig
gekommen.
Er sah ein blondes Mädchen, das David Becker zu einer Sitzgelegenheit half. Becker hatte offenbar große Schmerzen. Er weiß noch gar nicht, was wirkliche Schmerzen sind, dachte der Mann im Taxi. Das Mädchen holte einen kleinen Gegenstand aus der Tasche und hielt ihn Becker hin. Becker nahm ihn, hielt ihn hoch und betrachtete ihn im Licht. Er steckte ihn an den Finger und zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche, das er dem Mädchen gab. Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten miteinander. Das Mädchen umarmte David Becker, schulterte winkend die Reisetasche und
machte sich quer durch die Halle auf den Weg.
Na, endlich!, dachte der Mann im Taxi. Es wurde auch langsam Zeit.
KAPITEL 77
Von Susan gefolgt, trat Strathmore mit gezogener Pistole auf die Gitterplattform vor seinem Büro. Der Lichtschein der Monitore ließ gespenstische Schattenbilder ihrer Gestalten über die Gitterroste
geistern. Susan fragte sich, ob Hale noch in Node 3 war. Sie drückte
sich noch dichter an den Commander.
Mit wachsender Entfernung von der Tür wurde der Lichtschein zusehends schwächer. Schnell bewegten sie sich in fast völliger Dunkelheit. Der Sternenhimmel über der Kuppel und der schwache Schimmer, der weit hinten kaum wahrnehmbar durch die
zertrümmerte Glaswand von Node 3 sickerte, lieferten das einzige
Licht.
Zentimeterweise schob sich Strathmore dem Ansatz des schmalen Treppenabgangs entgegen. Er nahm die Waffe in die Linke und ergriff mit der Rechten das Geländer. Er brauchte die Rechte zum Festhalten, und außerdem schoss er rechts ohnehin nicht besser als links. Aber ein Sturz konnte ihn für den Rest seines Lebens zum Krüppel machen – und in Strathmores Träumen vom Ruhestand war der Rollstuhl nicht
vorgesehen.
Von der Dunkelheit in der Crypto-Kuppel zum blinden Maulwurf degradiert, stieg Susan nach unten. Ihre Hand lag auf Strathmores Schulter. Selbst aus einem knappen halben Meter Entfernung vermochte sie den Umriss des Commanders nicht mehr auszumachen. Mit den Zehenspitzen ertastete sie die Kanten der eisernen
Treppentritte.
Susan bekam wieder Zweifel, ob die Bergung von Hales Schlüssel
das Risiko einer Rückkehr nach Node 3 wert war. Der Commander war zwar überzeugt, dass Hale nicht die Nerven haben würde, sie beide zugleich anzugreifen, aber Susan war sich da nicht so sicher. Hale war in einer verzweifelten Lage und hatte nur zwei Optionen: die
Flucht aus der Cryptokuppel oder das Gefängnis. Eine innere Stimme riet ihr, auf Davids Anruf zu warten und seinen Key zu benutzen, aber andererseits war es ja noch nicht einmal ausgemacht, ob David den Ring überhaupt fand. Sie fragte sich, weshalb er so lange brauchte. Schließlich stellte sie ihre Bedenken hintan und ging
weiter.
Strathmore vermied jedes Geräusch. Hale brauchte nicht gewarnt zu werden, dass sie im Anmarsch waren. Als sie sich dem Ende der Treppe näherten, wurde Strathmore noch langsamer. Tastend streckte er den Fuß vor. Als er den Boden spürte, setzte er den Fuß auf. Man
hörte seinen Absatz auf den harten schwarzen Fliesen klicken.
Susan spürte, wie sich Strathmores Schulter verkrampfte. Sie hatten die Gefahrenzone betreten. Hale konnte überall lauern.
Ein ganzes Stück entfernt, und im Moment vom TRANSLTR
verdeckt, befand sich ihr Ziel: Node 3 . Susan flehte zum Himmel, dass sich Hale immer noch auf dem Boden krümmte und vor
Schmerzen winselte wie ein Hund, der er ja auch war.
Strathmore ließ das Geländer los und nahm die Waffe wieder in die rechte Hand. Nun, da sie den relativen Schutz der Treppe hinter sich ließen, fühlte sich Susan an die nächtlichen Versteckspiele ihrer Kindheit erinnert. Sie hatte das »Mal« aufgegeben. Sie stand im Freien. Sie war angreifbar. Susan klammerte sich an Strathmores rechte Schulter. Wenn sie ihn verlor, hätte sie rufen müssen – und das
hätte Hale hören können.
Der TRANSLTR war eine pechschwarze Insel in einem Meer der Finsternis. Strathmore blieb alle paar Schritte stehen und lauschte sichernd mit erhobener Pistole in die Dunkelheit, doch das einzige Geräusch war das Brummen aus dem Untergrund. Susan hätte Strathmore am liebsten zurückgezerrt, zurück in die Sicherheit, zurück zum »Mal«. Fratzenhafte Gesichter schienen sie ringsumher aus der Dunkelheit anzustarren.
Auf halbem Weg zum TRANSLTR wurde die Stille der Kuppel jäh unterbrochen. Ein hohes Piepsen, das irgendwo von rechts oben zu kommen schien, schnitt durch die Dunkelheit. Strathmore fuhr herum, Susan verlor den Kontakt. Angstvoll tastend streckte sie die Arme aus, aber der Commander war fort. Wo zuvor seine Schulter gewesen war,
ertastete sie nur noch Luft. Susan taumelte ins Leere.
Das Piepsen hörte nicht auf. Es war ganz in der Nähe. Susan drehte sich in der Finsternis. Sie hörte Stoff rascheln, dann war das Piepsen plötzlich weg. Sie erstarrte. Wie im schlimmsten Albtraum ihrer Kindheit erschien gleich darauf ein Gespenst. Direkt vor ihren Augen materialisierte sich ein geisterhaft grünes Gesicht, das Gesicht eines Dämons mit deformierten Zügen, die nach oben scharfe Schatten warfen. Sie prallte zurück und wollte davonlaufen, aber das Gespenst
packte sie am Arm. »Nicht bewegen!«, zischte es.
Einen Augenblick lang glaubte Susan in diesen stechenden Augen Hale zu erkennen, aber es war nicht Hales Stimme, und die Berührung war auch nicht hart genug. Es war Strathmore. Ein matt leuchtender Gegenstand, den er aus der Tasche gezogen hatte, strahlte ihn schwach von unten an. Die Spannung wich aus Susans Körper. Erleichtert begann sie wieder zu atmen. Der Gegenstand in Strathmores Hand hatte ein elektronisches LED-Display, das ein
grünlich glühendes Licht aussandte.
»Verdammt!«, fluchte Strathmore leise vor sich hin, »mein neuer Pager.« Wütend sah er auf den SkyPager in seiner Hand hinab. Er hatte vergessen, den Ruf stumm zu schalten. Er hatte das Gerät in einem Elektronikladen am Ort erworben und bar bezahlt, damit der Kauf anonym blieb. Niemand wusste besser als Strathmore selbst, wie genau die NSA ihre eigenen Leute überwachte – und die digitalen Botschaften, die er mit diesem Pager verschickte und empfing, gedachte Strathmore nun wirklich nicht an die große Glocke zu
hängen.
Susan sah sich beklommen um. Falls Hale bisher noch nicht bemerkt hatte, dass sie im Anmarsch waren, dann hatte er es jetzt mit
Gewissheit mitbekommen.
Strathmore drückte auf ein paar Knöpfe und las die eingehende Botschaft. Er stöhnte verstohlen auf. Noch mehr schlechte Nachrichten aus Spanien – nicht von David Becker, sondern von der
anderen Partie, die er nach Sevilla geschickt hatte.
Achttausend Kilometer von Fort Meade entfernt, raste ein mit Überwachungselektronik voll gestopfter Lieferwagen durch die nächtlichen Straßen von Sevilla. Die NSA hatte ihn unter »Umbra«-Sicherheitseinstufung bei einer US-Militärbasis in Roja ausgeliehen. Die beiden Männer im Fahrzeug waren aufs Äußerste angespannt. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf Anweisungen aus Fort Meade Feuerwehr spielen mussten, aber normalerweise kamen die Befehle
nicht von so hoch oben.
»Schon irgendwas von unserem Mann zu sehen?«, rief der Agent am Steuer über die Schulter nach hinten.
Die Augen seines Partners wichen nicht von der Einspielung der Videokamera auf dem Dach. »Nein, nichts. Fahr weiter.«
KAPITEL 78
Mit einer Penlight-Taschenlampe zwischen den Zähnen, lag Jabba immer noch unter einem Wirrwarr von Kabeln auf dem Rücken und schwitzte. Er hatte sich daran gewöhnt, in den späten Abendstunden der Wochenenden arbeiten zu müssen. Die Wartung und Reparatur der Geräte war meist nur in den wenigen Stunden möglich, in denen es bei der NSA etwas ruhiger zuging. Mit größter Sorgfalt manövrierte er den glühend heißen Lötkolben durch das baumelnde Drahtgewirr, das von oben herabhing. Ein angesengter Kabelbaum
konnte sich leicht zur Katastrophe auswachsen.
Nur noch ein paar Zentimeter, dann ist es geschafft, dachte er. Die Reparatur hatte wesentlich länger gedauert als geplant.
Just in dem Moment, als er die Spitze seines Lötkolbens für die letzte Lötstelle über Kopf an den Lötzinn hielt, piepste schrill sein Handy. Jabba schrak zusammen, sein Arm zuckte, und ein großer
Tropfen geschmolzenes Lötzinn platschte auf seinen nackten Arm.
»Scheiße!« Er ließ den Lötkolben fallen und hätte beinahe den Leuchtstab verschluckt. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«
Er rieb sich hektisch den nackten Arm, an dem eine eindrucksvolle Brandblase erblühte. Der Chip, den er einlöten wollte, fiel wieder
heraus und purzelte ihm auf den Kopf. »Verdammt aber auch!«
Das Handy piepste beharrlich weiter. Er ignorierte es.
Midge!, fluchte er vor sich hin. Nun gib endlich Ruhe! In der Crypto ist alles im grünen Bereich! Das Telefon piepste weiter. Jabba machte sich wieder an die Arbeit und setzte den Chip noch einmal ein. Eine Minute später war alles an Ort und Stelle, aber das Telefon nervte ihn immer noch. Midge, verdammt nochmal, lass endlich gut sein! Das Handy piepste weitere fünfzehn Sekunden, dann hörte es
auf. Jabba stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Sechzig Sekunden später knackte es im Lautsprecher der Rufanlage an der Decke. »Der Leiter der Sys-Sec-Abteilung wird gebeten, sich bei der Vermittlung zu melden und eine Nachricht
entgegenzunehmen.«
Jabba verdrehte die Augen. Nicht zu fassen! Sie kann einfach nicht lockerlassen! Er ignorierte die Durchsage.
KAPITEL 79
Strathmore verstaute den SkyPager wieder in seinem Jackett und spähte Richtung Node 3 ins Dunkle. Er wollte Susans Hand ergreifen. »Kommen Sie.«
Zur Berührung kam es aber nicht.
Eine Gestalt brauste mit einem gutturalen Aufschrei aus der Dunkelheit heran wie ein unbeleuchteter LKW. Es gab einen Zusammenprall. Strathmore ging zu Boden und war fort. Susan hörte
die Beretta klappernd zu Boden fallen.
Hale! Der Pager hatte sie verraten.
Einen Augenblick lang stand Susan wie versteinert da und wusste weder aus noch ein. Sie wäre am liebsten geflohen, aber sie kannte ja nicht das Passwort für den Lift. Gerne hätte sie Strathmore geholfen, aber wie? Während sie sich verzweifelt um die eigene Achse drehte, erwartete sie, vom Boden das Geräusch eines Kampfes auf Leben und Tod zu vernehmen, aber nichts dergleichen geschah. Es war plötzlich totenstill – als ob Hale den Commander umgerempelt und sich sofort
wieder ins Dunkel zurückgezogen hätte.
Susan versuchte angestrengt, in der Finsternis etwas zu erkennen. Hoffentlich war Strathmore nicht verletzt. »Commander?«, flüsterte
sie nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam.
Es war ein Fehler. Sie merkte es, noch während sie flüsterte. Eine
Wolke von Hales Ausdünstungen schlug ihr entgegen. Sie versuchte wegzurennen, doch es war zu spät. Wieder zappelte sie in der schon bekannten Umklammerung an Hales Brust und rang nach Luft.
»Meine Eier bringen mich um!«, keuchte Hale an ihrem Ohr.
Susans Knie gaben nach. Die Sterne über der Kuppel drehten sich im Kreise.
KAPITEL 8o
Hale umklammerte Susans Nacken. »Commander, ich habe Ihr Schätzchen!«, schrie er ins Dunkel. »Lassen Sie mich raus!« Stille.
Hales Griff wurde fester. »Ich breche ihr das Genick!« Direkt hinter Hale und Susan knackte der Hahn einer Pistole. »Lassen Sie
Miss Fletcher los!« Strathmores Stimme war ruhig und beherrscht.
Susan wand sich vor Schmerzen. »Commander!« Hale riss Susan herum. »Commander, wenn Sie schießen, treffen Sie Ihre liebe Susan. Wollen Sie das riskieren?« Strathmores Stimme kam näher. »Lassen
Sie Susan los?«
»Das würde Ihnen so passen! Damit Sie mich umbringen können!«
»Ich werde niemanden umbringen.«
»Ach ja? Wie tröstlich für Phil Charturkian!« Strathmore war noch näher gekommen. »Charturkian lebt nicht mehr.«
»Allerdings! Weil Sie ihn umgebracht haben! Ich hab's gesehen!
»Geben Sie auf, Greg«, sagte Strathmore mit ruhiger Stimme. Hale presste Susan an sich. »Strathmore hat Charturkian
hinuntergestoßen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich schwör's Ihnen.«
»Susan wird auf Ihre Versuche, einen Keil zwischen uns zu treiben, nicht hereinfallen. Lassen Sie Miss Fletcher los!«
»Mein Gott, Phil war fast noch ein Junge!«, zischte Hale in die Dunkelheit. »Warum haben Sie das getan? Damit Ihr kleines
Geheimnis nicht ans Licht kommt?«
»Und was soll dieses kleine Geheimnis sein?«, fragte Strathmore kühl.
»Das wissen Sie ganz genau! Diabolus, verdammt nochmal!«
»Ach, du lieber Himmel«, murmelte Strathmore verächtlich. »Dann sind Sie also über Diabolus im Bilde. Ich dachte schon, Sie
würden das auch noch abstreiten.« »Sie können mich am Arsch lecken!«
»Eine brillante Verteidigung.«
»Sie sind ein Idiot!«, keifte Hale. »Nur zu Ihrer Information: Der TRANSLTR läuft allmählich heiß!«
»Ach ja?«, erwiderte Strathmore verächtlich. »Lassen Sie mich mal raten: Ich sollte wohl besser die Tür öffnen und die Sys-Sec-Leute rufen, nicht wahr?«
»Genau so ist es!«, schnauzte Hale zurück. »Und wenn Sie es nicht tun, sind Sie ein Idiot!«
Strathmore lachte laut auf. »Mein Gott, wie raffiniert ausgedacht: Der TRANSLTR läuft heiß, also Tür auf, damit wir hinauskönnen.«
»Es stimmt aber, verdammt nochmal! Ich war unten in der Untermaschinerie. Der Notstrom zieht zu wenig Kühlmittel!«
»Danke für den Hinweis«, meinte Strathmore. »Leider hat der TRANSLTR eine automatische Abschaltung. Wenn er zu heiß wird,
löscht sich Diabolus von selbst.«
»Sie haben nicht mehr alle Tassen im Schrank«, zischte Hale. »Glauben Sie vielleicht, es interessiert mich, wenn der TRANSLTR hopsgeht? Diese verdammte Maschine hätte man sowieso schon
längst verbieten sollen!«
»Kinderpsychologie verfängt nur bei Kindern«, seufzte Strathmore. »Lassen Sie Susan jetzt gehen.«
»Damit Sie mich abknallen können?«
»Ich werde Sie nicht abknallen. Ich will von Ihnen den Schlüssel.«
»Was für einen Schlüssel?«
Strathmore seufzte abermals. »Den Key, den Tankado Ihnen geschickt hat.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden!«
»Lügner!«, stieß Susan hervor. »Ich habe Tankados E-Mails in deinem Account gesehen.«
Hale erstarrte. Er wirbelte Susan herum. »Du hast in meinen Accounts herumgeschnüffelt?«
»Und du hast meinen Tracer abgebrochen!«, konterte sie.
Hale spürte seinen Blutdruck gefährliche Werte annehmen. Er hatte geglaubt, alle Spuren getilgt und Susan im Unklaren darüber gelassen zu haben, was er getan hatte. Kein Wunder, dass sie ihm kein Wort abnahm! Er bekam das Gefühl, die Wände würden auf ihn einstürzen. Er begriff, dass er sich nun nicht mehr herausreden konnte – jedenfalls nicht rechtzeitig. »Susan... Strathmore hat Charturkian
umgebracht!«, flüsterte er Susan verzweifelt ins Ohr.
»Lassen Sie Susan los«, sagte Strathmore gleichmütig. »Sie glaubt Ihnen ohnehin kein Wort.«
»Weshalb sollte sie auch?«, schrie Hale. »Sie verlogener Schweinehund! Sie haben ihr eine Gehirnwäsche verpasst! Sie erzählen ihr doch nur, was Ihnen in den Kram passt! Weiß Susan
vielleicht, was Sie wirklich mit Diabolus vorhaben?«
»Und das wäre?«
Hale wusste, dass sein nächster Satz entweder seine Fahrkarte in die Freiheit oder sein Todesurteil war. Er holte tief Luft und ging aufs
Ganze. »Sie wollen Diabolus ein Hintertürchen verpassen!«
Unschlüssiges Schweigen aus der Dunkelheit folgte. Volltreffer!, dachte Hale. Strathmores Unerschütterlichkeit schien zu bröckeln.
»Woher wollen Sie das denn wissen?«, fragte Strathmore unwillig. Seine Stimme bebte leicht.
»Ich hab's gelesen«, sagte Hale. Er versuchte, die veränderte Situation für sich auszuschlachten. »In einer von Ihren Brainstorm-Aufzeichnungen.«
»Das ist unmöglich. Meine Aufzeichnungen drucke ich niemals aus.«
»Ich weiß. Ich hab's ja auch direkt in Ihrem Computer gelesen.«
Strathmore schien daran zu zweifeln. »Wie wollen Sie in mein Büro gekommen sein?«
»Nicht nötig. Ich habe Ihre Datei von Node 3 aus gehackt.« Hale gab sich Mühe, selbstgefällig zu lachen. Wenn er hier lebend herauskommen wollte, galt es sämtliche Verhandlungstricks
aufzubieten, die er bei den Marines gelernt hatte.
Strathmore schob sich noch näher heran, die Beretta ins Dunkle gerichtet.
»Wie wollen Sie von meinem angeblichen Hintertürchen erfahren haben?«
»Habe ich Ihnen doch gesagt: Ich habe in Ihrem Computer herumgeschnüffelt.«
»Unmöglich.«
Hale bemühte sich um einen möglichst überheblichen Ton. »Das kommt davon, wenn man immer nur die Besten engagiert. Da kann man auch mal das Pech haben, dass einer darunter ist, der besser ist
als Sie, mein lieber Commander.«
»Junger Mann«, sagte Strathmore ungerührt, »ich weiß nicht, wo Sie Ihre Informationen herhaben wollen, aber Sie bilden sich da gewaltig etwas ein. Sie werden jetzt Miss Fletcher sofort loslassen, oder ich rufe den Sicherheitsdienst, und dann werden Sie bis an Ihr
Lebensende im Knast verschimmeln.«
»Das werden Sie nicht tun«, sagte Hale im Brustton der Überzeugung. »Wenn Sie den Sicherheitsdienst rufen, sind Ihre Pläne
den Bach runter – weil ich dann nämlich auspacke.« Hale hielt inne. »Aber wenn Sie mich, ohne Schwierigkeiten zu machen, rauslassen, wird nie ein Wort über Diabolus über meine Lippen kommen.«
»Völlig ausgeschlossen!«, winkte Strathmore ab. »Ich will den
Schlüssel.«
»Ich habe aber keinen gottverdammten Schlüssel!«
»Und ich habe genug von Ihren Lügen!«, bellte Strathmore. »Her mit dem Schlüssel!«
Hale packte Susan am Hals. »Ich will jetzt raus, oder Susan stirbt!«
Trevor Strathmore hatte in seinem Leben oft genug Verhandlungspoker mit höchstem Einsatz betrieben. Er spürte, dass Greg Hale in eine sehr gefährliche psychische Verfassung geraten war. Der junge Kryptograph hatte sich in eine auswegslose Lage manövriert. Ein in die Ecke getriebener Gegner war immer ein besonders gefährlicher und unberechenbarer Gegner. Strathmore wusste, dass von seinem nächsten Zug alles abhing, Susans Leben –
und die Zukunft von Diabolus.
Strathmore musste unbedingt die Situation entspannen. Er legte eine lange Bedenkpause ein. »Also gut, Greg«, sagte er zögernd und
seufzte, »Sie haben gewonnen. Was soll ich tun?«
Stille. Hale schien unschlüssig, wie er auf den kooperativen Ton des Commanders reagieren sollte. Sein Druck auf Susans Nacken
lockerte sich.
»Also ...«, sagte er stockend, wobei seine Stimme leicht bebte, »als Erstes werden Sie mir Ihre Pistole geben. Und dann kommen Sie
beide mit.«
»Als Geiseln?«, entgegnete Strathmore kalt. »Greg, da müssen Sie sich schon etwas Besseres einfallen lassen. Zwischen hier und dem Parkplatz müssen Sie an mindestens einem Dutzend schwer
bewaffneter Wachposten vorbei!«
»Ich bin doch kein Idiot«, höhnte Hale. »Dann nehme ich eben Ihren Lift. Susan kommt mit, Sie bleiben hier!«
»Tut mir Leid, dass ich Ihnen die Tour vermasseln muss, aber der Lift hat keinen Strom.«
»Quatsch! Der Lift bekommt seinen Strom vom Hauptgebäude. Ich kenne doch den Schaltplan!«
»Wir haben es doch gerade erst versucht«, keuchte Susan, die Strathmore helfen wollte. »Da tut sich nichts.«
»Ihr seid ja solche Arschlöcher, einfach unglaublich!« Hales Griff um Susans Nacken wurde wieder fester. »Wenn der Lift nicht läuft,
schalte ich eben den TRANSLTR ab, dann hat er wieder Strom!«
»Für den Lift braucht man ein Passwort«, sagte Susan eifrig .
»Macht nichts«, erwiderte Hale. »Ich bin sicher, der Commander wird es uns verraten, nicht wahr, Commander?«
»Niemals!«, zischte Strathmore.
Hale verlor die Geduld. »Jetzt hören Sie mal gut zu, wie das hier läuft: Sie werden Susan und mich mit Ihrem Lift rauslassen, sie wird mit mir in meinen Wagen steigen, und nach ein paar Stunden lasse ich
sie wieder laufen.«
Strathmore spürte, dass der Einsatz gestiegen war. Er hatte Susan in die Sache hineingeritten, also musste er sie auch wieder herauspauken. »Und was ist mit meinen Plänen hinsichtlich
Diabolus?«, sagte er ungerührt.
Hale lachte auf. »Schreiben Sie nur Ihr Hintertürchenprogramm. Ich werde schweigen wie ein Grab.« Hales Stimme nahm einen drohenden Unterton an. »Aber sollte ich irgendwann den Eindruck bekommen, dass Sie mir ans Leder wollen, werde ich vor den Medien rückhaltlos auspacken. Ich werde um die Macke von Diabolus einen
Riesenaufstand machen, und dann ist Ihr Scheiß-Verein geliefert!«
Strathmore dachte über Hales Vorschlag nach. Er war klar und einfach. Susan blieb am Leben, und Diabolus bekam das Hintertürchen. Solange Strathmore Hale in Ruhe ließ, blieb auch das
Hintertürchen ein Geheimnis. Strathmore wusste zwar, dass Hale
seine Klappe nicht allzu lange halten konnte, aber trotzdem ... das Wissen über Diabolus war Hales einzige Rückversicherung. Vielleicht nahm er sich ja zusammen. Wie auch immer, er konnte ja später
immer noch eliminiert werden.
»Komm endlich zu Potte, Alter!«, höhnte Hale. »Gehen wir, oder gehen wir nicht?« Seine Arme schlossen sich wie ein Schraubstock
um Susans Nacken.
Strathmore war sicher, dass Susans Leben nicht gefährdet war, auch wenn er jetzt zu seinem Handy griff und den Sicherheitsdienst anrief. Er war bereit, sein Leben darauf zu verwetten. Strathmore sah das Szenario klar vor seinen Augen. Der Anruf würde Hale vollkommen unvorbereitet treffen. Er würde in Panik geraten und am Ende angesichts der inzwischen aufmarschierten kleinen Armee weder aus noch ein wissen. Er würde noch ein bisschen Theater machen und dann kapitulieren. Aber wenn du den Sicherheitsdienst rufst, dachte
Strathmore, ist dein Plan im Eimer.
Hale verdrehte Susan den Hals. Sie schrie gellend auf vor Schmerz. »Also, was ist?«, kreischte Hale. »Soll ich sie kaltmachen?«
Strathmore ging seine Optionen durch. Wenn er zuließ, dass Hale Susan aus der Kuppel hinausschaffte, war die Lage völlig außer
Kontrolle. Nach ein paar Stunden Fahrt würde Hale vielleicht
irgendwo in einem einsamen Wald rechts ranfahren ... er hatte eine
Pistole ... Strathmore drehte sich der Magen um. Es war völlig
unkalkulierbar, was geschehen würde, bevor Hale Susan laufen ließ ... falls er sie überhaupt laufen ließ. Du musst den Sicherheitsdienst
rufen, dachte Strathmore, es bleibt dir gar nichts anderes übrig.
Er stellte sich vor, wie Hale in der Gerichtsverhandlung über Diabolus auspacken würde. Dann ist dein Plan gescheitert! Es muss
doch einen anderen Weggeben.
»Entscheiden Sie sich!«, schrie Hale und zerrte Susan der Treppe entgegen.
Strathmore hörte nicht zu. Wenn Susans Rettung nur um den Preis des Scheiterns seines Plans zu haben war, dann sei's drum. Nichts war so wertvoll, als dass er dafür den Verlust von Susan Fletcher in Kauf genommen hätte. Dieser Preis war zu hoch. Trevor Strathmore war
nicht bereit, ihn zu zahlen.
Hale hatte Susan die Arme auf den Rücken gedreht und presste ihren Nacken brutal seitwärts. »Commander, das ist Ihre letzte
Chance! Geben Sie mir die Waffe!«
In Strathmores Kopf jagten immer noch die Gedanken auf der Suche nach einem Ausweg. Es gibt immer einen Ausweg!
»Nein, Greg, tut mir Leid«, sagte er schließlich ganz ruhig, »ich kann Sie nicht gehen lassen.«
Hale schnappte hörbar nach Luft. »Was?«
»Ich rufe jetzt den Sicherheitsdienst an.«
Susan stöhnte auf. »Nein, Commander, nicht!«
Hale packte noch fester zu. »Wenn Sie den Sicherheitsdienst rufen, muss sie sterben!«
Strathmore nahm sein Handy aus dem Gürtel und schaltete es an. »Sie bluffen, Hale!«
»Das werden Sie niemals tun!«, kreischte Hale. »Ich werde auspacken! Ich mache Ihren Plan zunichte! Sie sind doch nur noch Zentimeter davon entfernt, dass Ihr Traum in Erfüllung geht – alle Daten der Welt kontrollieren, TRANSLTR ade! Keine Beschränkungen mehr, völlig ungehinderte Information! Es ist die
Chance Ihres Lebens! Wollen Sie die ausschlagen?«
»Dann passen Sie mal auf!«, sagte Strathmore mit einer Stimme wie Stahl.
»Aber ... aber was ist mit Susan?«, stotterte Hale. »Wenn Sie anrufen, muss sie sterben!«
»Auf dieses Risiko muss ich mich eben einlassen«, sagte Strathmore ungerührt.
»Blödsinn! Sie sind auf diese Frau doch noch schärfer als auf Diabolus! Das werden Sie nicht riskieren! Ich kenne Sie doch!«
Susan wollte sich wütend gegen die Unterstellung verwahren, aber Strathmore kam ihr zuvor. »Junger Mann, Sie kennen mich nicht! Ich habe mich mein ganzes Leben lang auf Risiken eingelassen. Wenn Sie mit harten Bandagen kämpfen wollen, dann nur zu!« Strathmore drückte ein paar Tasten auf seinem Handy. »Sie unterschätzen mich, mein Sohn! Das gibt es bei mir nicht, dass jemand das Leben meiner Mitarbeiterin bedroht und sich dann aus dem Staub macht!« Er hob
das Handy. »Vermittlung, den Sicherheitsdienst bitte!«, bellte er hinein.
Hale begann, Susans Hals zu verdrehen. »Ich ... ich bringe sie um, ich schwör's Ihnen!«
»Sie werden nichts Dergleichen tun!«, sagte Strathmore. »Es
würde alles nur noch ...« Er unterbrach sich und riss das Handy in Sprechposition. »Sicherheitsdienst? Hier Commander Trevor Strathmore. In der Crypto-Kuppel hat eine Geiselnahme stattgefunden. Schicken Sie sofort ein paar Mann her! Jawohl, sofort, verdammt nochmal! Wir haben einen Generatorausfall. Ich will, dass über sämtliche externen Quellen Strom eingespeist wird. In fünf Minuten muss alles wieder funktionieren! Greg Hale hat einen meiner Sys-Sec-Techniker umgebracht und meine Chef-Kryptographin als Geisel genommen. Setzen Sie nötigenfalls Tränengas ein, auch wenn wir alle davon betroffen sind. Sie haben meine ausdrückliche Genehmigung! Scharfschützen sollen Mr Hale aufs Korn nehmen und gegebenenfalls töten, wenn er nicht kooperiert. Ich übernehme die
volle Verantwortung! Und jetzt, los!«
Hale stand wie vom Blitz getroffen da. Er war offenbar völlig durcheinander. Sein Griff um Susans Hals lockerte sich.
Strathmore schaltete das Handy ab und schob es resolut in den Gürtel zurück. »Greg, jetzt sind Sie dran!«
KAPITEL 81
Becker stand mit geröteten Augen in der Abfertigungshalle neben einer Telefonzelle. Sein Gesicht brannte, und etwas übel war ihm auch, aber er war in Hochstimmung. Es war vorbei, endgültig vorbei! Er konnte jetzt nach Hause. Der Ring an seinem Finger war der Gral, den er gesucht hatte. Er hielt die Hand ins Licht und betrachtete blinzelnd das goldene Buchstabenband. Seine Augen lieferten ihm nur ein sehr unscharfes Bild, aber die Inschrift schien nicht Englisch zu sein. Er versuchte, die ersten Zeichen zu entziffern. Es fing an mit einem O oder einem Q, vielleicht sogar mit einer Null, aber seine schmerzenden Augen konnten es nicht genau erkennen. Das war also
die Frage der nationalen Sicherheit.
Becker trat in die Telefonzelle und wählte Strathmores Nummer, aber schon bei der Vorwahl kam eine Ansage. »Todas las conexiones están ocupadas«, sagte eine Stimme. »Leider sind alle Anschlüsse besetzt. Bitte legen Sie auf, und versuchen Sie es später noch einmal.« Becker hängte stirnrunzelnd wieder ein. Er hatte nicht daran gedacht: In Spanien waren Auslandsgespräche eine Art Roulette, eine Frage des Glücks und des richtigen Zeitpunkts. Er würde es in ein paar
Minuten noch einmal versuchen müssen.
Er bemühte sich, nicht auf das Brennen des Pfeffersprays in seinen Augen zu achten. Megan hatte gesagt, dass es durch Reiben nur noch
schlimmer würde – falls das vorstellbar war. Ungeduldig versuchte er noch einmal, zu Strathmore durchzukommen. Wieder keine Verbindung. Becker hielt es nicht mehr aus. Seine Augen brannten wie Feuer. Er musste sie unbedingt ausspülen. Strathmore würde sich eben ein paar Minuten gedulden müssen. Halb blind machte er sich auf den Weg zu den Toiletten.
Vor der Tür der Herrentoilette erkannte er verschwommen den Reinigungswagen. Wieder wandte Becker sich der Tür mit der
Aufschrift SEÑORAS zu. Es kam ihm vor, als hätte er von drinnen
etwas gehört. Er klopfte. »¿Hola?«
Stille.
Möglicherweise Megan, dachte er. Sie hatte noch fünf Stunden totzuschlagen, bis ihr Flugzeug ging. Wollte sie nicht versuchen, den
Arm ganz sauber zu bekommen?
»Megan!«, rief Becker. Er klopfte noch einmal. Als keine Antwort kam, öffnete er die Tür und trat ein. »Hallo?« Es schien niemand in
der Toilette zu sein. Achselzuckend trat Becker ans Waschbecken.
Das Becken war verschmutzt wie zuvor, aber das Wasser war kalt. Er spülte seine Augen. Er fühlte, wie die offenen Poren sich strafften. Der Schmerz ließ langsam nach, der Nebel hob sich allmählich. Becker betrachtete sich im Spiegel. Er sah aus, als hätte er tagelang
geheult.
Als er sich das Gesicht am Ärmel des Jacketts trocken wischte, ging ihm plötzlich auf, wo er war. Vor lauter Aufregung hatte er es ganz vergessen. Er war auf dem Flughafen! Irgendwo da draußen auf dem Flugfeld wartete in einem Privathangar ein Learjet 60 auf ihn, der ihn nach Hause bringen sollte! Ich habe Anweisung, hier auf Sie zu warten, bis Sie zurückkommen, hatte der Pilot unmissverständlich
gesagt.
Kaum zu glauben, dachte Becker, jetzt bist du wieder da, wo alles angefangen hat! Worauf wartest du noch? Die Nachricht an
Strathmore kann bestimmt auch der Pilot durchgeben.
Becker lächelte sich im Spiegel zu und zog die Krawatte zurecht. Er wollte gerade gehen, als er im Spiegel etwas sah, das ihm bekannt vorkam. Er drehte sich um. Megans Reisetasche schien aus der halb offenen Tür der Toilettenzelle herauszuragen.
»Megan?«, rief er. Keine Antwort. »Megan!«
Becker pochte laut an die Seitenwand der Zelle. Keine Reaktion. Vorsichtig drückte er gegen die Tür. Sie schwang auf.
Becker hätte fast aufgeschrien vor Schreck. Megan saß mit nach oben verdrehten Augen auf der Toilette. Aus einem Einschussloch
mitten auf der Stirn sickerte eine blutige Flüssigkeit in ihr Gesicht.
»Oh, mein Gott!«
»Estä muerta«, sagte eine kaum menschlich zu nennende Stimme hinter ihm. »Sie ist tot.«
Wie in einem Albtraum drehte Becker sich um.
»^Señor Becker?«, fragte die gespenstische Stimme.
Fassungslos betrachtete David Becker den Mann, der in die Toilette getreten war. Er kam ihm irgendwie bekannt vor.
»Soy Hulohot«, sagte der Killer. »Ich bin Hulohot.« Die missgestalteten Worte schienen aus den Tiefen seines Leibes
emporzuquellen. Er streckte die Hand aus. »jEl anillo! Den Ring!«
Becker starrte ihn verständnislos an.
Der Mann zog eine Pistole aus der Tasche und richtete den Lauf auf Beckers Kopf. »jEl anillo!«
Becker erlebte einen Moment völliger Klarheit. Er wurde von einem Gefühl durchflutet, das er bislang noch nicht gekannt hatte. Wie auf Kommando spannten sich sämtliche Muskeln seines Körpers. Als der Schuss peitschte, flog Becker schon durch die Luft und
landete auf Megan. Das Projektil fuhr vor ihm in die Wand.
»jMierda!«, zischte Hulohot. Sein Opfer war im allerletzten Moment aus der Schussbahn getaucht.
Becker fuhr von dem leblosen Teenager hoch. Er hörte Schritte, der Hahn einer Pistole knackte.
»Adiös«, flüsterte der Mann. Wie ein Panther war er herbeigesprungen. Ein Pistolenlauf schwang in die Zelle.
Etwas Rotes blitzte auf, doch es war kein Blut. Wie aus dem Nichts prallte etwas Schweres gegen die Brust des Killers. Megans Reisetasche. Der Killer drückte ab, aber einen Sekundenbruchteil zu
früh.
Becker schoss aus der Zelle wie eine Granate. Seine Schulter grub sich in den Magen des Angreifers und trieb ihn zurück gegen das Waschbecken. Der Spiegel klirrte. Die beiden Männer gingen zu Boden. Die Waffe klapperte auf die Fliesen. Becker schnellte wieder hoch und stürmte zum Ausgang. Hulohot grapschte nach seiner Waffe, warf sich herum und feuerte. Die Kugel fuhr in die
zuschlagende Toilettentür.
Die Weite der leeren Abfertigungshalle tat sich vor Becker auf wie eine unüberwindliche Wüste. Seine Beine wirbelten schneller unter ihm, als er es ihnen je zugetraut hätte. Als er keuchend die Drehtür erreichte, bellte hinter ihm ein Schuss. Die Querscheibe explodierte in einem Scherbenregen. Becker stemmte die Schulter gegen den leeren Rahmen. Das Türkreuz ruckte an. Sekunden später sprang Becker
hinaus auf das Trottoir.
Ein wartendes Taxi stand am Rinnstein.
»jDéjame entrar!«, schrie Becker und hämmerte gegen die Scheibe der verschlossenen Tür. »Lassen Sie mich rein!« Der Fahrer winkte ab. Sein vorheriger Fahrgast mit der Nickelbrille hatte ihn
angewiesen, auf ihn zu warten. Becker drehte sich um. Er sah Hulohot mit der Waffe in der Hand durch die Abfertigungshalle rennen. Mann, du bist so gut wie tot! Auf dem Trottoir lag noch die
kleine Vespa.
Als Hulohot durch die Drehtür platzte, trampelte Becker schon auf dem Kickstarter herum - vergeblich. Lächelnd hob Hulohot die
Waffe.
Der Choke! Becker riss wahllos an den Hebeln unter dem Benzintank herum. Der Motor hustete und starb wieder ab.
»jEl anillo! Den Ring!« Die Stimme war nicht mehr allzu weit entfernt.
Becker blickte auf. Er sah den Lauf einer auf ihn gerichteten Pistole. Er drosch noch einmal den Fuß auf den Starter.
Hulohots Schuss zischte knapp an Beckers Kopf vorbei, dessen kleine Vespa in diesem Moment angesprungen war und einen Satz nach vorn machte. An das kleine Zweirad geklammert, holperte Becker eine grasbewachsene Böschung hinunter, kurvte um die Ecke
des Gebäudes und schnurrte hinaus auf die Landebahn.
Wutschnaubend rannte Hulohot zu dem wartenden Taxi. Sekunden später lag der Fahrer halb ohnmächtig im Rinnstein und sah sein Taxi
in einer Staubwolke davonpreschen.
KAPITEL 82
Der Anruf des Commanders hatte Greg Hale auf dem linken Fuß erwischt. Strathmore hat den Sicherheitsdienst angerufen! Er lässt seinen Plan für Diabolus sausen! Nicht im Traum hätte Hale damit gerechnet, dass der Commander die Chance auslassen würde, Diabolus mit einem Hintertürchen zu versehen – die Chance seines
Lebens!
Der Sicherheitsdienst ist im Anmarsch! Als Greg Hale das ganze Ausmaß von Strathmores Anruf aufging, raubte ihm die aufwallende Panik die Kraft. Susan wäre ihm fast entschlüpft. Hale fand gerade
noch rechtzeitig seine Fassung wieder und riss sie zurück.
»Lass mich los!«, schrie Susan, dass es in der Kuppel widerhallte.
Hales von Panik angeheizte Fantasie ging mit ihm durch. Überall wähnte er den drohenden Lauf von Strathmores Beretta zu sehen. Susan fest an sich gepresst, drehte er sich um die eigene Achse, um
dem Commander kein Ziel zu bieten.
»Du tust mir weh!«, keuchte Susan. Atemlos stolperte sie Hales verzweifelten Pirouetten hinterher.
Hale zerrte Susan zur Treppe. In ein paar Minuten würde das Licht wieder angehen, das Portal auffahren und ein Trupp Sicherheitsleute hereingestürmt kommen. Er hätte am liebsten Susan losgelassen und einen Sprint zu Strathmores Lift riskiert, aber ohne das Passwort zu
kennen, war das reiner Selbstmord. Und selbst wenn er hinausgekommen wäre – ohne Geisel war er draußen ein toter Mann. Noch nicht einmal sein Lotus hätte eine Staffel NSA-Hubschrauber abhängen können. Susan ist deine einzige Garantie, dass Strathmore dir nicht das Lebenslicht auspusten lässt!
Susans Widerspenstigkeit machte ihm ein weiteres Problem
bewusst. Auch wenn er Strathmores Lift ans Laufen bekam und Susan mitschleppte – sie würde sich ohne Zweifel auf dem ganzen Weg hinaus beharrlich zur Wehr setzen. Hale wusste sehr gut, dass die Endstation des Lifts am »Untergrund-Highway« lag, einem Labyrinth von unterirdischen Gängen, das der Machtelite der NSA unbemerkten Zugang und die unbeobachtete Bewegung im Gebäude verschaffte. Hale hatte wenig Lust, sich mit einer widerspenstigen Geisel auf Irrfahrt durch das Wirrwarr der Kellergänge der NSA zu begeben. Es war eine Todesfalle, und falls er hinausgelangte, hatte er noch nicht einmal eine Waffe, wie ihm jetzt einfiel! Wie sollte er Susan quer über
den Parkplatz zum Wagen bekommen? Wie sollte er fahren?
Die Antwort lieferte ihm die Stimme eines Strategie-Experten aus seinen Tagen bei den Marines.
Wenn du jemand zur Hilfe zwingen willst, wird sich der Betroffene wehren, warnte die Stimme. Bring ihn dazu, so zu denken wie du,
dann hast du einen Bundesgenossen!
»Susan«, sagte Hale, »Strathmore ist ein Mörder! Auch du bist in Gefahr!«
Susan schien ihm noch nicht einmal zuzuhören. Außerdem war diese Tour ohnehin absurd. Strathmore würde Susan niemals etwas
antun, und das wusste sie genau.
Hale starrte angestrengt in die Finsternis. Wo steckte der Commander? Strathmore war auf einmal völlig verstummt. Hale wurde noch nervöser. Er spürte, dass ihm die Zeit davonlief. Jeden Moment konnten bewaffnete Sicherheitsleute hereingestürmt
kommen.
Die Arme fest um Susans Taille geschlungen, zerrte Hale sie unter Aufbietung aller Kräfte rückwärts die Treppe zu Strathmores Büro hinauf. Sie hakte die Fersen unter die unterste Stufe, aber es nützte ihr
nichts. Hale war stärker.
Mit Susan im Schlepptau erklomm Hale Stufe um Stufe. Es wäre vielleicht einfacher gewesen, sie vor sich herzuschieben, aber das obere Treppenende lag im matten Licht von Strathmores Computerbildschirm. Wenn Susan voranging, hätte Hales ungeschützter Rücken ein leichtes Ziel abgegeben, aber so hatte Hale einen menschlichen Schutzschild zwischen sich und Strathmore unten
in der Kuppel.
Nach etwa einem Drittel des Weges nach oben spürte Hale unten an der Treppe eine Bewegung. Strathmore schreitet zur Tat! »Commander, schlagen Sie sich das aus dem Kopf.«, zischte Hale.
»Sie würden höchstens Susan umbringen!«
Hale wartete ab. Kein Geräusch mehr am Fuß der Treppe. Er lauschte in die Stille. Nichts. Hatte er bereits Halluzinationen? Egal. Mit Susan in der Schusslinie würde Strathmore keinen Schuss
riskieren.
Da passierte etwas Unerwartetes. Am oberen Ende der Treppe gab es ein mattes Geräusch. Hale hielt inne. Das Adrenalin schoss ihm bis in die Haarspitzen. War Strathmore irgendwie die Treppe hochgeschlüpft? Gefühlsmäßig musste er noch unten in der Kuppel sein – aber da war dieses Geräusch noch einmal, diesmal etwas lauter.
Eindeutig ein auftretender Schuh, oben am Treppenende!
Entsetzt erkannte Hale seinen Fehler. Strathmore wartet oben am Treppenende, hinter dir! Er kann dich problemlos von hinten abknallen! Er riss Susan auf die treppauf gelegene Seite, wechselte die
Richtung und zog sich rückwärts gehend nach unten zurück.
Auf der untersten Stufe hielt er inne und starrte zum Treppenende hinauf. »Hauen Sie ab, Commander!«, schrie er. »Hauen Sie ab, oder
ich breche Susan ...«
Die Beretta sauste durch die Luft und krachte an Hales Schläfe.
Hale sank zusammen. Verwirrt riss Susan sich los. Strathmore packte sie und presste ihren bebenden Körper an sich. »Schsch«, machte er beruhigend, »ruhig, ich bin's. Jetzt kann Ihnen nichts mehr
passieren.«
Susan zitterte wie Espenlaub. »Com ... mander«, stammelte sie desorientiert, »ich dachte, Sie wären da oben! Ich habe doch gehört...«
»Ganz ruhig«, flüsterte er. »Was Sie gehört haben, waren meine Schuhe. Ich habe sie hochgeworfen.«
Susan lachte und weinte zugleich. Der Commander hatte ihr soeben das Leben gerettet. Ein Gefühl unendlicher Erleichterung überkam sie – nicht ohne Beimischung von Schuldgefühlen. Hale hatte sie nur deshalb gegen Strathmore ausspielen können, weil sie so leichtsinnig gewesen war, sich fangen zu lassen, und jetzt war der Sicherheitsdienst im Anmarsch. Der Commander hatte für ihre Rettung einen ungeheuren Preis bezahlt. »Es tut mir ja so Leid«, sagte
sie.
»Was tut Ihnen Leid?«
»Ihr schöner Plan mit Diabolus ... damit ist es jetzt aus und vorbei.«
Strathmore schüttelte den Kopf. »Keineswegs!«
»Aber ... aber, was ist mit dem Sicherheitsdienst? Das Einsatzkommando wird jeden Moment hier sein! Uns bleibt keine Zeit
mehr, um ...«
»Susan, es kommt niemand vom Sicherheitsdienst. Wir haben Zeit, so viel wir wollen.«
Susan begriff nichts mehr. »Aber Sie haben doch die Einsatzzentrale angerufen ...«
»Ein uralter Trick!«, erwiderte Strathmore lachend. »Ich habe nur so getan.«
KAPITEL 83
Beckers Vespa war mit Abstand das kleinste Fahrzeug, das je die Landebahn des Flughafens von Sevilla hinuntergerast war. Bei seiner Höchstgeschwindigkeit von achtzig Kilometern klang das Vehikel eher nach einem Modellflugzeug als nach einem Motorrad, schien
aber gleichwohl jeden Moment abheben zu wollen.
Becker sah im Rückspiegel das Taxi vierhundert Meter zurück auf die dunkle Landebahn schießen. Der Wagen begann sofort aufzuholen. Becker schaute nach vorne. Ungefähr achthundert Meter voraus ragten die Hangars in den dunklen Nachthimmel. Ob das Taxi ihn vorher schon einholen konnte? Susan hätte seine Chancen im Handumdrehen ausrechnen können. Plötzlich saß Becker die Angst im
Nacken wie noch nie.
Über den Lenker gebeugt, drehte er den Gasgriff bis zum Anschlag. Die Vespa gab eindeutig alles, was sie hatte. Becker schätzte, dass das Taxi hinter ihm hundertsechzig Sachen draufhatte, zweimal so viel wie er selbst. Er peilte die in der Ferne aufragenden
Hangars an. Der mittlere. Dort steht der Learjet.
Ein Schuss peitschte. Das Projektil zischte ein paar Meter neben der Vespa in die Landebahn. Becker schaute zurück. Der Killer hatte sich mit der Waffe aus dem Seitenfenster gehängt und zielte. Becker fuhr Schlangenlinie. Sein Rückspiegel explodierte in einem Splitterhagel. Der Einschlag der Kugel war deutlich im Lenker zu
spüren. Becker legte sich mit dem Oberkörper flach auf den Roller. Gott steh dir bei. Das schaffst du nie!
Das Taxi kam näher. Im Licht seiner aufgeblendeten Scheinwerfer tanzte Beckers Schatten gespenstisch über die Rollbahn. Wieder knallte ein Schuss. Die Kugel prallte als heulender Querschläger von
der Heckverkleidung des Rollers ab.
Becker wäre am liebsten weiter Zickzackkurs gefahren. Du musst
es zum Hangar schaffen! Ob der Pilot des Learjet die wilde Jagd herannnahen sieht? Hoffentlich hat er eine Waffe! Wird er die Kabine früh genug öffnen? Die beleuchtete Höhlung des offenen Hangars
kam näher.
Beckers Überlegungen gingen ins Leere. Von einem Learjet war keine Spur zu sehen. Becker schob es auf seinen vom Pfefferspray getrübten Blick. Lieber Gott, lass mich Halluzinationen haben! Aber es waren keine. Der Hangar war leer und verlassen. Oh Gott, wo ist
das Flugzeug?
Die beiden Fahrzeuge schossen gleichauf in den Hangar. Verzweifelt suchte Becker nach einem Schlupfloch. Vergeblich. Die
Wellblechrückwand der Halle hatte weder Tür noch Fenster.
Das Taxi setzte sich rechts neben Becker. Er sah Hulohot die Pistole heben. Instinktiv trat er auf die Bremse, aber die Wirkung blieb aus. Der Hangarboden war verölt. Die Vespa begann eine
Rutschpartie.
Das Taxi neben Becker schleuderte auf dem Ölteppich nur Zentimeter neben Beckers Vespa um die eigene Achse. Seite an Seite sausten die beiden Fahrzeuge der Rückwand entgegen. Beckers zaghafte Bremsversuche blieben wirkungslos. Wunderbarerweise war er noch nicht gestürzt, aber er fuhr wie auf Eis. Die Wellblechwand kam auf ihn zugerast. Becker machte sich neben dem schleudernden
Taxi auf den Aufprall gefasst.
Es gab ein ohrenbetäubendes Krachen, aber Becker spürte keinen Aufprall und keinen Schmerz. Er befand sich plötzlich im Freien, saß
immer noch auf der Vespa und hoppelte über Grassoden. Es war, als hätte sich die Hangarrückwand in Luft aufgelöst. Neben ihm schoss das Taxi über das Feld. Eine riesige Bahn Wellblech löste sich von der Frontpartie des Wagens und segelte über Beckers Kopf davon.
Beckers Herz raste. Er gab Gas und kurvte in die Nacht.
KAPITEL 84
Jabba lag in dem reparierten Großrechner auf dem Rücken und seufzte erleichtert auf. Die letzte Lötstelle war geschafft. Er schaltete den Lötkolben aus und nahm den Leuchtstab aus dem Mund. Er war ganz schön fertig. Sein Nacken tat ihm weh, sein verbrannter Arm schmerzte. Wenn man innerhalb des Gehäuses arbeiten musste, ging
es immer sehr eng zu, zumal für einen Menschen seiner Körperfülle.
Und die Dinger werden laufend kleiner!, sinnierte er.
Als er für einen wohlverdienten Augenblick der Entspannung die Augen schließen wollte, zerrte jemand an seinen Stiefeln.
»Jabba, komm da raus!«, schrie eine Frauenstimme.
Midge hat dich aufgestöbert, stöhnte er.
»Jabba, komm raus!«
Widerwillig robbte er aus dem Gehäuse. »Midge, habe ich dir nicht gesagt, dass...« Jabba blickte erstaunt hoch. Es war nicht Midge.
»Soschi?«
Soschi Kutta war Jabbas rechte Hand. Das einundvierzig Kilo leichte Energiebündel war Absolventin des MIT und inzwischen eine mit allen Wassern gewaschene Sys-Sec-Technikerin. Seite an Seite mit Jabba arbeitete sie oft bis spät in die Nacht. Sie war das einzige
Mitglied seines Teams, das nicht in Ehrfurcht vor ihm erstarrte.
Sie sah Jabba ungnädig an. »Warum zum Teufel hast du auf meinen Anruf nicht reagiert? Und auf meine Durchsage auch nicht!«
»Ach, du warst das! Ich habe gedacht, es wäre ...«
»Das ist jetzt egal. In der zentralen Datenbank tun sich seltsame Dinge.«
Jabba sah auf die Uhr. »Seltsame Dinge?« Jetzt wurde ihm doch mulmig. »Würde es dir etwas ausmachen, ein wenig präziser zu
werden?«
Soschi wurde präziser.
Kurz darauf stürmte Jabba im Eiltempo durch die Flure, der Datenbank entgegen.
KAPITEL 85
Greg Hale lag zusammengeschnürt auf dem Boden von Node 3 . Strathmore und Susan hatten ihn quer durch die Kuppel geschleift und an Händen und Füßen mit den zwölfadrigen Druckerkabeln der
Laserdrucker von Node 3 gefesselt.
Susan war immer noch sprachlos über Strathmores raffiniertes Täuschungsmanöver. Er hat den Anruf vorgetäuscht! Der Commander hatte es wieder einmal geschafft. Er hatte Hale geschnappt, Susan gerettet und außerdem noch genügend Zeit gewonnen, um Diabolus
umzuprogrammieren!
Susan betrachtete beklommen den gefesselten Kollegen. Hale atmete schwer. Strathmore saß auf der Couch, die Beretta wie einen
Fremdkörper auf dem Schoß.
Susan wandte sich wieder ihrer Nonkonformitätssuche in Hales Terminal zu. Sie startete den vierten Suchlauf, aber wieder ohne Ergebnis. »Immer noch kein Glück«, seufzte sie. »Vielleicht müssen
wir doch darauf warten, dass David Tankados Schlüssel findet.«
Strathmore war nicht einverstanden. »Und was ist, wenn David es nicht schafft und Tankados Schlüssel in die falschen Hände gerät?«
Strathmore brauchte nicht ins Detail zu gehen. Susan hatte begriffen. Solange die ins Internet gestellte Diabolus-Datei nicht durch Strathmores modifizierte Version ersetzt war, stellte Tankados
Key eine Gefahr dar.
»Wenn wir den Austausch vorgenommen haben, ist es mir egal, wie viele Keys in der Welt herumschwirren«, meinte Strathmore. »Je mehr, desto besser. Aber bis dahin ist die Uhr unser Gegner.« Er
forderte Susan mit einer Geste zum Weitersuchen auf.
Susan wollte ihm beipflichten, doch ihre Worte gingen in einem ohrenbetäubenden Alarmsignal aus der Untermaschinerie unter, das in die Stille der Kuppel platzte. Susan und Strathmore sahen einander
überrascht an.
»Was-ist-denn-das?«, schrie Susan in die kurzen Intervalle zwischen den Hornstößen.
»Der-TRANS-L-TR!«, schrie Strathmore zurück. Er sah beunruhigt aus. »Er wird zu heiß! Vielleicht hatte Hale doch Recht,
dass die Anlage auf Notstrom zu wenig Kühlmittel zieht.«
»Wo bleibt die Abschaltautomatik?«
Strathmore überlegte. »Es muss irgendwo einen Kurzschluss gegeben haben.« Ein gelbes Warnblinklicht, das in der Kuppel
angesprungen war, jagte puslierende Lichtblitze über sein Gesicht.
»Jetzt sollten Sie aber wirklich abschalten«, rief Susan.
Strathmore nickte. Wenn drei Millionen überhitzte Prozessoren in Brand gerieten, war alles zu spät. Er musste schleunigst zu seinem Terminal hinauf und den Dechiffrierungsversuch von Diabolus per Abbruchbefehl stoppen – vor allem, bevor draußen jemand auf die Situation aufmerksam werden und die schwere Reiterei loschicken
konnte.
Strathmore streifte den immer noch bewusstlosen Hale mit einem Blick und legte die Beretta neben Susan auf den Tisch. »Bin gleich wieder da!«, schrie er in den Lärm und strebte zum Loch in der Glaswand. Bevor er verschwand, drehte er sich noch einmal um. »Und sehen Sie zu, dass Sie den Schlüssel finden!«, rief er über die
Schulter zurück.
Susan betrachtete das magere Ergebnis ihrer wenig erfolgreichen Suche. Hoffentlich beeilte sich Strathmore und schaltete bald ab. In der Kuppel herrschten ein Lärm und ein Lichtergeflacker wie bei
einem Raketenstart.
Auf dem Boden regte sich Hale. Er wurde langsam wieder lebendig und zuckte bei jedem Ton des Alarmhorns zusammen. Zu ihrer eigenen Überraschung griff Susan nach der Beretta. Als Hale die Augen öffnete, stand sie über ihm und hielt die Waffe auf seinen
Schritt gerichtet.
»Wo ist der Schlüssel?«, fuhr sie ihn an.
Hale schien sich nicht zurechtzufinden. »Wa .., was ist passiert?«
»Du hast dich verrechnet, das ist passiert! Also, wo ist der Schlüssel?«
Hale versuchte, den Arm zu bewegen. Als er merkte, dass er gefesselt war, wurde sein Gesicht starr vor Angst. »Mach mich los!«
»Erst will ich den Schlüssel!«
»Ich habe ihn doch nicht! Bitte, mach mich los!« Hale versuchte aufzustehen, konnte sich aber nur mühsam auf die Seite rollen.
»Du bist North Dakota, und Ensei Tankado hat dir seinen Schlüssel gegeben«, schrie Susan zwischen den Hornstößen. »Ich will
ihn augenblicklich haben!«
»Du spinnst!«, keuchte Hale. »Ich bin nicht North Dakota.« Er arbeitete gegen seine Fesseln an.
»Lüg mich nicht an!«, schrie Susan zornig. »Warum sind dann lauter E-Mails von North Dakota in deinem Account?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt!«, entgegnete Hale. »Ich habe Strathmore angezapft. Die E-Mails in meinem Account habe ich aus Strathmores Account kopiert! Das sind alles E-Mails, die COMINT
abgefangen hat.«
»Unsinn! In den Account des Commanders würdest du doch niemals hineinkommen!«
»Mein Gott, wie blind bist du eigentlich? Der Account von Strathmore war doch schon angezapft!«, schrie Hale. »Meiner Meinung nach kann das nur Leland Fontaine gemacht haben. Ich bin einfach nur Trittbrett gefahren. Nun glaub mir doch endlich! Auf diese Weise habe ich ja überhaupt erst von Strathmores Plan mit dem Hintertürchen Wind bekommen! Ich habe seine Brainstorm-Aufzeichnungen gelesen.«
Brainstorm-Aufzeichnungen? Susan wurde nachdenklich. Bei der Entwicklung seines Plans hatte Strathmore zweifelsohne die BrainStorm-Software benutzt. Wer in seinem Account geschnüffelt hatte,
konnte auch diese Informationen finden ...
»Diabolus umzuschreiben ist Wahnsinn!«, schrie Hale. »Du weißt genau, was das bedeutet – dann hat die NSA Zugriff auf alles!« Das Alarmgeheul übertönte Hale, aber er war wie besessen. »Glaubst du etwa, wir sind dieser Verantwortung gewachsen? Glaubst du etwa, irgendjemand ist einer solchen Verantwortung gewachsen? Wie kann man nur so kurzsichtig sein? Glaubst du denn, unsere Regierung hat nur das Wohl ihrer Bürger im Sinn? Und wenn schon, was ist, wenn sich das bei einer zukünftigen Regierung einmal ändert? Diese Technologie werden wir nie wieder los, die verfolgt uns bis ans Ende
unserer Tage!«
Susan hörte ihn kaum vor lauter Lärm.
Hale zerrte an seinen Fesseln. »Wie soll sich der Bürger gegen einen Polizeistaat wehren«, schrie er, »wenn der Mann an der Spitze auf allen Kanälen alles mithören kann? Wie soll man da Widerstand
leisten?«
Susan hatte dieses Argument schon oft gehört. Es gehörte zum Standardrepertoire der EFF.
»Jemand muss Strathmore in den Arm fallen«, schrie Hale, »und ich habe mir geschworen, dass ich derjenige bin. Deswegen habe ich den ganzen Tag hier gesessen und seinen Account beobachtet, damit ich den Moment nicht verpasse, wenn er den Austausch vornimmt. Ich wollte den ganzen Ablauf dokumentieren. Ich muss schließlich beweisen können, dass er Diabolus mit einem Hintertürchen versehen
hat! Nur deshalb habe ich seine ganzen E-Mails in meinen Account kopiert. Ich wollte mit diesen Informationen an die Öffentlichkeit gehen!«
Susans Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Hatte sie richtig gehört? War das denkbar? Greg Hale wollte Strathmores Pläne gekannt haben, der Öffentlichkeit eine manipulierte Version von Diabolus unterzujubeln? Er wollte seelenruhig abwarten, bis alle Welt
das Programm benutzte, um dann seine Bombe platzen zu lassen?
Susan stellte sich die Schlagzeilen vor: US-REGIERUNG PLANT KONTROLLE DER GLOBALEN INFORMATION!
KRYPTOGRAPH GREG HALE (34) ENTHÜLLT GEHEIMPLAN !
War das eine Neuauflage von Skipjack? Wenn Greg Hale zum zweiten Mal mit Enthüllungen über ein Hintertürchen der NSA Furore machte, würde er berühmter werden, als er es sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Und außerdem war es das Aus für die NSA. Susan sah sich auf einmal vor die Frage gestellt, ob Hale vielleicht
doch die Wahrheit sagte.
Nein, entschied sie, natürlich nicht!
Hales Plädoyer war noch nicht zu Ende. »Ich habe deinen Tracer abgebrochen, weil ich dachte, du wärst hinter mir her. Ich habe geglaubt, du hättest Lunte gerochen, dass Strathmore eine Wanze hat. Ich wollte verhindern, dass du das Leck findest und zu mir
zurückverfolgst!«
Das war zwar plausibel, aber unwahrscheinlich. »Und deshalb hast du Charturkian umgebracht?«, giftete Susan.
»Das war doch gar nicht ich!«, schrie Hale. »Strathmore hat ihn hinuntergestoßen! Ich habe den Kampf von unten beobachtet. Charturkian war drauf und dran, das Sys-Sec-Team zu rufen, und dann hätte Strathmore seinen schönen Plan mit dem Hintertürchen
vergessen können!«
Hale ist gar nicht schlecht, dachte Susan. Er hat für alles eine Erklärung.
»Mach mich los«, bettelte Hale. »Ich habe ehrlich nichts getan!«
»Nichts getan?«, schrie Susan. Warum braucht Strathmore eigentlich so lang? »Du und Tankado, ihr habt die NSA zu eurer Geisel gemacht! Jedenfalls bis zu dem Moment, an dem du ihn hintergangen hast. Sag mal, ist Tankado wirklich an einem Herzinfarkt gestorben, oder hat jemand von deinen Kumpanen ein bisschen nachgeholfen?«
»Wie kann man nur so vernagelt sein?«, schrie Hale. »Merkst du denn nicht, dass ich damit nichts zu tun haben kann? Mach mich los,
bevor der Sicherheitsdienst kommt!«
»Es kommt kein Sicherheitsdienst«, sagte Susan kalt.
Hale wurde blass. »Wie bitte?«
»Strathmore hat dich reingelegt. Er hat dir das Telefonat nur vorgespielt.«
Hale riss fassungslos die Augen auf. Er wirkte wie gelähmt, dann begann er, wie wild gegen seine Fesseln anzukämpfen. »Strathmore
wird mich umbringen! Er muss es einfach, ich weiß zu viel!« »Nun mach kein Theater, Greg.«
»Ich bin unschuldig!«, schrie Greg Hale.
»Du lügst doch«, sagte Susan, »und ich kann's auch beweisen!« Sie ging zu ihrem Terminal. »Du denkst, du hättest meinen Tracer gestoppt, aber ich habe ihn noch einmal losgeschickt. Dann lass uns
mal nachsehen, ob er inzwischen etwas gemeldet hat.«
Tatsächlich blinkte auf Susans Bildschirm ein Icon und meldete die Rückkehr der Tracerdaten. Sie nahm die Maus zur Hand und öffnete die Nachricht. Das wird Hale das Genick brechen, dachte sie. Hale ist North Dakota. Das Fenster mit der Meldung ging auf. Hale
ist ...
Die Meldung erschien. Susan hielt erstaunt inne. Das konnte nur ein Fehler sein. Der Tracer hatte eine völlig andere Person ausfindig gemacht. Es war dasselbe Ergebnis, das Strathmore bereits verworfen hatte, als er anfangs selbst den Tracer losgeschickt hatte. Sie hatte
geglaubt, Strathmore sei ein Fehler unterlaufen, aber jetzt wurde ihr klar, dass er den Tracer korrekt konfiguriert haben musste.
Wie auch immer, die Information auf dem Bildschirm war einfach
absurd:
NDAKOTA = ET@DOSHISHA.EDU
»ET?« , rief sie verdutzt aus. In ihrem Kopf ging es drunter und drüber. »Ensei Tankado soll North Dakota sein?«
Es war einfach unvorstellbar. Wenn diese Daten stimmten, waren Tankado und sein Partner ein und dieselbe Person. Susan konnte plötzlich nicht mehr klar denken. Wenn nur dieser Alarm aufhören würde! Warum schaltet Strathmore das verdammte Ding nicht endlich
ab?
Hale warf sich herum, um Susan sehen zu können. »Also, was steht da? Nun sag schon!«
Susan verdrängte Hale aus ihrem Bewusstsein. Ensei Tankado ist North Dakota ...
Sie versuchte die Bausteine des Puzzlespiels neu zu legen, aber diesmal so, dass sie nahtlos ineinander passten. Wenn Tankado North
Dakota war, dann hatte er sich die E-Mails selbst geschrieben ... was bedeutete, dass North Dakota gar nicht existierte. Tankados Partner
war ein Phantom.
Ein Verwirrspiel.
Es war schlau eingefädelt. Strathmore hatte offenbar immer nur die eine Seite des Spiels verfolgt. Da der Ball stets wieder zurückgekommen war, war er davon ausgegangen, dass auch auf der anderen Seite ein Spieler stehen musste. Aber Tankado hatte den Ball nur gegen die Wand geschlagen. Er hatte die Einmaligkeit von Diabolus in Nachrichten verkündet, die er sich selbst geschrieben
hatte. Er hatte die Mails an einen Provider für anonyme Mails geschickt, und der hatte sie ihm ein paar Stunden später prompt
wieder zurückgeschickt.
Plötzlich sah Susan klar. Tankado hatte es bewusst darauf angelegt, dass Strathmore seine E-Mails abfing. Er wollte, dass der Commander sie las. Tankado hatte sich eine unsichtbare Rückversicherung geschaffen, ohne jemals seinen Key aus der Hand geben zu müssen. Damit alles einen authentischen Anstrich erhielt, hatte er sich einen geheimen Account zugelegt. Tankado war sein eigener Partner. North Dakota gab es überhaupt nicht. Ensei Tankado hatte eine Einmann-Show veranstaltet.
Eine Einmann-Show.
Ein erschreckender Gedanke ergriff von Susan Besitz. Mit dieser Scheinkorrespondenz hätte Tankado dem Commander alles Mögliche
unterjubeln können!
Sie erinnerte sich an ihre erste Reaktion, als Strathmore von einem unangreifbaren Algorithmus gesprochen hatte. Sie hätte tausend Eide geschworen, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. Inzwischen stellte sich die Lage in einem neuen, sehr beunruhigenden Licht dar. Gab es denn außer Tankados großsprecherischen E-Mails überhaupt einen Beweis, dass es ihm gelungen war, das Programm Diabolus zu entwickeln? Natürlich... der TRANSLTR. Der Großrechner hing seit über zwanzig Stunden in einer endlosen Programmschleife fest. Aber wie Susan sehr wohl wusste, gab es auch ganz andere Programme, die
das bewirken konnten, viel einfachere Programme obendrein. Viren.
Es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Aber wie sollte ein Virus in den TRANSLTR gelangt sein?
Phil Charturkian lieferte ihr die Antwort. Sie glaubte, seine Stimme aus dem Jenseits zu hören. Strathmore hat die Gauntlet-Filter
umgangen!
Als Susan die ganze Wahrheit begriff, schwanden ihr fast die Sinne: Strathmore hatte Tankados Datei mit Diabolus aus dem Internet heruntergeladen und versucht, sie zum Dechiffrieren in den TRANSLTR einzugeben. Aber die Gauntlet-Filter hatten die Datei wegen der darin enthaltenen Mutationsketten zurückgewiesen. Normalerweise hätte Strathmore sich das eine Warnung sein lassen, aber er hatte ja in Tankados E-Mails gelesen, dass die Mutationsketten in das Programm eingebunden waren – womit für ihn nichts mehr dagegen sprach, die Gauntlet-Filter zu umgehen und die Datei direkt
in den TRANSLTR zu laden.
Susan hatte es die Sprache verschlagen. »Es gibt überhaupt kein Diabolus!«, keuchte sie heiser in das Geplärr des Alarms. Sie lehnte sich schwer gegen ihren Terminal. Tankado hatte mit Strathmore ein
teuflisches Spiel getrieben ... und Strathmore war ihm mit fliegenden
Fahnen in die Falle gegangen.
Ein langer gequälter Aufschrei drang zu ihr herein. Er kam von Strathmore.
KAPITEL 86
Als Susan atemlos in Strathmores Büro gelaufen kam, saß der Commander tief gebeugt an seinem Schreibtisch. Im Licht des Monitors glitzerten Schweißperlen auf seinem herunterhängenden
Kopf. Unten dröhnten immer noch die Alarmhörner. Susan rannte zum Schreibtisch. »Commander?«
Strathmore rührte sich nicht.
»Commander! Wir müssen unbedingt den TRANSLTR abschalten! Wir haben einen ...«
»Ich bin ihm wie ein Schaf ins offene Messer gelaufen!«, sagte Strathmore tonlos, ohne aufzusehen. »Tankado hat uns gnadenlos an
der Nase herumgeführt ...«
Strathmore war anzusehen, dass er alles begriffen hatte. Tankados Behauptungen von dem nicht dechiffrierbaren Algorithmus, die Auktion des Keys im Internet – alles nur Theater, alles nur Spiegelfechterei. Tankado hatte die NSA angestiftet, in seinen EMails herumzuschnüffeln, hatte ihr den Bären von seinem Partner aufgebunden und sie mit List und Tücke dazu gebracht, ihren Großrechner mit seinem verseuchten Lockvogel aus dem Internet zu
füttern.
»Die Mutationsketten ...« Strathmore verstummte.
»Ich weiß«, sagte Susan.
Der Commander hob in Zeitlupe den Kopf. »Die Datei, die ich aus dem Internet heruntergeladen habe... es war ein...«
Susan versuchte, ruhig zu bleiben. Mit einem Mal sah alles ganz anders aus. Es hatte nie einen unangreifbaren Algorithmus gegeben, nie ein Verschlüsselungsprogramm namens Diabolus. Die von Tankado ins Internet gestellte Datei war ein verschlüsselter Virus, wahrscheinlich codiert mit einem handelsüblichen allgemein verkäuflichen Verschlüsselungsprogramm, das zwar genügend Sicherheit bot, um das normale Publikum außen vor zu halten – nicht aber die NSA. Ihr TRANSLTR hatte den schützenden Panzer
geknackt und den Virus freigesetzt.
»Die Mutationsketten!«, krächzte Strathmore. »Tankado hat gesagt, sie wären ein Teil des Algorithmus ...« Strathmore sank wieder auf seine Schreibtischplatte.
Susan konnte den Gemütszustand des Commanders gut verstehen. Er war dem Täuschungsmanöver von A bis Z aufgesessen. Bei jedem Schachzug, den Strathmore zu machen glaubte, hatte in Wirklichkeit Tankado hinter den Kulissen die Fäden gezogen. Es gab überhaupt keinen Algorithmus, kein Verschlüsselungsprogramm, das Tankado je hätte verkaufen können. Diabolus war eine Farce, ein Potemkin'sches
Dorf, ein für die NSA maßgeschneiderter Köder.
Strathmore stöhnte auf. »Und ich Idiot habe die Gauntlet-Filter umgangen.«
»Das konnten Sie nicht wissen.«
»Ich hätte es aber wissen müssen!« Strathmore hieb mit der Faust auf den Tisch. »Tankados Tarnname, verdammt nochmal!
NDAKOTA! Schauen Sie doch mal genau hin!«
»Was meinen Sie?«
»Er macht sich über uns auch noch lustig! Das ist nichts weiter als
ein Anagramm!«
Ein Anagramm? Susan begann, die Buchstaben im Kopf zu
vertauschen: Ndakota ... Kadotan ... Oktadan ... Danokta ... Tankado! Ihre Knie drohten nachzugeben. Strathmore hatte Recht. Es lag offen zu Tage! Wie hatten sie das nur übersehen können? North Dakota hatte mit dem Bundesstaat der USA überhaupt nichts zu tun – Tankado hatte ihnen mit dem Decknamen auf süffisante Weise Salz in die Wunden gestreut. Ja, er hatte der NSA sogar eine Chance gelassen, ihr einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben, dass er selbst NDAKOTA war! Die besten Codeknacker der Welt hatten es nicht gemerkt, dass die Buchstaben mühelos das Wort TANKADO ergaben,
waren achtlos in die Falle geraten – genau, wie er es geplant hatte!
»Ich bin Tankado sehenden Auges auf den Leim gekrochen!«, stöhnte Strathmore.
»Sie müssen jetzt den TRANSLTR abschalten«, sagte Susan mit Nachdruck.
Strathmore starrte teilnahmslos gegen die Wand.
»Commander, schalten Sie ab! Sie müssen abschalten! Gott allein weiß, was da unten vor sich geht!«
»Ich habe es versucht«, flüsterte Strathmore. Susan hatte ihn noch nie so verzagt erlebt.
»Was heißt: Sie haben es versucht?«
Strathmore drehte Susan den Bildschirm zu. Der Monitor hatte sich zu einem merkwürdigen Dunkelbraun verfinstert und war bis zum unteren Rand mit einer Säule aus Befehlen zum Programmabbruch
gefüllt. Hinter jedem Befehl stand die gleiche Meldung:
ABBRUCH NICHT MÖGLICH ABBRUCH NICHT MÖGLICH
ABBRUCH NICHT MÖGLICH
Susan fröstelte. Abbruch nicht möglich? Aber warum? Sie befürchtete, die Antwort bereits zu kennen: Tankados Rache – die Zerstörung des TRANSLTR! Jahrelang hatte Tankado darum gekämpft, dass die Welt von der Existenz des TRANSLTR erfuhr, aber niemand hatte ihm glauben wollen. So hatte er sich eines Tages entschlossen, selbst Hand anzulegen, um das Untier zu vernichten. Er hatte bis zum Tode für seine Überzeugung gekämpft: das Recht des
Bürgers auf den Schutz seiner Privatsphäre.
Unten plärrte der Alarm.
»Wir müssen den Notstrom auch noch abschalten«, erklärte Susan. »Jetzt sofort!« Wenn sie sich beeilten, war der große Parallelrechner noch zu retten. In Situationen wie dieser war jedem Computer der Welt, vom Billig-PC bis zu den Kontrollsystemen der NASASatelliten, mit einer einfachen Maßnahme beizukommen: Stecker
herausziehen. Keine elegante Lösung, aber garantiert wirksam.
Wenn sie das Notstromaggregat auch noch abschalteten, konnte der TRANSLTR nicht weiterrechnen. Um den Virus konnte man sich später noch kümmern. Dazu brauchte man nur sämtliche Festplatten des Rechners neu zu formatieren. Damit war das Gedächtnis der Maschine komplett gelöscht – ihre Datenspeicher, ihre Programme, allfällige Viren, einfach alles. In den meisten Fällen bedeutete der mit der Neuformatierung einhergehende Datenverlust von manchmal Tausenden von Dateien den Verlust von vielen Jahren Arbeit, aber beim TRANSLTR war das anders. Er konnte ohne jeden Datenverlust neu formatiert werden. Parallelrechner wurden zum Denken, nicht
zum Erinnern gebaut. Der TRANSLTR speicherte nichts. Sobald ein Code geknackt war, wurde das Resultat in die zentrale Datenbank
der NSA überspielt, und dort ...«
Susan erstarrte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Keulenhieb. Sie schlug die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken.
»Die zentrale Datenbank!«
Strathmore starrte blicklos ins Dunkle. Offenbar war ihm der Zusammenhang schon längst aufgegangen. »Ja, Susan, unsere zentrale
Datenbank...«, sagte er mit Grabesstimme.
Susan nickte ausdruckslos. Tankado hat sich den TRANSLTR zu Nutze gemacht, um einen Virus in unsere zentrale Datenbank zu
schleusen!
Strathmore deutete müde auf den Monitor. Am unteren Rand des Bildschirms leuchteten zwei Zeilen:
SCHLUSS MIT DEM GEHEIMNIS UM DEN TRANSLTR!
JETZT HILFT NUR NOCH DIE WAHRHEIT!
Susan war es kalt geworden. Die NSA hütete in ihrem Datenspeicher die geheimsten Geheimnisse der Nation: Manöverpläne, Fernwaffencodes, die Deckidentitäten ausländischer Agenten, Pläne für modernste Waffentechnologie, digitalisierte
Dokumente, Handelsabkommen – die Liste war endlos.
»Das wird Tankado nicht wagen!«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. »Er kann doch nicht das gesamte geheime Archivmaterial eines Landes löschen wollen!« Einen Angriff auf die NSA-Datenbank traute Susan selbst einem Ensei Tankado nicht zu.
Sie betrachtete die Zeile:
JETZT HILFT NUR NOCH DIE WAHRHEIT!
»Die Wahrheit?«, fragte sie. »Welche Wahrheit?«
Strathmore atmete schwer. »Die Wahrheit über den TRANSLTR«, keuchte er.
Susan nickte. So ergab die Sache einen Sinn. Tankado wollte die NSA zwingen, in Sachen TRANSLTR die Hosen herunterzulassen. Es ging also doch nur um Erpressung. Er hatte die NSA vor die Wahl gestellt: Entweder bekennt ihr euch zu dem TRANSLTR, oder ihr verliert eure Datenbank. Susan betrachtete nicht ohne Respekt den
Text vor ihren Augen. Ganz unten blinkte eine Aufforderung.
PRIVATE-KEY EINGEBEN:
Susan begriff. Der Virus, der Schlüssel, Tankados Ring – ein genialer Erpressungscoup. Der Key hatte mit dem angeblichen Algorithmus gar nichts zu tun. Er war die Notbremse. Er konnte den Virus aufhalten. Susan hatte schon viel über derartige Viren gelesen.
Sie waren tödlich, aber sie hatten eine eingebaute Notbremse, eine geheime Tastenkombination, mit der man sie deaktivieren konnte. Tankado hat keinen Anschlag auf unsere Datenbank geplant, er wollte uns lediglich zwingen, den TRANSLTR der Öffentlichkeit preiszugeben. Sobald das geschehen wäre, wollte er uns den Schlüssel geben, mit dem wir den Virus schachmatt setzen können!
Aber leider war Tankados Plan entsetzlich schief gegangen. Er hatte nicht mit seinem Tod gerechnet. Er hatte gedacht, er könne in Spanien irgendwo an einer Bar sitzen und sich auf CNN die Pressekonferenz über Amerikas streng geheimen Dechiffrierungs-Großcomputer ansehen. Dann hätte er Strathmore angerufen, den Key von seinem Ring abgelesen, und die Datenbank wäre gerettet gewesen. Er hätte sich kräftig ins Fäustchen gelacht und wäre von der
Bildfläche verschwunden – als eine Art Säulenheiliger der EFF.
Susan hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wir brauchen diesen Ring! Es gibt gar keinen zweiten Schlüssel!« Sie hatte verstanden. Es gab keinen North Dakota, keine Kopie des Schlüssels. Aber selbst wenn die NSA mit dem TRANSLTR sofort an die Öffentlichkeit gegangen wäre, es gab auch keinen Ensei Tankado
mehr, der als Retter hätte auftreten können.
Strathmore brütete stumm vor sich hin.
Die Lage war ernster geworden, als Susan es je für möglich gehalten hatte. Am meisten schockierte sie, dass Tankado es so weit hatte kommen lassen. Er musste gewusst haben, was geschehen würde, wenn die NSA nicht in den Besitz des Ringes gelangte – aber dennoch hatte er den Ring in den letzten Sekunden seines Lebens fortgegeben. Er hatte ihnen den Ring willentlich vorenthalten. Aber was hätte man andererseits schon erwarten sollen – etwa, dass er der NSA den Ring auf dem Silbertablett servieren würde, nachdem er davon ausgehen musste, dass man dort seine Ermordung betrieben
hatte?
Trotz allem war Susan nicht bereit zu glauben, dass Tankado es so
weit kommen lassen wollte. Er war Pazifist. Er war gegen Zerstörung. Er wollte lediglich für ausgeglichene Kräfteverhältnisse sorgen. Es ging ihm bestimmt nur um den TRANSLTR und das allgemeine Bürgerrecht auf eine ungestörte Privatsphäre, nur darum, dass die Welt von den Schnüffelpraktiken der NSA erfuhr. Die zentrale Datenbank der NSA zu löschen wäre ein so ungeheuerlicher Akt der
Aggression gewesen, wie sie ihn Ensei Tankado nicht zutraute.
Das Alarmgeheul brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Susan betrachtete den am Boden zerstörten Commander. Sie wusste, was in seinem Kopf vorging. Nicht nur, dass sein famoser Plan, Diabolus mit einem Hintertürchen zu versehen, sich schmählich in Luft aufgelöst hatte, seine Fahrlässigkeit hatte die NSA außerdem an
den Rand der vermutlich katastrophalsten Sicherheitskrise in der Geschichte des Landes gebracht.
»Commander, das ist nicht Ihre Schuld«, versuchte Susan ihn zu trösten. »Wenn Tankado noch leben würde, hätten wir eine
Verhandlungsoption. Wir könnten etwas unternehmen.«
Commander Strathmore hörte sie nicht. Sein Leben war ruiniert. Nach dreißig Jahren im Dienste seines Landes hätte die Installation des Hintertürchens im globalen Verschlüsselungsstandard der Augenblick seines größten Triumphs werden sollen, sein persönlicher Akt des gelungenen Widerstands gegen das Verbrechen. Stattdessen hatte er der NSA einen Virus in ihre zentrale Datenbank geschossen! Es gab keine Möglichkeit, das Zerstörungswerk des Virus aufzuhalten – es sei denn, man stellte den Speichern den Strom ab, und das hieß, viele Milliarden Byte an unwiederbringlichen Daten restlos zu löschen. Nur der Ring konnte die Katastrophe noch verhindern. Aber
wenn David Becker ihn bis jetzt nicht gefunden hatte ...
Susan übernahm die Initiative. »Ich werde jetzt dem TRANSLTR den Strom abstellen. Ich gehe runter in die Untermaschinerie und
unterbreche die Stromzufuhr.«
Strathmore sah sie kraftlos an. Er war ein gebrochener Mann.
»Lassen Sie mich das machen«, presste er hervor. Er stand auf, strauchelte aber bereits bei dem Versuch, den Schreibtischsessel hinter sich wegzuschieben.
Susan drückte ihn wieder in den Sitz. »Nein!«, sagte sie in einem Ton, der keine Widerrede duldete. »Ich gehe!«
Strathmore stützte wieder das Haupt in die Hände. »Also gut. Unterste Etage. Neben den Kühlmittelpumpen.«
Susan rannte zur Tür. Auf halbem Weg wandte sie sich noch
einmal um. »Commander«, rief sie Strathmore zu. »Die Sache ist noch nicht gelaufen. Noch sind wir nicht geschlagen! Wenn David
den Ring rechtzeitig findet, können wir die Datenbank retten!«
Strathmore antwortete nicht.
»Rufen Sie die Kollegen von der Datenbank an!«, rief ihm Susan zu. »Warnen Sie die Leute vor dem Virus. Sie sind der Vizedirektor
der NSA! Vergessen Sie nicht, Sie sind ein Überlebenskünstler!«
Strathmore hob in Zeitlupe den Kopf und nickte wie jemand, der die Entscheidung seines Lebens zu treffen hat.
Susan stürmte entschlossen ins Dunkle davon.
KAPITEL 87
Am Ende seiner Querfeldeinfahrt kurvte Becker auf die rechte Spur der Carretera de Huelva. Es war kurz vor der Morgendämmerung, aber auf dieser Autobahn war schon viel los – vor allem Fahrzeuge mit jungen Leuten, die im Morgengrauen von ihren nächtlichen Strandpartys nach Hause fuhren. Ein Lieferwagen voller Teenager rauschte hupend vorbei. Becker kam sich mit seiner
Vespa vor wie auf einem Kinderroller.
Einen knappen halben Kilometer weiter zurück schoss ein ramponiertes Taxi funkenstiebend auf die Fahrbahn. Es schnitt einen
Peugeot 504, dessen Fahrt im grasbewachsenen Mittelstreifen endete.
Becker knatterte an einer Entfernungstafel vorbei. SEVILLA
CENTRO – 2 km. Wenn er es schaffte, die unübersichtliche Innenstadt zu erreichen, hatte er eine Chance. Seine Tachonadel kletterte mühsam auf sechzig Stundenkilometer. Noch zwei Minuten bis zur Ausfahrt. Er wusste, dass ihm kaum so viel Zeit blieb. Das Taxi hinter ihm holte mächtig auf. Becker starrte nach vorne auf die langsam näher kommenden Lichter der Innenstadt. Er hoffte, sie noch
lebend zu erreichen.
Er hatte erst die halbe Strecke zur Ausfahrt zurückgelegt, als er hinter sich Blech über den Beton der Fahrbahn schrappen hörte. Er beugte sich noch tiefer über den Roller und riss das Gas bis zum Anschlag auf. Ein Schuss knallte, eine Kugel zischte vorbei. Becker fing an, im Zickzackkurs über die Fahrspuren zu schwenken, aber es nützte nichts. Als das Taxi bis auf wenige Wagenlängen aufgeholt hatte, waren es bis zur Ausfahrt immer noch gut dreihundert Meter. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, und der Killer hatte ihn entweder über den Haufen gefahren oder mit einer Kugel erledigt. Becker hielt nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau, doch rechts und links der Autobahn stiegen steile Kiesböschungen auf. Wieder knallte
ein Schuss.
Ohne lange zu überlegen, legte sich Becker mit quietschenden Reifen und funkensprühenden Fußrasten in eine scharfe Rechtskurve und schwenkte von der Autobahn herunter. In einer vom durchdrehenden Hinterrad herausgeschleuderten Fontäne aus Kies und Staub arbeitete sich der immer wieder ausbrechende Roller die Böschung hinauf. Becker hatte alle Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Der überlastete kleine Motor heulte jämmerlich. Becker konnte nur hoffen, dass er ihn nicht abwürgte. Er wagte nicht, sich umzuschauen. Jeden Moment konnten Reifen quietschen und ein
Kugelhagel gepfiffen kommen.
Es pfiffen aber keine Kugeln. Becker pflügte über die Krone der Böschung und sah das Zentrum vor sich liegen. Wie ein leuchtender Sternenteppich breiteten sich die Lichter der Innenstadt vor ihm aus. Er schlängelte sich durch ein paar Sträucher und holperte über den Bordstein auf die Avenida Luis Montoto. Die Vespa kam ihm auf einmal sehr schnell vor. Die Straße raste unter seinen Reifen nur so dahin. Zu seiner Linken flog das Fußballstadion vorbei. Er hatte es
geschafft.
Da hörte er wieder das ekelhafte Geräusch von über den Asphalt schrappendem Blech. Er reckte den Kopf. Hundert Meter vor ihm kam das Taxi die Ausfahrt hochgeschossen, schleuderte auf die Straße
hinaus und raste direkt auf ihn zu.
Becker wunderte sich über seine ausbleibende Panik. Er wusste genau, wohin er sich zu wenden hatte. Er bog nach rechts in den
Parque Menéndez Palayo ein und gab Gas. Der Roller fegte durch einen kleinen Park und hinein in den kopfsteingepflasterten Schlauch der Calle Mateus Gago – eine enge Einbahnstraße, die zum Torbogen
des Stadtviertels Santa Cruz hinaufführte.
Nur noch ein kleines Stück, dachte er.
Das Taxi blieb an ihm dran und kam sogar näher. An dem engen Torbogen am Eingang von Santa Cruz fuhr es sich die beiden
Rückspiegel ab, aber Becker wusste, dass er gewonnen hatte. Santa Cruz war das älteste Viertel von Sevilla. Hier gab es keine Fahrstraßen, nur das alte Gassengewirr aus römischer Zeit – für Autos viel zu schmal. In dieser engen Höhlenwelt, wo nur Fußgänger und gelegentlich einmal ein knatterndes Moped verkehrten, hatte sich
Becker vormals hoffnungslos verlaufen.
Als er das letzte Stück der Calle Mateus Gago hinaufraste, wuchs vor ihm wie ein Berg die aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammende spätgotische Kathedrale von Sevilla empor. Direkt daneben stieß der Giralda-Turm dreiundneunzig Meter in den Morgenhimmel. Das war das Viertel Santa Cruz, Standort der zweitgrößten Kathedrale der Welt und zugleich Heimat der ältesten
und frömmsten katholischen Familien von Sevilla.
Becker sauste über den Platz. Ein Schuss bellte, aber zu spät. Becker und sein Roller waren schon in einem winzigen Durchgang
verschwunden, der Calle de la Virgen.
KAPITEL 88
Im Scheinwerferlicht von Beckers Vespa wischten harte Schlagschatten über die Mauern der engen Gassen. In stetem Kampf mit der Gangschaltung knatterte Becker zwischen den weiß getünchten Häusern dahin und verhalf den Bewohnern von Santa Cruz
an diesem Sonntagmorgen zu einem besonders frühen Weckruf.
Seit seiner Flucht vom Flughafen waren noch nicht einmal dreißig Minuten vergangen, in denen er pausenlos in Bewegung gewesen war. In seinem Kopf schwirrten die Fragen. Wer will dich umbringen? Was ist an diesem Ring so Besonderes? Wo ist der NSA-Jet hingekommen? Die ermordete Megan in der Toilettenzelle kam ihm in den Sinn. Der
Gedanke bereitete ihm Übelkeit.
Becker hatte einfach quer durch das Altstadtviertel brausen wollen, bis er auf der anderen Seite wieder herauskam, aber Santa Cruz war ein Gassenlabyrinth voller Scheindurchgänge und Sackgassen. Es dauerte nicht lang, und er wusste nicht mehr, wo er war. Er verdrehte den Hals, um sich am Turm der Giralda zu orientieren, aber die hohen Mauern standen so eng, dass er oben nur durch einen schmalen Spalt
die aufziehende Morgendämmerung erkennen konnte.
Mühsam manövrierte Becker die Vespa um die engen Kurven. Das Geknatter des Zweitakters hallte durch die engen Gassen. Becker gab sich nicht der Illusion hin, sein Verfolger hätte aufgegeben, aber wo
war der Mann mit der Nickelbrille abgeblieben? Er musste inzwischen zu Fuß hinter ihm her sein. In der Stille von Santa Cruz war Becker leicht zu lokalisieren. Sein einziger Vorteil war die Geschwindigkeit. Du musst dich zur anderen Seite durchschlagen!
Nach vielerlei Kehren und kurzen Geraden schleuderte Becker auf ein Plätzchen hinaus, von dem drei Gassen abgingen. Es hieß Esquina de los Reyes. Becker saß in der Tinte – hier war er schon einmal gewesen. Den im Leerlauf stotternden Roller zwischen den Beinen, stand er da und versuchte, sich über die einzuschlagende Richtung schlüssig zu werden. Plötzlich spuckte der Motor und starb ab. Der
Benzinanzeiger stand auf VACIO Prompt erschien am Ende der nach links führenden Gasse ein Schatten.