Das menschliche Gehirn ist der schnellste Computer, den es gibt. Im Bruchteil einer Sekunde registrierte Beckers Gehirn die Gestalt des Mannes, verglich sie mit dem in der Erinnerung gespeicherten Bild, meldete Gefahr und forderte eine Entscheidung. Sie kam postwendend. Becker ließ den Roller fallen und rannte Hals über Kopf
davon.
Zu Beckers Pech befand sich Hulohot jetzt auf festem Boden und nicht in einem schleudernden Taxi. Der Mörder hob seelenruhig die
Waffe und schoss.
Becker flitzte um die Ecke in Deckung. Die Kugel erwischte ihn gerade noch an der Seite. Erst fünf oder sechs Sätze weiter spürte er, dass er oberhalb der Hüfte an der Seite getroffen worden war. Anfangs war es ein Gefühl wie eine Muskelzerrung, das schnell in ein warmes Vibrieren umschlug. Becker sah das Blut und wusste Bescheid. Er fühlte keinen Schmerz, er kannte nur eines –
weiterrennen durch das verwinkelte Gassengewirr von Santa Cruz.
Hulohot hatte sich an sein Opfer gehängt. Er war kurzzeitig versucht gewesen, Becker in den Kopf zu schießen, aber als Profi ließ
er sich auf kein unnötiges Risiko ein. Becker war ein bewegtes Ziel. Bei einem Schuss auf die mittlere Partie des Opfers war der horizontale und vertikale Streubereich für einen Treffer weitaus größer. Die Risikobegrenzung hatte sich gelohnt. Das Ziel hatte sich im allerletzten Moment bewegt. Anstatt den Kopf des Opfers zu verfehlen, hatte Hulohot die Seite getroffen. Es war nur ein relativ harmloser Streifschuss, aber der Zweck war erfüllt. Der Kontakt war hergestellt. Das Opfer war markiert, der Tod hatte es gezeichnet. Ein völlig neues Spiel begann.
Becker stürmte voran, lief um Kurven, wechselte die Richtung, mied die geraden Gassen. Hinter ihm hallten die gnadenlosen Schritte
des Verfolgers. Beckers Hirn war völlig leer. Wo er war, wer ihn verfolgte - es spielte keine Rolle. Es gab nur noch den Instinkt und den Selbsterhaltungstrieb, keinen Schmerz, nur noch die aus der
Angst geborene rohe Energie der Überlebensreaktion.
Ein Schuss ließ eine Azulejo-Wandfliese in tausend Stücke zerplatzen. Ein Splitterregen prasselte in Beckers Nacken. Er warf sich in eine nach links abgehende Gasse. Inzwischen tat ihm die Seite weh. Er hatte Angst, an den weiß getünchten Wänden eine Blutspur zu hinterlassen. Er spähte nach einer offenen Tür, einem unverschlossenen Tor, einem Fluchtweg aus den erstickenden
Häuserschluchten.
Nichts. Die Gasse wurde noch enger.
»jSocorro!« Beckers Ruf verhallte ungehört. »Hilfe!«
Rechts und links traten die Wände näher heran. Eine Kurve. Becker hielt Ausschau nach einer Kreuzung, einer Seitengasse. Die Gasse verengte sich noch mehr. Verschlossene Tore. Noch enger. Verschlossene Türen. Die Schritte kamen näher. Die Gasse streckte sich, stieg plötzlich an, wurde steiler. Becker spürte die Anstrengung
in seinen Beinen. Er wurde langsamer.
Und dann ging es nicht mehr weiter.
Die Gasse hörte einfach auf - wie wenn beim Bau einer Autobahn das Geld ausgeht. Eine hohe Wand, davor eine hölzerne Bank, sonst nichts. Es gab kein Weiterkommen. Drei Stockwerke senkrecht über sich sah Becker die Dachtraufe. Er fuhr herum, wollte die lange Gasse zurückrennen. Nach ein paar Schritten blieb er wie angewurzelt stehen.
Am Fuß der Steigung war eine Gestalt aufgetaucht. Der Mann kam in gemessener Entschlossenheit auf Becker zu. Eine Pistole
schimmerte im Morgenlicht in seiner Hand.
Während Becker sich wieder zur Wand zurückzog, überkam ihn eine plötzliche Klarheit. Mit einem Mal wurde ihm seine schmerzende Seite bewusst. Er berührte die Wunde. Als er hinuntersah, waren seine linke Hand und der Finger mit Ensei Tankados goldenem Ring blutverschmiert. Er hatte ganz vergessen, dass er den Ring angesteckt hatte und weshalb er in Sevilla war. Verwundert betrachtete er das eingravierte Schriftband. Hatte Megan deshalb sterben müssen? Musste er deshalb sterben? Er sah auf und blickte der näher
kommenden Gestalt entgegen.
Wie ein Schatten kam sie die Gasse herauf. Becker sah ringsum nur Mauern, und hinter ihm ging es nicht mehr weiter. Ein paar vergitterte Hauseingänge lagen noch zwischen ihm und seinem
Mörder. Für Hilferufe war es zu spät.
Becker presste den Rücken gegen das tote Ende der Gasse. Er konnte plötzlich jede Unebenheit im Putz der Mauer, jedes Sandkorn unter den Sohlen spüren. Seine Erinnerung raste zurück in seine
Kindheit, zu seinen Eltern ... zu Susan.
Oh Gott ... Susan.
Zum ersten Mal seit seiner Kindheit begann Becker zu beten. Er betete nicht um die Erlösung vom Tod, denn an Wunder glaubte er nicht. Er betete, die Frau, die er hinterließ, möge die Kraft haben, ohne den Schatten eines Zweifels daran zu glauben, dass er sie geliebt hatte. Er schloss die Augen. Die Erinnerungen schlugen über ihm zusammen wie eine Sturmflut. Es waren keine Erinnerungen an
Verwaltungskram, Fachschaftsitzungen und all das, was neunzig Prozent seines Lebens ausmachte. Es waren Erinnerungen an Susan, an einfache Dinge – wie er ihr gezeigt hatte, mit Stäbchen zu essen, eine Segeltörn an Cape Cod. Ich liebe dich, dachte er. Das musst du
wissen ... für immer und ewig.
Jede Fassade, jedes unreife Gehabe seines Lebens war von ihm abgefallen. In der Sterblichkeit seines Fleisches stand er nackt vor dem Antlitz Gottes. Mit geschlossenen Augen erwartete er den näher kommenden Mörder mit der Nickelbrille. Irgendwo in der Nähe begann Glockengeläut. In seiner selbst gewählten Dunkelheit wartete
Becker auf den Knall, der seinem Leben ein Ende setzen würde.
KAPITEL 89
Die Morgensonne schob sich über die Dächer von Sevilla und schien hinab in die Häuserschluchten. Die Glocken der Giralda riefen zur Frühmesse. Das ganze Altstadtviertel hatte diesem Augenblick in stiller Erwartung entgegengefiebert. Die Türen flogen auf. Überall im alten Santa Cruz strebten die Familien auf die Gassen. Wie frisches Blut in den Adern des alten Barrio strömten sie dem Herzen ihres Pueblo entgegen, dem Kern ihrer Geschichte, ihrer Kathedrale, ihrem
Schrein, ihrem Gott.
Irgendwo in Beckers Gehirn klangen Glocken. Bist du schon tot? Fast mit Bedauern öffnete er die Augen und blinzelte in die ersten Sonnenstrahlen. Er senkte den Blick und hielt Ausschau nach seinem Mörder. Der Mann mit der Nickelbrille war nicht zu sehen, dafür aber zahllose spanische Familien im Sonntagsstaat, die die versperrten Pforten aufstießen und lachend und schwatzend auf die Gasse
heraustraten.
Hulohot stand am Anfang der Gasse und fluchte. Zuerst hatte er noch geglaubt, das einzelne Paar, das zwischen ihm und seinem Ziel aufgetaucht war, würde sich wieder trollen, aber der Klang der Glocken, der durch die Gasse schallte, rief immer mehr Menschen aus den Häusern. Ein weiteres Paar gesellte sich dazu, mit Kindern. Noch eine Gruppe erschien. Man begrüßte sich, küsste sich dreimal auf die Wange, unterhielt sich. Hulohot verlor sein Ziel aus den Augen.
Wütend drängte er sich in die schnell anschwellende Menge. Er musste zu. David Becker vordringen!
Er versuchte, sich zum Ende der Gasse vorzuarbeiten. Schnell steckte er in einem Meer von Leibern fest, zwischen schwarzen Jacketts und Krawatten, schwarzen Kleidern und über bucklige alte Frauen gebreiteten Mantillas aus Spitze. Die schwarz gekleidete Menge wogte ihm entgegen und schien ihn nicht wahrzunehmen. Verbissen kämpfte Hulohot sich durch. Mit erhobener Waffe stürmte er in das tote Ende der Gasse. Ein gepresster, kaum menschlicher
Schrei entrang sich seinem Mund.
David Becker war fort.
Stolpernd und unter ständigem Ausweichen bewegte sich Becker durch die Menge. Immer den Leuten nach, dachte er, sie wissen, wie man hier herauskommt. Unten an der Kreuzung schwenkte er mit der Menge nach rechts. Die Gassen wurden breiter. Allenthalben schwangen die Türen auf, Menschen strömten heraus. Das
Glockengeläut schwoll an.
Beckers Seite brannte, aber die Blutung hatte aufgehört. Er lief weiter. Irgendwo hinter ihm war ein Mann mit einer Pistole und
versuchte ihn einzuholen. Er zog den Kopf ein.
Becker tauchte in den Gruppen der Kirchgänger unter und wieder auf. Er spürte, dass es nicht mehr weit sein konnte. Die Menge war angeschwollen, die Gasse noch geräumiger geworden. Das war kein Nebenfluss mehr, das war der Hauptstrorn. Die Gasse machte einen Bogen. Weit vorne an einem Platz sah Becker die Kathedrale und den Giraldaturm aufragen. Der Klang der Glocken fing sich mit ohrenbetäubendem Gedröhn zwischen den hohen Mauern der Häuser,
die den Platz umsäumten.
Die Massen vereinigten sich zu einem schwarzen, den gähnenden Portalen der Kathedrale entgegenflutenden Strom. Becker versuchte sich seitwärts in die Calle Mateus Gago zu schlagen, aber die Menge
keilte ihn ein. Schulter an Schulter, einander fast auf die Füße tretend, wurde er von der schiebenden Menge mitgeschleppt. Die Spanier hatten immer schon einen ganz eigenen Begriff von Gedränge. Becker fand sich zwischen zwei fülligen Matronen eingezwängt, die sich mit geschlossenen Augen vom Menschenstrom tragen ließen, während die Perlen des Rosenkranzes in inbrünstigem Gebet durch ihre Finger glitten.
Der gewaltige Steinbau kam näher. Becker versuchte erneut, nach links auszubrechen, aber die fromme Erwartung, die blind gemurmelten Gebete hatten die Macht des Menschenstroms mit
seinem Geschiebe und Gedränge noch verstärkt. Becker drehte sich um. Sein Versuch, sich gegen den Strom der Massen der frommen Gläubigen zurückzukämpfen, war so aussichtslos wie einen mächtigen Fluss stromauf schwimmen zu wollen. Er wandte sich wieder nach vorne. Die Portale der Kathedrale ragten vor ihm auf wie der Eingang zu einer düsteren Geisterbahn, auf der er gar nicht
mitfahren wollte.
David Becker war im Begriff, zur Messe zu gehen.
KAPITEL 90
In der Crypto-Kuppel plärrten die Alarmhörner. Strathmore wusste nicht mehr, wie lange Susan schon fort war. Er saß allein in der Düsternis, der TRANSLTR dröhnte zu ihm herauf. Du bist ein
Überlebenskünstler ... ein Uberlebenskünstler ...
Ja, dachte er, das bist du – aber was ist das nackte Überleben schon wert? Lieber den Tod als ein ehrloses Leben in Schmach und
Schande.
Und Schmach und Schande war, was ihn erwartete. Er hatte dem Direktor Informationen vorenthalten. Er hatte den sichersten Computer der Nation mit einem Virus infiziert. Man würde ihn mit Schimpf und Schande davonjagen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Patriotische Absichten hin oder her, nichts hatte geklappt wie geplant. Es hatte Betrügereien gegeben und Tote. Es würde zu Anschuldigungen kommen, zu einem Gerichtsverfahren, zum öffentlichen Aufschrei der Empörung. Nachdem er seinem Land über so viele Jahre mit Anstand und Würde gedient hatte, konnte er ein
solches Ende nicht zulassen.
Ein Uberlebenskünstler sollst du sein ?, sinnierte er.
Ein Lügner bist du!, gab er sich selbst die Antwort.
Es stimmte. Er war ein Lügner. Er war nicht aufrichtig gewesen, zu einer ganzen Reihe von Menschen. Susan Fletcher gehörte ebenfalls zu ihnen. Es gab so vieles, was er ihr vorenthalten hatte, Dinge, für
die er sich jetzt entsetzlich schämte. Seit Jahren schon war sie sein Ideal, sein Fleisch gewordenes Wunschbild. Nachts träumte er von ihr, schrie nach ihr im Schlaf. Er war machtlos dagegen. Sie war die schönste und klügste Frau, die er sich vorstellen konnte. Seine Ehefrau hatte sich nach Kräften bemüht, geduldig zu sein, aber nachdem sie Susan persönlich begegnet war, hatte sie alle Hoffnung fahren lassen. Beverly Strathmore machte ihrem Gatten seine Gefühle
nicht zum Vorwurf. Sie hatte versucht, den Schmerz zu ertragen, so lange es eben ging, aber vor nicht allzu langer Zeit war es schließlich zu viel für sie geworden. Sie hatte ihrem Mann gesagt, dass ihre Ehe gescheitert sei. Sie könne nicht den Rest ihres Lebens im Schatten einer anderen Frau verbringen.
Das Getöse des Alarms holte Strathmore allmählich aus seiner Lethargie. Sein analytisch geschultes Gehirn kam wieder in Gang und machte sich auf die Suche nach einem Ausweg. Zögernd musste sein Verstand absegnen, was sein Gefühl schon längst gefordert hatte. Es gab nur einen einzigen gangbaren Ausweg, nur eine einzige
realistische Lösung.
Strathmore senkte den Blick auf die Tastatur und begann zu tippen. Er machte sich nicht die Mühe, den Monitor wieder zurückzudrehen, damit er sehen konnte, was seine Finger mit Bedacht und
Entschlossenheit schrieben.
Meine lieben Freunde, ich nehme mir heute das Leben ...
Niemand würde jemals argwöhnisch werden. Es würde weder Fragen noch Anschuldigungen geben. Die Welt sollte haarklein
erfahren, was passiert war. Viele hatten ihr Leben lassen müssen. Ein Leben musste allerdings noch geopfert werden.
KAPITEL 91
In der Kathedrale herrschte immer Nacht. Die dicken steinernen Mauern schluckten den Lärm der Außenwelt und verwandelten die Hitze des Tages in eine feuchte Kühle. So zahlreich die Leuchter auch sein mochten, sie machten die Dunkelheit bestenfalls zum Zwielicht. Überall hingen Schatten. Nur ganz hoch oben filterten Glasmalereien die Hässlichkeit der Außenwelt zu matten Strahlenbündeln aus Rot
und Blau.
Die Kathedrale von Sevilla, ein riesiges überkuppeltes Gebäude, ist die zweitgrößte Kathedrale Europas. Sie wurde im fünfzehnten Jahrhundert an Stelle der ehemaligen Moschee errichtet. Das damalige Minarett, la Giralda, wird heute als Glockenturm benutzt. Die Kathedrale ist über einhundertzehn Meter lang, der Hauptaltar befindet sich knapp jenseits der Gebäudemitte in einer eigenen zentralen Kapelle, der Capilla Major. Holzbänke füllen den riesigen
Raum zwischen Eingang und Hauptaltar.
Becker fand sich auf halbem Weg zum Altar in der Mitte einer langen Bank eingekeilt. Über seinem Kopt schwang in Schwindel erregender Höhe ein silbernes Rauchfass von der Größe eines Kühlschranks an einem ausgefransten Seil unter Hinterlassung von Weihrauchschwaden in weiten Bögen hin und her. Das unverminderte Glockengeläut der Giralda sandte rumpelnde Schockwellen durch das Gemäuer. Beckers Blick kehrte aus der Höhe zurück und blieb am vergoldeten Altaraufsatz hängen. Er hatte jede Menge Grund zur
Dankbarkeit. Er atmete noch. Er lebte noch. Es war ein Wunder.
Während der Priester das Eröffnungsgebet sprach, untersuchte Becker seine Seite. Auf seinem Hemd prangte ein roter Fleck, aber die Blutung hatte aufgehört. Die Wunde war nicht besonders groß, ein Streifschuss, kein Durchschuss. Becker stopfte das Hemd wieder in die Hose. Er verdrehte den Hals nach hinten. Im Flintergrund fielen die über sechseinhalb Meter hohen vergoldeten Türflügel knarrend ins Schloss. Wenn ihm sein Verfolger bis hierher gefolgt war, saß er jetzt in der Falle. Von den vielen Portalen und Türen der Kathedrale wurde
nur ein einziger Zugang benutzt, wodurch sichergestellt war, dass jeder Tourist, der die Kathedrale besuchte, auch Eintritt bezahlt hatte.
Becker duckte sich in seine Bank. Er war der Einzige, der nicht schwarz gekleidet war. Irgendwo setzte frommer Singsang ein.
Im hinteren Bereich der Kathedrale bewegte sich eine Gestalt langsam den Seitengang empor. Der Mann, der sich im Dunkeln hielt, war gerade noch hereingeschlüpft, bevor das Portal zugeschlagen war. Er lächelte selbstgefällig. Die Jagd wurde allmählich spannend. Becker ist hier... du spürst es. Systematisch bewegte er sich Bankreihe um Bankreihe voran. In langen lässigen Schwüngen pendelte hoch oben das Rauchfass hin und her. Ein schöner Ort zum Sterben, dachte
Hulohot. Hoffentlich triffst du es auch einmal so gut.
Becker hatte sich auf den kalten Steinboden der Kathedrale gekniet und zog das Genick ein – ein höchst ungehöriges Betragen in einem Gotteshaus. Der Mann, der neben ihm saß, blickte indigniert auf ihn
hinunter.
»Me encuentro mal«, sagte Becker entschuldigend. »Mir ist schlecht.«
Er wusste, dass er unten bleiben musste. Er hatte eine vertraute Silhouette langsam den Seitengang heraufkommen sehen. Er ist da!
Becker steckte zwar inmitten einer großen Menschenmenge, aber er musste befürchten, ein leichtes Ziel abzugeben. In diesem Meer aus Schwarz wirkte sein Khakijackett wie ein Leuchtsignal. Er hatte schon daran gedacht, es abzulegen, aber das weiße Oxfordhemd, das er darunter trug, hätte seine Lage auch nicht verbessert. Er verkroch sich
noch tiefer.
Der Mann neben ihm sah strinrunzelnd auf ihn hinab. »¡Tourista!«, grunzte er. »Soll ich einen Arzt holen?«, schob er
sarkastisch nach.
Becker blickte in das leberfleckige Gesicht des Alten empor. »No, gracias. Es geht schon.«
Der Alte funkelte ihn zornig an. »jPues siéntate! Dann setzen Sie sich gefälligst hin!« Ringsum machten ein paar Leute »schhht!«. Der
Alte verstummte und starrte stur nach vorne.
Becker schloss die Augen und rutschte noch mehr in sich zusammen. Er fragte sich, wie lange der Gottesdienst wohl dauern würde. Protestantisch erzogen, wie er war, hatte er immer schon den Eindruck gehabt, dass die Katholiken gerne aus allem eine lange Oper machten. Er hoffte sehr, dass ihn dieser Eindruck nicht trog, denn sobald der Gottesdienst vorüber war, würde er aufstehen müssen, um die Leute aus der Bank zu lassen. Und in seinem Khakijackett war er
ein toter Mann.
Im Moment jedenfalls blieb ihm nichts anderes übrig, als auf dem kalten Steinboden der großen Kathedrale knien zu bleiben. Der Alte hatte das Interesse an ihm verloren. Die Gemeinde war aufgestanden und sang. Becker blieb unten. Seine Beine verkrampften sich allmählich, aber zum Strecken war es zu eng. Geduld!, dachte er, nur
Geduld! Er holte tief Luft und ergab sich in sein Schicksal.
Becker blieb abgetaucht und hoffte hier unten am Boden vorerst
vor Hulohot sicher zu sein. Solange er sich nicht regte, schien er die Andacht der Gläubigen nicht zu stören. Er hörte Gesänge, Gebete, eine kurze Predigt. Die Gemeinde stand auf, setzte sich, kniete sich hin, erhob sich wieder. Becker schien ein Teil der Bestuhlung geworden zu sein.
Becker spürte, wie ihn jemand mit dem Fuß anstieß. Er sah hoch. Der Alte mit dem leberfleckigen Gesicht stand ungeduldig rechts
neben ihm und wollte durchgelassen werden.
Becker geriet in Panik. Wie? Er will schon gehen? Der Gottesdienst ist doch noch nicht zu Ende! Er bedeutete dem Mann, über ihn hinwegzusteigen, aber da wurde der Alte erst recht böse. Er zog die Schöße seines schwarzen Jacketts eng an den Körper, lehnte sich zurück und wies empört auf die Leute neben sich, die ebenfalls alle aus der Bank treten wollten. Becker drehte den Kopf nach links. Der Mann, der dort gesessen hatte, war fort. Die ganze Bank hatte sich bereits bis zum Mittelgang geleert. Der Gottesdienst kann doch noch
nicht vorüber sein!
Aber als Becker die beiden Menschenschlangen im Mittelgang sah, die sich im Gänsemarsch langsam nach vorne zum Altar schoben, begriff er, was vorging. Die Kommunion!, stöhnte er, die verdammten
Spanier wollen natürlich alle zu ihrer heiligen Kommunion!
KAPITEL 92
Susan kletterte die Leiter zur Untermaschinerie hinunter. Das Gehäuse des TRANSLTR war inzwischen von dichten Dampfschwaden umwallt. Das Kondensat hatte die Laufstege feucht und schlüpfrig werden lassen. Susans Schuhe boten wenig Halt. Sie fragte sich, wie lange der TRANSLTR noch durchhalten konnte. Das Alarmhorn blökte seinen Warnruf, die Blinklichter blitzten alle zwei Sekunden auf. Drei Stockwerke tiefer heulte und vibrierte das Notstromaggregat. Irgendwo da unten in diesem nebeligen Halblicht war der Notschalter. Susan spürte, dass die Zeit allmählich knapp
wurde.
Strathmore hielt die Beretta in der Hand. Er las seinen Abschiedsbrief noch einmal durch und legte ihn in dem Raum, in dem er sich befand, auf den Boden. Er war dabei, eine feige Tat zu begehen, das stand völlig außer Frage. Aber bist du nicht ein Überlebenskünstler?. sinnierte er. Er dachte an den Virus in der NSADatenbank, an David Becker in Spanien, an seine Pläne für das Hintertürchen. Er hatte ja so viele Lügen in die Welt gesetzt, so viel Schuld auf sich geladen. Er wusste, dass es nur diesen einen Weg gab, sich der Verantwortung zu entziehen – und der Schande zu entgehen.
Mit großer Sorgfalt richtete er die Waffe auf ihr Ziel.
Er kniff die Augen zu und drückte ab.
Susan war erst ein paar Treppenabsätze nach unten geklettert, als sie einen gedämpften Schuss vernahm. Das Geräusch war sehr fern und ging im Lärm des Silos fast unter. Aber Susan war sicher, sich nicht verhört zu haben, auch wenn sie außer im Fernsehen noch nie
einen Schuss vernommen hatte.
Den Nachhall des Geräuschs noch in den Ohren, blieb sie abrupt stehen. Eine Woge des Schreckens überrollte sie. Sie dachte an die Träume des Commanders – an den unglaublichen Coup, den er mit dem Hintertürchen in Diabolus gelandet hätte. Sie dachte an den Virus in der Datenbank, an Strathmores gescheiterte Ehe, an das
gespenstische Nicken, mit dem er sie hatte gehen lassen. Sie befürchtete das Schlimmste. Wankend griff sie nach dem Geländer
und drehte sich um. Nein, Commander! Nein!
Susan erstarrte. In ihrem Kopf herrschte Leere. Das Echo des Schusses schien das Chaos ringsumher zu übertönen. Susans Verstand sagte ihr, dass sie weiter nach unten steigen musste, aber die Beine verweigerten ihr den Dienst. Commander! Ungeachtet der dem TRANSLTR drohenden Gefahr stolperte sie bereits wieder die Stufen
hinauf.
Blindlings rannte Susan die Gittertreppe hinauf. Von oben regnete das Kondensat herab. Beim letzten Stück des Aufstiegs die Leiter hinauf fühlte sie sich auf einmal durch eine gewaltige Dampfwolke emporgehoben, die sie wie einen Pfropf durch das Einstiegsloch in die dunkle Kuppel hinauspustete. Susan kugelte auf den Boden. Kühle frische Luft fächelte über sie hinweg. Die ehedem weiße Bluse klebte
ihr klatschnass am Körper.
Susan versuchte, sich zu orientieren. Das Schussgeräusch lief als Endlosschleife in ihrem Kopf. Aus der Einstiegsöffnung quollen heiße Dämpfe wie Gase aus dem Krater eines Vulkans kurz vor dem
Ausbruch.
Sie hätte sich ohrfeigen können, dass sie die Beretta bei Strathmore zurückgelassen hatte. Sie hatte sie doch dort gelassen, oder etwa in
Node 3 ? Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Sie schaute hinüber zu dem klaffenden Loch in der Glaswand. Im schwachen Glimmen des Monitors konnte sie Hale ausmachen, der dort, wo sie ihn verlassen hatte, bewusstlos am Boden lag. Von Strathmore war nichts zu sehen. In Erwartung des Schlimmsten wollte sie sich zum Büro des Commanders aufmachen.
Doch als sie sich umdrehen wollte, bemerkte sie etwas Merkwürdiges. Sie trat ein paar Schritte näher und spähte durch das Loch. Hales Arm war in dem schwachen Licht deutlich zu sehen. Er
ruhte nicht neben seinem Körper, sondern reckte sich hoch zu seinem Kopf. Hale war auch nicht mehr verschnürt wie eine Mumie. Er lag ausgestreckt auf dem Rücken. Hatte er sich befreien können? In
tödlicher Ruhe lag er da.
Susan spähte zu Strathmores Büro hinauf. »Commander?«
Stille.
Zögernd trat sie noch näher. Hale hatte etwas in der Hand. Es schimmerte matt im schwachen Licht des Monitors. Plötzlich erkannte
sie, was es war. Es war die Beretta.
Erschrocken schnappte sie nach Luft. Ihr Blick folgte dem Bogen von Hales Arm hinauf zu seinem Kopf. Ein grotesker Anblick bot sich ihr. Eine Hälfte von Hales Gesicht war blutüberströmt. Eine dunkle
Lache kroch über den Teppich.
Oh mein Gott! Susan taumelte zurück. Nicht der Commander hatte sich erschossen, sondern Hale!
Wie in Trance trat Susan neben die Leiche. Hale hatte sich offenbar befreien können. Die Druckerkabel lagen neben ihm auf dem Boden. Du musst die Pistole auf der Couch liegen gelassen haben, dachte Susan. Im bläulichen Licht wirkte das aus dem Loch in Hales
Schädel sickernde Blut wie Ruß.
Neben Hale lag ein Blatt Papier auf dem Boden. Susan hob es auf. Es war ein Brief.
Meine lieben Freunde, ich nehme mir heute das Leben. Es ist die Buße für meine Verfehlungen ...
Susan starrte auf den Abschiedsbrief in ihrer Hand. Langsam las
sie ihn durch. Er war surreal. Diese Liste von Untaten passte überhaupt nicht zu Hale. Er gab alles zu – das Täuschungsmanöver
mit N DAKOTA, den Auftragsmord an Ensei Tankado zur Beschaffung des Rings, den Mord an Phil Charturkian, den er in den Abgrund gestoßen hatte, und die Planungen für den Verkauf von
Diabolus.
Susan kam zur letzten Zeile. Auf das, was sie da zu lesen bekam, war sie nicht gefasst. Die letzten Worte des Briefs trafen sie wie ein
Keulenschlag.
Ganz besonders bedauere ich die Sache mit David Becker. Susan, bitte vergib mir. Der Ehrgeiz hat mich blind gemacht.
Während Susan noch zitternd an Hales Leiche stand, näherten sich von hinten eilige Schritte. Wie in Zeitlupe wandte sie sich um.
Ein bleicher Strathmore erschien atemlos in der zackigen Öffnung. Mit unverkennbarem Entsetzen starrte er auf Hales Leiche hinab.
»Oh mein Gott!«, murmelte er. »Was ist passiert?«
KAPITEL 93
Die heilige Kommunion.
Hulohot bemerkte Becker sofort. Das Khakijackett war unverkennbar. In einem Meer von Schwarz bewegte es sich langsam den Mittelgang hinauf. Er hat nicht bemerkt, dass du hier bist.
Hulohot lächelte. Er ist ein toter Mann.
Die kleinen Kontakte an seinen Fingerspitzen wirbelten. Er wollte seinem amerikanischen Kontaktmann die gute Nachricht nicht länger
vorenthalten. Bald, dachte er, sehr bald.
Wie ein Jäger, wenn ihm der Wind im Rücken steht, zog sich Hulohot in den Eingangsbereich der Kathedrale zurück, um von dort sein Wild erneut zu beschleichen — schnurstracks den Mittelgang empor. Er hatte keine Lust, Becker in der Masse der Kirchgänger aus der Kathedrale entkommen zu lassen und ihn womöglich erneut aufspüren zu müssen. Durch eine glückliche Wendung saß sein Opfer in der Falle. Hulohot musste sich nur noch eine geeignete Methode überlegen, um Becker geräuschlos zu eliminieren, aber sein Schalldämpfer, das Beste, was es auf dem Waffenmarkt zu kaufen gab, würde das Schussgeräusch auf die Lautstärke eines trockenen
Hustens reduzieren.
Hulohot verringerte die Distanz zum Khakijackett. Er beachtete nicht den leise gemurmelten Protest gegen seine Drängelei. Man hatte zwar Verständnis dafür, dass dieser Mann so eifrig darauf versessen war, den Leib des Herrn zu empfangen, aber es galt auch, das
Protokoll zu wahren – zwei Schlangen, eine rechts für die Männer, eine links für die Frauen, und immer schön der Reihe nach!
Die Hand um den Griff seiner Waffe in der Jackentasche gespannt, arbeitete Hulohot sich leise näher heran. Endlich war es so weit. Bislang hatte David Becker unverschämt viel Glück gehabt. Hulohot
hatte nicht vor, ihm noch einmal eine Chance zu geben.
Das Khakijackett war jetzt nur noch zehn Leute vor ihm. Sein Träger stand mit gesenktem Kopf nach vorne gewandt. Hulohot spielte den Anschlag noch einmal durch – eine klare Sache: Von hinten dicht an Becker herantreten, ihn aus verborgen gehaltener Waffe zweimal von tief unten nach oben in den Rücken schießen, den Arm um den Zusammensinkenden schlingen und ihn in gespielter Hilfsbereitschaft wie einen guten Freund auf der nächsten Bank absetzen. Dann schnell den Ring abziehen und, als gälte es eilends Hilfe zu holen, nach hinten zum Ausgang laufen. In dem zu erwartenden Durcheinander war Hulohot auf und davon, bevor
jemand begriffen hatte, was geschehen war.
Noch fünf Leute ... vier ... drei.
Hulohot betastete die Waffe in seiner Tasche. Er würde Becker in Hüfthöhe von unten nach oben in den Rücken schießen. Auf diese Weise würde die Kugel das Rückgrat zerschmettern und auf dem Weg nach oben entweder Herz oder Lunge treffen. Selbst, wenn sie das Herz verfehlte, war Becker ein todgeweihter Mann. Auch ein
Lungenschuss war tödlich.
Noch zwei ... einer. Dann war Hulohot am Ziel. Wie ein Tänzer, der eine tausendmal geprobte Bewegung ausführt, glitt er nach rechts.
Er legte die Hand auf die Schulter des Khakijacketts, zielte ... und
schoss. Man hörte ein zweifaches trockenes Hüsteln.
Das Opfer versteifte sich und fiel in sich zusammen. Noch bevor sich auf dem Rücken des scheinbar Ohnmächtigen der erste Blutfleck
bilden konnte, hatte ihm Hulohot unter die Arme gegriffen und ihn mit einem flüssigen Schlenker auf der ersten Bank abgesetzt. Ein paar in unmittelbarer Nähe stehende Leute wandten den Kopf. Hulohot achtete nicht darauf, war er doch schon so gut wie fort.
Er betastete hastig die leblose Hand nach dem Ring. Die Finger waren nackt. In seiner Ungeduld riss er den Mann am Arm. Der Kopf
fiel nach hinten. Der Schrecken fuhr Hulohot in alle Glieder. Es war nicht David Becker!
Rafael de la Muza, ein kleiner Bankangestellter aus der Altstadt von Sevilla, war fast augenblicklich tot. Seine Hand umklammerte noch die Geldscheine, die ihm der Fremde für sein schäbiges
schwarzes Jackett gegeben hatte.
KAPITEL 94
Midge Milken stand am Eingang des Konferenzsaals am Wasserspender. Sie kochte. Was zum Teufel geht in Fontaines Kopf vor? Sie zerknüllte den Pappbecher und schmiss ihn in den Abfalleimer. In der Crypto ist was faul! Das hab ich im Urin! Wenn sie beweisen wollte, dass sie Recht hatte, gab es nur eines: Sie musste selbst in der Crypto nachschauen. Zusammen mit Jabba, wenn nötig.
Sie drehte sich auf dem Absatz um und strebte zur Tür.
Wie aus dem Nichts stand auf einmal Brinkerhoff vor ihr und vertrat ihr den Weg. »Wo willst du hin?«
»Nach Hause!«, fauchte Midge.
Brinkerhoff wich nicht von der Stelle.
Midge sah ihn finster an. »Fontaine hat gesagt, du sollst mich nicht rauslassen, richtig?«
Brinkerhoff blickte unbestimmt ins Weite.
»Mensch, Chad, glaub mir doch, in der Crypto ist was faul ... oberfaul! Ich weiß nicht, warum Fontaine sich dumm stellt, aber der TRANSLTR ist in Gefahr. Da unten ist heute Nacht die Kacke am
Dampfen!«
»Midge«, sagte Chad begütigend und ging zu der vorhangverhangenen Fensterfront des Konferenzsaals, »wir sollten
uns da lieber raushalten. Soll sich doch der Chef darum kümmern.«
Midges Blick wurde härter. »Chad, hast du überhaupt eine Ahnung, was passiert, wenn die Kühlung vom TRANSLTR
schlappmacht?«
Brinkerhoff war an der Fensterfront angekommen. Er zuckte die Achseln. »Inzwischen ist die Stromversorgung wahrscheinlich sowieso schon wieder normal«, sagte er. Er zog die Vorhänge ein
Stück weit auf und sah hinaus.
»Immer noch dunkel, nicht wahr?«, sagte Midge.
Brinkerhoff blieb ihr die Antwort schuldig. Er war wie gelähmt. Die Szenerie unten in der Crypto war jenseits jeder Vorstellung. Die ganze Kuppel war von zuckenden Blinklichtern und wirbelnden Dampfschwaden erfüllt. Brinkerhoff stand wie angewurzelt. Benommen lehnte er sich gegen das Glas. Plötzlich wurde er wieder lebendig. Wie von der Tarantel gestochen rannte er nach draußen.
»Herr Direktor! Herr Direktor!«
KAPITEL 95
Ein paar Leute umstanden den zusammengesunkenen Mann in der ersten Bank. Über ihren Köpfen schwang das Rauchfass friedlich hin und her. Nach links und rechts spähend, lief Hulohot den Mittelgang hinunter. Er muss doch hier sein! Hulohot wandte sich wieder nach
vorne zum Altar.
Dreißig Bankreihen vor ihm wurde nach wie vor die Kommunion ausgeteilt. Padre Gustaphes Herrera, der Hauptzelebrant mit dem Kelch, warf einen neugierigen Blick nach rechts auf die Bank, wo eine kleine Unruhe entstanden war, aber er war nicht irritiert. Manche Gläubige, vor allem ältere, wurden gelegentlich vom Heiligen Geist überkommen und fielen in Ohnmacht. Ein bisschen Frischluft, und sie
waren schnell wieder auf den Beinen.
Hulohot befand sich immer noch fieberhaft auf der Suche. Von Becker war nirgendwo eine Spur zu entdecken. An der langen Kommunionbank vor dem Altar knieten an die hundert Menschen. Falls einer davon David Becker gewesen wäre, hätte Hulohot einen Schuss aus fünfundvierzig Metern riskiert und den Rest im
Sprinttempo erledigt.
Unter den missbilligenden Blicken der zum Empfang der heiligen Kommunion anstehenden Gläubigen hatte Becker sich an die Kommunionbank gedrängt. Der fromme Eifer des Fremden war verständlich, aber das war kein Grund, sich derart ungestüm
vorzudrängen.
Mit gesenktem Kopf kniete Becker sich hin. Hinter sich spürte er eine gewisse Unruhe, eine Störung der Andacht. Er dachte an den Mann, dem er sein Jackett verkauft hatte. Hoffentlich hatte er die Warnung beherzigt und die helle Jacke nicht angezogen. Becker hätte gern einen Blick nach hinten riskiert, wagte es aber nicht – aus Furcht, die Nickelbrille könnte ihm ins Gesicht starren. Hoffentlich war die neue schwarze Jacke hinten lang genug, um die helle Khakihose zu
verdecken. Er machte sich so klein wie möglich.
Von rechts kam der Kelch schnell näher. Die Leute ließen sich die Hostie auf die Zunge legen, bekreuzigten sich, standen auf und gingen. Nicht so schnell! Becker hatte es durchaus nicht eilig, von der Kommunionbank zu verschwinden. Aber wenn zweitausend Menschen die Kommunion empfangen wollten, die von lediglich acht Priestern gespendet wurde, war es schon sehr ungehörig, aus dem
Empfang der Hostie eine umständliche Prozedur zu machen.
Als der Kelch rechts neben Becker angelangt war, hatte Hulohot die hellen Khakihosen erspäht. »Estás ya muerto«, zischte er leise, während er den Mittelgang nach vorne trabte. »Du bist so gut wie tot.« Jetzt war kein Fingerspitzengefühl mehr gefragt. Zwei Schüsse in den Rücken, den Ring gepackt und ab! Der größte Taxistand von Sevilla war noch nicht einmal eine Straßenecke weiter an der Calle
Mateus Gago. Er griff nach der Waffe.
Adiós, señor Becker ...
El cuerpo de Jesús, el pan del cielo. Der Leib Jesu, das Brot des Himmels.
Der glänzende Silberkelch in Pater Herreras Händen senkte sich herab. Becker beugte sich vor. Als der polierte Kelch seine Augenhöhe passierte, sah er in der spiegelnden Wölbung undeutlich
eine ins Unförmige verzerrte Gestalt von hinten an sich herantreten.
Wie ein Hundertmeterläufer beim Startschuss schnellte Becker hoch und flog im Hechtsprung über die Kommunionbank. Der Pater prallte entsetzt zurück. Der Silberkelch segelte durch die Luft, ein Hostienregen ergoss sich auf den weißen Marmor. Priester und Messdiener stoben auseinander. Ein Schuss hustete aus dem Schalldämpfer und fuhr neben dem hart aufkommenden Becker spritzend in den Marmorboden. Sekundenbruchteile später stolperte Becker drei Granitstufen in das valle hinunter, einen schmalen Zugang
zum Altarraum, der es den Geistlichen gestattete, gleichsam durch die Gnade Gottes emporgehoben neben dem Altar aus dem Boden zu
wachsen.
Am Fuß der Stufen glitt Becker aus und ging zu Boden. Er landete auf der verwundeten Seite und schlidderte unkontrolliert über den polierten Steinboden. Ein qualvoller Schmerzblitz zuckte durch seine Eingeweide. Er rappelte sich hoch, taumelte durch einen Vorhang in
einen Gang und gleich darauf ein paar hölzerne Stufen hinunter.
Becker rannte durch die Ankleide einer Sakristei. Es war dunkel. Vom Altarraum drang wüstes Geschrei herunter. Laute Fußtritte polterten hinter ihm her. Becker platzte durch eine Doppeltür und stolperte in eine Art Studierzimmer, einen düsteren, mit dicken Orientteppichen und glänzenden Mahagonimöbeln ausgestatteten Raum. An der gegenüberliegenden Wand hing ein lebensgroßes
Kruzifix. Taumelnd hielt Becker inne. Eine Sackgasse.
Er hörte schnell näher kommende Schritte. Becker starrte das Kruzifix an.
»Verdammt nochmal!«, schrie er.
Zu seiner Linken hörte er ein Räuspern. Er fuhr herum. Ein geistlicher Würdenträger in roter Robe hob den Blick aus seinem
Brevier und sah Becker entgeistert an.
»jSalida!«, schrie Becker. »Der Ausgang!«
Kardinal Guerra reagierte prompt. Ein Dämon war zu einem leider höchst unpassenden Zeitpunkt in seine geheiligte Kammer eingebrochen und flehte kreischend um Entlassung aus dem Hause Gottes - ein Begehren, dem Guerra ebenso umgehend wie mühelos
nachzukommen vermochte.
Der Kardinal deutete auf einen Vorhang links an der Wand, hinter dem sich eine Tür verbarg, die direkt auf den Hof hinausführte. Er hatte sie vor drei Jahren in die Mauer brechen lassen, nachdem er es leid geworden war, die Kathedrale wie ein gewöhnlicher Sünder durch
das Hauptportal betreten zu müssen.
KAPITEL 96
Susan war völlig durchnässt. Zitternd kuschelte sie sich in die
Polster der Couch von Node 3 . Strathmore breitete fürsorglich sein Jackett über sie. Wenige Meter entfernt lag Hales Leiche. Die Alarmhörner plärrten. Das Gehäuse des TRANSLTR gab ein scharfes Knacken von sich. Es klang wie tauendes Eis auf einem zugefrorenen
Teich.
»Ich werde jetzt hinuntersteigen und den Strom abschalten«, sagte Strathmore und legte Susan aufmunternd die Hand auf die Schulter.
»Bin gleich wieder da.«
Der Commander eilte durch die Kuppel davon. Susan sah ihm mit abwesendem Blick hinterher. Der Schockzustand, in dem sie diesen Mann noch vor zehn Minuten erlebt hatte, war wie weggeblasen.
Commander Trevor Strathmore war wieder der Alte – rational, Herr
seiner Gefühle und fähig, situationsgerecht zu handeln.
Die letzten Worte von Hales Abschiedsbrief brausten durch Susans Hirn wie ein außer Kontrolle geratener D-Zug. Ganz besonders bedauere ich die Sache mit David Becker. Susan, bitte vergib mir. Der
Ehrgeiz hat mich blind gemacht.
Susans schlimmste Befürchtungen hatten sich bestätigt. David drohte Gefahr ... oder Schlimmeres. Vielleicht war es schon zu spät.
Sie betrachtete den Abschiedsbrief. Hale hatte ihn noch nicht
einmal unterschrieben. Er hatte lediglich seinen Namen darunter getippt: Greg Hale. Nachdem er sich schriftlich ausgekotzt hatte, hatte er den Druckbefehl gegeben und sich erschossen – einfach so. Hale hatte seinen Schwur gehalten, nie wieder ins Gefängnis zu gehen, und
lieber den Tod gewählt. »David ...«, schluchzte Susan. David!
Zur gleichen Zeit trat Commander Strathmore von der Einstiegsleiter auf die drei Meter unter dem Kuppelboden aufgehängte oberste Arbeitsplattform. Der heutige Tag hatte ihm ein Fiasko nach dem anderen beschert. Was als patriotischer Feldzug begonnen hatte, war mittlerweile zu einer wilden Schleuderpartie ausgeartet. Der Commander hatte sich zu unmöglichen Entscheidungen und scheußlichen Taten gezwungen gesehen – zu Taten, die er sich selbst
nicht zugetraut hätte.
Aber es war eine Lösung! Sogar die einzig gangbare Lösung, verdammt nochmal!
Schließlich hatte er Pflichten, denen er genügen musste: Ehre und Vaterland! Strathmore wusste, es war noch nicht zu spät. Noch konnte er den TRANSLTR abschalten. Noch konnte er mit Hilfe des Rings die wertvollste Datenbank des Landes retten. Ja, dachte Strathmore,
es ist noch nicht zu spät.
Er blickte in das Chaos um ihn herum. Die Sprinkleranlage war angesprungen. Der TRANSLTR stöhnte, die Alarmhörner blökten. Die rotierenden Warnlichter sahen aus wie im dichten Nebel anfliegende Helikopter. Bei seinem Gang nach unten verfolgte Strathmore der flehende Blick des jungen Kryptographen, der ihn vom Boden angestarrt hatte – und dann der Schuss. Aber Greg Hale war
für Ehre und Vaterland gestorben ... Die NSA konnte sich einfach keinen weiteren Skandal mehr leisten. Strathmore hatte sich einen Sündenbock suchen müssen – und war Greg Hale nicht ohnehin eine
wandelnde Katastrophe auf Abruf gewesen?
Strathmores Gedanken wurden jäh vom Piepsen seines Handys unterbrochen. Vor lauter Lärm hatte er es kaum gehört. Ohne
innezuhalten, riss er es aus der Gürteltasche. »Sprechen Sie!«
»Wo bleibt mein Key?«, erkundigte sich scharf eine Stimme.
»Wer spricht?«, schrie Strathmore in den Lärm.
»Numataka«, bellte es wütend zurück. »Sie haben mir den Schlüssel versprochen! Ich will Diabolus!«
»Es gibt kein Diabolus!«, sagte Strathmore brüsk.
»Was?«
»Es gibt keinen unentschlüsselbaren Algorithmus.«
»Aber natürlich gibt es den! Ich habe ihn doch im Internet gesehen. Meine Leute bemühen sich seit Tagen, ihn zu öffnen!«
»Das ist ein verschlüsselter Virus, Sie Idiot! Sie können von Glück sagen, dass Sie ihn nicht aufbekommen haben!«
»Aber...«
»Der Deal ist geplatzt!«, schrie Strathmore. »Ich bin nicht North Dakota. Es gibt überhaupt keinen North Dakota! Vergessen Sie, dass Sie den Namen je gehört haben!« Er stellte den Rufton ab und stopfte das Handy in die Gürteltasche zurück. Schluss mit den ewigen
Störungen!
Knapp zwanzigtausend Kilometer entfernt stand Tokugen Numataka wie betäubt an seinem Panoramafenster. Die Zigarre hing schlaff in seinem Mundwinkel. Das Geschäft seines Lebens hatte sich
soeben in Luft aufgelöst.
Strathmore stieg weiter nach unten. Der Deal ist geplatzt. Die
Numatech Corporation bekam keinen unknackbaren Algorithmus ... und die NSA kein Hintertürchen.
Strathmore hatte seinen Traum von langer Hand geplant. Seine Wahl war mit Bedacht auf Numatech gefallen. Die finanzstarke Numatech hätte einen sehr glaubwürdigen Sieger einer weltweiten
Auktion abgegeben. Kein Mensch hätte sich etwas dabei gedacht, wenn sie am Ende den Schlüssel bekam. Außerdem war kaum eine Gesellschaft denkbar, die weniger der Kumpanei mit der US-Regierung verdächtig gewesen wäre. Tokugen Numataka war ein Japaner von altem Schrot und Korn – er würde lieber den Tod als den Verlust der Ehre wählen. Die Amerikaner waren ihm verhasst. Er hasste ihre Essgewohnheiten, er hasste ihre Sitten und Gebräuche, und vor allem hasste er ihre dominierende Stellung auf den Softwaremärkten der Welt.
Strathmore hatte eine kühne Vision verfolgt – einen global verbindlichen internationalen Verschlüsselungsstandard mit einem Hintertürchen für die NSA. Er hatte sich danach gesehnt, seinen Traum mit Susan zu teilen und Seite an Seite mit ihr zu verwirklichen. Aber das war ausgeschlossen. Die Pazifistin Susan hätte Ensei Tankados Tod niemals gebilligt, auch wenn dieser Tod die zukünftige Rettung von Tausenden von Menschenleben bedeutete. Du bist selbst Pazifist, dachte Strathmore, nur leider kannst du es dir nicht erlauben,
dich entsprechend zu verhalten.
Für den Commander war von Anfang an klar gewesen, wen er auf Tankado ansetzen würde. Tankado hielt sich in Spanien auf- also kam nur Hulohot infrage. Der zweiundvierzigjährige portugiesische Söldner und Profikiller war die bevorzugte Wahl des Commanders. Hulohot war in Lissabon geboren und aufgewachsen, arbeitete schon seit Jahren für die NSA und hatte in ganz Europa Aufträge für sie erledigt. Der einzige Haken war seine Taubheit, was eine Kommunikation per Telefon unmöglich machte. Unlängst hatte Strathmore dafür gesorgt, dass Hulohot das neueste Spielzeug der NSA bekam, den Monocle-Computer. Strathmore hatte sich einen SkyPager gekauft und auf die gleiche Funkfrequenz eingestellt. Die Kommunikation mit Hulohot konnte seither völlig verzögerungsfrei
und ohne eine Spur zu hinterlassen erfolgen.
Die erste von Strathmore an Hulohot abgesetzte Anweisung hatte für Missverständnisse keinen Raum gelassen, zumal sie zuvor diskutiert worden war. Töten Sie Ensei Tankado. Verschaffen Sie sich den Schlüssel.
Strathmore hatte sich nie darum gekümmert, wie sein Killer seine Wundertaten ins Werk setzte. Hulohot hatte es jedenfalls wieder einmal geschafft. Tankado war tot, und die Behörden gingen davon aus, dass es ein Herzanfall gewesen war. Ein Bilderbuchmord – bis auf eine winzige Kleinigkeit: den schlecht gewählten Tatort. Zur Wahrung des Scheins war es natürlich erforderlich, dass Tankado vor Publikum das Zeitliche segnete, aber das Publikum hatte zu früh in das Geschehen eingegriffen. Hulohot hatte von der Bildfläche verschwinden müssen, bevor er den Toten nach dem Schlüssel durchsuchen konnte. Als sich der Staub gelegt hatte, war die Leiche
schon im Leichenschauhaus von Sevilla verschwunden.
Strathmore war wütend. Hulohot hatte zum ersten Mal einen Auftrag verpatzt – ausgerechnet als es ganz besonders darauf ankam, dass alles wie am Schnürchen lief. Der Commander musste den Key unbedingt haben, aber er wusste auch, dass er keinen gehörlosen Killer ins Leichenschauhaus von Sevilla schicken konnte. Der Fehlschlag wäre vorprogrammiert gewesen. Beim Nachdenken über seine Optionen hatte sich allmählich eine Alternative herauskristallisiert. Auf einmal sah er die Chance, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen – die Chance, zwei Träume statt nur einen
einzigen zu verwirklichen.
Um halb sieben in der Frühe hatte er David Becker angerufen.
KAPITEL 97
Fontaine kam in vollem Lauf in den Konferenzraum gestürmt. Brinkerhoff und Midge folgten ihm auf dem Fuß.
»Sehen Sie!«, keuchte Midge und deutete gestikulierend zum Fenster.
Beim Anblick des Lichtergeflackers in der Cryptokuppel bekam Fontaine große Augen. Das gehörte eindeutig nicht zum Plan.
»Sieht aus wie eine gottverdammte Disco!«, ließ sich Brinkerhoff vernehmen.
Fontaine starrte zum Fenster hinaus und versuchte, sich einen Reim auf die Situation zu machen. In den paar Jahren, die der TRANSLTR nun schon in Betrieb war, war so etwas noch nie vorgekommen. Er wird zu heiß, dachte Fontaine. Er fragte sich, warum Strathmore das Ding nicht schon längst abgeschaltet hatte. In
Sekundenschnelle hatte Fontaine entschieden, was zu tun war.
Er schnappte sich das Haustelefon vom Konferenztisch und hieb die Durchwahl zur Crypto ins Tastenfeld. Als Antwort tutete das
Störsignal aus dem Hörer.
Er knallte den Apparat auf den Tisch, griff aber sofort wieder danach und wählte Strathmores Handynummer. Diesmal erhielt er ein
Rufzeichen.
Es hatte schon sechsmal geklingelt.
Brinkerhoff und Midge beobachteten Fontaine. Er tigerte am kurzen Hörerkabel hin und her wie eine angekettete Raubkatze. Eine Minute verstrich. Fontaine stand inzwischen kurz vor dem Platzen.
Er schmiss den Hörer hin. »Das ist unglaublich!«, brüllte er. »Die Crypto kann uns jeden Moment um die Ohren fliegen, und Strathmore
geht noch nicht einmal an sein vermaledeites Telefon!«
KAPITEL 98
Hulohot stürmte aus Kardinal Guerras Gemach hinaus ins blendende Licht der Morgensonne. Fluchend beschirmte er die Augen. Er stand neben der Kathedrale in einem Innenhof, der von einer hohen Mauer, der Westfassade des Giraldaturms und zwei schmiedeeisernen Gitterzäunen begrenzt wurde. Der Platz war leer, das Tor zum Vorplatz der Kathedrale offen. Im Hintergrund war das Gemäuer von Santa Cruz zu sehen. Becker konnte unmöglich in so kurzer Zeit bis dorthin gelangt sein. Hulohot wandte seine Aufmerksamkeit wieder
dem Innenhof zu. Er ist hier. Er kann nur hier sein!
Dieser Innenhof, der Patio de los Naranjos, war in ganz Sevilla wegen seiner zwanzig blühenden Orangenbäume berühmt. Die Bäume galten in Sevilla als der Ursprungsort der bekannten englischen Orangenmarmelade. Im achtzehnten Jahrhundert hatte angeblich ein englischer Kaufmann dem Domkapitel von Sevilla eine halbe Tonne Orangen abgekauft und nach London verfrachtet, wo er die Früchte wegen ihres bitteren Geschmacks ungenießbar fand. Er versuchte, daraus Marmelade zu kochen, aber weil er die Schalen mitverwendet hatte, musste er zentnerweise Zucker zusetzen, um den Sud genießbar zu machen – und die berühmte englische Orangenmarmelade war
geboren.
Mit erhobener Waffe strich Hulohot durch den Orangenhain. Die
Bäume waren alt, das Blattwerk begann erst weit oben. Schon die untersten Äste waren unerreichbar, und die dünnen Stämme boten keine Deckung. Der Patio war leer, das hatte Hulohot schnell
begriffen. Er sah nach oben. Die Giralda.
Der Eingang zum Wendeltreppenaufgang des Turmes war durch eine dicke Kordel mit einem hölzernen Täfelchen versperrt. Kordel und Täfelchen hingen bewegungslos. Hulohots Blick wanderte den dreiundneunzig Meter hohen Turm hinauf. Der Gedanke war einfach lächerlich. So viel Blödheit war Becker nicht zuzutrauen. Die Wendeltreppe wand sich hinauf zu einer viereckigen Turmkammer
mit Aussichtsöffnungen, von der aus es nicht mehr weiterging.
David Becker erklomm die letzten Stufen der steilen Wendeltreppe und stolperte atemlos in eine kleine Aussichtskammer. Hohe Mauern
mit schmalen Sehschlitzen umschlossen ihn. Nirgendwo ein Ausgang.
Das Schicksal hatte es mit ihm in den letzten Minuten nicht gut gemeint. Als er in den offenen Hof hinausgeflitzt war, hatte sich die Tasche seines schäbigen Jacketts in der Türklinke verfangen. Der Stoff war zwar sofort ausgerissen, aber der Ruck hatte Becker nach rechts aus der Bahn geschleudert. Um sein Gleichgewicht ringend, war er ins blendende Sonnenlicht getaumelt und auf ein Treppenhaus zugerannt. Er war über die Absperrkordel gesprungen und einfach weitergelaufen. Als er merkte, wohin die Treppe führte, war es schon
zu spät.
Becker stand wie in einer Zelle eingesperrt und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Die Morgensonne flutete in schmalen Lichtbündeln durch die Wandschlitze herein. Becker schaute hinaus. Tief unten stand der Mann mit der Nickelbrille mit dem Rücken zum Turm und starrte auf die Plaza. Becker veränderte seine Position. So hatte er einen besseren Blick. Und jetzt mach, dass du fortkommst!,
versuchte er seinen Verfolger zu beschwören. Mach schon, hau ab!
Wie der Stamm eines gefällten Mammutbaums lag der Schatten der Giralda quer über der Plaza. Hulohot schaute die dunkle Schattensäule entlang. Am Ende, wo das Licht durch die Aussichtsöffnungen quer durch die Turmkammer drang, zeichneten sich auf dem Kopfsteinpflaster drei schmale helle Vierecke ab. In einem dieser hellen Vierecke hatte sich soeben der Schatten eines Mannes bewegt. Ohne auch nur eine Sekunde zum Turm hinaufzuschauen, wirbelte Hulohot herum und stürmte zur
Wendeltreppe der Giralda.
KAPITEL 99
Fontaine hieb die Faust in die offene Handfläche. Er ging im Konferenzraum auf und ab und schaute immer wieder hinüber zum Lichtergeflacker in der Cryptokuppel. »Programm abbrechen!
Abbrechen, verdammt nochmal!«, rief er beschwörend.
Midge erschien auf der Schwelle und wedelte mit einem frischen Ausdruck. »Sir, Strathmore kann keinen Abbruch vornehmen!«
»Wie bitte?« Brinkerhoff und Fontaine schnappten unisono nach Luft.
»Er hat es bereits versucht, Sir.« Midge hielt ihren Ausdruck hoch. »Viermal schon. Der TRANSLTR hängt in einer Programmschleife
fest!«
Fontaine fuhr herum und starrte wieder zum Fenster hinaus. »Oh, mein Gott!«
Das Telefon schrillte. »Na endlich!«, atmete Fontaine auf. »Das muss Strathmore sein. Wird aber auch Zeit!«
Brinkerhoff nahm ab. »Büro des Direktors«, meldete er sich.
Fontaine streckte die Hand aus, um sich den Hörer geben zu lassen, doch Brinkerhoff sah ihn unsicher an und wandte sich an
Midge. »Jabba ist dran. Er möchte dich sprechen.«
Fontaine sah Midge befremdet an, die schon auf dem Weg zum Telefonapparat war und die Lautsprechertaste drückte. »Jabba, leg
los.«
Jabbas Stimme plärrte metallisch in den Raum. »Midge, ich bin jetzt unten in der Datenbank. Wir kriegen hier ein paar komische
Sachen angezeigt. Ich wollte nur wissen, ob du vielleicht ...«
»Verdammt nochmal, Jabba! Was habe ich dir die ganze Zeit in dein dämliches Hirn zu prügeln versucht?« Midge geriet richtig in
Fahrt.
»Es muss nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben«, sagte Jabba hinhaltend, »aber ...«
»Hör mir bloß auf mit ›nicht unbedingt‹! Bei uns gibt es kein ›nicht unbedingt‹! Egal, was du da unten angezeigt bekommst, nimm es gefälligst ernst, sehr ernst! Übrigens: In meinen Daten ist kein Wurm — ist nie einer gewesen und wird auch nie einer sein!« Sie machte Anstalten einzuhängen, hielt aber inne. »Ach, Jabba, nur der
Vollständigkeit halber: Strathmore hat deinen Gauntlet umgangen.«
KAPITEL 100
Hulohot rannte die Wendeltreppe der Giralda hoch. Das einzige Licht kam durch schmale fensterlose Öffnungen herein, die nach jeder halben Drehung in die Mauer gebrochen waren. Er sitzt in der Falle! David Becker wird sterben! Mit gezogener Pistole schraubte Hulohot sich an der Außenseite der Treppe zügig nach oben. An jedem Treppenabsatz hingen lange schmiedeeiserne Kerzenhalter an der Wand, die eine gute Waffe abgegeben hätten, falls Becker einen Angriff riskieren sollte. Aber von der Außenseite der Treppe her konnte Hulohot den Gegner früh genug erkennen – und seine Pistole hatte eine größere Reichweite als die anderthalb Meter, die ein solcher
Kerzenhalter lang war.
Rasch, aber vorsichtig bewegte sich Hulohot nach oben. Die Treppe war sehr steil. Touristen waren hier schon zu Tode gekommen. Man war eben nicht in Amerika – kein Handlauf, keine Warnschilder, keine Hinweise auf etwaige Risiken. Wer hier stürzte, war selber
schuld.
An einer der schulterhohen Wandöffnungen hielt Hulohot inne und schaute hinaus. Er befand sich an der Nordflanke des Turms und nach
der Aussicht zu schließen inzwischen weit über der halben Höhe.
Der Rest des Treppenhauses bis zur Mündung der Treppe in die Aussichtskammer kam ins Blickfeld. Es war leer. David Becker hatte
auf einen Angriff verzichtet. Womöglich war ihm sogar entgangen, dass Hulohot in den Turm gerannt war – und das hieß, dass Hulohot das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte. Nicht, dass er es gebraucht hätte, sämtliche Trümpfe waren ohnehin in seiner Hand. Selbst die Bauart des Turms kam ihm entgegen. Von der südwestlichen Ecke der Aussichtskammer, wo die Treppe mündete, hatte Hulohot freies Schussfeld in jeder Richtung. Becker konnte unmöglich in seinen Rücken gelangen. Und obendrein kam Hulohot aus dem Dunkeln ins Helle. Eine richtige Hinrichtungskammer, freute er sich.
Bis zum Treppenende waren es noch sieben Stufen. Ein letztes Mal spielte er Beckers Liquidierung durch. Wenn er zur Innenseite wechselte, konnte er die äußere linke Ecke der Kammer einsehen, bevor er ganz oben war. Falls Becker dort stand, konnte er ihn sofort erledigen, falls nicht, würde er zur Außenseite wechseln, von wo er nach einem schnellen Sprung in die Kammer die rechte Seite unter Beschuss nehmen konnte, wo Becker dann notgedrungen stehen
musste. Hulohot lächelte.
ZIELPERSON: DAVID BECKER – ELIMINIERT
Es war so weit. Er überprüfte die Waffe.
Mit ein paar energischen Sprüngen jagte er die restlichen Stufen nach oben. Die Aussichtskammer kam ins Blickfeld. Die linke Ecke war leer. Hulohot wechselte plangemäß nach links, sprang nach rechts aus der Wendeltreppe heraus und schoss in die rechte Ecke. Das Geschoss prallte am nackten Mauerwerk ab. Der Querschläger verfehlte ihn nur um ein Haar. Mit einem krächzenden Aufschrei wirbelte Hulohot um die eigene Achse. Niemand da. Becker war
verschwunden.
Wie ein Mann, der sich am Fensterbrett mit Klimmzügen ertüchtigt, hing David Becker drei Stockwerke tiefer ungefähr sechzig Meter über dem Patio de los Naranjos außen an der Giralda. Hulohot
war noch nach oben unterwegs, als Becker drei Wendel weit herabgerannt war, sich gerade noch rechtzeitig durch eine Fensteröffnung geschoben und außen herabgelassen hatte. Der Killer war unmittelbar darauf vorbeigehastet, hatte es aber viel zu eilig gehabt, um die von außen an den Sims geklammerten weißen Knöchel zu bemerken.
Becker dankte Gott, dass sein tägliches Squash-Trainingsprogramm auch zwanzig Minuten an der Nautilus-Maschine zur Stärkung des Bizeps für einen härteren Aufschlag umfasste. Doch ungeachtet seiner kräftigen Arme hatte er nun die größte Mühe, sich
wieder ins Innere zu ziehen. Seine Schultern brannten. Seine Seite fühlte sich an, als würde sie Stück für Stück auseinander gerissen. Der roh behauene Sims bot zwar Halt, aber die Kanten schnitten ihm wie
Glasscherben in die Finger.
Beckers Verfolger konnte jeden Moment wieder von oben heruntergerannt kommen – und von oben würden ihm die an den
Fenstersims geklammerten Finger kaum entgehen.
Becker schloss die Augen und spannte die Muskeln. Er wusste, dass er dem Tod jetzt nur noch durch ein Wunder von der Schippe springen konnte. Seine Finger verloren allmählich den Halt. Er schaute an seinen baumelnden Beinen entlang nach unten. Über die Länge eines knappen Fußballfelds ging es senkrecht nach unten. Diesen Absturz konnte keiner überleben. Der Schmerz in seiner Seite wurde schlimmer. Schritte dröhnten über ihm auf derTreppe. Becker kniff die Augen zusammen. Jetzt oder nie! Mit zusammengebissenen
Zähnen machte er einen Klimmzug, was das Zeug hielt.
Rauer Stein schürfte über seine Handgelenke. Die Schritte kamen schnell näher. Becker konnte die Innenseite der Brüstung packen. Sein Körper kam ihm vor wie aus Blei. Es gelang ihm, sich auf die Ellbogen hochzustemmen. Er war jetzt völlig ungedeckt. Sein Kopf ragte durch die Fensteröffnung ins Treppenhaus wie das Haupt eines Mannes auf der Guillotine. Schlangelnd arbeitete er sich weiter in die Öffnung. Die Schritte waren ganz nah. Er war jetzt zur Hälfte durch
und hing mit dem ganzen Oberkörper über der Treppe. Er stemmte die Arme gegen die Flanken der Maueröffnung, hievte den Rest des Körpers ins Turminnere und landete hart auf den Stufen.
Hulohot entging nicht, dass Becker einen Wendel tiefer auf die Treppe fiel. Mit gezogener Pistole sprang er voran. Eine Fensteröffnung schwang ins Blickfeld. Als Hulohot zur Außenseite der Wendeltreppe wechselte und nach unten zielte, sah er Becker gerade noch um die Kurve flitzen. Enttäuscht drückte er ab. Die Kugel
jaulte als Querschläger das Treppenhaus hinunter.
Um ein größtmögliches Blickfeld zu haben, rannte Hulohot an der Außenwand weiter. Becker schien stets knapp außer Sichtweite eine ganze Umdrehung vor ihm zu liegen. Er hatte die Innenseite gewählt, wo er wegen der Verkürzung der Tritte jeweils vier bis fünf Stufen auf einmal nehmen konnte, aber Hulohot ließ sich nicht abhängen. Ein einziger Schuss würde genügen. Hulohot konnte ein klein wenig aufholen. Becker war geliefert, selbst wenn er es bis ganz nach unten schaffen sollte, denn wohin hätte er laufen sollen, wenn nicht auf den offenen Patio hinaus, wo ihn Hulohot immer noch von hinten erschießen konnte? Der verzweifelte Wettlauf schraubte sich nach
unten.
Hulohot wechselte zur schnelleren Innenseite. Jedes Mal, wenn eine Fensteröffnung kam, sah er Beckers Schatten. Plötzlich hatte Hulohot den Eindruck, dass Becker ins Stolpern geraten war. Der Schatten machte einen unvermuteten Ausfall nach rechts, schien sich mitten in der Luft zu drehen und schnellte wieder zurück zur
Innenseite. Triumphierend sprang Hulohot voran. Du hast ihn!
Um die Spindel herum blitzte etwas Metallenes auf. Wie ein Degenstoß fuhr es in Knöchelhöhe durch die Luft. Hulohot versuchte nach rechts auszuweichen, doch zu spät. Der Gegenstand geriet ihm zwischen die Beine und schlug hart gegen sein Schienbein. Seine Arme schnellten Halt suchend vor, aber sie griffen ins Leere. Er
machte einen Salto durch die Luft.
Hulohot stürzte über den bäuchlings an die Stufen geklammerten David Becker hinweg und krachte gegen die Mauer. Er prallte ab und begann eine unaufhaltsame Schussfahrt den steilen Treppenschacht hinunter. Kerzenhalter und Pistole schepperten hinterher. Nach fünf kompletten Wendeldrehungen fand Hulohots Höllenfahrt ein Ende, und er blieb regungslos liegen. Noch zwölf Stufen, und er wäre auf
dem Patio gelandet.
KAPITEL 101
David Becker hatte noch nie eine Pistole in der Hand gehabt. Er presste den Lauf der Waffe an die Schläfe des Attentäters, der zerschunden und verrenkt in der Düsternis des Treppenhauses der Giralda lag. Bei der geringsten Bewegung hätte er abgedrückt, aber
der Mörder rührte sich nicht mehr. Hulohot war tot.
Becker ließ die Waffe sinken. Ermattet setzte er sich auf eine Stufe. Seit einer Ewigkeit spürte er zum ersten Mal wieder den Drang zu weinen, doch er kämpfte ihn nieder. Für Gefühle war später noch Gelegenheit. Jetzt war es an der Zeit, nach Hause zu gehen. Becker versuchte aufzustehen, aber er war viel zu erschöpft, um sich zu
bewegen. Lange hockte er auf der steinernen Wendeltreppe.
Geistesabwesend betrachtete er den verrenkten Leichnam. Die ins Ungewisse glotzenden Augen des Killers wurden allmählich starr. Merkwürdigerweise hatte er die Brille noch auf. Eine seltsame Brille, dachte Becker, mit diesem Draht, der da hinten aus dem Bügel kommt und zu diesem flachen Kästchen am Gürtel hinunterführt. Doch die
Erschöpfung war größer als seine Neugier.
Beckers Blick fiel auf den Ring an seinem Finger. Sein Sehvermögen war wieder einigermaßen zurückgekehrt. Endlich konnte er die Inschrift lesen. Wie vermutet, war sie nicht Englisch. Lange betrachtete er die eingravierten Buchstaben. Und dafür lohnt es
sich zu morden? Von der Morgensonne geblendet, trat Becker aus der Giralda in den Patio de los Naranjos hinaus. Die Schmerzen in seiner Seite hatten sich gelegt. Einen Augenblick lang hielt er wie betäubt inne und genoss den Duft der blühenden Orangenbäume. Langsam
setzte er sich über den Innenhof in Bewegung.
Als er den Patio hinter sich ließ, kam ein Lieferwagen mit quietschenden Reifen in der Nähe zum Stehen. Zwei Männer in militärischen Overalls sprangen heraus. Mit der Präzision eines
Uhrwerks marschierten sie heran.
»David Becker?«, schnarrte der eine.
Becker blieb wie angewurzelt stehen. Woher kennen die deinen Namen? »Wer ... wer sind Sie?«
»Bitte folgen Sie uns unverzüglich.«
Die Situation hatte etwas Irreales. Beckers Nerven begannen wieder zu flattern. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.
Der Jüngere der beiden sah ihn mit eisigem Blick an. »Mr Becker, bitte folgen Sie uns! Unverzüglich!«
Becker wandte sich zur Flucht. Er kam nur einen Schritt weit. Einer der Männer zog eine Waffe. Ein Schuss bellte.
Ein sengender Schmerzpfeil explodierte in Beckers Rücken und jagte hinauf in seinen Schädel. Seine Finger versteiften sich. Er ging
zu Boden, und alles wurde schwarz.
KAPITEL 102
Strathmore war auf dem Grund des Silos angekommen. Als er im ohrenbetäubenden Lärm der Alarmhörner von der Gittertreppe heruntertrat, stand er zwei Zentimeter tief im Wasser, das aus der Sprinkleranlage in großen Tropfen durch die wirbelnden Dunstschwaden herabregnete. Dicht neben ihm rumorte es laut in dem
riesigen Rechner.
Er schaute zum Hauptgenerator hinüber. Das Aggregat mit Phil Charturkians verschmorter Leiche sah aus wie eine perverse
Halloween-Dekoration.
Strathmore bedauerte den jungen Mann, aber er hatte seinen Tod in Kauf nehmen müssen. Charturkian hatte ihm keine andere Wahl gelassen. Als der Techniker völlig außer sich und unter lautem Geschrei über einen Virus nach oben gerannt gekommen war, hatte Strathmore ihn auf einem Treppenabsatz des Wartungssilos abgefangen und versucht, ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Aber Charturkian hatte vollkommen durchgedreht. Wir haben einen Virus!, hatte er gekreischt. Ich werde Jabba anrufen! Als er sich vorbeizudrängen versuchte, hatte Strathmore ihm auf dem schmalen Treppensteg den Durchgang verwehrt. Es war zu einem Handgemenge
gekommen, das Geländer war nicht besonders hoch ...
Schon komisch, dachte Strathmore. Charturkian hat mit seinem Virus von Anfang an Recht gehabt.
Der Absturz des Technikers hatte Strathmore das Blut in den Adern gefrieren lassen – erst der grässliche Schrei, dann die Stille. Aber es war bei weitem nicht so grauenhaft gewesen wie Strathmores nächste Entdeckung: Greg Hale hatte aus dem Halbdunkel entsetzt zu ihm emporgestarrt. In diesem Moment war ihm klar geworden, dass Greg Hale ebenfalls sterben musste.
Im TRANSLTR knisterte es. Strathmore wandte sich wieder der
vor ihm liegenden Aufgabe zu: Er musste den Strom abschalten! Der Notschalter befand sich links von der Leiche auf der anderen Seite der Kühlmittelpumpen. Strathmore konnte den Hebel deutlich erkennen. Wenn er ihn umlegte, war der restliche Strom auch noch abgeschaltet. Nach ein paar Sekunden Wartezeit brauchte er nur das Hauptaggregat wieder in Betrieb zu setzen. Das Kühlmittel würde wieder in ausreichender Menge strömen- der TRANSLTR war gerettet, und sämtliche Stromverbraucher einschließlich der Türen
wurden wieder vom Netz versorgt.
Aber zuvor galt es, ein letztes Hindernis zu beseitigen. Auf dem Hauptgenerator lag noch Charturkians Leiche. Sie musste vor der Inbetriebnahme des Aggregats entfernt werden, sonst würde es gleich
wieder zu einem Kurzschluss kommen.
Strathmore stapfte zu dem Generator. Er griff hoch und packte den grotesk verunstalteten Toten am Handgelenk. Das Fleisch fühlte sich an wie Styropor. Es hatte jegliche Gewebeflüssigkeit verloren und wirkte wie getoastet. Strathmore schloss die Augen, packte fest zu und zog. Die Leiche bewegte sich ein paar Zentimeter. Strathmore zerrte noch stärker. Wieder ein paar Zentimeter. Als er sich mit aller Macht ins Zeug legte, gab die Leiche plötzlich nach, und er fiel rückwärts gegen einen Schaltkasten. Mühsam setzte er sich in der steigenden Nässe auf. Er hatte etwas in der Hand. Entsetzt starrte Strathmore auf
den Unterarm, den er Charturkian abgerissen hatte.
Susan hockte oben in Node 3 auf der Couch und wartete. Sie war
wie gelähmt. Hales Leiche lag zu ihren Füßen. Während die Minuten verstrichen, fragte sie sich, was den Commander so lange aufhielt. Sie versuchte vergeblich, David aus ihren Gedanken zu verdrängen. Ganz besonders bedauere ich die Sache mit David Becker. Mit jedem Stoß der Alarmhörner hallte Hales letzter Satz in ihrem Kopf wider. Susan
dachte, sie müsste verrückt werden.
Sie wollte gerade aufspringen und in die Kuppel hinauslaufen, als sich endlich etwas tat. Strathmore hatte den Notschalter betätigt und
sämtliche Energiezufuhr abgeschaltet.
Plötzlich wurde es totenstill. Die Alarmhörner verstummten mitten im Krächzton. Der Monitor flackerte noch einmal und wurde schwarz. Hales Leiche verschwand in der Dunkelheit. Susan zog instinktiv die
Beine hoch und kroch tiefer unter Strathmores Jackett. Finsternis.
Stille.
Eine solche Grabesstille hatte Susan in der Cryptokuppel noch nie erlebt. Zumindest das Generatorgebrumm war immer zu hören gewesen. Aber jetzt gab es hier keinen Laut, nur das große Rechnermonstrum schien leise aufzuatmen, schien zischelnd und
knisternd langsam abzukühlen.
Susan schloss die Augen und betete für David. Es war ein schlichtes Gebet. Lieber Gott, beschütze den Mann, den ich liebe.
Susan war weder fromm noch gläubig. Sie rechnete nicht mit einer Antwort auf ihr Gebet, aber was war das? Es pochte sanft gegen ihre Brust! Sie schoss senkrecht hoch und griff sich ans Herz, verstand aber sogleich: Das war nicht die Hand Gottes – es war der Vibrationsruf des stumm geschalteten SkyPagers in der Innentasche von Strathmores Jackett! Eine Botschaft für Commander Strathmore
war angekommen.
Commander Strathmore stand sechs Stockwerke tiefer am Notschalter. Die Untermaschinerie der Cryptokuppel war jetzt dunkler als die schwärzeste Nacht. Strathmore hielt einen Augenblick inne und genoss die Finsternis. Regengüsse stürzten herab wie ein mitternächtliches Gewitter. Er legte den Kopf in den Nacken, um sich die Schuld von den warmen Tropfen abwaschen zu lassen. Du bist ein Überlebenskünstler. Er kniete nieder und wusch sich die letzten Reste
von Charturkians verdorrtem Fleisch von den Händen.
Sein Traum von Diabolus war gescheitert, aber damit konnte er sich mittlerweile abfinden. Das Einzige, was jetzt noch zählte, war Susan. Seit Jahrzehnten wurde ihm zum ersten Mal in aller Deutlichkeit bewusst, dass es im Leben mehr gab als Ehre und Vaterland. Für Ehre und Vaterland hast du die besten Jahre deines Lebens vertan! Und wo bleibt die Liebe? Viel zu lang hatte er sich selbst das Wesentliche versagt. Und wofür? Um zuzusehen, wie ein junger Professor ihm die Frau seiner Träume streitig machte? Strathmore hatte Susan unter seine Fittiche genommen und beschützt, jetzt würde er sie endlich auch besitzen dürfen – denn wohin hätte sie sich nun noch wenden sollen? Tief getroffen von ihrem Verlust, musste sie sich ihm zuwenden und in seinen Armen Zuflucht suchen. Und im Laufe der Zeit würde er ihr beweisen, dass die Liebe alle
Wunden heilt.
Ehre, Vaterland, Liebe – ein Dreiklang, dem David Becker geopfert werden musste.
KAPITEL 103
Der Commander entstieg der Einstiegsklappe wie der auferstandene Lazarus seinem Grabe. Ungeachtet seiner durchweichten Kleidung strebte er mit energischem Schritt seinem
Ziel entgegen, Node 3 – und Susan.
Die Cryptokuppel war wieder in Licht gebadet. Frische Kühlflüssigkeit durchströmte den überhitzten TRANSLTR wie sauerstoffreiches Blut und würde bald auch den letzten Winkel des Rechners erreicht haben. Es war nur noch eine Frage von Minuten, dann war die Selbstentzündung der überhitzten Prozessoren definitiv abgewendet. Strathmore war sicher, noch rechtzeitig eingegriffen zu
haben. Triumphierend stieß er die Luft aus.
Du bist ein Überlebenskünstler, dachte er. Er verschmähte den bequemen Weg durch das klaffende Loch in der Glaswand und betrat
Node 3 durch die zischend auseinander fahrenden Flügel der
automatischen Tür.
Susan stand nass und zerzaust in seinem Jackett vor ihm. Sie wirkte auf ihn wie ein in einen Wolkenbruch geratener Teenager, dem er fürsorglich etwas Trockenes zum Überziehen geliehen hatte. Seit Jahren fühlte er sich zum ersten Mal wieder jung. Sein Traum stand
vor der Erfüllung.
Als er sich Susan näherte, traf ihn ein eiskalter Blick. Er glaubte, in die Augen einer Unbekannten zu schauen. Alle Weichheit war von ihr abgefallen. Susan Fletcher stand starr und unbeweglich da wie eine
Statue. »Susan?« Eine Träne rollte über ihre bebende Wange herab.
»Was ist?«, sagte Strathmore in flehendem Ton.
Die Blutlache unter Hales Leiche hatte sich wie auslaufendes Öl über den Teppich verbreitet. Strathmore streifte zuerst den Toten und dann Susan mit einem unbehaglichen Blick. Weiß sie womöglich Bescheid? Nein, ausgeschlossen. Strathmore hatte sämtliche
Zeugnisse seiner Tat beseitigt.
Er trat einen Schritt näher. »Susan«, sagte er, »was ist denn?«
Sie rührte sich nicht.
»Machen Sie sich Sorgen wegen David?«
Ihre Oberlippe zitterte unmerklich.
Strathmore kam noch näher. Er wollte die Arme nach ihr ausstrecken, zögerte aber. Der Klang von Davids Namen hatte offenbar den Damm ihres Leids zum Bersten gebracht. Anfangs war da nur ein leichtes Zittern, ein Beben, aber dann schien eine gewaltige Woge des Grams über sie hinwegzurollen. Kaum noch fähig, die bebenden Lippen zu kontrollieren, öffnete Susan den Mund. Sie
wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
Ohne den Blick von Strathmore zu lösen, nahm sie die Hand aus der Tasche seines Jacketts und hielt ihm etwas entgegen.
Strathmore hätte sich nicht gewundert, in den Lauf der Beretta zu blicken. Aber die Pistole lag immer noch von Hales Hand umklammert auf dem Boden. Der Gegenstand, den Susan ihm
entgegenhielt, war kleiner. Strathmore starrte ihn an und begriff.
Der Mann, der viele Jahre siegreich gegen Giganten angetreten war, hatte sich von einem Augenblick zum anderen durch eigene
Torheit selbst demontiert, durch die Torheit des Verliebten. In einem Anfall von Kavalierssucht hatte er Susan sein Jackett gegeben –
mit dem SkyPager in der Tasche.
Jetzt war Strathmore derjenige, der erstarrte. Susans Hand zitterte.
Das Gerät entglitt ihrer Hand. Sie rannte aus Node 3 hinaus. Der
Ausdruck ihrer Augen, in dem sich fassungsloses Erstaunen und maßlose Enttäuschung mischten, brannte sich Strathmore unvergesslich ein.
Strathmore wich zurück. Wie in Zeitlupe bückte er sich und hob seinen Pager mit der Liste der gespeicherten Botschaften auf, die
Susan gelesen hatte:
ZIELPERSON: ENSEI TANKADO – ELIMINIERT
ZIELPERSON: PIERRE CLOUCHARDE – ELIMINIERT
ZIELPERSON: HANS HUBER – ELIMINIERT
ZIELPERSON: ROCÍO EVA GRANADA – ELIMINIERT
Die Liste ging weiter. Strathmore bekam es mit der Angst zu tun. Aber du kannst es doch erklären! Sie muss es einfach verstehen. Ehre! Vaterland! Doch am Ende kam eine Botschaft, die er noch nicht gesehen hatte. Eine Botschaft, für die es niemals eine Entschuldigung
geben konnte:
ZIELPERSON: DAVID BECKER – ELIMINIERT Strathmores Kopf sackte herab. Sein Traum war ausgeträumt.
KAPITEL 104
Susan taumelte aus Node 3 hinaus.
ZIELPERSON: DAVID BECKER – ELIMINIERT
Wie in Trance bewegte sie sich zum Haupteingang der Kuppel. Greg Hales Stimme hallte in ihrem Kopf wider. Susan, Strathmore
wird mich umbringen!
Am Portal angekommen, stocherte sie verzweifelt auf dem Tastenfeld für die Tormechanik herum. Sooft sie es auch versuchte, die mächtige rotierende Stahlscheibe rührte sich nicht. Der Stromausfall hatte offenbar die Codes im Speicher gelöscht. Susan
stöhnte auf. Sie saß nach wie vor in der Falle.
Ohne jede Vorwarnung schlossen sich von hinten zwei Arme um ihren halb betäubten Körper. Wieder dieses ekelhafte Gefühl, das sie bereits kannte. Auch ohne die brutale Kraft eines Greg Hale fehlte der
Umklammerung nicht die entschlossene Härte der Verzweiflung.
Als Susan sich umdrehte, schaute sie in ein ihr unbekanntes, von Angst und Hoffnungslosigkeit verzerrtes Gesicht.
»Susan«, flehte Strathmore, »ich kann alles erklären!«
Sie wollte weglaufen, wollte schreien, aber ihre Stimme versagte. Starke Hände hielten sie fest.
»Ich liebe dich!«, flüsterte Strathmore atemlos. »Bleib bei mir! Ich habe dich schon immer geliebt.«
Entsetzliche Bilder wirbelten durch Susans Kopf – Davids
strahlend grüne Augen, die sich zum letzten Mal schlossen, Greg Hales Leiche und das auf den Teppich sickernde Blut, der verkrümmte
und verbrannte Phil Charturkian auf dem Generator ... Susan drehte
sich der Magen um.
»Der Schmerz wird sich geben«, säuselte es in ihr Ohr. »Du wirst wieder lieben können.«
Susan hörte es noch nicht einmal.
»Bleib bei mir«, flehte die Stimme, »lass mich deine Wunden heilen.«
Susan versuchte, sich zu wehren – erfolglos.
»Ich habe es für dich getan. Wir sind doch füreinander bestimmt! Susan, ich liebe dich!« Die Worte flossen Strathmore über die Lippen, als hätte er zehn lange Jahre darauf gewartet, sie loszuwerden. »Ich
liebe dich! Ich liebe dich!«
Der zwanzig Meter entfernte TRANSLTR gab ein bösartiges Fauchen von sich. Es klang wie ein höhnischer Kommentar zu Strathmores schändlichen Liebesschwüren. Ein bislang noch nie gehörtes Geräusch, ein unheilschwangeres fernes Zischen schlängelte sich aus den Eingeweiden des Silos empor. Das Kühlmittel hatte
offenbar doch nicht mehr rechtzeitig seine Wirkung getan.
Strathmore ließ Susan fahren. Mit entsetzt aufgerissenen Augen fuhr er zu seinem Zwei-Milliarden-Computer herum. »Oh nein!« Er
barg den Kopf zwischen den Händen. »Nein!«
Der sechs Etagen hohe raketenartige Maschinensilo begann zu beben. Strathmore taumelte dem rumorenden Gehäuse entgegen, bevor er nach ein paar Schritten wie ein der Verdammnis anheim
gefallener Sünder vor dem Thron des zürnenden Gottes auf die Knie fiel. Es nützte nichts. Tief im Silo hatten sich die ersten
Prozessoren entzündet.
KAPITEL 105
Ein durch drei Millionen Prozessoren emporrasender Feuerball verursacht ein einzigartiges Geräusch. Es klingt, als wären ein prasselnder Waldbrand, ein heulender Tornado und ein gischtender Geysir in einem einzigen brüllenden Gehäuse zusammengesperrt. Der Atem des Teufels schien durch eine versiegelte Höhle zu fegen und nirgends entweichen zu können. Von der fürchterlichen Geräuschkulisse überwältigt, war Strathmore in die Knie gesunken. Der teuerste Computer der Welt war im Begriff, als acht Stockwerke
hohes Inferno aufzulodern.
Strathmore drehte sich langsam zurück zu Susan, die wie gelähmt neben dem Tor der Kuppel stand. Er starrte in ihr tränenüberströmtes, vom Licht der Leuchtstoffröhren in einen magischen Schimmer getauchtes Gesicht. Sie ist ein Engel! Sein forschender Blick suchte in ihren Augen den Himmel, aber er schaute nur den Tod, den Tod von Vertrauen, Liebe und Ehre. Die Phantasie, aus der er all die Jahre die Kraft zum Weitermachen gezogen hatte, war elend gestorben. Strathmore würde Susan Fletcher nie sein Eigen nennen dürfen. Niemals. Eine überwältigende, unsagbare Leere höhlte sein Innerstes
aus.
Susan streifte den TRANSLTR mit einem vagen Blick. Sie wusste, dass in seinem Inneren, noch von keramischem Gehäuse umschlossen, ein Feuerball mit wachsender Geschwindigkeit emporraste. Die Cryptokuppel konnte sich jeden Moment in ein flammendes Inferno
verwandeln.
Der Verstand trieb Susan zur Flucht, aber Davids Tod drückte sie mit Bleigewichten nieder. Sie glaubte, Davids Stimme zu hören, glaubte zu hören, wie er ihr zurief zu fliehen, aber wohin hätte sie sich wenden sollen? Die Cryptokuppel war ein versiegelter Sarg! Doch das war nun gleichgültig. Der Tod konnte sie nicht mehr schrecken. Er war die Erlösung von ihrem Schmerz. Er würde sie mit David
vereinen.
Strathmore wankte herbei. Sein Gesicht erinnerte nur noch entfernt an den Mann, der er einmal gewesen war. Seine ehedem so kühlen grauen Augen waren leblos geworden. Der Patriot aus Susans Erinnerung war tot. Ein Mörder stand vor ihr. Unversehens hatte er sie wieder umschlungen und wollte ihre Wangen küssen. »Vergib mir«,
flehte er. Susan versuchte, sich ihm zu entziehen, aber er hielt sie fest.
Der TRANSLTR begann zu vibrieren wie eine Rakete kurz vor dem Abheben. Der Kuppelboden bebte. Strathmores Umklammerung
wurde härter. »Susan, halt mich fest! Ich brauche dich!«
Davids Stimme meldete sich erneut. Bring dich in Sicherheit! Ich liebe dich! Jäh aufwallender Zorn fuhr heiß in Susans Glieder. Ein plötzlicher Energieschub gab ihr die Kraft, sich loszureißen. Davids Stimme schien Susan zu beleben und zu führen. Sie rannte durch die Kuppel und stürmte die Gittertreppen zu Strathmores Büro hinauf.
Hinter ihr brach ein wüstes Brüllen aus dem TRANSLTR.
Als der letzte Chip verschmorte, brachte ein gewaltiger Hitzeschwall den oberen Teil des Gehäuses zum Bersten. Eine Fontäne aus splitternder Keramik jagte fauchend zehn Meter hoch in die Luft. Die sauerstoffreiche Luft der Kuppel fuhr in das riesige
Leck.
Susan hatte das Ende der Treppe erreicht. Der Hitzeschwall zerrte
an ihrem Körper. Gerade noch rechtzeitig konnte sie das Geländer packen. Tief unter sich sah sie den Vizedirektor der NSA in einem flammenden Inferno neben dem zerstörten TRANSLTR knien. Er schaute zu ihr herauf. Ein friedlicher Ausdruck legte sich auf seine
Züge. Seine Lippen teilten sich und formten ein letztes Wort.
»Susan!«
Die mit Urgewalt in den TRANSLTR strömende Frischluft löste eine Stichflamme aus. Im blendenden Feuerschein mutierte
Commander Trevor Strathmore vom Mann zur Silhouette und dann zur Legende.
Die Druckwelle schleuderte Susan weit in Strathmores Büro hinein. Das Einzige, was ihr in Erinnerung blieb, war die sengende
Hitze.
KAPITEL 10 6
Am Fenster des Konferenzraums hoch über der Cryptokuppel erschienen drei Gesichter. Die Explosion hatte den gesamten NSAKomplex erschüttert. In stummem Entsetzen starrten Leland Fontaine,
Chad Brinkerhoff und Midge Milken zum Fenster hinaus.
Die Crypto-Kuppel war ein Flammenmeer. Unter der durchsichtigen Schale des noch intakten Polykarbonatdachs wütete
ein Brand. Qualm wirbelte wie schwarzer Nebel durch die Kuppel.
Wortlos betrachteten die drei das auf eine gespenstische Weise großartige Schauspiel.
Fontaine ergriff als Erster das Wort. »Midge, schicken Sie eine Rettungsmannschaft rüber!«, sagte er leise, aber bestimmt.
Auf der anderen Seite des Bürokomplexes begann ein Telefon zu läuten.
Es war Jabba.
KAPITEL 107
Susan konnte nicht sagen, wie lange sie hier gelegen hatte. Das Brennen in ihrem Hals brachte sie wieder zur Besinnung. Orientierungslos betrachtete sie ihre Umgebung. Sie lag hinter einem Schreibtisch auf dem Teppichboden. Orangefarbenes Geflacker erhellte den Raum. Es roch nach verbranntem Kunststoff. Der große Raum, in dem sie sich befand, war eine Ruine. Die Vorhänge standen
in Flammen, die Acrylglaswandungen warfen sich in der Hitze. Susans Erinnerung setzte wieder ein.
David.
Von Panik bedrängt, rappelte sie sich hoch. Die Atemluft ätzte in ihrer Luftröhre. Auf der Suche nach einem Ausweg stolperte sie zur Tür. Als sie auf die Plattform hinaustreten wollte, tat sich vor ihr ein Abgrund auf. Sie konnte sich gerade noch am Türrahmen festhalten. Die Gittertreppe war verschwunden. Zehn Meter unter ihr lag ein rauchender Trümmerhaufen aus verbogenem Gitterwerk. Entsetzt ließ Susan den Blick durch die Kuppel schweifen. Sie schaute in ein einziges Flammenmeer. Wie glühende Lava hatte der TRANSLTR die geschmolzenen Überreste von drei Millionen Chips ausgespien. Dicker ätzender Qualm wirbelte auf. Susan kannte den Geruch.
Kunststoffdämpfe. Tödliches Gift.
Sie zog sich wieder in die Überreste von Strathmores Büro zurück. Ihre Atmwege brannten. Feuriges Licht erfüllte den ganzen Raum. Die Cryptokuppel lag im Todeskampf. So wird es dir auch bald ergehen,
dachte Susan. Sie fühlte sich schwach.
Der einzige noch mögliche Ausweg fiel ihr ein. Strathmores Lift! Aber es war wohl ein müßiger Gedanke. Die Druckwelle hatte
bestimmt die Steuerungselektronik zerstört.
Sie tastete sich durch den dichter werdenden Qualm. Susan wusste, dass die Stromversorgung des Lifts vom Hauptgebäude her erfolgte und der Schacht mit verstärktem Beton ummantelt war. Sie stolperte durch den wirbelnden Qualm zur Aufzugstür, aber der Ruf knopf war nicht beleuchtet. Vergeblich drückte sie auf die dunkle Taste. Sie sank
auf die Knie und hämmerte gegen die Aufzugstür. Aber was war das?
Hinter der Aufzugstür hatte etwas geruckt. Susan blickte hoch. Der Fahrstuhlkorb schien direkt hinter der Schiebetür auf sie zu warten. Susan drückte noch einmal auf den dunklen Knopf. Wieder das
Rucken hinter der Tür.
Plötzlich sah sie es. Der Ruf knopf war gar nicht dunkel. Er war mit einer schwarzen Rußschicht bedeckt und glomm inzwischen matt
unter ihren rußverschmierten Fingern.
Der Lift hat Strom!
Mit neu aufkeimender Hoffnung drückte sie mehrfach auf den Knopf, und jedes Mal gab es dieses Rucken hinter der Tür. Sie konnte im Aufzugskorb den Ventilator surren hören. Der Aufzug ist doch
hier! Warum geht die verdammte Tür nicht auß
Im Qualm erkannte sie das zweite, kleinere Tastenfeld mit den Buchstaben von A bis Z. Erneut griff die Verzweiflung nach ihr. Ach
ja, das Passwort!
Ätzender Qualm quoll durch die geschmolzenen Fenster herein. Susan hämmerte gegen die Aufzugstür, die partout nicht aufgehen wollte. Das Passwort! Strathmore hat dir das Passwort nicht verraten! Der Qualm erfüllte inzwischen das ganze Büro. Susan fiel
mühsam atmend gegen die Lifttür. Nur anderthalb Meter entfernt pumpte der Ventilator Frischluft. Benommen lag sie vor dem Lift und rang nach Luft.
Sie schloss die Augen, aber Davids Stimme machte sie wieder wach. Susan, bring dich in Sicherheit! Mach die Tür auf Sie öffnete die Augen und erwartete, in Davids Gesicht zu blicken, in diese wilden grünen Augen, in dieses verspielte Lächeln, aber es leuchtete
ihr nur eine Buchstabenreihe entgegen. A bis Z. Das Passwort ... Susan starrte die vor ihren Augen verschwimmenden Buchstaben des Tastenfelds an, unter denen eine fünfstellige LED-Anzeige auf ihre Eingabe wartete. Ein Passwort mit fünf Buchstaben! Ihre Chancen standen eins zu sechsundzwanzig hoch fünf. Sie hatte 236.328.125 Möglichkeiten, sich zu vertun. Bei einem Versuch pro Sekunde hätte
sie monatelang zu tun gehabt ...
Susan lag keuchend und würgend unter dem Tastenfeld. Die armseligen Liebesschwüre des Commanders klangen in ihr nach. Susan, ich liebe dich! Susan, Ich habe dich seit jeher geliebt! Susan!
Susan! Susan ...
Er war tot, aber dennoch ließ seine Stimme sie nicht los. Unablässig hörte sie ihn ihren Namen rufen.
Susan ... Susan ...
In einem Augenblick ernüchternder Klarheit begriff sie. Bebend vor Schwäche hob sie den Arm und tippte auf die Tasten.
S...U...S...A...N
Die Lifttür glitt auseinander.
KAPITEL 108
Strathmores Lift fuhr rasch nach unten. Susan saugte in tiefen Zügen die Frischluft in ihre Lungen. Immer noch ganz benommen, lehnte sie sich gegen die Wand des Fahrstuhls, der unversehens zum Stillstand kam. Eine Hackende Mechanik begann zu arbeiten. Der Fahrstuhl beschleunigte wieder, diesmal horizontal. Die Kabine rollte dem NSA-Hauptgebäude entgegen und hielt schließlich surrend an.
Die Tür ging auf.
Susan stolperte aus dem Lift in eine Betonröhre hinaus. Sie war niedrig und eng. Die Doppellinie einer gelben Fahrbahnmarkierung
verlor sich rechts und links in der Dunkelheit der leeren Höhlung.
Der Untergrund-Highway.
Susan taumelte in die Tunnelröhre. Die Tür des Fahrstuhls schloss sich hinter ihr. Wieder einmal versank alles in Dunkelheit.
Kein Laut.
Kein Laut, außer einem leisen Summen, das allmählich lauter wurde.
Plötzlich schien es Tag werden zu wollen. Die Schwärze des Tunnels zerfloss zu einem verwaschenen Grau. Die Tunnelwände nahmen langsam Gestalt an. Ein kleines Fahrzeug kam um die Kurve gesaust. Vom Scheinwerferlicht geblendet, beschirmte Susan die Augen und taumelte Schutz suchend an die Wand. Ein kleines
Elektrofahrzeug sauste in einem Luftschwall an ihr vorbei.
Reifen quietschten auf Beton. Das surrende Fahrzeug kam wieder angefahren, diesmal rückwärts. Neben Susan hielt es an.
»Miss Fletcher!«, rief eine erstaunte Stimme.
Susan betrachtete den Mann im Fahrersitz des elektrischen Gefährts. Er kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Meine Güte!«, japste der Mann. »Sind Sie in Ordnung? Wir haben geglaubt, Sie seien tot!«
Susan schaute ihn wortlos an.
»Chad Brinkerhoff«, sagte der Mann eifrig, »persönlicher Refernt des Direktors.« Er betrachtete die von der Katastrophe gezeichnete
Kryptographin.
Susan brachte nur ein schwaches Piepsen zustande. »Der TRANSLTR ist...«, stammelte sie.
Brinkerhoff nickte. »Vergessen Sie's. Los, steigen Sie ein!«
Der Scheinwerferstrahl des Elektrofahrzeugs wischte über die Wandungen der Betonröhre.
»In der zentralen Datenbank ist ein Virus!«, platzte Brinkerhoff heraus, der nicht mehr an sich halten konnte.
»Ich weiß«, hörte Susan sich flüstern.
»Wir brauchen Ihre Hilfe.«
Susan kämpfte mit den Tränen. »Commander Strathmore ... er hat...«
»Das wissen wir. Er hat die Gauntlet-Filter umgangen.«
»Ja ... und ...« Die Worte blieben Susan im Halse stecken. Er hat David umgebracht!
Brinkerhoff legte Susan beruhigend die Hand auf die Schulter. »Wir sind gleich da, Miss Fletcher. Halten Sie nur noch ein bisschen
durch.«
Der Kensington-Golfwagen, ein besonders schnelles Modell, flitzte um eine Kurve und blieb mit quietschenden Reifen vor einem durch rote Fußleistenlichter schwach beleuchteten Quergang stehen.
»Kommen Sie«, sagte Brinkerhoff und half Susan beim Aussteigen.
Er führte sie in den Quergang. Susan lief wie benebelt hinter ihm her. Der geflieste Gang wurde ziemlich abschüssig. Susan musste sich an dem an der Wand angebrachten Handlauf festhalten, während sie
Brinkerhoff nach unten folgte. Es wurde kühler.
Sie setzten ihren Abstieg fort. Der Gang verengte sich. Irgendwo hinter ihnen hallten Schritte. Brinkerhoff winkte Susan stehen zu
bleiben und wandte sich um.
Ein hünenhafter schwarzer Mann kam selbstbewusst und zielstrebig auf sie zugeschritten. Susan hatte ihn noch nie gesehen. Im Näherkommen fixierte er sie mit dem Blick seiner durchdringenden
Augen.
»Wer ist die Dame?«, verlangte er zu wissen.
»Das ist Miss Susan Fletcher«, sagte Brinkerhoff.
Der Riese hob die Brauen. Sogar rußgeschwärzt und durchnässt
war Susan Fletcher anziehender, als er sie sich vorgestellt hatte. »Was ist mit dem Commander?«, erkundigte er sich.
Brinkerhoff schüttelte den Kopf.
Der Mann sagte nichts. Seine Augen blickten ins Weite, bevor er sich wieder Susan zuwandte. »Leland Fontaine«, stellte er sich vor und streckte Susan die Hand entgegen. »Ich bin froh, dass Ihnen
nichts passiert ist.«
Susan schaute ihn an. Sie hatte immer schon gewusst, dass sie eines Tages die Bekanntschaft des Direktors machen würde. Die
Umstände hatte sie sich allerdings etwas anders vorgestellt.
»Miss Fletcher, begleiten Sie mich bitte«, sagte Fontaine und ging voran. »Wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können.«
Am Ende des Gangs ragte im rötlichen Halblicht eine hohe
stählerne Wand auf. Fontaine trat heran und gab in ein vertieft eingelassenes Tastenfeld einen Zahlencode ein, um anschließend die rechte Hand auf ein kleines gläsernes Fenster zu legen. Stroboskopblitze flammten auf. Einen Moment später glitt die massive Stahlwand nach links.
Bei der NSA gab es nur einen Arbeitsbereich, der noch unzugänglicher war als die Cryptokuppel. Susan Fletcher hatte das
Gefühl, dass sie im Begriff war, just diesen zu betreten.
KAPITEL 109
Das Kommandozentrum der zentralen Datenbank der NSA sah aus wie eine etwas kleinere Ausgabe der Einsatzzentrale der Weltraumbehörde NASA. Von einem Dutzend Computerarbeitsplätzen blickte man auf eine neun mal zwölf Meter große Videowand am Ende des Raums, über die in schneller Folge Zahlen und Graphiken flimmerten, als ob sich jemand durch die unterschiedlichsten Programme zappen würde. Zwischen den Computerarbeitsplätzen rannten Techniker mit langen Schleppen aus Endlosbögen hin und her. Kommandos wurden gebrüllt. Es war das
reine Chaos.
Susan nahm die eindrucksvolle Einrichtung in Augenschein. Man hatte gewaltige Erdmassen bewegt, um diesen Bunker zu schaffen. Er lag fast fünfundsechzig Meter unter der Erde, völlig immun gegen
Angriffe mit Neutronen- oder Atombomben.
Auf einer Plattform in der Mitte des Raums stand Jabba an seinem Arbeitsplatz und brüllte Befehle wie ein Feldwebel. Auf dem Bildschirm leuchtete eine Meldung, die Susan nur zu gut kannte. Der
plakatgroße Text hing unheilschwanger über Jabbas Kopf.
JETZT HILFT NUR NOCH DIE WAHRHEIT!
PRIVATE-KEY EINGEBEN:
Wie in einem surrealen Albtraum folgte Susan Fontaine zum Podium. Sie erlebte die Welt als ein schemenhaftes Geschehen in
Zeitlupe.
Jabba sah die beiden kommen. Er fuhr herum wie ein wütender Stier. »Als ich den Gauntlet gebaut habe, habe ich mir etwas dabei
gedacht!«, schrie er.
»Gauntlet war einmal«, gab Fontaine gleichmütig zurück.
»Schnee von gestern, Chef. Ich habe mich vorhin wegen der Druckwelle auf den Arsch gesetzt. Wo ist Strathmore?«
»Commander Strathmore ist tot.«
»Ausgleichende Gerechtigkeit, würde ich sagen.«
»Mäßigen Sie sich bitte!«, sagte Fontaine unwirsch. »Bringen Sie uns lieber auf den neuesten Stand. Wie schlimm ist dieser Virus?«
Jabba schaute seinen Direktor groß an, um dann unvermutet in schallendes Gelächter auszubrechen. »Dieser Virus, sagen Sie? Sie
glauben wohl, es ist ein Virus?«
Fontaine ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Jabbas unverschämter Ton war weit überzogen, aber hier war weder die Zeit noch der Ort, sich damit zu beschäftigen. Hier unten kam Jabba noch vor dem lieben Gott. Computerprobleme kümmerten sich nun mal
nicht um Rang und Namen.
»Es ist also kein Virus?«, rief Brinkerhoff hoffnungsvoll dazwischen.
»Viren haben Replikationsketten, mein Süßer«, schnaubte Jabba verächtlich, »aber die fehlen hier.«
Susan stand daneben und war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Und womit haben wir es dann zu tun?«, erkundigte sich Fontaine ungeduldig. »Ich war der Meinung, wir hätten einen Virus.«
Jabba holte tief Luft und senkte die Stimme. »Viren...«, sagte er und wischte sich den Schweiß vom Gesicht »Viren reproduzieren sich. Sie erzeugen Klone. Sie sind eitel und dumm – binäre
Egomanen. Sie setzen schneller Nachwuchs in die Welt als die Karnickel. Und an dieser Stelle sind sie zu packen, wenn man sich auskennt. Man kann sie bis zur Unkenntlichkeit miteinander kreuzen. Aber leider hat dieses Programm kein Ego und keinen Drang zur Selbstreproduktion. Es weiß genau, was es will, und wird vermutlich sogar digitalen Selbstmord begehen, wenn es hier seinen Daseinszweck erfüllt hat.« Jabba reckte die Arme ehrfurchtsvoll der Schreckensbotschaft auf dem riesigen Bildschirm entgegen. »Meine Damen und Herren«, sagte er theatralisch, »ich möchte Ihnen den Kamikaze der Computerschädlinge vorstellen – den Wurm!«
»Den Wurm?«, stöhnte Brinkerhoff. Welch harmlose Bezeichnung für ein so heimtückisches Geschöpf!
»Den Wurm!«, bestätigte Jabba. Man merkte, dass er kochte. »Keine komplexen Strukturen, nichts als Instinkt – fressen, kacken, weiterkriechen. Mehr ist da nicht. Primitivität, tödliche Primitivität. Der Wurm macht stupide, worauf er programmiert ist, und dann gibt
er den Löffel ab.«
Fontaine sah Jabba besorgt an. »Und worauf ist dieser Wurm programmiert?«
»Keine Ahnung. Zurzeit schwärmt er aus und hängt sich an unsere geheimen Daten an. Anschließend kann er Gott weiß was anstellen, zum Beispiel sämtliche Dateien löschen oder vielleicht auch nur auf
bestimmte Protokolle aus dem Weißen Haus einen Smiley malen.«
»Können Sie ihn aufhalten?«, wollte Fontaine wissen. Seine Stimme war immer noch kühl und beherrscht.
Jabba schaute auf den Großbildschirm und ließ einen langen Seufzer los. »Dazu kann ich überhaupt nichts sagen. Es hängt davon
ab, wie durchgeknallt sein Urheber ist.« Er deutete auf die Botschaft an der Wand. »Kann mir vielleicht mal jemand sagen, was
zum Teufel das bedeuten soll?«
JETZT HILFT NUR NOCH DIE WAHRHEIT
PRIVATE-KEY EINGEBEN:
Jabba wartete auf eine Antwort, bekam aber keine. »Chef, ich habe den Eindruck, da erlaubt sich jemand ein Spielchen mit uns. Ich tippe auf Erpressung. Wenn es einen total aus der Luft gegriffenen Spruch
gibt, dann diesen!«
»Er kommt von ... Ensei Tankado.« Susans Stimme war ein schwaches hohles Geflüster.
Jabba drehte sich zu ihr um. Mit aufgerissenen Augen sah er sie an. »Von Tankado?«
Susan nickte matt. »Er wollte uns dazu zwingen, dass wir Farbe bekennen... mit dem TRANSLTR... aber es hat ihn das ...«
»Farbe bekennen?«, fiel ihr Brinkerhoff ins Wort. »Tankado will von uns das Geständnis, dass wir den TRANSLTR haben? Ich würde
sagen, dafür ist es jetzt ein bisschen zu spät!«
Susan wollte etwas sagen, aber Jabba kam ihr zuvor. »Sieht ganz danach aus, dass Tankado den Kill-Code hat«, meinte er und schaute
hinauf zu der Botschaft auf dem Schirm. Alle sahen ihn an.
»Kill-Code?«, erkundigte sich Brinkerhoff.
Jabba nickte. »Genau. Ein Code, der den Wurm schachmatt setzt. Wenn ich mal kurz zusammenfassen darf: Wir geben zu, dass wir den TRANSLTR haben, Tankado gibt uns den Kill-Code, wir tippen den Code ein, und unsere Datenbank ist gerettet. Willkommen im Reich
der digitalen Teufelsaustreibung!«
Fontaine stand wie ein Fels in der Brandung. »Wie viel Zeit haben wir noch?«
»Ungefähr eine Stunde«, sagte Jabba. »Das reicht gerade, eine Pressekonferenz einzuberufen und die Hosen runterzulassen.«
»Was empfehlen Sie also zu tun?«, fragte Fontaine.
»Sie wollen von mir eine Empfehlung?«, blaffte Jabba. »Falls ich Ihnen etwas empfehlen darf, dann sollten Sie aufhören
herumzulavieren! Das empfehle ich Ihnen!«
»Sachte!«, verwahrte sich Fontaine.
»Chef, im Moment bestimmt Ensei Tankado, was hier Sache ist!«, sagte Jabba ungehalten. »Egal, was er will, geben Sie es ihm! Wenn er will, dass die ganze Welt vom TRANSLTR erfährt, dann rufen Sie gefälligst CNN an, und machen Sie reinen Tisch! Der TRANSLTR ist sowieso nur noch ein qualmendes Loch in der Erde. Der kann Ihnen
doch scheißegal sein!«
Es wurde still. Fontaine schien seine Möglichkeiten durchzugehen. Susan wollte sich zu Wort melden, aber Jabba kam ihr zuvor.
»Worauf warten Sie noch, Chef? Sehen Sie zu, dass Sie Tankado ans Telefon bekommen! Sagen Sie ihm, Sie seien bereit, nach seiner
Pfeife zu tanzen! Wenn wir den Kill-Code nicht bekommen, ist unser ganzer Laden geliefert!«
Niemand rührte sich.
»Seid ihr denn alle bescheuert?«, schrie Jabba. »Wir müssen Tankado anrufen! Wir müssen ihm sagen, dass wir kleine Brötchen backen! Beschafft mir den Kill-Code, aber dalli! Ach, egal...« Jabba riss sein Handy aus der Gürteltasche und schaltete es an. »Geben Sie
mir die Nummer, Chef! Ich rufe das kleine Arschloch selber an!«
»Die Mühe kannst du dir sparen«, flüsterte Susan. »Tankado ist tot.«
Jabba schaute einen Moment lang verdutzt aus der Wäsche, dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Hieb in die Magengrube. Der massige Sys-Sec-Boss sah aus, als würde er gleich zusammenbrechen. »Tot?
Aber dann... das bedeutet doch... dann können wir ja nicht ...«
»Es bedeutet, dass wir jetzt anders vorgehen müssen«, stellte Fontaine nüchtern fest.
Jabba hatte sich von dem Schock noch immer nicht erholt, als sich im Hintergund aufgeregtes Geschrei erhob.
»Jabba, Jabba!«
Es war Soschi Kutta, seine Chef-Technikerin. Sie kam zum Podium gerannt. Ein langer Ausdruck flatterte hinter ihr her. Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Jabba!«, keuchte sie, »der Wurm ... ich habe gerade herausgefunden, worauf er programmiert ist!« Sie drückte Jabba den
Papierwust in die Hand. »Wir haben die Befehlsstruktur des Wurmprogramms isolieren können und das Protokoll der
Systemaktivität ausgedruckt. Hier, sieh es dir an!«
Jabba überflog den Ausdruck. Er musste sich am Geländer festhalten. »Oh, mein Gott!« stöhnte er. »Tankado... du... du
Mistkerl!«
KAPITEL 110
Jabba starrte mit ausdruckslosem Blick auf das Papier. Er war blass geworden. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Chef, es bleibt uns keine andere Wahl. Wir müssen der
Datenbank den Saft abdrehen.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, gab Fontaine zurück.
Für Jabba war klar, dass sein Chef nicht anders reagieren konnte. An diesem Datenspeicher hingen mehr als dreitausend externe Anschlüsse aus der ganzen Welt. Täglich riefen Militärs die neuesten Satellitenfotos mit dem letzten Stand feindlicher Truppenbewegungen ab. Die Entwicklungsingenieure von Lockheed luden sich nur ihnen zugängliche Baupläne mit neuester Waffentechnologie herunter. Agenten holten sich Updates ihrer Mission. Die NSA-Datenbank bildete das Rückgrat für Tausende von Operationen der amerikanischen Regierung. Das unangekündigte Abschalten dieses Informationsspeichers musste einen lebensbedrohlichen nachrichtendienstlichen Blackout auf dem ganzen Erdball zur Folge
haben.
»Sir, ich bin mir über die Implikationen völlig im Klaren«, sagte Jabba, »aber wir haben keine andere Wahl.«
»Werden Sie bitte etwas deutlicher«, forderte Fontaine mit einem schnellen Seitenblick zu Susan, die geistesabwesend neben ihm auf
dem Podium stand. Sie wirkte, als wäre sie meilenweit entfernt.
Jabba holte tief Luft und wischte sich schon wieder den Schweiß. In seinem Gesicht stand geschrieben, dass seine Eröffnung bei den
Zuhörern auf dem Podium wenig Gefallen finden würden.
»Dieser Wurm«, hob er an, »dieser Wurm ist keine Programmschleife, wie wir sie üblicherweise haben, sondern eine
selektive Schleife. Mit anderen Worten, er hat ein konkretes Ziel.«
Brinkerhoff wollte etwas sagen, aber Fontaine winkte ab.
»Die meisten destruktiven Programme putzen den Speicher leer«, fuhr Jabba fort, »aber hier haben wir es mit einer etwas komplexeren Anwendung zu tun. Dieser Wurm löscht nur Dateien, die gewisse
Parameter aufweisen.«
»Dann befällt er also nicht die ganze Datenbank?«, erkundigte sich Brinkerhoff hoffnungsfroh. »Das ist doch gut, oder?«
»Nein, gar nicht!«, entgegnete Jabba. »Es ist die größte Scheiße, die uns überhaupt passieren kann!«
»Bitte, mäßigen Sie sich!«, sagte Fontaine im Befehlston. »Auf welche Parameter spricht dieser Wurm denn an? Militärische
Geheimnisse? Verdeckte Operationen?«
Jabba schüttelte den Kopf. Er sah Susan an, die immer noch abwesend wirkte, bevor er den Blick hob und Fontaine in die Augen schaute. »Sir, wie Sie wissen, muss jeder, der von außen auf unsere Datenbank zugreifen will, zuerst eine Reihe von Sicherheitsfiltern
passieren, bevor seine Anfrage zugelassen wird.«
Fontaine nickte. Die Zugangshierarchie der Datenbank war brillant ausgetüftelt. Befugte Personen konnten sich zwar über das Internet einwählen, erhielten aber ausschließlich Zugang zu ihrem jeweiligen
Informationssegment.
»Da wir nun mal am globalen Internet hängen«, erläuterte Jabba, »liegen Hacker, fremde Regierungen und die EFF Tag und Nacht wie die Haie vor unserer Datenbank auf der Lauer und versuchen
einzubrechen.«
»Genau«, bestätigte Fontaine, »und die Filter unserer Firewall machen ihnen vierundzwanzig Stunden am Tag einen Strich durch die
Rechnung. Worauf wollen Sie hinaus?«
Jabba betrachtete den Ausdruck. »Darauf, dass Tankado seinen Wurm nicht auf unsere Daten angesetzt hat ...«, Jabba räusperte sich bedeutungsvoll, »sondern auf unsere Firewall.«
Fontaine erbleichte. Er hatte sofort begriffen. Der Wurm zerstörte die Schutzmauer, durch die das Material in der NSA-Datenbank überhaupt erst zu Geheimmaterial wurde. Ohne den Schutz dieser Filter waren sämtliche Informationen der Datenbank für jedermann
frei verfügbar.
»Wir müssen abschalten«, wiederholte Jabba. »In ungefähr einer Stunde hat jeder Bengel mit einem Modem Zugriff auf das geheimste
Datenmaterial der US-Regierung.«
Fontaine stand eine Weile wortlos da.
Jabba wartete ungeduldig auf Anweisungen, aber es kamen keine. »Soschi! VR! Lass knacken!«, rief er seiner Assistentin zu.
Soschi sauste davon.
Jabba arbeitete häufig mit VR. Für Computerfreaks hieß VR in der Regel virtual reality, aber bei der NSA war es das Kürzel für Vis-Rep, visuelle Repräsentation. In einer Welt, in der das technische Verständnis von Politikern den gegebenen Schwierigkeitsgraden oft meilenweit hinterherhinkte, waren graphische Darstellungen vielfach das einzige Mittel, um ein Problem transparent zu machen. Eine ins Bodenlose abstürzende Kurve weckte zehnmal mehr Aufmerksamkeit als Berge von Aktenordnern. Jabba konnte sich darauf verlassen, dass das Kritische der Situation anhand einer VR umgehend sinnfällig
werden würde.
»VR kommt!«, rief Soschi von einem Terminal in der Ecke herüber.
Auf der Bildschirmwand leuchtete ein computergeneriertes Schaubild auf. Sämtliche Augen im Raum folgten Jabbas Blick auf
den Großbildschirm. Susan, die dastand, als hätte sie mit dem wilden Getümmel ringsumher nichts zu tun, sah geistesabwesend hinauf.
Das Schaubild sah aus wie eine Art Zielscheibe. In der Mitte befand sich ein roter Kreis mit der Inschrift DATEN, umgeben von fünf konzentrischen Ringen unterschiedlicher Dicke und Farbe. Der
äußerste Ring war verwaschen, fast schon durchsichtig.
»Wir haben eine aus fünf Schalen aufgebaute Firewall«, erläuterte Jabba. »Einen primären Bastion-Host, zwei Sätze Paketfilter für die FTP und X-Eleven-Übertragungsprotokolle, einen Tunnelblock und ein Identifikationsfenster für verschlüsselte E-Mails. Die äußerste Schale, die zurzeit in die Binsen geht, ist unser Bastion-Host. Er hat praktisch schon das Handtuch geworfen. Die nächsten Schutzschalen werden im Verlauf der nächsten Stunde eine nach der anderen in die Knie gehen. Anschließend können sich Hinz und Kunz in unserer Datenbank tummeln. Jedes Byte unserer NSA-Daten wird öffentlich
verfügbar sein.«
Fontaine studierte das VR-Diagramm. In seinen Augen glühte es.
»Und dieser Wurm wird unsere Datenbank der ganzen Welt zugänglich machen?«, winselte Brinkerhoff kläglich.
»Für Tankado ein Kinderspiel«, schnauzte Jabba. »Gauntlet sollte unser Schutzschild sein, aber Strathmore hat uns gründlich die Tour
vermasselt.«
»Das ist eine offene Kriegserklärung!«, zischte Fontaine leise.
»Ich glaube nicht, dass Tankado die Sache derart auf die Spitze treiben wollte«, sagte Jabba und schüttelte den Kopf. »Ich vermute, er wollte sich im Hintergrund bereithalten und gegebenenfalls die
Notbremse ziehen.«
Fontaine beobachtete die endgültige Auflösung der ersten der fünf Schutzschalen.
»Erster Schutzschild zerstört!«, schrie ein Techniker im Hintergrund des Kontrollraums. »Zweiter Schutzschild unter
Beschuss!«
»Wir müssen die Prozedur zum Herunterfahren einleiten«, drängte Jabba. »Nach der VR zu urteilen, bleiben uns noch ungefähr fünfundvierzig Minuten. Die Datenbank herunterzufahren ist kein
Pappenstiel!«
Jabba wusste, wovon er sprach. Die Datenbank der NSA war in einer Weise aufgebaut, die sicherstellte, dass ihr niemals der Saft ausgehen konnte – sei es unbeabsichtigt oder durch einen gezielten Angriff. Vielfältige Sicherungssysteme für die Energie- und Nachrichtennetze waren in gepanzerten Betonbehältern tief im Erdboden vergraben. Zusätzlich zu den internen Einspeisungen aus dem NSA-Komplex gab es noch eine ganze Reihe von Einspeisungskanälen aus öffentlichen Netzen. Das Herunterfahren ließ sich nur unter Einhaltung einer Reihe von komplexen Protokoll- und Bestätigungsverfahren bewerkstelligen. Es war jedenfalls beträchtlich komplizierter als der unterseeische Abschuss einer Atomrakete von
einem U-Boot.
»Wir haben im Moment noch keinen Zeitdruck«, sagte Jabba, »aber wir sollten uns trotzdem beeilen. Im Handbetrieb dürfte das
Herunterfahren in gut dreißig Minuten zu schaffen sein.«
Fontaines Blick war immer noch nach oben auf den Bildschirm gerichtet. Er schien abzuwägen.
»Chef!«, drängte Jabba ungeduldig, »sobald diese Schalen Asche sind, darf sich jeder Computernutzer auf dem ganzen Erdball Geheimnisträger der obersten Sicherheitsstufe schimpfen! Dokumentationen von verdeckten Operationen! Namenslisten unserer Agenten in Übersee! Namen und Adressen, das ganze Zeugenschutzprogramm rauf und runter! Freigabecodes für den Abschuss von Atomraketen! Wir müssen den Hahn zudrehen, und
zwar sofort!«
Der Behördenchef ließ sich nicht beeindrucken. »Es muss noch eine andere Möglichkeit geben.«
»Na klar gibt es die«, meinte Jabba sarkastisch. »Den Kill-Code. Aber der Einzige, der ihn kennt, weilt zufällig nicht mehr unter den
Lebenden!«
»Und was ist mit einem Versuch nach der Brute-Force-Methode?«, ließ sich Brinkerhoff vernehmen. »Lässt sich der Kill-Code mit der
Ratemethode bestimmen?«
»Ach du lieber Gott!« Jabba warf die Arme in die Luft. »KillCodes sind wie die Schlüssel von Chiffrierprogrammen – absolut willkürliche Zeichenreihen! Da gibt's nichts zu raten! Wenn Sie sich zutrauen, in den nächsten fünfundvierzig Minuten 600 Trillionen verschiedene Zeichenfolgen in meinen Rechner einzutippen, dann
nichts wie los!«
»Der Kill-Code ist in Spanien«, meldete sich Susan zögernd zu Wort.
Sämtliche Köpfe auf dem Podium fuhren herum. Es waren Susans erste Worte seit langer Zeit.
Susan sah auf. Ihr Blick war trübe. »Aber Tankado hat den KillCode vor seinem Tod noch fortgegeben.«
Alle sahen sie ratlos an.
»Dieser Code ...« Susan fröstelte. »Commander Strathmore hat jemand rübergeschickt, der ihn holen soll.«
»Und? Hat Strathmores Mann ihn gefunden?«, forschte Jabba.
»Ja«, schluchzte Susan und versuchte vergeblich, die Tränen zurückzuhalten. »Ich glaube schon.«
KAPITEL 111
Ein schriller Aufschrei gellte durch den Kontrollraum. »Haie!« Es war Soschi.
Jabba fuhr herum zur Bildwand. Zwei dünne Linien hatten sich außen an die konzentrischen Ringe angelagert. Sie sahen aus wie Spermien, die in die Hülle einer widerspenstigen Eizelle einzudringen
versuchten.
»Leute, jetzt ist Blut im Wasser!« Jabba wandte sich wieder seinem Chef zu. »Ich brauche sofort eine Entscheidung. Entweder wir fangen unverzüglich mit dem Herunterfahren an, oder es klappt nicht mehr. Diese beiden Eindringlinge werden jeden Moment merken, dass
der Bastion-Host futsch ist.«
Fontaine war tief in Gedanken und antwortete nicht. Susan Fletchers Ankündigung, dass der Kill-Code in Spanien war, schien ihn zu beschäftigen. Susan hatte sich in den Hintergrund zurückgezogen. Fontaine bedachte sie mit einem schnellen Blick. Den Kopf in die Hände gestützt, hockte sie zusammengekauert auf ihrem Stuhl. Fontaine konnte sich den Grund für ihr Verhalten nicht zusammenreimen, aber was auch immer es war, er hatte jetzt keine
Zeit, darauf einzugehen.
»Chef, Ihre Entscheidung bitte!«, forderte Jabba. »Und zwar sofort!«
Fontaine sah hoch. »Okay, da haben Sie meine Entscheidung«, sagte er ruhig. »Wir werden die Datenbank nicht herunterfahren. Wir
werden abwarten.«
Jabbas Kiefer klappte nach unten. »Wie bitte? Aber das bedeutet...«
»Dass wir uns auf ein Pokerspiel einlassen«, vollendete Fontaine den Satz, »welches wir aber durchaus gewinnen können.« Er griff nach Jabbas Mobiltelefon und drückte ein paar Tasten. »Midge«,
sagte er, »hier spricht Leland Fontaine. Hören Sie gut zu...«
KAPITEL 112
Hoffentlich wissen Sie, was Sie da tun, Chef«, zischte Jabba. »Unser Hebel zum Abschalten wird mit jeder Minute kürzer.«
Fontaine antwortete nicht.
Plötzlich ging hinten im Kontrollraum die Tür auf, und Midge stürzte herein. Atemlos erklomm sie das Podium. »Chef, die
Vermittlung ist dabei durchzustellen!«
Fontaine wandte sich erwartungsvoll dem Bildschirm an der Stirnwand zu, der fünfzehn Sekunden darauf aktiv wurde. Das Bild war anfangs noch wackelig und verschneit, aber die digitale QuickTime Übertragung mit lediglich fünf Bildern pro Sekunde wurde schnell schärfer. Das Bild zeigte zwei Männer. Der eine war blass und hatte einen Bürstenhaarschnitt, der andere sah aus wie der Junge von nebenan. Sie saßen vor der Kamera wie zwei
Nachrichtensprecher, die darauf warten, dass die Sendung losgeht. »Was soll denn das nun wieder?«, wollte Jabba wissen.
»Warten Sie's gefälligst ab!«, wies ihn Fontaine zurecht.
Die beiden Männer saßen von einem Kabelgewirr umgeben in einer Art Kastenwagen. Knatternd baute sich die Audioverbindung
auf. Hintergrundgeräusche wurden hörbar.
»Audiosignal kommt«, rief ein Techniker von unten herauf. »Noch fünf Sekunden bis zum Aufbau der Wechselsprechverbindung.«
»Wer ist das denn?«, erkundigte sich Brinkerhoff unbehaglich. »Himmelsaugen«, beschied ihn Fontaine und schaute hinauf zu
den beiden Männern. Er hatte sie für den Fall des Falles nach Spanien abkommandiert. Fast jeder Aspekt von Strathmores Plan hatte ihn zu überzeugen vermocht – die bedauerliche, aber unvermeidliche Ausschaltung von Ensei Tankado, das Umprogrammieren von Diabolus, das war alles hieb- und stichfest. Aber es gab eine Kleinigkeit, die ihn nervös gemacht hatte: Der Einsatz von Hulohot. Hulohot war kein schlechter Mann, aber er war ein Söldner. Er arbeitete für Geld. War er wirklich vertrauenswürdig? Was, wenn er sich den Schlüssel unter den Nagel riss? Fontaine hatte Hulohot beschatten lassen – nur zur Sicherheit und zu seiner eigenen
Beruhigung.
KAPITEL 113
Völlig ausgeschlossen!«, schrie der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt in die Kamera. »Wir haben den strikten Befehl, nur
Direktor Leland Fontaine persönlich zu berichten!«
»Sie scheinen mich nicht zu kennen«, sagte Fontaine amüsiert.
»Sie mögen sein, wer Sie wollen. Das ist mir völlig egal!«, verwahrte sich der Blonde entrüstet.
»Dann werde ich es Ihnen erklären«, sagte Fontaine. »Nur zur Klarstellung.«
Sekunden später waren die beiden Agenten rot angelaufen und bereit, dem Direktor der National Security Agency alles zu erzählen.
»Herr Di ... Di ... Direktor, ich bin Agent Collander«, stotterte der
Blonde. »Und das ist Agent Smith.«
»Ausgezeichnet«, sagte Fontaine knapp. »Berichten Sie.«
Susan Fletcher saß im Hintergrund. Eine lähmende Einsamkeit drückte sie nieder, auch wenn sie dagegen ankämpfte. Sie hatte die Augen geschlossen und weinte. Ihr Körper war gefühllos geworden. Das wilde Durcheinander des Kontrollraums erreichte sie nur als
gedämpftes Murmeln.
Agent Smith begann seinen Bericht. Die auf dem Podium Versammelten hörten ihm unruhig zu.
»Auf Ihre Anordnung, Sir, halten wir uns seit zwei Tagen in Sevilla auf. Unser Auftrag lautet: Beschattung von Mr Hulohot.«
»Lassen Sie uns gleich zum Attentat kommen!«, sagte Fontaine ungeduldig.
Smith nickte. »Wir konnten es aus etwa fünfzig Metern Entfernung von unserem Fahrzeug aus beobachten. Es verlief absolut glatt. Hulohot ist offensichtlich ein Profi. Im weiteren Verlauf bekam er allerdings Schwierigkeiten, weil Passanten am Tatort aufgetaucht
sind. Hulohot konnte den Gegenstand nicht an sich bringen.«
Fontaine nickte. Seine Agenten hatten ihn in Südamerika von den Problemen verständigt, worauf er seine Reise verkürzt hatte.
»Ihren neuerlichen Instruktionen gemäß sind wir an Hulohot drangeblieben«, übernahm Smith den Bericht. »Das Leichenschauhaus hat ihn allerdings überhaupt nicht interessiert. Dafür hat er sich einem Zivilisten an die Fersen geheftet. Der Mann
sah nach einem Privatmann aus, mit Jackett und Krawatte.«
»Ein Privatmann?« Fontaine wurde nachdenklich. Das hörte sich sehr nach Strathmore an – die NSA immer schön außen vor halten.
»Die zweite Schutzschale gibt auf!«, rief ein Techniker in den Raum.
»Wir brauchen diesen Gegenstand«, drängte Fontaine. »Wo hält sich Hulohot derzeit auf?«
Smith schaute unsicher über seine Schulter. »Na ja... er ist hier bei uns, Sir.«
Fontaine atmete auf. Das war die beste Nachricht des Tages. »Und wo?«
Smith griff nach dem Objektiv der Kamera und hantierte daran
herum. Die Kamera machte einen Schwenk durch den Kastenwagen und blieb an zwei gegen die Rückwand gelehnten schlaffen Körpern hängen. Der eine war ein großer Kerl mit einer verbogenen Nickelbrille, der andere ein junger Mann mit dunklem
Haarschopf und blutverschmiertem Hemd. »Der Linke ist Hulohot«, erläuterte Smith. »Hulohot ist tot?«, wunderte sich Fontaine.
»Jawohl, Sir.«
Fontaine warf einen Blick auf das Schaubild mit den dünner werdenden Schutzschilden. Der Bericht über Hulohots Todesumstände mochte warten. »Agent Smith, lassen Sie uns jetzt zu
dem Gegenstand kommen. Ich brauche ihn«, sagte er mit Nachdruck.
Smith sah ihn verlegen an. »Sir, wir haben bislang noch keine Ahnung, worum es sich bei diesem Gegenstand überhaupt handelt.
Diesbezüglich herrscht bei uns noch Aufklärungsbedarf.«
KAPITEL 114
»Dann untersuchen Sie eben alles noch einmal!«, ordnete Fontaine an.
Tief beunruhigt betrachtete Fontaine das verwaschene Bild der beiden Agenten, die im Hintergrund die zwei schlaffen Gestalten nach einem Gegenstand mit einer zufälligen Zeichenfolge aus Zahlen und
Buchstaben durchsuchten.
Jabba war blass geworden. »Oh mein Gott, wenn sie den Code nicht finden, sind wir im Eimer!«
»Der zweite Schild ist weg!«, schrie eine Stimme. »Der dritte Schutzschild liegt jetzt frei.« Eine neue Welle der Betriebsamkeit
rauschte auf.
Auf dem Bildschirm sah man den Agenten mit dem Bürstenhaarschnitt. Er hob entschuldigend die Arme. »Sir, der Code kann nicht hier sein. Wir haben beide Männer sorgfältig durchsucht. Taschen, Kleidung, Brieftasche. Es war nichts zu finden. Hulohot führt einen Monocle-Computer mit sich, den wir ebenfalls überprüft haben. Er scheint damit aber nichts übertragen zu haben, was auch nur entfernt nach einem Zufallscode aussieht. Wir sind lediglich auf eine
Liste seiner Auftragsmorde gestoßen.«
»Verdammt aber auch!«, zischte Fontaine. Seine stoische Fassade begann zu bröckeln. »Der Kill-Code muss einfach bei Ihnen irgendwo
sein! Weitersuchen!«
Jabba hatte offenbar genug mitbekommen – Fontaine hatte hoch gepokert und verloren. Als Sys-Sec-Leiter übernahm er das Ruder seines Schiffs. Wie ein Sturm aus dem Gebirge fuhr er von seinem Podium herunter und fiel Kommandos brüllend in die Armee seiner Techniker ein. »Peripherieaggregate herunterfahren!
Stilllegungsprozedur einleiten! Los, Beeilung!«
»Das schaffen wir nie!«, jammerte Soschi. »Wir brauchen mindestens eine halbe Stunde. Wenn wir mit dem Herunterfahren
fertig sind, ist es zu spät!«
Jabba öffnete den Mund, um zu antworten, doch ein gequälter Aufschrei aus dem Hintergrund ließ ihn verstummen.
Alles fuhr herum. Susan Fletcher, die zusammengekauert hinten auf dem Podium gehockt hatte, erhob sich bleich wie ein Gespenst und starrte gebannt auf die Standbild-Einstellung des gegen die
Rückwand des Lieferwagens gelehnten David Becker.
»Ihr habt ihn umgebracht!«, stammelte sie. »Ihr habt ihn umgebracht!«
Fontaine begriff gar nichts mehr. »Sie kennen diesen Mann?«
Auf unsicheren Beinen wankte Susan vom Podium herab. Ein kleines Stück vor der Bildwand blieb sie stehen. Wie betäubt starrte sie fassungslos zu der riesigen Projektion hinauf und rief wieder und
wieder den Namen des Mannes, den sie liebte. »David, David!«
KAPITEL 115
In David Beckers Kopf herrschte absolute Leere. Du bist tot. Aber da war dieser ferne Klang, der Klang einer Stimme.
»David!«
Das entsetzliche Brennen unter seinen Armen ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Das Blut rollte wie Feuer durch seine Adern. Das ist nicht dein Körper! Aber er hörte diese Stimme, die nach ihm rief. Sie war dünn und fern, und doch war sie ein Teil von ihm. Es gab auch noch andere Stimmen, unvertraute und belanglose. Er bemühte sich, die anderen Stimmen auszublenden. Nur diese eine Stimme
bedeutete ihm etwas. Sie wurde klarer und verschwamm wieder.
»David ... was haben sie mit dir gemacht ... »
Ein flackerndes Licht war zu sehen, ganz schwach nur, nicht mehr als ein hellgrauer Fleck. Becker wollte sich bewegen. Quälender Schmerz. Er versuchte, etwas zu sagen. Ohnmächtiges Schweigen.
Und immer noch rief diese Stimme.
Jemand war zu ihm getreten, hob ihn hoch. Becker bewegte sich auf die Stimme zu – oder wurde er bewegt? Die Stimme rief. Becker glotzte ohne zu begreifen auf ein leuchtendes Viereck. Ein Bildschirm. Eine Frau war darauf zu erkennen, die aus einer anderen
Welt zu ihm emporschaute. Will sie zusehen, wie du stirbst?
»David...«
Er kannte die Stimme. Es war die Stimme eines Engels. Der Engel war gekommen. »David, ich liebe dich!«, sagte der Engel.
Und plötzlich war ihm alles wieder präsent.
Susan streckte die Arme nach der Bildwand aus. Vom Ansturm der Gefühle hin und her gerissen, lachte und weinte sie zugleich. »David!
Ich ... ich habe gedacht, du wärst ...«
Feldagent Smith hatte David Becker auf den Klappstuhl vor dem kleinen Monitor gehievt. »Er ist noch ein bisschen neben der Spur,
Ma'am. Geben Sie ihm noch ein paar Sekunden.«
»A ... aber«, stammelte Susan, »ich habe doch die Meldung gesehen, dass er ...«
Smith nickte. »Haben wir auch gesehen, aber Hulohot war wohl etwas voreilig.«
»Aber das Blut...«
»Nur eine Fleischwunde. Wir haben ihm einen Schnellverband angelegt.«
Susan rang nach Worten.
Agent Collander ließ sich aus dem Off vernehmen. »Wir mussten ihm eins mit der neuen J23 verpassen – ein lang wirkendes Betäubungsgeschoss. Das brennt vermutlich wie die Hölle, aber
anders konnten wir ihn nicht aus dem Verkehr ziehen.«
»Keine Bange, Ma'am«, pflichtete Smith bei. »Er ist gleich wieder auf den Beinen.«
David Becker starrte auf den Monitor vor seiner Nase. Er war desorientiert und benommen. Der Bildschirm zeigte einen Raum. Einen Raum, in dem es drunter und drüber ging. Susan war auch da.
Sie stand auf einer freien Bodenfläche und schaute gleichzeitig lachend und weinend zu ihm herauf.
»Oh David, Gott sei Dank! Ich habe gedacht, ich hätte dich für immer verloren!«
David rieb sich die Schläfen. Er rutschte näher an den Bildschirm heran und zog das Schwanenhals-Mikrofon dicht vor seinen Mund.
»Susan?«
Susan konnte es nicht fassen. Davids kräftige Züge füllten die ganze Wand vor ihr. Seine Stimme dröhnte.
»Susan, ich muss dich unbedingt etwas fragen.« Die Klangfülle und die Lautstärke seiner Stimme brachten die Hektik in der Datenbank vorübergehend zum Erliegen. Die Leute ließen alles liegen
und stehen und schauten auf den Bildschirm.
»Susan Fletcher«, dröhnte die Stimme, »willst du mich heiraten?«
Es wurde still im Raum. Ein Clipboard samt einem Becher mit Bleistiften schepperte auf den Boden. Keiner machte Anstalten, die Bescherung aufzuheben. Nur das leise Surren der Lüfter in den Terminals und David Beckers vom Mikrofon aufgefangener
regelmäßiger Atem waren zu hören.
»Dav... David«, stammelte Susan, die nicht merkte, dass siebenunddreißig Leute mit angehaltenem Atem hinter ihr standen und zuhörten. »Das hast du mich doch schon einmal gefragt, vor fünf
Monaten. Ich habe damals Ja gesagt, weißt du das denn nicht mehr?«
»Oh doch.« David Becker lächelte. »Aber diesmal...« Er streckte die linke Hand der Kamera entgegen. Am Ringfinger schimmerte ein
goldener Reif. »Aber diesmal habe ich auch einen gravierten Ring!«
KAPITEL 116
»Einen gravierten Ring? Mr Becker, bitte lesen Sie uns die Inschrift vor!«, verlangte Fontaine.
Jabba saß vor seiner Tastatur und schwitzte. »Ja«, bekräftigte er, »lesen Sie uns die vermaledeite Inschrift vor.«
Susan Fletcher stand mit weichen Knien und glühenden Wangen dabei. Kein Mensch kümmerte sich mehr um die Arbeit. Alle starrten hinauf zu der riesigen Projektion von David Becker, der den Ring abgezogen hatte und zwischen den Fingern drehte, um die Gravierung
zu lesen.
»Und lesen Sie bitte fehlerfrei«, sagte Jabba. »Ein Fehler, und wir sind im Arsch!«
Fontaine sah Jabba missbilligend an. Wenn es etwas gab, womit der Direktor der NSA Erfahrung hatte, dann waren es Stresssituationen. Es war nie gut, zusätzlichen Druck zu machen. »Ganz ruhig, Mr Becker«, sagte er. »Wenn wir einen Fehler machen,
geben wir den Code eben noch einmal ein, bis er stimmt.«
»Vergessen Sie diesen Rat, Mr Becker!«, fauchte Jabba, »und machen Sie es gefälligst gleich beim ersten Mal richtig. Kill-Codes reagieren auf Fehlversuche meist mit einer Strafe, damit man nicht mit Herumprobieren weiterkommt. Eine fehlerhafte Eingabe, und die Programmschleife läuft schneller. Zwei Fehler, und es heißt: Klappe
zu, Affe tot!«
Fontaine runzelte die Stirn. Er wandte sich dem Bildschirm zu. »Mein Fehler, Mr Becker. Lesen Sie also bitte sorgfältig – sehr, sehr sorgfältig.«
Becker nickte. Er studierte noch einmal die Inschrift und begann,
ruhig und konzentriert von dem Ring abzulesen. »Q. ... U... I... S... Leerzeichen ... C...«
Jabba und Susan fielen ihm gleichzeitig ins Wort. »Leerzeichen?« Jabba hatte aufgehört zu tippen. »Da gibt es einen Zwischenraum?«
Achselzuckend sah Becker noch einmal nach. »Ja, und es ist auch nicht der einzige.«
»Warum geht es nicht weiter?«, erkundigte sich Fontaine. »Bekomme ich hier etwas nicht mit?«
»Sir«, sagte Susan, der man die Verwunderung ansehen konnte, »es ist... es ist nur...«
»Ganz meine Meinung«, sagte Jabba. »Sehr merkwürdig. Passwörter haben niemals Zwischenräume.«
Brinkerhoff schluckte vernehmlich. »Und das heißt?«
»Jabba will sagen«, schaltete Susan sich ein, »dass das vielleicht gar nicht der Kill-Code ist.«
»Natürlich ist es der Kill-Code!«, trumpfte Brinkerhoff auf. »Was denn sonst? Wieso hätte Tankado den Ring denn sonst loswerden wollen? Wer zum Teufel lässt sich schon eine zufällige Folge von
Buchstaben auf seinen Ring gravieren?«
Fontaine brachte Brinkerhoff mit einem strengen Blick zum Schweigen.
»Äh, Leute?«, ließ sich Becker vernehmen, der offenbar zögerte, sich einzumischen. »Hier ist immer von einer zufälligen Folge die
Rede. Ich muss aber darauf hinweisen, dass... die Buchstabenfolge auf diesem Ring ist keineswegs zufällig.«
»Wie bitte?«, platzte es aus sämtlichen auf dem Podium Versammelten heraus.
Becker machte ein betretenes Gesicht. »Tut mir Leid, aber das sind ganz klar einzelne Wörter. Zugegeben, sie stehen sehr eng beieinander und könnten einem auf den ersten Blick zufällig vorkommen, aber bei näherem Hinsehen kann man ganz klar erkennen, dass die Inschrift...
naja, sie ist Lateinisch.«
Jabba schnappte nach Luft. »Wollen Sie mich verarschen?«
Becker schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Hier steht Quis custodiet ipsos custodes, und das heißt grob übersetzt ...«
»Wer überwacht die Wächter?«, fiel ihm Susan ins Wort.
Becker war perplex. »Susan, ich wusste gar nicht, dass du ...«
»Es war Tankados Leitsatz, ein Zitat aus den Satiren des Juvenal«, rief ihm Susan zu. »Wer überwacht die Wächter? Wer überwacht die
NSA, während wir die Welt überwachen?«
»Ist es nun der Kill-Code, oder nicht?«, wollte Midge wissen.
»Es muss der Kill-Code sein«, erklärte Brinkerhoff.
»Ich weiß nicht, ob das der Code ist«, sagte Jabba. »Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Tankado eine nicht zufällige Zeichenfolge
benutzt haben sollte.«
»Dann lassen Sie doch einfach die Zwischenräume weg und tippen den verdammten Code endlich ein!«, schrie Brinkerhoff gereizt.
Fontaine stand reglos da und ließ sich die neue Lage durch den Kopf gehen. Er wandte sich an Susan. »Miss Fletcher, was halten Sie
von der Sache?«
Susan dachte kurz nach. Sie konnte zwar nicht den Finger darauf legen, aber irgendetwas kam ihr komisch vor. Tankados Gedankenführung und seine Programmiermethoden waren stets kristallklar gewesen. Sie fand es merkwürdig, dass hier die Zwischenräume eliminiert werden sollten. Es war zwar nur eine Kleinigkeit, aber irgendwie ein Notbehelf und definitiv keine saubere Lösung. Den krönenden Abschluss von Tankados tödlichem Hieb
hätte sie sich eleganter vorgestellt.
»Für mich ist das irgendwie nicht stimmig«, sagte sie schließlich. »Ich glaube nicht, dass wir hier den Kill-Code vor uns haben.«
Fontaine saugte nachdenklich die Luft ein. Seine dunklen Augen ruhten prüfend auf Susan. »Miss Fletcher, wenn Sie das nicht für den Zugangscode halten, wie erklären Sie sich dann, dass Tankado den Ring fortgeben wollte? Wenn er gewusst hat, dass wir seine Mörder sind – meinen Sie nicht auch, dass er nur deshalb den Ring verschwinden lassen wollte, um uns eins auszuwischen?«
Eine neue Stimme mischte sich in das Gespräch. Es war Agent Collander in Sevilla. Über Beckers Schulter gelehnt, sprach er ins Mikrofon. »Äh, Herr Direktor, ich weiß nicht, ob das etwas zu bedeuten hat, aber meiner bescheidenen Meinung nach hat Tankado
nicht mitbekommen, dass ein Attentat auf ihn verübt worden ist.«
»Wie das?«, erkundigte sich Fontaine.
»Hulohot war ein Profi, Sir. Wir haben das Attentat beobachtet,
aus nur fünfzig Metern Entfernung. Alles deutet darauf hin, dass Tankado es nicht als gezielten Angriff empfunden hat.«
»Von wegen: ›Alles deutet darauf hin‹!«, meuterte Brinkerhoff. »Tankado hat seinen Ring fortgegeben. Das ist doch Beweis genug!«
Fontaine ergriff wieder das Wort. »Agent Smith, was veranlasst Sie zu dieser Einschätzung? Weshalb soll Tankado nicht gemerkt
haben, dass es ein Attentat gewesen ist?«
Smith räusperte sich. »Hulohot hat ihn mit einem NTG erledigt – mit einem nichtinvasiven Traumageschoss. Das ist im Prinzip ein Gummiklumpen, der beim Aufprall auf das Ziel zerplatzt. Sehr geräuschlos. Sehr sauber. Mr Tankado hat vermutlich nur einen stechenden Schmerz gespürt, bevor ziemlich schnell der Herztod
eingetreten ist.«
»Ein Traumageschoss«, sinnierte Becker. »Daher also die blauen Flecken auf Tankados Brust!«
»Man kann nicht davon ausgehen, dass Tankado aus dem Schmerz auf einen Attentäter geschlossen hat«, meinte Smith.
»Aber dennoch hat er den Ring weggegeben«, stellte Fontaine fest.
»Das stimmt, Sir. Aber er hat nicht nach dem Attentäter Ausschau gehalten. Wenn man angeschossen wird, hält man immer nach dem
Schützen Ausschau, Sir. Das ist ein unwillkürlicher Reflex.«
Fontaine war konsterniert. »Und Sie sagen, Tankado hat sich nicht nach Hulohot umgesehen?«
»Nein, Sir, hat er nicht. Wir haben die Szene dokumentiert. Falls
Sie es sich ansehen wollen ...«
»Die nächste Schale bricht zusammen«, rief ein Techniker. »Der Wurm hat es zur Hälfte geschafft!«
»Scheiß auf die Dokumentation!«, schrie Brinkerhoff. »Nun gebt schon den verdammten Kill-Code ein, damit wir es hinter uns
bringen!«
Jabba seufzte. Er war auf einmal ganz ruhig. »Chef, wenn wir den falschen Code eingeben ...«
»Wenn Tankado nicht mitbekommen hat, dass wir seine Mörder sind«, unterbrach Susan, »dann ergibt sich daraus eine ganze Reihe
Fragen, auf die wir eine Antwort finden müssen.«
»Wie viel Zeit haben wir noch?«, erkundigte sich Fontaine.
Jabba hob den Blick zur VR »Ungefähr zwanzig Minuten. Und ich möchte sehr darum bitten, diese Zeit sinnvoll zu nutzen.«
Fontaine blieb einen Moment lang stumm. »Also gut«, sagte er seufzend, »zeigen Sie uns die Dokumentation.«
KAPITEL 117
Die Stimme von Agent Smith knisterte im Lautsprecher.
»Noch zehn Sekunden bis zum Beginn der Videoübertragung. Wir werden ein unbearbeitetes Bild ohne Ton und so nah wie möglich am
Echtzeit-Verlauf senden.«
Auf dem Podium war jede Bewegung erstorben. Alles wartete gespannt. Jabba drückte ein paar Tasten und veränderte die Anordnung auf der Videowand. Tankados Botschaft stand nun ganz
links:
JETZT
HILFT
NUR
NOCH
DIE
WAHRHEIT
Auf der rechten Seite der Videowand war ein Standbild vom Inneren des Lieferwagens mit Becker und den beiden Agenten zu sehen, die sich um die Kamera drängten. In der Mitte der Wand erschien ein verschwommener Rahmen. Er löste sich in Bildrauschen
auf, aus dem sich eine Parkszenerie in Schwarzweiß entwickelte. »Übertragung steht«, kam die Ansage von Agent Smith.
Die Bilder flimmerten und ruckten wie in einem alten Film – eine Begleiterscheinung der geringen Bildfrequenz, wodurch die zu übertragende Informationsmenge erheblich reduziert wurde, was eine
schnellere Übermittlung möglich machte.
Die Einstellung zeigte einen riesigen Promenadenplatz, der an seinem fernen Ende an eine halbkreisförmige prächtige Fassade stieß – den Palacio de España, der Ende der Zwanzigerjahre für die Ibero-Amerikanische Weltausstellung erbaut worden war. Im Vordergrund
standen Bäume. Der Park war menschenleer.
»Dritte Schale weggefressen«, rief ein Techniker. »Unser Bösewicht hat Appetit!«
Smith begann die Bilder zu erläutern. Sein Kommentar hatte die kalte Distanz des langjährigen Agenten. »Das ist eine Einstellung aus dem Lieferwagen«, sagte er, »aus ungefähr fünfzig Metern Entfernung vom Tatort. Tankado nähert sich von rechts. Hulohot befindet sich
links hinter den Bäumen.«
»Wir haben nur wenig Zeit«, sagte Fontaine ungeduldig. »Lassen Sie uns bitte gleich zum Kern des Geschehens kommen.«
Collander fummelte an ein paar Knöpfen herum. Der Bildablauf wurde schneller.
Mit Spannung sahen alle ihren früheren Mitarbeiter und Kollegen Tankado ins Bild kommen. Der Schnelllauf der Videoaufzeichnung verlieh dem Ganzen etwas Groteskes. Tankado stiefelte ruckhaft auf die Promenade los. Er schien von seiner Umgebung sehr angetan. Er beschirmte die Augen und schaute zu der turmgeschmückten hohen
Fassade hinüber.
»Gleich kommt's«, kündigte Smith an. »Hulohot ist ein Profi. Er erledigt die Sache mit einem einzigen Schuss.«
Smith hatte nicht zu viel versprochen. Hinter den Bäumen links im Bild blitzte es auf. Im nächsten Moment griff sich Tankado taumelnd an die Brust. Die Kamera schwenkte auf ihn und zoomte ihn heran.
Das wackelige Bild wurde unscharf und wieder scharf.
Smith setzte seine kühle Kommentierung des schnellen Bilddurchlaufs fort. »Wir können beobachten, dass es augenblicklich
zu einer schweren Herzinsuffizienz kommt.«
Susan wurde von den Bildern übel. Tankado hatte die verkrüppelten Hände an die Brust gepresst. Verwirrung und
Schrecken sprachen aus seinen Zügen.
»Wie Sie sehen, richtet sich Tankados Blick nach unten, auf ihn selbst«, kommentierte Smith. »Er hebt kein einziges Mal den Blick
und schaut sich um.«
»Und darauf kommt es an?«, sagte Jabba in einer Mischung aus Frage und Feststellung.
»Ganz entscheidend«, bestätigte Smith. »Wenn Tankado auch nur den leisesten Verdacht einer Fremdeinwirkung gehabt hätte, würde sein Blick instinktiv die Umgebung abgesucht haben. Aber wie Sie
sehen, tut er es nicht.«
Auf dem Bildschirm brach Tankado in die Knie, die Hände immer noch an die Brust gepresst. Sein Blick hob sich kein einziges Mal. Ensei Tankado war ein sich selbst überlassener Mann, der einsam und
allein eines vermeintlich natürlichen Todes starb.
»Der rapide Eintritt des Todes ist ungewöhnlich«, sagte Smith leicht irritiert. »So schnell töten Traumageschosse normalerweise
nicht. Bei größeren Zielen sind sie oft noch nicht einmal tödlich.«
»Er hatte einen Herzfehler«, bemerkte Fontaine ungerührt.
Smith hob beeindruckt die Brauen. »Dann war die Waffe ausgezeichnet gewählt.«
Susan sah Tankado aus dem Kniestand auf die Seite kippen, bis er schließlich auf dem Rücken lag. Die Hände an die Brust gepresst, starrte er nach oben. Plötzlich schwenkte die Kamera zurück zu der Baumgruppe. Ein Mann mit Nickelbrille kam ins Bild. Er trug einen etwas zu groß geratenen Aktenkoffer. Während er über die Promenade auf den sich windenden Tankado zuschritt, begannen seine
Fingerspitzen in stummem Tanz gegeneinander zu trommeln.
»Er gibt jetzt in seinen Monocle-Computer die Meldung ein, dass Tankado ausgeschaltet ist«, erläuterte Smith. Er streifte Becker mit einem Seitenblick. »Mir scheint, Hulohot hatte die schlechte Gewohnheit, Vollzug zu melden, bevor das Opfer den letzten
Atemzug getan hat.«
Collander ließ die Aufzeichnung noch etwas schneller laufen. Die Kamera verfolgte Hulohot auf dem Weg zu seinem Opfer. Plötzlich platzte aus einer nahe gelegenen Arkade ein älterer Herr heraus, lief zu Tankado und kniete sich neben ihm auf die Erde. Unmittelbar darauf traten aus der gleichen Arkade zwei weitere Personen – ein fettleibiger Mann und eine rothaarige Frau, die sich ebenfalls zu
Tankado begaben.
»Ungünstige Wahl des Tatorts«, bemerkte Smith. »Hulohot hat fälschlich geglaubt, sein Opfer isoliert zu haben.«
Auf dem Bildschirm sah man Hulohot einen Moment innehalten, worauf er sich wieder hinter die Bäume zurückzog – offenbar, um
abzuwarten.
»Jetzt kommt die Übergabe des Rings«, soufflierte Smith. »Wir
haben es beim ersten Mal selbst nicht bemerkt.«
Susan schaute hinauf zu den schrecklichen Bildern. Nach Luft ringend, versuchte Tankado sich den neben ihm knienden barmherzigen Samaritern verständlich zu machen. Schließlich stieß er die linke Hand dem alten Herrn beinahe ins Gesicht und wedelte ihm mit seinen nach außen abstehenden missgebildeten Fingern verzweifelt vor der Nase herum. Die Kamera ging auf die drei deformierten Finger. An einem von ihnen glänzte in der spanischen Sonne unübersehbar ein goldener Ring. Tankado stieß erneut den Arm hoch. Der alte Mann prallte zurück. Tankado probierte es nun bei der Frau. Auch ihr hielt er beschwörend seine drei verkrüppelten Finger dicht vors Gesicht. Der Ring gleißte in der Sonne. Die Frau wandte den Blick ab. Tankado, inzwischen offenbar unfähig, einen Laut von
sich zu geben, machte bei dem Fettleibigen einen letzten Versuch.
Der ältere Herr stand plötzlich auf und lief davon wie jemand, der Hilfe holen will. Tankado, dessen Kräfte rapide zu schwinden schienen, hielt dem Dicken immer noch den Ring vors Gesicht. Schließlich ergriff der Dicke stützend das emporgereckte Handgelenk des Sterbenden. Tankado starrte hinauf zu seinen Fingern, seinem Ring, und dann in die Augen des Dicken. Er nickte dem Dicken fast unmerklich wie zur Bestätigung zu. Es sah aus, als hätte der Dicke
ihm einen letzten Wunsch erfüllt.
Dann fiel Ensei Tankado schlaff in sich zusammen.
Jabha stöhnte auf. »Gütiger Gott.«
Die Kamera schwenkte auf Hulohots Versteck. Der Attentäter war nicht mehr da. Ein Motorradpolizist kam die Avenida Firelli heraufgebraust. Die Kamera ging hastig zurück auf Tankado. Die Frau, die neben ihm kniete, schaute sich nervös um. Sie hatte offenbar die Polizeisirene gehört. Sie sprang auf und zerrte an ihrem fettleibigen Begleiter, um ihn zum Gehen zu bewegen, worauf die
beiden sich eilends entfernten.
Die Kamera holte Tankado groß ins Bild. Seine Hände lagen gefaltet auf der leblosen Brust.
Der Ring war fort.
KAPITEL 118
Da haben wir den Beweis«, sagte Fontaine mit Nachdruck. »Tankado wollte den Ring loswerden. Der Ring sollte verschwinden –
damit wir ihn nicht finden können.«
»Aber, Sir, das ergibt doch keinen Sinn«, wandte Susan ein. »Wozu hätte Tankado den Kill-Code verschwinden lassen sollen, wenn er nicht mitbekommen hat, dass er das Opfer eines
Mordanschlags war?«
»Ganz meine Meinung«, sagte Jabba. »Er war ein Rebell, aber ein Rebell mit Grundsätzen. Uns zu zwingen, dass wir mit der Wahrheit über den TRANSLTR herausrücken, ist eine Sache – aber unsere streng geheime zentrale Datenbank zum öffentlichen Jahrmarkt zu
machen ist eine andere.«
Fontaine starrte wenig überzeugt vor sich hin. »Sie glauben doch nicht etwa, dass Tankado daran gelegen war, diesen Wurm aufzuhalten? In seiner Todesstunde soll sein letzter Gedanke der
armen NSA gegolten haben?«
»Vierte Schale verliert an Wirkung«, schrie ein Techniker. »In maximal fünfzehn Minuten sind wir allseits verwundbar!«
Fontaine nahm das Heft in die Hand. »Ich will Ihnen einmal etwas sagen«, erklärte er. »In fünfzehn Minuten wird sich jeder Schurkenstaat dieser Erde informieren können, wie man eine Atomrakete baut! Falls jemand in diesem Raum einen besseren Kandidaten für den Kill-Code vorzuschlagen hat als diesen Ring, bin ich ganz Ohr.« Er machte eine abwartende Pause, doch keiner sagte ein Wort. Fontaine blickte Jabba fest in die Augen. »Jabba, Tankado hat diesen Ring nicht ohne Grund verschwinden lassen. Ob er ihn aus dem Verkehr ziehen wollte, oder ob er gedacht hat, dass der Dicke zur nächsten Telefonzelle rennt und uns anruft, ist mir herzlich egal. Mein Entschluss steht jedenfalls fest. Wir werden dieses Zitat eingeben, und
zwar sofort!«
Jabba holte tief Luft. Natürlich hatte Fontaine Recht – eine aussichtsreichere Alternative gab es ja nicht. Außerdem wurde die Zeit allmählich knapp. Jabba setzte sich und rollte mit seinem Stuhl zur Tastatur. »Mr Becker, bitte die Inschrift! Aber langsam und
deutlich.«
David Becker las von dem Ring ab, und Jabba tippte. Am Ende überprüften sie noch einmal, ob alles richtig geschrieben war, und löschten sämtliche Wortzwischenräume. Am oberen Rand des
zentralen Segments der Bildwand standen nun die Buchstaben:
QUISCUSTODIETIPSOSCUSTODES
»Mir gefällt das nicht«, murmelte Susan. »Es ist einfach nicht stimmig.«
Jabba zögerte. Sein Finger schwebte über der Enter-Taste.
»Nun machen Sie schon«, drängte Fontaine.
Jabba hieb auf die Taste.
Schon in der nächsten Sekunde hatte auch der Letzte im Raum begriffen, dass es ein Fehler gewesen war.
KAPITEL 119
»Es war der falsche Code!«, schrie Soschi hinten im Raum, während alles vor Schreck verstummte. »Der Wurm legt Tempo zu!«
Vor ihnen auf der Bildwand prangte die Fehlermeldung:
FALSCHE EINGABE NUR ZIFFERN ZULÄSSIG
»Oh, verdammt, nur Ziffern!«, kreischte Jabba. »Wir müssen eine Zahl suchen! Dieser ganze Spruch war Scheiße! Wir sind geliefert!«
»Der Wurm hat sein Tempo verdoppelt!«, schrie Soschi. »Wir müssen zur Strafe eine Extrarunde drehen!«
In der Bildmitte, genau unter der Fehlermeldung, zeichnete die VR ein Furcht erregendes Bild. Beim Zusammenbruch der dritten Schale schoss das halbe Dutzend kurzer schwarzer Linien, die die marodierenden Hacker repräsentierten, gierig dem Kern entgegen. Mit
jedem Augenblick tauchten neue Linien auf.
»Sie schwärmen aus!«, schrie Soschi.
»Wir registrieren Einwahlen aus aller Welt!«, rief ein anderer Techniker. »Die Neuigkeit macht die Runde!«
Susans Blick glitt von der zusammenbrechenden Firewall zum rechten Rand der Bildwand, wo das Attentat als Endlosschleife lief. Immer wieder dasselbe: Tankado greift sich an die Brust, stürzt, ein paar nichts ahnende Touristen rennen herbei, Tankado drängt ihnen mit Panik im Blick seinen Ring auf. Das ergibt einfach keinen Sinn,
räsonierte sie. Er hat doch nicht gewusst, dass wir dahinter stecken ...
Ihre Gedanken liefen im Kreis. Wir müssen etwas übersehen haben.
Auf der Bildwand hatte sich die Zahl der gegen die Schutzwälle anstürmenden Hacker in den letzten Minuten verdoppelt. Von jetzt an schnellte ihre Anzahl exponentiell in die Höhe. Hacker waren wie die Hyänen eine große Sippschaft, stets eifrig darauf bedacht, unter ihren
Artgenossen die Kunde zu verbreiten, wo es etwas zu plündern gab.
Leland Fontaine hatte genug gesehen. »Herunterfahren!«, befahl er. »Fahren Sie die verdammte Anlage herunter!«
Jabba blickte stur geradeaus wie der Kapitän eines sinkenden Schiffs.
»Zu spät, Sir. Wir saufen ab.«
KAPITEL 120
Der Sys-Sec-Abteilungsleiter stand bewegungslos da. Er hatte die Hände auf dem kahlen Kopf verschränkt und bot das Bild von vierhundert Pfund Fassungslosigkeit. Er hatte inzwischen Anweisung zum Abschalten der Stromzufuhr gegeben, aber der Befehl kam gut zwanzig Minuten zu spät. Bis die Maßnahme griff, konnte jeder Hacker mit einem Hochgeschwindigkeits-Modem atemberaubende Mengen von streng geheimem Material aus dem Datenspeicher
herunterladen.
Soschi riss Jabba aus seinem Albtraum. Sie kam mit einem neuen Ausdruck zum Podium gerannt. »Jabba, ich habe etwas entdeckt!«, sprudelte sie aufgeregt hervor. »Im Quellcode sind jede Menge
Kommentarzeilen! Überall Vierer-Buchstabengruppen!«
Jabba war wenig beeindruckt. »Wir sind auf der Suche nach einer Zahl, verdammt nochmal! Keine Buchstaben, der Kill-Code ist eine
Zahl!«
»Aber da sind nun mal diese Kommentarzeilen! Tankado ist zu gut, um überflüssige Zeichen zu hinterlassen, und schon gar nicht so
viele!«
Diese überflüssigen Zeichen hatten für die Funktion des Programms keinerlei Bedeutung. Sie steuerten nichts, bezogen sich auf nichts, führten zu nichts und wurden normalerweise im abschließenden Funktionsprüfungs- und Kompilierungsprozess
gelöscht.
Jabba nahm den Ausdruck zur Hand und studierte ihn. Fontaine stand schweigend dabei.
Susan lugte über Jabbas Schulter auf den Ausdruck. Tatsächlich, nach jeweils ungefähr zwanzig Programmzeilen folgten vier
zusammenhangslose Buchstaben. Sie überflog die Gruppen.
PRER
UARE
RSRO
»Vierer-Buchstabengruppen?«, rätselte sie. »Eindeutig keine Bestandteile des Programms.«
»Vergessen Sie's«, grollte Jabba. »Sie greifen nach einem Strohhalm.«
»Vielleicht auch nicht«, gab Susan zurück. »Es gibt zahllose Kodierungsverfahren, die mit Vierergruppen arbeiten. Das könnte ein
Code sein.«
»Oh ja«, grunzte Jabba, »und ich weiß auch, was da steht: ›Ätsch, ihr seid im Arsch!‹« Er blickte hoch zur VR. »In ungefähr zehn
Minuten ist es so weit.«
Susan achtete nicht auf Jabbas Kommentar. »Wie viele Buchstabengruppen haben wir denn?«, fragte sie Soschi.
Soschi zuckte die Achseln, aber dann machte sie sich an Jabbas Terminal breit und tippte alle Buchstabengruppen ab. Als sie fertig war und sich mit ihrem Bürostuhl vom Tisch abstieß, betrachteten alle
verständnislos die Zeichen auf der Bildwand:
PRER UARE RSRO NKBL ICFS DILE M HUC NVIM UIEH AECE NERI GRHN TDHM ADET EDIA SENE
Susan wer die Einzige, die lächelte. »Das kommt mir bekannt vor«, sagte sie. »Viererblöcke – wie bei der Enigma.«
Fontaine nickte knapp. Die Enigma, die zwölf Tonnen schwere
monströse Chiffriermachine der Nazis im Zweiten Weltkrieg, war der berühmteste mechanische Verschlüsselungsapparat aller Zeiten. »Großartig«, stöhnte er. »Hat hier vielleicht jemand zufällig eine Enigma dabei?«
»Das ist nicht der Punkt«, sagte Susan, die auf einmal aktiv wurde. Jetzt ging es um ihr Spezialgebiet. »Der Punkt ist, dass wir es mit einem Code zu tun haben. Tankado hat uns einen Fingerzeig hinterlassen! Er spielt mit uns, fordert uns auf, den Kill-Code auszuknobeln. Er hat Spuren gelegt, wir können sie nur noch nicht
richtig lesen.«
»Ach was!«, schnauzte Jabba. »Tankado hat uns nur einen einzigen Ausweg gelassen – zuzugeben, dass wir den TRANSLTR haben. Das wär's gewesen. Das war unsere Chance. Aber die haben
wir uns selber versaut!«
»Da muss ich Jabba leider Recht geben«, sagte Fontaine. »Ich bezweifle, dass Tankado gewillt war, uns mit dem Ausstreuen von
Hinweisen auf seinen Kill-Code aus der Patsche zu helfen.«
Susan nickte diffus. Sie erinnerte sich an Tankados Anagramm mit NDAKOTA. Sie betrachtete die Buchstaben auf dem Bildschirm. War
das vielleicht wieder eines von seinen Wortspielen?
»Vierte Schale zur Hälfte abgestürzt«, rief ein Techniker.
Auf dem Bildschirm fraß sich die Masse der schwarzen Maden tiefer in die letzten beiden verbliebenen Schutzringe hinein.
David hatte ruhig dagesessen und auf dem Monitor die Entwicklung des Dramas mitverfolgt. »Susan«, meldete er sich, »mir ist ein Gedanke gekommen. Besteht dieser Text vielleicht aus
sechzehn Vierergruppen?«
»Oh, mein Gott«, schniefte Jabba, »jetzt wollen auf einmal alle ihren Senf dazugeben.«
Susan achtete nicht auf ihn. Sie zählte die Gruppen durch. »Ja, es sind sechzehn.«
»Du musst die Zwischenräume eliminieren«, sagte Becker bestimmt.
»David«, sagte Susan etwas pikiert, »ich glaube nicht, dass du verstehst, worum es hier geht. Diese Vierergruppen sind ...«
»Zwischenräume löschen«, beharrte David.
Susan zögerte, doch dann nickte sie Soschi zu, die behände alle Zwischenräume eliminierte. Das Ergebnis war allerdings auch nicht
erhellender als zuvor.
PRERUARERSRONKBLICFSDILEMHUCNVIMUIEHAECEN
Jabba fuhr aus der Haut. »Jetzt reicht's mir aber! Schluss mit der Spielerei! Der Wurm wühlt mit doppeltem Tempo. Wir haben vielleicht noch acht Minuten! Wir sind auf der Suche nach einer Zahl
und nicht nach irgendwelchen schlauen Sprüchen!«
»Sechzehn mal vier«, sagte Becker ruhig. »Susan, rechne das mal aus.«
Susan schaute hinauf zu David auf dem Bildschirm. Rechne das mal aus! Er kann doch überhaupt nicht rechnen. Vokabeln und Konjugationen – ja, die konnte er reproduzieren wie ein Fotokopierer,
aber rechnen?
»Denk an eine Multiplikationstabelle«, sagte David.
Jetzt auch noch eine Multiplikationstabelle!, staunte Susan. Was geht in ihm vor?
»Sechzehn mal vier«, sagte Susan leichthin, »ergibt vierundsechzig – na, und?«
David beugte sich vor zur Kamera. Sein Gesicht füllte die ganze Bildwand. »Vierundsechzig Buchstaben ...«
Susan nickte. »Klar, aber sie sind ...« Sie erstarrte.
»Vierundsechzig Buchstaben«, wiederholte David.
Susan schnappte nach Luft. »Oh, mein Gott, David! Du bist ein Genie!«
KAPITEL 121
»Noch sieben Minuten!.«, schrie ein Techniker.
»Acht Säulen zu je acht Buchstaben!«, rief Susan aufgeregt.
Soschi begann zu tippen. Fontaine sah ihr schweigend zu. Der vorletzte Schutzschild wurde immer dünner.
»Vierundsechzig Buchstaben!« Susan war wieder ganz da. »Das ergibt ein Quadrat!«
»Na, und?«, fuhr Jabba dazwischen.
Zehn Sekunden darauf hatte Soschi den Buchstabensalat in ein Quadrat einsortiert. Auf dem Bildschirm standen nun acht Säulen zu je acht Buchstaben. Jabba betrachtete das neue Bild. Verzweifelt warf er die Arme in die Luft. Das jetzige Layout gab für ihn auch nicht
mehr her als das ursprüngliche:
P | R | E | R | U | A | R | E |
R | S | R | O | N | K | B | L |
I | C | F | S | D | I | L | E |
M | H | U | C | N | V | I | M |
U | I | E | H | A | E | C | E |
N | E | R | I | G | R | H | N |
T | D | H | M | A | D | E | T |
E | D | I | A | S | E | N | E |
»Klar wie Kloßbrühe«, stöhnte Jabba.
»Miss Fletcher, bitte klären Sie uns auf!«, verlangte Fontaine.
Alle Köpfe wandten sich Susan zu, die den Buchstabenblock studierte. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und wurde immer
breiter. »Mensch, David!«
Alle sahen einander ratlos an.
David zwinkerte auf seinem kleinen Monitor Susan zu. »Vierundsechzig Buchstaben! Julius Caesar hat wieder einmal
zugeschlagen.«
Midge verstand gar nichts mehr. »Wovon ist hier eigentlich die Rede?«
»Caesars Code! Von oben nach unten zu lesen«, erwiderte Susan. »Tankado will uns etwas mitteilen.«
KAPITEL 122
»Noch sechs Minuten«, ertönte der Ruf eines Technikers.
»Von oben nach unten abtippen!«, ordnete Susan an. »Nicht quer, von oben nach unten!«
Soschi machte sich an die Neuordnung des Texts. Wie wild hieb sie auf die Tastatur ein.
»Julius Caesar hat nach diesem Schema Geheimbotschaften verschickt«, platzte Susan heraus. »Die Anzahl der Buchstaben muss
immer ein Quadrat ergeben.«
»Fertig!«, verkündete Soschi.
Alle starrten auf die neue Textzeile, die von der Bildschirmwand herunterleuchtete.
»Immer noch Buchstabenmüll!«, höhnte Jabba verächtlich. »Seht
es euch doch an! Ein krauses Durcheinander von ...« Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken. Er bekam Augen wie Untertassen.
»Ach ... ach du Scheiße ...«
»Kann man wohl sagen«, flöteten Brinkerhoff und Midge im Chor.
Auch Fontaine war bereits auf den Trichter gekommen. Erkennbar beeindruckt wölbte er die Brauen.
Die vierundsechzig Buchstaben lasen sich jetzt so:
PRIMUNTERSCHIEDDERFUERHIROSCHIMA
UNDNAGASAKIVERDERBLICHENELEMENTE
»Soschi, fügen Sie die Wortzwischenräume ein«, sagte Susan. »Wir müssen jetzt ein Rätsel lösen.«
KAPITEL 123
Ein aschfahler Techniker kam zum Podium gerannt. »Die vorletzte Schale ist so gut wie hin!«
Jabba sah hinauf zur VR. Die Angreifer waren im Vormarsch. Sie hatten sich bis auf Haaresbreite an die fünfte und letzte Schutzschale
herangearbeitet. Die Uhr der Datenbank war so gut wie abgelaufen.
Susan verdrängte das Chaos um sie herum. Wieder und wieder las sie den inzwischen erstellten Klartext von Tankados Botschaft:
PRIMUNTERSCHIED DER FUER HIROSCHIMA UND NAGASAKI VERDERBLICHEN ELEMENTE
»Das ist ja noch nicht einmal eine Frage!«, jammerte Brinkerhoff. »Wie soll man da eine Antwort finden?«
»Leute, wir brauchen eine Zahl«, mahnte Jabba. »Der Kill-Code ist numerisch.«
»Ruhe!«, befahl Fontaine und wandte sich an Susan. »Miss Fletcher, nachdem Sie uns bis hierher gebracht haben, hängt jetzt alles
von Ihnen ab.«
Susan holte tief Luft. »Das Eingabefeld für den Kill-Code akzeptiert nur eine Zahleneingabe. Ich gehe deshalb davon aus, dass wir hier einen Hinweis auf die Codezahl vor uns haben. Der Text
erwähnt Hiroschima und Nagasaki – die beiden Städte, die durch eine Atombombe verwüstet worden sind. Vielleicht ergibt sich der KillCode aus der Zahl der Opfer oder aus der errechneten Schadensumme...« Susan hielt inne und überlas noch einmal die Textzeilen. »Es ist hier von einem ›Primunterschied‹ die Rede. Ich verstehe das als Frage nach dem primären, dem Hauptunterschied
zwischen Hiroschima und Nagasaki ... Tankado war offenbar der Meinung, dass zwischen diesen beiden Ereignissen irgendein grundsätzlicher Unterschied bestand.« Fontaine verzog zwar keine Miene, aber auch so war klar, dass seine Hoffnung zusehends sank. Der gesamte politische Hintergrund der beiden schlimmsten Bombenexplosionen der Menschheitsgeschichte schien analysiert, verglichen und in eine geheimnisvolle Zahl umgesetzt werden zu
müssen – und das innerhalb der nächsten fünf Minuten.
KAPITEL 124
»Letzter Schutzschild steht unter Beschuss!«
In der graphischen Darstellung der VR setzte die Erosion des letzten Schutzwalls ein. Schwarze, gierige Linien bohrten sich wie Maden in den schützenden Ring, um sich langsam zum Kern
vorzufressen.
Hacker aus der ganzen Welt gaben sich inzwischen ein Stelldichein. Fast mit jeder Minute verdoppelte sich ihre Zahl. Binnen kurzem würde jeder ausländische Spion, jeder Staatsfeind und jeder Terrorist, überhaupt jeder, der einen Computer hatte, ungehinderten
Zugang zum gesamten Geheimmaterial der US - Regierung haben.
Während sich die Techniker erfolglos mühten, der Datenbank den Saft abzudrehen, studierten die auf dem Podium Versammelten Tankados Botschaft. Selbst David und die beiden Agenten versuchten,
von ihrem Lieferwagen in Spanien aus das Rätsel zu knacken.
PRIMUNTERSCHIED DER FUER HIROSCHIMA UND NAGASAKI VERDERBLICHEN ELEMENTE
»Die für Hiroschima und Nagasaki verderblichen Elemente ...«, dachte Soschi laut vor sich hin. »Vielleicht weil Kaiser Hirohito sich
geweigert hat ...«
»Wir brauchen eine Zahl«, erinnerte Jabba, »und keine poli tischen Theorien! Hier geht es um Mathematik, nicht um Geschichte!«
Soschi verstummte.
»Susan, was ist mit den Zahlen der Opfer, den Schadensummen?«,
warf Brinkerhoff ein.
»Wir brauchen eine genau definierte Zahl«, überlegte Susan. »Aber solche Schätzungen macht man notwendigerweise mehr oder
weniger über den Daumen.« Sie betrachtete wieder den Text. »Hm ...
die verderblichen Elemente ...«
Fünftausend Kilometer entfernt riss David Becker die Augen auf. »Elemente!«, rief er. »Es geht hier um Naturwissenschaft, nicht um
Geschichte!«
Aller Augen flogen zum eingeklinkten Bild der Satellitenübertragung.
»Tankado hat wieder einmal zu einem Wortspiel gegriffen«, meldete sich David ungestüm. »Das Wort ›Elemente‹ hat mehrere
Bedeutungen.«
»Nun spucken Sie's schon aus!«, drängte Fontaine.
»Tankado redet hier von gefährlichen chemischen Elementen, nicht von verderblichen Elementen der Geschichte!«
Beckers Satz traf auf verständnislose Gesichter.
»Die Elemente!«, half er nach, »Chemie! Das periodische System! Hat denn niemand den Film über das Manhattan-Projekt gesehen, über die beiden Atombomben Fat Man und Big Boy! Die beiden Bomben waren nicht identisch. Sie hatten unterschiedliche Atomsprengsätze –
aus unterschiedlichen Elementen!«
Soschi klatschte in die Hände. »Ja, das stimmt, ich habe so was gelesen! Bei den beiden Bomben wurde nicht der gleiche
Atomsprengstoff verwendet. Bei der einen war es Uran, bei der anderen Plutonium – zwei unterschiedliche Elemente!«
Es wurde still im Raum.
»Uran und Plutonium!«, rief Jabba aus, in dem plötzlich wieder
Hoffnung aufkeimte. »Unser Rätsel fragt nach dem Unterschied dieser beiden Elemente! Weiß hier jemand, worin sich Uran und Plutonium unterscheiden?«, schrie er mit einem fragenden Blick in die
Runde.
Ratlose Blicke ringsum
»Das gibt's doch nicht!«, stöhnte Jabba. »Ihr seid doch alle aufs College gegangen! Kennt sich denn keiner mehr in Chemie aus? Nur
ein bisschen?«
Keine Antwort.
Susan stupste Soschi an. »Ich muss ins Internet. Habt ihr hier am Terminal einen Browser?«
Soschi nickte. »Wir haben Netscape. Erste Sahne.«
Susan nickte Soschi aufmunternd zu. »Dann wollen wir mal surfen.«
KAPITEL 125
Wie viel Zeit bleibt uns noch?«, erkundigte sich Jabba vom Podium herunter.
Die Techniker im Hintergrund, die wie gebannt zum Schaubild auf der Bildwand hinaufstarrten, blieben die Antwort schuldig.
Susan und Soschi betrachteten die ersten Ergebnisse ihrer Internetrecherche. »Outlaw Labs?«, wunderte sich Susan. »Wer ist
denn das?«
Soschi zuckte die Achseln. »Soll ich draufklicken?«
»Was denn sonst?«, sagte Susan. Es kamen sechshundertsiebenundvierzig Verweise auf Textstellen über Uran, Plutonium und Atombomben. »Hier ist jede Menge Material zu
finden«, meinte sie.
Soschi öffnete den Link. Eine Warnung erschien.
Die in dieser Datei enthaltenen Informationen sind ausschließlich zum wissenschaftlichen Gebrauch bestimmt. Versuche von Nichtfachleuten, die im Folgenden beschriebenen Apparaturen nachzubauen, können zur Verstrahlung und/oder Selbstdetonation
führen!
»Selbstdetonation?«, sagte Soschi besorgt. »Mein Gott!«
»Nun fangen Sie schon an zu suchen!«, rief Fontaine ärgerlich über die Schulter. »Mal sehen, was alles kommt.«
Soschi ließ das Dokument langsam durchlaufen. Sie stieß auf eine Anleitung zur Herstellung von Harnstoffnitrat – ein zehnmal stärkerer
Sprengstoff als Dynamit, aber der Text las sich wie ein Backrezept für Schokoladeplätzchen mit Rum.
»Uran und Plutonium«, wiederholte Jabba. »Darauf müssen wir uns konzentrieren.«
»Gehen wir zum Anfang zurück«, sagte Susan. »Das Dokument ist viel zu groß. Wir müssen uns das Inhaltsverzeichnis ansehen.«
Soschi navigierte zurück ins Inhaltsverzeichnis. Dort fand sie das Gesuchte:
I. Schematischer Aufbau einer Atombombe A) Höhenmesser B ) Luftdruckgesteuerter Zünder C) Sprengköpfe D ) Nuklearsprengladungen E ) Neutronenschild
F) Uran oder Plutonium
G) Bleiabschirmung H) Zündladungen
II. Kernspaltung/Kernfusion
1) Kernspaltung (Atombombe) und Kernfusion (Wasserstoffbombe)
2) U-235, U-238 und Plutonium III. Geschichte der Atomwaffen
3) Entwicklung (Manhattan-Projekt)
4) Abwürfe
5) Hiroschima
6) Nagasaki
7) Begleiterscheinungen von Kernexplosionen
8) Explosionsareale
»Römisch zwei, Abschnitt B«, rief Susan. »Uran und Plutonium. Los!«
Alles wartete gespannt, bis Soschi die richtige Stelle gefunden hatte. »Hier ist es«, sagte sie. »Wartet mal.« Schnell überflog sie die Angaben. »Hier gibt es jede Menge Informationen, mit Tabellen und allem. Aber wissen wir überhaupt, welchen primären Unterschied wir suchen? Manche Unterschiede bestehen von Natur aus, andere sind
künstlich. Die Entdeckung des Plutoniums ...«
»Eine Zahl!«, mahnte Jabba. »Denkt dran, wir suchen eine Zahl!« Susan überlas noch einmal Tankados Botschaft. Primunterschied
der Elemente ... der Unterschied ... eine Differenz ... ausgedrückt
in einer Zahl ... »Halt«, rief sie, »das Wort Unterschied hat auch mehrere Bedeutungen. Wir brauchen eine Zahl, also geht es um Rechnen. Das ist bestimmt wieder so ein Wortspiel von Tankado. Er
meint Differenz, also müssen wir zwei Zahlen voneinander abziehen.«
»Ja, das ist es«, stimmte Becker von der Bildwand herab zu. »Vielleicht haben die beiden Elemente eine unterschiedliche Anzahl
von Protonen oder so etwas. Wenn man die voneinander abzieht...«
»Recht hat er!«, meinte Jabba und wandte sich an Soschi. »Gibt es in deinen Tabellen irgendwelche Zahlen! Die Protonenzahl oder sonst
etwas, das wir voneinander abziehen können?«
»Drei Minuten!«, rief ein Techniker.
»Was ist mit den kritischen Massen?«, schlug Soschi vor. »Hier steht, die kritische Masse von Plutonium ist 15,966 Kilogramm.«
»Ja!« Jabba lebte auf. »Und jetzt schau nach bei Uran!«
»49,895 Kilo«, sagte Soschi nach kurzer Suche.
»Neunundvierzig Komma sowieso?« Jabba schien plötzlich wieder Hoffnung zu schöpfen. »Wie viel ist 49,895 minus 15,966?«
»Dreiunddreißig Komma neun zwei neun!«, sagte Susan wie aus der Pistole geschossen, »aber ich glaube nicht ...«
»Platz da!«, kommandierte Jabba und strebte zu seiner Tastatur. »Das muss der Kill-Code sein! Der Unterschied der kritischen
Massen, dreiunddreißig Komma neun zwo neun.«
»Langsam!«, sagte Susan, die Soschi über die Schulter geschaut hatte. »Hier gibt es noch mehr Zahlen. Atomgewichte, Anzahl der Neutronen, Halbwertszeiten.« Sie sah die Tabellen durch. »Uran zerfällt in Barium und Krypton, bei Plutonium ist es wieder anders. Uran hat zweiundneunzig Protonen und einhundertsechsundvierzig
Neutronen, während ...«
»Wir müssen den Unterschied nehmen, der am meisten ins Auge fällt«, meldete sich Midge zu Wort. »In unserer Suchanweisung steht:
der Primunterschied ...«
»Mann oh Mann!«, fluchte Jabba, »woher sollen wir denn wissen, was Tankado unter dem Prim ...«
»Moment mal!«, schaltete David sich ein, »der Primunterschied...«
Susan sah aus wie vom Blitz getroffen. »Primi«, rief sie plötzlich aus. Sie fuhr herum zu Jabba. »Der Kill-Code ist eine Primzahl! Das
passt wie die Faust aufs Auge!«
Jabba begriff sofort, dass Susan ins Schwarze getroffen hatte. Ensei Tankados ganze Karriere war auf Primzahlen aufgebaut. Primzahlen bildeten die Grundbausteine der Algorithmen. Primzahlen waren einmalige Zahlenwerte, durch keine andere Zahl teilbar außer durch eins oder sich selbst. Sie eigneten sich hervorragend für die Verschlüsselung, da ihnen mit computergestützten Rateverfahren und
dem üblichen Aufdröseln von Zahlenbäumen nicht beizukommen war.
»Ja, das ist es!«, begeisterte sich Soschi. »Primzahlen spielen in der japanischen Kultur eine grundlegende Rolle. In der Dichtkunst des Haiku zum Beispiel: Drei Zeilen und eine Silbenfolge von fünf, dann sieben, und wieder fünf Alles Primzahlen! Und die Tempel von Kyoto
haben alle ...«
»Ist ja gut!«, sagte Jabba barsch. »Nun wissen wir also, dass der
Kill-Code eine Primzahl ist. Und wie weiter? Die Möglichkeiten sind unendlich!«
Jabba hatte natürlich Recht. Da die Reihe der vorstellbaren Zahlen unendlich war, konnte man an jedem beliebigen Punkt der Zahlenreihe stets noch ein Stück weiter gehen und wieder eine neue Primzahl entdecken. Allein zwischen Null und einer Million gab es
über siebzigtausend davon.
Alles hing entscheidend davon ab, wie groß die Primzahl war, die Tankado benutzt hatte. Je größer sie war, umso größer war die
Schwierigkeit, sie zu erraten.
»Sie ist bestimmt riesengroß«, stöhnte Jabba. »Ich bin sicher, Tankado hat sich eine Monsterzahl ausgedacht.«
»Warnung, noch zwei Minuten!«, tönte es aus dem Hintergrund des Raums.
Jabba schaute geschlagen zur Bildschirmwand hinauf. Der letzte Schutzring begann zu bröckeln. Die Techniker rannten wild
durcheinander.
Susan hatte das Gefühl, dass die Lösung zum Greifen nah war. »Wir schaffen es!«, verkündete sie. »Ich bin sicher, dass sich von allen diesen Unterschieden zwischen Uran und Plutonium nur einer in eine Primzahl fassen lässt. Das ist unsere letzte Hürde. Wir müssen
diese Primzahl finden!«
Jabba betrachtete die Uran/Plutonium-Tabelle auf dem Bildschirm. Er warf hilflos die Arme in die Luft. Seine Verzweiflung war ihm deutlich anzusehen. »Das wimmelt ja nur so von Einträgen. Wie sollen wir die alle voneinander abziehen und überprüfen, ob das
Ergebnis eine Primzahl ist?«
»Aber viele Einträge sind doch überhaupt nicht numerisch!«, versuchte ihm Susan Mut zu machen. »Uran ist ein natürliches Element, Plutonium ein künstliches. Uran wird durch Aufeinanderschießen gezündet, Plutonium durch eine Implosion. Das sind alles keine Zahlen, darum brauchen wir uns überhaupt nicht zu
kümmern!«
»Fangen Sie schon an!«, befahl Fontaine. Der letzte Schutzring der Graphik auf der Bildwand war extrem dünn geworden.
Jabba wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Also gut, dann mal los mit dem Subtrahieren. Ich nehme das obere Viertel der Tabelle, Susan das zweite. Mit dem Rest befassen sich gefälligst alle anderen hier im Raum. Wir suchen eine Differenz, die sich in einer Primzahl
ausdrückt!«
Die Aufgabe erwies sich sehr schnell als unlösbar. Die Zahlen waren zum Teil riesig, andere passten überhaupt nicht zusammen.
»Wir vergleichen hier Äpfel mit Birnen, verdammt nochmal«, sagte Jabba, »Gammastrahlen mit der elektomagnetischen Feldfrequenz, spaltbares Material mit unspaltbarem. Manchmal sind die Angaben in absoluten Zahlen, manchmal in Prozenten. Ein
einziges Wirrwarr!«
»Unsere Zahl muss hier irgendwo versteckt sein«, sagte Susan fest. »Wir müssen nachdenken. Es muss einen Unterschied zwischen Uran und Plutonium geben, der uns bislang entgangen ist. Etwas ganz
Einfaches!«
»Ah ... Leute«, ließ sich Soschi vernehmen. Sie hatte ein zweites Bildschirmfenster geöffnet, in dem sie den Rest der Outlaw-Datei
durchging.
»Was gibt's?«, erkundigte sich Fontaine. »Was gefunden?«
»Irgendwie schon«, meinte Soschi betreten. »Ich habe vorhin doch gesagt, die Bombe von Nagasaki sei eine Plutoniumbombe gewesen.«
»Ja, klar«, riefen alle im Chor.
»Also...«, Soschi holte tief Luft. »Es sieht so aus, als hätte ich da Quatsch erzählt.«
»Was?«, keuchte Jabba. »Unsere Suche geht in die falsche Richtung?«
Soschi deutete auf die Bildwand:
... ein gängiges Missverständnis, dass es sich bei der Bombe von Nagasaki um eine Plutoniumbombe gehandelt habe. In Wirklichkeit wurde auch in diesem Aggregat Uran verwendet wie bei der
Schwesterbombe von Hiroschima.
»Aber wenn es in beiden Fällen Uran war«, stöhnte Susan auf, »wo liegt dann der Unterschied, den wir feststellen sollen?«
»Vielleicht hat sich Tankado geirrt«, meinte Fontaine. »Er hat vielleicht nicht gewusst, dass es jedes Mal die gleiche Bombe war.«
»Wohl kaum«, seufzte Susan. »Diese Bomben haben ihn zum Krüppel gemacht. Er kannte die Fakten im Schlaf.«
KAPITEL 126
»Noch eine Minute!«
Jabba betrachtete die Bildwand. »Der letzte Schild geht in die Binsen! Unsere letzte Verteidigungslinie. Und draußen stehen sie
schon Schlange!«
»Bleiben Sie bei der Sache!«, sagte Fontaine tadelnd.
Soschi saß vor dem Internet-Browser. Sie las vor:
Bei der Bombe von Nagasaki kam kein Plutonium zur Verwendung, sondern ein künstliches neutronengesättigtes Isotop des Uran 238.
»Verdammt«, schimpfte Brinkerhoff. »In beiden Bomben hat man Uran verwendet. Das für Hiroschima und Nagasaki verderbliche
Element war in beiden Fällen Uran. Wo bleibt da unser Unterschied?«
»Leute, das war's dann«, stellte Midge fest.
»Halt!«, sagte Susan. »Soschi, lies doch nochmal den letzten Abschnitt!«
»... künstliches neutronengesättigtes Isotop des Uran 238«, wiederholte Soschi.
»238?«, rief Susan aus. »Haben wir nicht eben eine Textstelle gehabt, wo steht, dass für die Hiroschimabombe ein anderes
Uranisotop benutzt worden ist?«
Verwunderte Blicke wurden getauscht. Soschi ging hektisch im Text zurück, bis sie die Stelle gefunden hatte. »Ja, hier steht's. In
Hiroschima wurde ein anderes Isotop verwendet.«
Midge schnappte überrascht nach Luft. »In beiden Fällen Uran, aber trotzdem ein Unterschied?«
»In beiden Fällen Uran!«, mischte Jabba sich sarkastisch ein. »Der Storch hat zwei Beine, besonders das rechte. Na, prima!«
»Worin besteht denn der Unterschied«, verlangte Fontaine zu wissen. »Er müsste eigentlich ziemlich simpel sein.«
Soschi ging wieder auf Suche. »Moment ... ich hab's gleich ... okay...«
Noch fünfundvierzig Sekunden!«, schrie jemand.
Susan sah hinauf zur Graphik. Der letzte Schutzwall war fast nicht mehr zu sehen.
»Da ist es!«, rief Soschi.
»Lies schon vor!« Jabba schwitzte. »Es muss doch einen Unterschied geben!«
»Gibt es auch!« Soschi deutete auf den Text auf der Bildwand. Alle lasen mit:
... den beiden Bomben verschiedene Kernsprengstoffe zur
Anwendung ... U-235 und U-238 ... chemisch identische Merkmale ... durch chemische Separierungsmethoden nicht voneinander zu
trennen... von einem minimalen Unterschied des
Atomgewichts abgesehen absolut identisch.
»Das Atomgewicht«, rief Jabba aufgeregt, »der einzige Unterschied ist das Atomgewicht! Das muss es sein! Das ist unser Schlüssel. Los, sag mir schnell die Atomgewichte an, ich zieh sie
voneinander ab!«
»Moment!«, rief Soschi und blätterte im Text, »ich hab's gleich. Ja, hier!«
Wieder starrte alles auf den Text.
... sehr geringer Unterschied des Atomgewicht ... Trennung nur als Gasdiffusion möglich . .. 390,626 x 10-27 im Vergleich zu 386,721 x 10-27 *
»Da hätten wir es ja!«, kreischte Jabba, »das ist es! Das sind die Atomgewichte!«
»Noch dreißig Sekunden!«
»Legen Sie los!«, flüsterte Fontaine. »Voneinander abziehen! Schnell!«
Jabba hatte schon den Taschenrechner in der Hand und tippte die Zahlen ein.
»Was bedeutet das Sternchen?«, wunderte sich Susan. »Hinter den Zahlen steht ein Sternchen.«
Jabba, der hektisch auf seinen Taschenrechner eintippte, achtete nicht auf sie.
»Langsam, keine Fehler«, mahnte Soschi. »Wir brauchen eine ganz genaue Zahl!«
»Was ist mit dem Sternchen?«, beharrte Susan. »Verweist es vielleicht auf eine Fußnote?«
Soschi sah am Seitenende nach.
Eine Fußnote. Susan las und erbleichte. »Oh, mein Gott!«
Jabba blickte auf. »Was ist?«
Alle lehnten sich vor und blickten auf den Bildschirm. Ein Seufzer der Verzweiflung löste sich aus der Runde. Die Fußnote lautete:
* Die Angaben variieren von Labor zu Labor. Fehlermarge 1,2 Promille
KAPITEL 127
Über das Podium senkte sich jäh eine ehrfürchtige Stille. Es war, als wären die dort Versammelten Zeugen einer Sonnenfinsternis oder eines Vulkanausbruchs geworden – Zeugen einer unglaublichen und ihrem Einfluss völlig entzogenen Kette von Ereignissen. Die Zeit
hatte sich zum Schneckentempo verlangsamt.
»Wir gehen baden!«, schrie ein Techniker. »Wir werden angezapft. Auf allen Kanälen!«
In der linken Ecke des Großbildschirms sah man David Becker und die Agenten Smith und (Hollander ausdruckslos in die Kamera starren. Von der letzten Schale der Firewall war in der graphischen Darstellung der VR nur noch ein Hauch zu erkennen, um den eine dichte schwarze Masse herumquirlte – die bildliche Wiedergabe der Hundertschaften von Hackern, die darauflauerten, sich endlich einloggen zu können. Rechts davon lief die flackernde Endlosschleife von Tankados letzten Augenblicken. Verzweiflung sprach aus seinem Gesicht und der Geste der ausgestreckten Finger. An einem davon
blitzte der Ring in der Sonne.
Susan betrachtete die scharf und wieder unscharf werdenden Einstellungen. Sie betrachtete Ensei Tankados Augen, in denen sie ein tiefes Bedauern wahrzunehmen glaubte. Er hat nie gewollt, dass es so weit kommt, sagte sie zu sich selbst. Er wollte uns einen Rettungsring
zuwerfen. Und doch, immer wieder streckte Tankado die Finger aus, um seinen Helfern den Ring vor die Nase zu halten. Man sah, dass er etwas sagen wollte, aber nicht konnte. Und immer wieder ruckten seine Finger hoch.
David Becker wendete immer noch das Problem in seinem Kopf von rechts nach links. »Wie war das nochmal mit diesen Isotopen«, fragte er sich. »U-238 und U -... ?« Er seufzte. Ach, egal. Er war
Philologe und kein Physiker.
»Die ankommenden Verbindungen sind praktisch schon authentifiziert!«
»Scheiße!«, schrie Jabba frustriert, »wo liegt denn bloß der verdammte Unterschied von diesen verfluchten Isotopen? Weiß denn keiner, worin sie sich unterscheiden?« Niemand gab eine Antwort. Der ganze Raum war voll von Technikern, die hilflos zur Graphik hinaufschauten. »Wenn man einmal im Leben einen Kernphysiker
braucht, ist natürlich keiner da!«, fluchte Jabba.
Auch für Susan war die Sache gelaufen. Sie betrachtete immer noch die Endlosschleife auf der Bildwand. Mal um Mal sah sie Tankado in Zeitlupe sterben. Er versuchte etwas zu sagen, brachte
kein Wort heraus, hielt die deformierte Hand hoch ... versuchte verzeifelt, sich verständlich zu machen. Er wollte unsere Datenbank
retten, sinnierte sie, aber wir werden nie erfahren, wie.
»Sie hämmern an unsere Tür!«
Jabba starrte auf die Bildwand. »Das war's dann.« Schweiß lief ihm übers Gesicht.
Im zentralen Bildsegment war der letzte Rest der Firewall so gut wie verschwunden. Eine halb durchsichtige pulsierende Masse von schwarzen Linien wimmelte um den Kern herum. Midge wandte sich ab. Fontaine stand stocksteif da, den Blick stur geradeaus gerichtet.
Brinkerhoff sah aus, als müsste er sich gleich übergeben.
»Noch zehn Sekunden!«
Susans Blick wich nicht von Tankado. Diese Verzweiflung, dieses Bedauern! Er streckte die Hand aus, wieder und wieder, der Ring blitzte auf, drei deformierte Finger krümmten sich vor dem Gesicht
fremder Leute. Er will ihnen etwas begreiflich machen! Aber was?
David war tief in Gedanken. Der Unterschied, sagte er sich immer wieder, der Unterschied von U-238 und U-235. Etwas ganz Einfaches
muss es sein!
Der Countdown eines Technikers drang aus dem Lautsprecher. »Fünf Vier! Drei ...«
Das Wörtchen drang bis nach Spanien. Es brauchte dafür nur knapp eine zehntel Sekunde. Drei ... drei!
David Becker kam sich vor, als hätte ihn schon wieder ein Betäubungsgeschoss getroffen. Um ihn herum blieb alles stehen.
Drei ... drei ... drei – 238 minus 235! Der Unterschied ist drei! Wie in
Zeitlupe griff er zum Mikrofon.
Im gleichen Augenblick starrte Susan auf Tankados Hand. Der Ring, der gravierte Goldreif glitt für sie plötzlich aus dem
Brennpunkt. Sie sah das Fleisch darunter, die Finger ... die drei Finger. Es ging gar nicht um den Ring, sondern um die Finger! Tankado konnte nicht mehr sprechen, also benutzte er die Zeichensprache! Er zeigte sein Geheimnis, offenbarte den Kill-Code! Er flehte darum, verstanden zu werden, betete darum, dass sein
Geheimnis beizeiten den Weg zur NSA finden möge! »Drei!«, flüsterte Susan fassungslos. »Drei!«, kreischte Beckers Stimme in Spanien. In all dem Chaos schien es niemand zu hören. »Wir sind geliefert!«, schrie ein Techniker.
Die Graphik begann unkontrolliert zu flackern. Der Kern verschwand in einer Woge von Schwarz. Sirenengeheul setzte ein.
»Feindliche Downloads!«
»Hochgeschwindigkeits-Downloads auf allen Sektoren!«
Wie in Trance flog Susan zu Jabbas Tastatur. Ihr Blick traf den Blick ihres Verlobten. Wieder platzte seine Stimme aus den
Lautsprechern.
»Drei! Der Unterschied zwischen 238 und 235 ist drei!«
Sämtliche Köpfe fuhren hoch.
»Drei«, schrie Susan in die Kakophonie des Sirenengeheuls und des Geschreis der Techniker. Sie zeigte auf die Bildwand. Alle Blicke folgten ihrem ausgestreckten Zeigefinger, der auf Tankados hochgereckte Hand mit den drei verzweifelt in der Sonne von Sevilla
wedelnden Fingern wies.
Jabba erstarrte. »Oh mein Gott!« Schlagartig begriff er. Die verkrüppelten Finger hatten ihnen schon die ganze Zeit die Antwort
gezeigt!
»Drei ist eine Primzahl!«, rief Susan, »eine Primzahl!«
Fontaine war völlig verblüfft. »So einfach war das?«
»Illegale Downloads!«, schrie ein Techniker. »Umfang rasch zunehmend!«
Alle hechteten gleichzeitig zur Tastatur. Es war ein Wald von
ausgestreckten Händen. Aber Susan war wie ein geschickter Verteidiger am schnellsten am Ball. Sie tippte auf die Taste mit der Drei. Alle Köpfe fuhren hoch zur Bildwand. In all dem Chaos stand
dort oben ganz schlicht:
BITTE DEN CODE EINGEBEN: 3
»Jawohl!«, befahl Fontaine. »Tun Sie's!«
Mit angehaltenem Atem ließ Susan den Finger auf die Enter-Taste sinken. Das Terminal gab einen Pieps von sich.
Keiner bewegte sich.
Drei entsetzliche Sekunden lang geschah gar nichts.
Die Sirenen heulten weiter. Fünf Sekunden... sechs Sekunden ...
»Downloads!«
»Keine Veränderung!«
Plötzlich deutete Midge wild gestikulierend auf die Bildwand. »Da!« Eine Meldung leuchtete auf.
CODE BESTÄTIGT
»Firewall neu laden!«, schrie Jabba.
Aber Soschi war ihm um eine Nasenlänge voraus. Sie hatte den
Befehl bereits eingetippt.
»Downloads gestoppt!«, schrie ein Techniker.
»Einwahlen unterbrochen!«
Auf der Bildwand baute sich die erste der fünf Schutzschalen langsam wieder auf. Die den Kern annagenden schwarzen Linien
wurden augenblicklich gekappt.
»Sie installiert sich wieder«, schrie Jabba. »Die verdammte Firewall installiert sich wieder!«
Ein spannungsgeladener Moment der Ungewissheit verstrich, als hätte jeder Angst, dass immer noch alles in die Brüche gehen könnte.
Aber dann baute sich auch die zweite Schale auf. .. und die dritte. Kurz darauf wurde der komplette Satz von Filtern wieder auf der
Bildwand angezeigt.
Die Datenbank war gerettet.
Der Raum explodierte förmlich. Die Hölle brach los. Die Techniker fielen sich um den Hals und warfen ihre Ausdrucke in die Luft. Das Sirenengeheul verstummte. Brinkerhoff riss Midge in die
Arme und wollte sie nicht mehr loslassen. Soschi fing an zu heulen.
Fontaine war immer noch besorgt. »Jabba, wie viel haben die Hacker gekriegt?«, wollte er wissen.
»Nichts Nennenswertes, Sir«, beruhigte ihn Jabba, »und nichts, was vollständig wäre.«
Fontaine nickte bedächtig. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
Sein Blick suchte Susan Fletcher, aber sie war schon nach vorne zur Bildwand unterwegs. David Beckers Gesicht füllte wieder den
ganzen Schirm. »David?«
»Hallo, Schatz.«
»Komm nach Hause«, sagte Susan. »Komm wieder nach Hause, jetzt gleich.«
»Wollen wir uns in Stone Manor treffen?«, fragte er.
Sie nickte. Tränen rollten über ihre Wangen. »Abgemacht.«
»Agent Smith!«, rief Fontaine.
Smith erschien hinter Becker im Bild. »Ja, Sir?«
»Ich habe den Eindruck, Mr Becker hat eine Verabredung. Sorgen Sie bitte dafür, dass er umgehend nach Hause kommt.«
Smith nickte. »Unser Jet steht in Malaga.« Er klopfte Becker auf die Schulter. »Professor, Sie dürfen sich auf was Feines freuen! Sind
Sie schon mal mit einem Learjet 60 geflogen?«
»Seit gestern eigentlich nicht mehr«, schmunzelte Becker.
KAPITEL 128
Als Susan erwachte, schien die Sonne. Sanfte Strahlen stahlen sich durch die Vorhänge und krochen über das Daunenfederbett. Immer noch liefen ihr Schauer über den ganzen Körper. Erschöpft und benommen von den Ereignissen der vergangenen Nacht, blieb sie bewegungslos liegen. Ist es ein Traum? Sie streckte den Arm aus nach
David.
»David?«, murmelte sie.
Die Antwort blieb aus. Sie schlug die Augen auf. Der Platz neben ihr war kalt. David war nicht da.
Das ist ein Traum, dachte Susan. Sie setzte sich auf. Sie befand sich in einem viktorianisch eingerichteten Raum voll antiker Möbel und Spitzendeckchen – dem besten Zimmer von Stone Manor. Die Tasche mit den Sachen für die Übernachtung stand achtlos mitten auf
dem Dielenfußboden ... ihre Nachtwäsche hing über der Lehne eines
Queen-Anne-Stuhls neben dem Bett.
War David überhaupt gekommen? Sie hatte gewisse Erinnerungen – die sanften Küsse, mit denen er sie geweckt hatte, sein Körper, der sich gegen den ihren presste. Hatte sie das alles geträumt? Sie schaute zum Nachttischchen hinüber. Eine leere Champagnerflasche mit zwei
Gläse
Sie drückte den Zettel an die Brust und strahlte. David war also da. Ohne Wachs..., der einzige Code, den sie noch nicht geknackt hatte!
In der Ecke bewegte sich etwas. Susan sah hoch. In einen dicken Bademantel gewickelt, hatte David Becker es sich auf einem üppigen Diwan bequem gemacht. Still saß er da und betrachtete sie. Sie
streckte den Arm aus und winkte ihn mit dem Finger herbei. »Ohne Wachs?«, schnurrte sie, als sie ihn in die Arme nahm. »Ohne Wachs.« Er lächelte.
Sie küsste ihn hingebungsvoll. »Bitte sag mir, was das bedeutet.«
»Nie im Leben!« Er lachte. »Ein Paar muss auch Geheimnisse voreinander haben, damit es spannend bleibt.«
Susan lächelte ihn schelmisch an. »Aber bitte nicht spannender als letzte Nacht, sonst breche ich noch zusammen!«
David schloss sie in die Arme. Er fühlte sich schwerelos. Gestern wäre er fast ein toter Mann gewesen, und nun war er hier und fühlte
sich so lebendig wie nie zuvor.
Susan hatte den Kopf an seine Brust gelegt und lauschte seinem Herzschlag – vor kurzem hatte sie noch fest geglaubt, er sei ihr
endgültig genommen worden!
»David«, quengelte sie mit einem Blick auf das Zettelchen neben dem Bett. »Sag mir, was bedeutet ›ohne Wachs‹? Du weißt doch, dass
mich ein nicht entschlüsselter Code unglücklich macht!«
David schwieg.
»Sag's mir«, schmollte sie, »oder du darfst nie mehr mit mir schlafen.«
»Lügnerin!«
Susan schlug ihm das Kissen auf den Kopf. »Sag's mir! Jetzt sofort!«
Aber David wusste, dass er das Geheimnis nie preisgeben würde. Es war einfach zu süß. Sein Ursprung reichte weit zurück. In der Renaissancezeit pflegten die Bildhauer in Spanien kleine Fehler ihrer Werke aus teurem Marmor mit Wachs – spanisch cera – zu kaschieren. Eine makellose Skulptur ohne jegliche Wachsausbesserung hatte das Qualitätsmerkmal »ohne Wachs« – sin cera. Aus dem spanischen sin cera entwickelte sich das englische Wort »sincere«, die Floskel, mit der man im Englischen Briefe unterzeichnet: »Sincerely Yours«. Davids Geheimcode war gar nicht so geheim. Er hatte seine Mitteilungen einfach nur mit dem üblichen »Sincerely, David« unterschrieben. Irgendwie hatte er das Gefühl,
dass es Susan nicht vom Hocker reißen würde, wenn er es ihr verriet.
»Es wird dich bestimmt freuen zu hören«, sagte er, um das Thema zu wechseln, »dass ich auf dem Heimflug den Rektor meiner
Universität angerufen habe.«
Susan sah ihn hoffnungsfroh an. »Sag bloß, du hast deinen Verwaltungsjob drangegeben!«
David nickte. »Im nächsten Semester stehe ich wieder im Hörsaal vor meinen Studenten.«
Susan seufzte erleichtert. »... wo du von Anfang an hingehört
hast!«
David lächelte verlegen. »Ja, ich glaube, in Spanien ist mir klar geworden, worauf es ankommt.«
»Dann wirst du jetzt also wieder deinen Studentinnen den Kopf verdrehen!« Susan gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Aber immerhin hast du dann auch Zeit, mir bei der Korrektur meines
Manuskripts zu helfen.« »Was für ein Manuskript?«
»Ich habe mir überlegt, dass ich es doch veröffentlichen werde.«
»Veröffentlichen?« David sah sie ratlos an. »Was willst du veröffentlichen?«
»Ein paar Gedanken, die ich mir über variable Filterprotokolle und quadratische Teilungsreste gemacht habe.«
David stöhnte auf. »Das wird bestimmt der Bestseller des Jahrhunderts.«
Susan lachte. »Du wirst dich noch wundern!«
David fummelte in der Tasche seines Bademantels herum. »Augen zu! Ich hab was für dich.« Er zog einen kleinen Gegenstand heraus.
Susan gehorchte. »Lass mich raten – es ist ein kitschiger goldener Ring mit einer lateinischen Inschrift.«
David lachte leise. »Nein. Ich habe Fontaine gebeten, den Ring an Ensei Tankados Nachlass zurückzugeben.« Er nahm Susans Hand und
steckte ihr etwas an den Finger.
»Du Schwindler«, erwiderte Susan mit einem Lächeln. »Ich weiß doch...« Sie öffnete die Augen und schnappte nach Luft. An ihrem Finger steckte keineswegs Tankados Ring. Ein in Platin gefasster
Brillant funkelte sie an.
David blickte Susan in die Augen. »Möchtest du mich heiraten?«
Susan blieben die Worte im Halse stecken. Tränen quollen ihr in die Augen. »Oh David! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!«
»Sag einfach nur Ja!«
Susan wandte sich wortlos ab.
David sah sie erwartungsvoll an. »Susan Fletcher, ich liebe dich! Du sollst mich heiraten!«
Susan hob den Kopf. Ihre Augen schwammen in Tränen. »David, es tut mir Leid, aber ... ich kann's einfach nicht.«
Bestürzt forschte David in ihren Augen nach dem schelmischen Glitzern, das er dort zu entdecken hoffte, aber da war nichts. »Su ... Susan«, stotterte er, »ich ... jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«
»Ich kann dich nicht heiraten!«, wiederholte sie. Sie wandte sich wieder ab und barg das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern
begannen zu beben.
David war völlig perplex. »Aber Susan ..., ich habe gedacht ...« Er umschlang ihre bebenden Schultern und presste sie an sich. Da begriff
er. Susan war keineswegs in Tränen aufgelöst – sie kämpfte mit einem Lachanfall!
»Ich kann dich nicht heiraten«, prustete sie und ging wieder mit dem Kissen auf ihn los. »Jedenfalls nicht, solange du mir nicht verrätst, was es mit dem ›ohne Wachs‹ auf sich hat. Ich werde sonst
wahnsinnig!«
EPILOG
Es heißt, dass sich im Tode alles klärt. Tokugen Numataka wusste jetzt, dass die Redensart stimmte. Er stand im Zollamt von Osaka neben dem Sarg und empfand eine bittere Klarheit wie nie zuvor. Seine Religion lehrte den Kreislauf aller Dinge, die innere Verbundenheit alles Lebendigen, aber für die Religion hatte
Numataka nie Zeit gehabt.
Der Zollbeamte hatte ihm einen Umschlag mit Adoptionsdokumenten und einer Geburtsurkunde ausgehändigt. »Sie sind der einzige lebende Verwandte von diesem jungen Mann«, hatte er gesagt. »Wir hatten große Schwierigkeiten, Sie ausfindig zu
machen.«
Numatakas Erinnerung raste zweiunddreißig Jahre zurück zu jener regnerischen Nacht, zu jenem Kreißsaal, wo er sein missgebildetes Kind und seine mit dem Tode ringende Ehefrau ihrem Schicksal überlassen hatte. Er hatte es im Namen von menboku – der Ehre –
getan. Doch davon war nur noch ein sinnentleerter Schatten übrig.
Den Dokumenten war ein goldener Ring beigelegt. Worte, die Numataka nicht verstand, waren darauf eingraviert. Es war ihm gleichgültig. Worte hatten für ihn keine Bedeutung mehr. Er hatte seinen einzigen Sohn im Stich gelassen – und nun hatte ein grausames
Schicksal sie wieder vereint.
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