ich kommen konnte.«

Cloucharde sah ihn irritiert an. »Ich habe von Ihrem Kommen gar nichts gewusst!«

Becker wechselte das Thema. »Sie haben da eine böse Beule am Kopf. Haben Sie Schmerzen?«

»Eigentlich nicht. Ich hatte heute Vormittag einen Sturz vom Motorrad – der Dank dafür, dass ich mich als barmherziger Samariter betätigt habe. Dieser Idiot von einem spanischen Polizisten! Einem Mann meines Alters eine Fahrt auf dem Sozius eines Motorrads

zuzumuten! Einfach verantwortungslos.«


»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

Cloucharde schien nachzudenken. Beckers Aufmerksamkeit tat ihm wohl. »Also, um ehrlich zu sein...« Er reckte den Nacken und drehte den Kopf ein paar Mal von rechts nach links. »Ich könnte noch

ein Kissen gebrauchen, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht.«

»Überhaupt nicht.« Becker griff sich vom nächsten Feldbett ein Kissen und half Cloucharde, es sich bequem zu machen.

Der alte Mann seufzte behaglich. »Viel besser so! Ich danke Ihnen.«

»Pas de quoi«, gab Becker zurück.

»Ah!« Der Alte lächelte warmherzig. »Sie sprechen die Sprache der zivilisierten Welt!«

»Das war aber auch fast schon alles«, sagte Becker möglichst unbedarft.

»Kein Problem«, erklärte Cloucharde großzügig. »Meine Kolumne erscheint auch in den USA. Mein Englisch ist erstklassig.«

»Wie ich bereits feststellen konnte«, erwiderte Becker lächelnd und setzte sich auf den Rand von Clouchardes Feldbett. »Mr Cloucharde, wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich mir doch die Frage erlauben, weshalb ein Mann wie Sie einen solchen Ort aufsucht.

Sevilla bietet weitaus bessere Krankenhäuser.«

Cloucharde wurde sichtlich böse. »Dieser Schwachkopf von einem Polizisten... erst hat er mich von seinem Motorrad abgeworfen, und dann wollte er mich blutend wie ein angestochenes Schwein auf der


Straße liegen lassen! Ich musste mich zu Fuß hierher schleppen!«

»Hat er Ihnen denn nicht angeboten, Sie in eine bessere Klinik zu bringen?«

»Auf diesem Mordinstrument von einem Motorrad? Ich bitte Sie!«

»Was genau ist denn nun heute Vormittag passiert?«

»Aber das habe ich diesem Polizisten doch schon alles erzählt.«

»Ich hatte bereits Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, und...«

»Ich hoffe, Sie haben ihm ordentlich die Meinung gesagt!«, warf Cloucharde ein.

Becker nickte. »Selbstredend. In schärfster Form. Meine Dienststelle wird noch ein Übriges tun.«

»Das steht zu hoffen!«

»Mr Cloucharde«, sagte Becker lächelnd und zog einen Kugelschreiber aus dem Jackett. »Ich halte es für geboten, bei der Stadtverwaltung formellen Protest einzulegen. Würden Sie mich dabei unterstützen? Die Zeugenaussage eines so prominenten Mannes wie

Sie wäre mir eine wertvolle Stütze.«

Die Aussicht, zitiert zu werden, schien Cloucharde zu schmeicheln. Er setzte sich auf. »Aber ja, natürlich. Mit Vergnügen.«

Becker holte einen kleinen Notizblock aus der Tasche und sah Cloucharde auffordernd an. »Gut. Lassen Sie uns mit dem heutigen Vormittag beginnen. Erzählen Sie, wie es zu Ihrem Unfall gekommen


ist.«

Der alte Herr seufzte. »Es war wirklich schlimm. Dieser arme Asiat ist einfach so zusammengebrochen. Ich habe noch versucht, ihm

zu helfen, aber es hat nichts mehr genützt.«

»Sie haben bei ihm eine Herzmassage versucht?«

Cloucharde schaute Becker erstaunt an. »Ich fürchte, ich weiß gar nicht, wie man das macht. Nein, ich habe einen Krankenwagen

gerufen.«

Becker hatte die bläulichen Verfärbungen auf Tankados Brust vor Augen. »Dann haben wohl die Sanitäter eine Herzmassage

vorgenommen.«

»Himmel, nein!« Cloucharde lachte abwehrend auf. »Es hat doch keinen Sinn, einen toten Gaul mit der Peitsche zu traktieren. Als der Krankenwagen kam, war der Mann schon mausetot. Die Sanitäter haben seinen Puls überprüft und ihn sofort weggeschafft, worauf ich

mich allein mit diesem gräßlichen Polizisten herumärgern musste.«

Das ist merkwürdig, überlegte Becker. Wie kann es dann zu diesen Hämatomen gekommen sein? Er schob das Problem beiseite und widmete sich wieder der Gegenwart. »Da war doch noch ein Ring«,

sagte er so beiläufig wie möglich.

Cloucharde sah ihn überrascht an. »Der Polizist hat den Ring erwähnt?«

»Ja, gewiss doch.«

»Tatsächlich?«, wunderte sich Cloucharde. »Ich hatte den Eindruck, dass er mir die Geschichte nicht abnehmen wollte. Er war


sehr beleidigend zu mir – als ob ich lügen würde. Aber meine Schilderung war absolut detailgenau. Ich darf sagen, dass ich mir auf

meine Präzision etwas zugute halten kann.«

»Wo ist denn der Ring?«, wollte Becker wissen.

Cloucharde schien die Frage nicht zu hören. Er starrte mit leerem Blick ins Ungewisse. »Ein merkwürdiges Stück, dieser Ring – und all diese Buchstaben! Es war eine Sprache, die ich noch nie gesehen

habe.«

»Vielleicht Japanisch?«, meinte Becker. »Mit Bestimmtheit nicht.«

»Dann haben Sie die Inschrift wohl sehr gut erkennen können.«

»Aber ja! Als ich mich hingekniet habe, um dem Mann zu helfen, hat er mir unentwegt mit seinen drei Fingern vor dem Gesicht herumgefuchtelt. Er wollte mir den Ring aufdrängen. Es war bizarr, Furcht erregend geradezu – seine Hände haben ziemlich scheußlich

ausgesehen.«

»Und dann haben Sie den Ring an sich genommen.«

Der Kanadier sah Becker erstaunt an. »Das hat Ihnen der Polizist erzählt? Dass ich den Ring genommen habe?«

Becker rutschte unbehaglich hin und her.

Cloucharde wurde zornig. »Ich hab's doch gewusst, dass der Kerl mir nicht zuhört! So kommt man ins Gerede! Ich habe zu ihm gesagt, der Japaner hätte den Ring weggegeben – aber doch nicht an mich!


Ich würde doch niemals von einem Sterbenden etwas annehmen! Mein Gott, allein schon der Gedanke!«

»Sie haben den Ring also nicht?«, fragte Becker.

»Um Gottes willen, nein!«

Ein dumpfes Gefühl machte sich in Beckers Magengrube breit. »Aber wer hat ihn dann?«

Cloucharde schaute Becker ungnädig an. »Na, der Deutsche! Der Deutsche hat ihn!«

Becker glaubte, der Boden würde unter seinen Füßen nachgeben. »Der Deutsche? Welcher Deutsche?«

»Der Deutsche im Park! Ich habe es dem Polizisten doch genau erklärt! Ich habe den Ring nicht gewollt, aber dieses Schwein hat

sofort zugegriffen.«

Becker legte Stift und Schreibblock beiseite. Die Schmierenkomödie war vorbei. Jetzt begann der Ärger. »Den Ring hat

also ein Deutscher.« »So ist es.«

»Wo ist er hingegangen?«

»Keine Ahnung. Ich bin fortgeeilt, um den Krankenwagen zu rufen. Als ich wiederkam, war er weg.«

»Wissen Sie, wer der Mann war?«


»Ein Tourist.«

»Sind Sie sicher?«

»Tourismus ist mein Beruf«, sagte Cloucharde ungnädig. »Ich rieche Touristen tausend Meter gegen den Wind. Der Mann und seine

Begleiterin sind in dem Park spazieren gegangen.«

Die Geschichte wurde mit jedem Augenblick unübersichtlicher. »Seine Begleiterin? Der Deutsche hatte jemand dabei?«

Cloucharde nickte begeistert. »Eine Rothaarige. Großartiges Geschöpf, sage ich Ihnen. Mon Dieu! Eine begnadete Schönheit!«

Becker war platt. »Der Deutsche hatte eine... Prostituierte dabei?«

Cloucharde verzog das Gesicht. »Wenn Ihnen diese vulgäre Bezeichnung angemessen erscheint...«

»Aber davon hat der Polizist doch überhaupt nichts...«

»Natürlich nicht! Ihm gegenüber habe ich die Begleiterin ja auch bewusst nicht erwähnt.« Cloucharde bedachte Beckers Irritation mit einer väterlichen Geste. »Diese Frauen sind doch keine Kriminellen. Es ist absurd, dass man sie verfolgt, als wären sie Diebe und

Einbrecher.«

Becker hatte sich von dem Schock immer noch nicht ganz erholt. »War sonst noch jemand da?«

»Nein, nur wir drei. Es war ja schon heiß.«


»Und Sie sind sicher, dass die Frau eine Prostituierte war?«

»Absolut. Eine gut aussehende Frau würde sich doch niemals mit einem solchen Kerl zeigen, es sei denn, sie wird gut dafür bezahlt. Mon Dieu, was war das für ein fettes Schwein! Ein unangenehmer, übergewichtiger, penetranter Kotzbrocken.« Cloucharde verlagerte sein Gewicht. Die Bewegung schien ihm Beschwerden zu machen. Er zuckte zusammen, was ihn aber nicht davon abhielt, seinem Ärger weiterhin Luft zu machen. »Ein Mann wie ein Mastochse – mindestens dreihundert Pfund Lebendgewicht. Er hielt das arme Wesen umklammert, als ob sie ihm davonrennen wolle – was ihr keiner hätte verübeln können! Er hat sie überall mit seinen fetten Pfoten betatscht und geprahlt, für dreihundert Dollar hätte er sie das ganze Wochenende. Der hätte tot umfallen sollen, nicht der arme

Asiat!«

Cloucharde holte tief Luft. Becker nahm die günstige Gelegenheit wahr.

»Haben Sie zufällig seinen Namen mitbekommen?«

Cloucharde dachte nach, dann schüttelte er den Kopf. »Leider nicht.«

Becker seufzte. Der Ring hatte sich soeben vor seinen Augen in nichts aufgelöst. Commander Strathmore würde nicht begeistert sein.

Cloucharde tupfte sich die Stirn. Mit einer schmerzhaften Grimasse zuckte er zusammen und sank in die Kissen zurück. Er sah

auf einmal elend aus.

Becker versuchte es auf anderem Wege. »Mr Cloucharde, ich hätte gerne eine Erklärung des Deutschen und seiner Begleiterin. Haben Sie

eine Ahnung, wo er logiert?«


Cloucharde schloss die Augen. Die Kraft hatte ihn verlassen. Sein Atem wurde flacher.

»Fällt Ihnen zu den beiden noch irgendetwas ein?«, bohrte Becker eindringlich. »Der Name der Begleiterin vielleicht?«

Langes Schweigen.

Cloucharde rieb sich die rechte Schläfe. Er war auf einmal sehr blass. »Äh... nein. Ich glaube nicht...« Seine Stimme schwankte.

Becker beugte sich zu ihm. »Geht es Ihnen gut?«

Cloucharde nickte schwach. »Ja... gewiss... ich bin nur ein bisschen... vermutlich die Aufregung...« Er sackte weg.

»Mr Cloucharde, denken Sie nach!«, sagte Becker ruhig, aber bestimmt. »Es ist sehr wichtig.«

Cloucharde rappelte sich hoch. »Ich weiß nicht... die Frau... hat der Kerl sie nicht ein paar Mal... ?« Er stöhnte auf und schloss die Augen.

»Wie hieß die Frau?«

»Ich bekomme es wirklich nicht mehr zusammen...« Cloucharde baute zusehends ab.

»Denken Sie doch nach«, beharrte Becker. »Es ist schließlich wichtig, dass das Konsulat möglichst vollständige Angaben machen kann. Ich muss Ihre Geschichte durch zusätzliche Zeugenaussagen erhärten können. Jede Information, durch die ich die Zeugen ausfindig

machen kann... »


Aber Cloucharde hörte nicht mehr zu. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Es tut mir Leid... morgen vielleicht...«

Die Erschöpfung war ihm anzusehen.

»Mr Cloucharde, es ist unerlässlich, dass Sie sich, jetzt an den Namen erinnern.« Becker merkte, dass er fast schrie. Ringsum saßen die Leute aufrecht in ihren Feldbetten und verfolgten neugierig das Geschehen. In der Schwingtür auf der anderen Seite der Turnhalle

erschien eine Krankenschwester und kam eilends herbeigeschritten.

»Mr Cloucharde, versuchen Sie sich zu erinnern!«, drängte Becker. »An irgendetwas!«

»Der Deutsche nannte die Frau...«

Becker schüttelte Cloucharde ein bisschen, damit er nicht vollends einschlief. »Sie hieß...«

Nicht abnippein, alter Knabe!

»Dew...« Die Augen fielen Cloucharde wieder zu. Die Krankenschwester kam wütend näher.

»Dew?« Becker rüttelte Cloucharde heftig am Arm.

Der Kanadier stöhnte auf. »Er nannte sie...«, murmelte er kaum noch vernehmbar.

Die Krankenschwester war keine drei Meter mehr entfernt. Sie schrie Becker wütend auf Spanisch an, aber er hörte sie gar nicht. Sein Blick lag wie gebannt auf den Lippen des alten Mannes. Er schüttelte

ihn ein letztes Mal.


Die Krankenschwester packte Becker an der Schulter und zerrte ihn hoch. In diesem Augenblick teilten sich Clouchardes Lippen. Aus seinem Mund kam weniger ein Wort als ein leiser Seufzer... wie eine

ferne sinnliche Erinnerung. »Dewdrop...«

Becker wurde unbarmherzig fortgerissen.

Dewdrop? Tautropfen? Das ist aber ein komischer Name! Becker machte sich aus dem Griff der Krankenschwester los und drehte sich ein letztes Mal zu Cloucharde um. »Dewdrop?«, rief er. »Sind Sie

sicher?«

Aber Pierre Cloucharde war bereits eingeschlafen.


KAPITEL 23

Susan saß allein im üppigen Ambiente von Node 3, nuckelte an einem Zitronen-Kräutertee herum und wartete auf die Rückmeldung

ihres Tracers.

Als ranghöchster Kryptographin stand ihr das bestplatzierte Terminal zu: der Platz auf der Rückseite des Terminal-Rings, mit Blick hinaus in die Cryptokuppel. Von hier aus konnte sie ungehindert das Geschehen in Node 3 überblicken und den TRANSLTR beobachten, der jenseits der Einwegverglasung mitten aus dem Boden

ragte.

Susan sah auf die Uhr. Sie hatte jetzt schon fast eine Stunde gewartet. American Retailers ließ sich mit der Weiterleitung der E­Mail an North Dakota offensichtlich mächtig Zeit. Sie seufzte. Ungeachtet ihres Bemühens, nicht an das frühmorgendliche Gespräch mit David zu denken, liefen die Worte wie eine Endlosschleife in ihrem Kopf. Sie hatte zu unwirsch reagiert. Hoffentlich stieß David in

Spanien nichts zu.

Das Zischen der gläsernen Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah auf und stöhnte. Greg Hale! Der Kryptograph stand in der Türöffnung.

Greg Hale war groß und muskulös, mit dichtem blondem Haar und einem tiefen Grübchen im Kinn. Er war aufdringlich, völlig immun gegen kritische Untertöne und stets übertrieben gekleidet. Seine Kollegen hatten ihm den Spitznamen »Halit« verpasst – wie das Sedimentmineral. Hale war der Meinung, es handele sich um einen seltenen Edelstein – in Anspielung auf seinen stählernen Körper und seinen brillanten Intellekt. Da ihn seine Überheblichkeit daran hinderte, in einem Lexikon nachzuschlagen, konnte er nicht wissen, dass Halit ein ordinärer salziger Rückstand war, der beim

Austrocknen von Meeresbecken entstand.

Wie alle Kryptographien der NSA bezog auch Greg Hale ein mehr


als solides Gehalt. Es fiel ihm allerdings schwer, diese Tatsache für sich zu behalten. Er fuhr einen weißen Lotus mit Glasschiebedach und einer mörderischen Subwoofer-Anlage. Was es an technischem Spielzeug gab, musste er haben, und sein Auto war sein Paradestück. Er hatte sich ein stimmaktiviertes Schließsystem, ein Satelliten­Navigationssystem, ein Radarstörgerät vom Feinsten und eine mobile Telefon-Faxkombination installieren lassen, um nie den Kontakt zu seinem Ansagedienst zu verlieren. Als Kennzeichen prangte MEGA­BYTE auf dem von einer violetten Leuchtröhre umrahmten

Nummernschild.

Das US-Marine-Corps hatte Greg Hale nach einer als Halbwüchsiger begonnenen Kriminellen-Karriere auf die rechte Spur gebracht, und dort hatte er auch die Bekanntschaft mit dem Computer gemacht. Er wurde zu einem der besten Programmierer, den die Marines je gehabt hatten. Er befand sich auf dem besten Wege zu einer steilen militärischen Karriere, als seine Zukunft zwei Tage vor Ablauf seiner dritten regulären Dienstzeit einen Knick bekam. Bei einer Kneipenschlägerei verursachte er unbeabsichtigt den Tod eines Kameraden. Die koreanische Selbstverteidigungskunst Taekwondo hatte sich nicht sosehr als Kunst, sondern vielmehr als tödliche Waffe

erwiesen. Hale wurde umgehend seines Dienstes enthoben.

Nachdem er eine kurze Gefängnisstrafe abgesessen hatte, versuchte er als professioneller Programmierer Fuß zu fassen. Ohne je ein Geheimnis aus dem Zwischenfall beim Militär zu machen, pflegte Greg Hale sich möglichen Arbeitgebern mit dem Angebot anzudienen, einen Monat lang gratis für sie zu arbeiten, damit sie sehen konnten, was sie an ihm hatten. Er litt nie unter einem Mangel an Angeboten, und sobald die Firmen gemerkt hatten, was er draufhatte, ließ man ihn

nur ungern wieder ziehen.

Parallel zu seinen wachsenden Fähigkeiten am Computer schaffte sich Hale über das Internet Kontakte in aller Welt. Er gehörte zu der neuen Generation von Cyberfreaks mit E-Mail-Bekanntschaften in allen Ländern der Erde und war ständiger Gast auf fragwürdigen Internetseiten und in Sex-Chat-Rooms. Zweimal wurde er gefeuert, weil er Freunden über den Internetanschluss seines Arbeitgebers


Pornofotos zugemailt hatte.

Hale blieb auf der Schwelle stehen. »Was machst du denn hier?«, rief er und starrte Susan an. Er hatte offenbar damit gerechnet, Node 3

für sich allein zu haben.

Susan zwang sich, ruhig zu bleiben. »Es ist Samstag, Greg. Da könnte ich dir die gleiche Frage stellen.« Sie wusste allerdings sehr wohl, was Greg hierher getrieben hatte. Er war computersüchtig. Ungeachtet der ungeschriebenen Samstag-Regel kam er häufig am Wochenende hereingeschneit, um mittels der unschlagbaren Rechenkraft der NSA-Computer neue Programme durchzuprobieren,

an denen er gerade herumtüftelte.

»Ich möchte nur ein paar Zeilen von meinem neuen Programm auf Vordermann bringen und meine E-Mails checken«, sagte Hale. Er schaute Susan auffordernd an. »Was hast du gesagt, warum du hier

bist?«

»Ich habe gar nichts gesagt«, konterte Susan.

Hale hob betont überrascht die Brauen. »Du brauchst dich nicht zu zieren, Susan. Hier in Node 3 haben wir doch keine Geheimnisse voreinander! Hast du schon vergessen? Alle für einen und einer für

alle!«

Susan ging nicht auf ihn ein und widmete sich ihrem Kräutertee.

Hale machte sich achselzuckend auf den Weg in die kleine Küche von Node 3, stets seine erste Station. Auf halber Strecke schenkte er Susans Beinen einen langen anerkennenden Blick. Susan zog die Beine an, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Hale grinste.

Susan hatte sich an Haies Unverschämtheiten gewöhnt. Sein Standardspruch lautete: Wie wär's mit einem Interface, damit wir die Kompatibilität unserer Hardware checken? Susan konnte Hale zwar


nicht ausstehen, war aber zu stolz, sich bei Strathmore über ihn zu beschweren. Das Beste war, ihn einfach zu ignorieren.

Hale stieß die Gittertür der Küche auf wie ein anstürmender Bulle, fischte eine Dose mit Tofu aus dem Kühlschrank und stopfte sich ein paar Klumpen von dem weißen Glibberzeug in den Mund. An den kleinen Herd gelehnt, prüfte er die graue Designerhose und das sorgfältig gebügelte Hemd auf perfekten Sitz. »Hast du noch lange zu

tun?«

»Die ganze Nacht«, sagte Susan ungerührt.

»Hmmm...«, schnurrte Hale mit vollem Mund. »Das wird ein gemütlicher Samstagabend im Laufstall, nur wir zwei...«

»Nur wir drei!«, korrigierte Susan. »Commander Strathmore ist oben in seinem Büro. Vielleicht verduftest du lieber, bevor er dich

sieht.«

»Es scheint ihm offenbar nichts auszumachen, dass du hier bist. Er hält wohl viel von deiner Gesellschaft.«

Susan schluckte eine Erwiderung herunter.

Hale stellte feixend den Tofu weg, griff sich eine Flasche Olivenöl und trank einen Schluck Öl. Gesundheitsapostel war er auch noch! Das Olivenöl reinigte angeblich seinen unteren Verdauungstrakt. Wenn er den Kollegen nicht gerade Möhrensaft aufnötigte, pflegte er ihnen die gravierenden Vorzüge dickdarmschonender Kost zu

predigen.

Er stellte die Ölflasche zurück und kam an sein Susan schräg gegenüber liegendes Computerterminal. Betäubende Schwaden seines Parfüms wehten über das weite Rund der Teminals. Susan rümpfte die


Nase.

»Toller Duft, Greg! Hast dir wohl gleich die ganze Flasche drübergekippt.«

»Ausschließlich dir zuliebe, mein Schatz«, sagte Hale, warf seinen Monitor an und wartete darauf, dass er hell wurde.

Ein beunruhigender Gedanke beschlich Susan. Was ist, wenn er sich die Betriebsanzeige des TRANSLTR auf den Bildschirm holt? Grund dazu hatte er eigentlich nicht, aber er würde Susan niemals die halbgare Geschichte von dem Diagnoseprogramm abkaufen, das angeblich seit nunmehr sechzehn Stunden lief. Hale würde nicht locker lassen, bis er wusste, was wirklich los war. Und Susan hatte keinerlei Absicht, es ihm zu erzählen. Sie traute ihm nicht über den Weg. Hale war ein Fremdkörper. Susan war von Anfang an dagegen gewesen, ihn einzustellen, aber der NSA war damals keine andere Wahl geblieben. Hale verdankte seinen Job einer

Schadensbegrenzungsaktion der NSA.

Dem Skipjack-Fiasko.

Vor mehreren Jahren hatte der Kongress in dem Bemühen, einen verbindlichen Standard der Public-Key-Chiffrierung zu schaffen, die besten Mathematiker des Landes, sprich der NSA, damit beauftragt, einen neuen Super-Algorithmus zu entwickeln. Der Kongress plante, diesen Algorithmus per Gesetz als landesweiten Standard vorzuschreiben, damit endlich Schluss war mit den durch nicht kompatible Verschlüsselungsverfahren entstandenen Problemen, die

der Wirtschaft zu schaffen machten.

Die NSA zum Geburtshelfer eines verbesserten Public-Key-Verfahrens zu bestellen hieß natürlich in gewisser Weise, den Bock zum Gärtner zu machen. Der TRANSLTR existierte damals noch nicht einmal als Projekt. Ein Verschlüsselungsstandard konnte den Einsatz von Codierungsverfahren nur fördern und würde den ohnehin


schwierigen Job der NSA noch schwieriger machen.

Die EFF erkannte den Interessenskonflikt sofort und verwies lautstark auf die Gefahr, die NSA könnte sich mit einem wenig wirkungsvollen Algorithmus aus der Affäre zu ziehen versuchen – mit einem Algorithmus, den sie leicht knacken konnte. Um diesen Befürchtungen entgegenzutreten, kündigte der Kongress an, man werde die Formel nach Beendigung der Arbeiten veröffentlichen und den Mathematikern der ganzen Welt zur Begutachtung vorlegen.

Unter Leitung von Commander Strathmore machten sich die Kryptographen der NSA wenig begeistert an die Arbeit. Sie entwickelten einen Algorithmus, der den Namen Skipjack bekam, und legten ihn dem Kongress zur Abnahme vor. Skipjack wurde von Mathematikern aus der ganzen Welt getestet. Sie waren durch die Bank davon beeindruckt. Einhellig wurde geäußert, Skipjack sei ein einwandfreier und leistungsfähiger Algorithmus, der sich ausgezeichnet zum Verschlüsselungsstandard eigne. Doch drei Tage vor der für die Zulassung des neuen Standards entscheidenden Abstimmung im Kongress schockierte ein junger Programmierer von den Bell Laboratories die Welt mit der Nachricht, er hätte ein in dem neuen Algorithmus eingebautes Hintertürchen entdeckt. Der Mann

hieß Greg Hale.

Das Hintertürchen bestand aus einigen wenigen Programmzeilen, die Commander Strathmore in den Algorithmus hineingeschmuggelt hatte, und zwar so raffiniert, dass niemandem etwas aufgefallen war – außer Greg Hale. Strathmores heimlicher Zusatz hätte bewirkt, dass jeder mit Skipjack erzeugte Code durch ein nur der NSA bekanntes geheimes Passwort entschlüsselt werden konnte. Um ein Haar hätte Strathmore es geschafft, den geplanten nationalen Verschlüsselungsstandard in den grössten Coup der NSA umzumünzen. Die NSA hätte über den Masterkey für jeden in den

USA geschriebenen Code verfügt.

Alle, die auch nur ein bisschen von Computern verstanden, waren empört. Für die EFF war der Skandal ein gefundenes Fressen. Sie


zerriss den Kongress wegen seiner Gutgläubigkeit in der Luft und erklärte die NSA zur größten Bedrohung der freien Welt seit Adolf

Hitler. Der Verschlüsselungsstandard war gestorben.

Als Greg Hale drei Tage darauf einen Job bei der NSA antrat, herrschte allgemeine Verblüffung – doch Commander Strathmore war der Ansicht, es sei besser, Greg Hale innerhalb der NSA für diese

Behörde arbeiten zu lassen, als außerhalb gegen sie.

Strathmore hatte sich dem Skipjack-Skandal im Frontalangriff gestellt. Vor dem Kongress rechtfertigte er vehement sein Verhalten und warnte eindringlich, die Nation brauche jemand, der für sie den Wachhund spiele. Die NSA und deren uneingeschränkte Fähigkeit, verschlüsselte Nachrichten zu knacken, seien unverzichtbare Garanten von Frieden und Freiheit. Das Geschrei um die Wahrung der Privatsphäre werde besonders denen, die am lautesten schrien, noch

im Halse stecken bleiben.

Die EFF und ähnliche Gruppen sahen die Sache natürlich anders. Seitdem hatte Strathmore sie auf dem Hals.


KAPTIEL 24

David Becker stand gegenüber der Clinica de Sanidad Pública in

einer Telefonzelle. Wegen Bel ä stigung des Patienten Nummer 104, des Monsieur Cloucharde, hatte man ihn soeben hochkant

hinausgeworfen .

Auf einmal war alies viel komplizierter, als er anfangs gedacht

hatte. Die kleine Gef ä lligkeit für Commander Strathmore — ein paar persönliche Habseligkeiten abholen – war in eine Schnitzeljagd

nach einem merkwürdigen Ring ausgeartet.

Soeben hatte er Strathmore von dem omin ö sen deutschen

Touristen berichtet. Der Commander hatte sich zuerst über s ä

mtliche Einzelheiten ins Bild setzen lassen und war dann längere Zeit

verstummt. »David«, hatte er schließlich gesagt, »Sie müssen diesen Ring finden. Das ist eine Frage der nationalen Sicherheit! Ich verlasse

mich auf Sie. Sie dürfen mich nicht enttäuschen .« Damit war die

Verbindung abgebrochen.

David stand in der Telefonzelle und seufzte. Er griff nach dem zerfledderten Guía telefónica und fing an, im Branchenteil zu bl ä ttern. Hoffentlch bringt das was, murmelte er.

Es gab nur drei Eintrage von Begleitagenturen – aber was hatte er sonst schon in der Hand? Er wusste lediglich, dass der Deutsche eine

rothaarige Begleiterin gehabt hatte, und Rothaarige waren in Spanien

glücklicherweise relativ selten. Sie hie ß angeblich Dewdrop, wie sich Cloucharde in seinem Fieberanfall erinnert hatte. Becker verzog das

Gesicht. Ein rechtschaffener katholischer Name war das jedenfalls

nicht. Cloucharde hatte sich vermutlich geirrt.


Becker wählte die erste Nummer.

Eine freundliche Frauenstimme meldete sich. »Servicio Social de Sevilla.«

Becker gab seinem Spanisch einen deftigen deutschen Akzent. »Hola. ¿Hablas Aleman?«

»No, aber wir können miteinander Englisch sprechen.«

Becker schaltete um auf gebrochenes Englisch. »Ssänk juuh. Ich wundern, ob Sie mir helfen.«

»Und womit kann ich Ihnen behilflich sein?« Die Dame sprach betont langsam, um den potenziellen Kunden nicht zu verschrecken.

»Möchten Sie vielleicht eine Begleiterin?«

»Yes pliehs. Heute mein Bruder Klaus, er hatte Girl, sehr schön. Rote Haare. Ich möchte Girl für morgen, bitte.«

»Ihr Bruder Klaus ist bei uns Kunde?« Die Stimme wurde plötzlich überschwänglich, als sei Becker ein alter Bekannter.

»Yes. Er sehr dick. Sie erinnern?«

»Er war heute hier bei uns, sagen Sie?«

Becker hörte die Dame in den Unterlagen rascheln. Sie würde natürlich keinen Klaus finden, aber es war ohnehin anzunehmen, dass

die Kunden selten ihren richtigen Namen angaben.

»Hmmm... tut mir Leid«, entschuldigte sich die Frau. »Ich finde hier keinen Klaus. Wie hieß denn das Mädchen, das Ihren Bruder


begleitet hat?«

»Hat rote Haare«, antwortete Becker ausweichend.

»Rote Haare?« Eine Pause entstand. »Sie sprechen mit Servicio Social de Sevilla. Sind Sie sicher, dass Ihr Bruder hier bei uns

gewesen ist?«

»Sicher, yes.«

»Señor, wir haben keine rothaarige Mitarbeiterin. Wir beschäftigen nur andalusische Schönheiten.«

»Girl rote Haare«, insistierte Becker.

»Tut mir Leid, bei uns ist niemand mit roten Haaren, aber wenn Sie...«

»Heißt Dewdrop!«, hechelte Becker.

Der lächerliche Name sagte der Dame offenbar überhaupt nichts. Sie entschuldigte sich höflich und hängte mit der Bemerkung ein, hier müsse offenbar eine Verwechslung mit einer anderen Agentur

vorliegen.

Erster Versuch.

Stirnrunzelnd wählte Becker die nächste Nummer. Es wurde augenblicklich abgehoben.

»¡Mujeres España, buenas noches! Was kann ich für Sie tun?«


Becker ließ wieder die Nummer von dem deutschen Touristen vom Stapel, der gegen erstklassige Bezahlung die Rothaarige haben wolle,

mit der sich sein Bruder heute vergnügt habe.

Diesmal wurde ihm höflich auf Deutsch geantwortet, aber was die Rothaarige anging, war wieder Fehlanzeige. »Tut mir Leid, bei uns ist niemand mit roten Haaren beschäftigt.« Die Dame am Telefon hängte

ein.

Zweiter Versuch.

Becker betrachtete das Telefonbuch. Nur eine Nummer war noch übrig. Das Ende der Fahnenstange war schon in Sicht.

Er wählte.

»Escortes Belén«, meldete sich eine ölige Männerstimme.

Becker gab noch einmal seine Vorstellung zum Besten.

»Sí, sí, Señor. Sie sprechen mit Señor Roldán. Wir haben zwei Rothaarige. Sehr schöne Damen!«

Becker konnte sein Glück kaum fassen. »Schöne Damen?«, echote er in seinem besten deutschen Touristenspanisch. »Rote Haare?«

»Ja. Wenn Sie mir den Namen Ihres Bruders nennen, kann ich Ihnen sagen, wer von den beiden Damen ihn heute begleitet hat. Dann können wir die Dame morgen zu Ihnen schicken.«

»Klaus Schmidt«, sagte Becker aufs Geratewohl. Er hatte sich an den Namen aus einem alten Lehrbuch erinnert.


Lange Pause. »Mein Herr ... ich habe leider hier in meinen Büchern keinen Klaus Schmidt, aber es könnte ja sein, dass Ihr Bruder auf Diskretion bedacht war – wegen der Ehefrau zu Hause

vielleicht ...« Roldán lachte anzüglich.

»Ja, Klaus verheiratet. Er sehr dick. Seine Frau nicht mehr mit ihm schlafen.« Becker sah sein Spiegelbild in der Scheibe der Telefonzelle. Er verdrehte die Augen. Wenn Susan dich jetzt sehen könnte! »Ich auch dick und einsam. Möchte mit Rothaariger schlafen.

Viel Geld bezahlen.«

Becker gab eine eindrucksvolle Vorstellung, aber er hatte den Bogen überspannt. Prostitution war in Spanien nun mal verboten, und Señor Roldán war auf der Hut. Er war schon einmal auf einen Beamten der Guardia hereingefallen, der sich als liebeshungriger Tourist ausgegeben hatte. Möchte mit Rothaariger schlafen. Roldán wusste, das konnte ins Auge gehen. Wenn er darauf einging, würde er sich womöglich eine saftige Geldstrafe einhandeln und außerdem wieder einmal eine seiner talentiertesten Damen dem Kommissariat

für ein Gratis-Wochenende überlassen müssen.

»Sie sprechen mit Escortes Belén«, antwortete er, nun schon weitaus weniger freundlich. »Darf ich fragen, wer da spricht?«

»Äh... Siegmund Schmidt«, antwortete Becker.

»Woher haben Sie unsere Nummer?«

»Aus Branchenbuch, Guía telefónica.«

»Gewiss, Señor: Dort sind wir eingetragen. Als Begleitagentur!«.

»Ja, ich wollen Begleiterin.« Becker spürte, dass etwas schief gelaufen war.


»Señor, Escortes Belén ist ein Dienstleistungsunternehmen, bei dem Geschäftleute zum Lunch oder zum Dinner eine Begleiterin buchen können. Deswegen stehen wir ja auch im Branchenbuch. Unsere Dienstleistungen sind völlig legal. Was Sie suchen, nennt man eine Prostituierte!« Das Wort kam über Señor Roldáns Lippen, als

handle es sich um eine ekelhafte Krankheit.

»Aber mein Bruder ...«

»Señor, wenn Ihr Bruder heute im Park ein Mädchen geküsst hat, dann kann das keinesfalls eine Dame von unserer Agentur gewesen sein. Das Verhältnis unserer Damen zum Kunden ist durch absolut

verbindliche gegenseitige Vereinbarungen vertraglich geregelt!«

»Aber...«

»Sie haben garantiert unsere Nummer mit einer anderen verwechselt. Immaculata und Rocío, unsere beiden rothaarigen Damen, würden es empört ablehnen, sich gegen Bezahlung mit einem Kunden auf Intimitäten einzulassen. Das wäre Prostitution, und

Prostitution ist in Spanien verboten! Gute Nacht, Señor!« »Aber...« KLICK. Leise fluchend schmiss Becker den Hörer auf die Gabel.

Dritter Versuch.

Aber er war sicher, dass Cloucharde gesagt hatte, der Deutsche hätte geprahlt, er hätte das Mädchen für das ganze Wochenende

gebucht.


Becker trat aus der an der Kreuzung der Calle Salvado mit der Avenida Asuncion gelegenen Telefonzelle. Trotz des dichten Verkehrs hing überall der Duft der Orangenbäume in der Luft. Die Abenddämmerung brach herein – die romantischste Stunde von Sevilla. Becker dachte an Susan, aber Strathmores Aufforderung verdrängte alles andere aus seinem Kopf. Sie müssen diesen

Ringfinden!

Entmutigt ließ er sich auf eine Bank fallen, um sich seinen nächsten Zug zu überlegen.

Welchen Zug überhaupt?


KAPITEL 25

Die Besuchszeit der Clínica de Sanidad Pública war längst vorüber. In der zum Krankensaal umfunktionierten Turnhalle hatte man das Licht ausgeschaltet. Pierre Cloucharde schlief den Schlaf des

Gerechten.

Cloucharde bemerkte nicht, dass sich eine Gestalt über ihn beugte. Die Nadel einer großen Injektionsspritze blitzte in der Dunkelheit auf und senkte sich zielstrebig in die Armvene des Schlafenden. Die Spritze enthielt dreißig Kubikzentimeter zweckentfremdeten Allesreiniger von einem Putzkarren des Reinigungspersonals. Ein kräftiger Daumen drückte den Spritzenkolben nieder und jagte die

bläuliche Flüssigkeit in Clouchardes Vene.

Cloucharde erwachte, aber nur für wenige Sekunden. Er wollte vor Schmerz aufschreien, doch eine starke Hand presste sich auf seinen Mund. Ein unverrückbares Gewicht nagelte ihn auf sein Feldbett. Er fühlte eine Feuerblase in seinem Arm hochrollen. Ein unerträglicher Schmerz raste über die Achselhöhle in seine Brust und hoch in sein Gehirn, wo er wie ein Schrapnell aus Millionen Glassplittern

explodierte. Cloucharde sah einen grellen Lichtblitz ... dann nichts

mehr.

Der nächtliche Besucher, ein Mann mit Nickelbrille, löste seinen Griff. Er entzifferte den Namen auf der Bettbelegungskarte und

schlüpfte geräuschlos hinaus.

Draußen auf der Straße griff er nach einem winzigen Gerät an

seinem Gürtel, ein rechteckiges flaches Kästchen vom Format einer Scheckkarte. Es war der Prototyp der neuen Monocle Computergeneration. Das ursprünglich von der US Navy für elektrische Messzwecke in den beengten Raumverhältnissen von U-Booten entwickelte Gerät hatte sich zum Miniaturcomputer gemausert und enthielt neben den neuesten Schikanen der Mikrotechnologie auch ein Mobilfunk-Modem. Als Monitor diente ein in das linke Glas


einer Brille integrierter Flüssigkristall-Bildschirm. Der Monocle stellte eine völlig neue Generation der PC-Technik dar, die es dem Anwender erlaubte, Daten und Umgebung simultan zu beobachten.

Der eigentliche Clou des Monocle war jedoch nicht sein Miniatur­Display, sondern das Daten-Eingabesystem. Der Benutzer gab die Befehle mittels winziger elektrischer Kontakte an den Fingerspitzen, die er nach bestimmten Abfolgen betätigte. Das Ergebnis war eine Art Kurzschrift wie bei den Schreibmaschinen der amerikanischen Gerichtsstenographen. Der Computer lieferte die Rückübersetzung der

Kürzel in Langschrift.

Der Attentäter drückte einen Mikroschalter. In seiner Brille leuchtete der Bildschirm auf. Er ließ die Arme unverdächtig seitlich am Körper hängen. Seine Fingerspitzen begannen in schneller Folge gegeneinander zu trommeln. Vor seinem linken Auge leuchtete eine

Meldung auf:

ZIELPERSON: P. CLOUCHARDE – ELIMINIERT

Er lächelte. Die Vollzugsmeldung der Mordaufträge war Bestandteil seines Vertrags. Aber die Meldung mit dem Namen des Opfers zu

verbinden, dachte der Mann mit der Nickelbrille – das war Eleganz.

Ein weiteres Trommeln seiner Fingerspitzen aktivierte das Mobilfunk-Modem:

BOTSCHAFT ABGESCHICKT


KAPITEL 26

Becker saß ratlos auf der Bank gegenüber der Klinik. Wie sollte es jetzt weitergehen? Seine Anrufe bei den Begleitagenturen hatten zu keinem Ergebnis geführt. Den Commander konnte er nicht anrufen. Strathmore hatte ihn wegen der Abhörgefährdung öffentlicher Telefone gebeten, sich erst wieder zu melden, wenn er den Ring hatte. Becker überlegte, ob er zur hiesigen Polizei gehen und sich nach einer rothaarigen Nutte erkundigen sollte, aber dem standen Strathmores strikte Anweisungen entgegen. Bleiben Sie im Verborgenen! Niemand

darf wissen, dass es diesen Ring gibt!

Becker fragte sich, ob er das Vergnügungsviertel Triana nach der geheimnisvollen Frau abklappern oder sich lieber quer durch die

Lokale auf die Suche nach dem deutschen Touristen machen sollte.

Alles nur Zeitvergeudung...

Strathmores Worte ließen ihn nicht los. Es ist eine Frage der nationalen Sicherheit. Sie müssen diesen Ringfinden!

Eine leise Stimme im Hinterkopf sagte ihm, dass er etwas übersehen hatte – etwas Wichtiges -, aber selbst um den Preis seines Lebens hätte er nicht sagen können, was es war. Du bist ein Pauker und kein Geheimagent, verdammt noch mal! Er fragte sich allmählich,

warum Strathmore nicht einen Profi losgeschickt hatte.

Becker stand auf und spazierte ziellos die Calle Delicias hinunter. Welche Möglichkeiten gab es noch? Das Pflaster des Trottoirs verschwamm vor seinen Augen. Die Dunkelheit brach mit Macht herein.

Dewdrop.

Irgendetwas an diesem blödsinnigen Namen ließ ihn nicht los.


Dewdrop. Die ölige Stimme des Señor Roldán von Escortes Belén lief als Dauerschleife in seinem Kopf. Wir beschäftigen nur zwei

rothaarige Damen ... Immaculata und Rocío... Rocío... Rocío...«

Becker schlug sich mit der Hand an die Stirn. Plötzlich hatte er begriffen. Wie konnte ihm das nur entgangen sein?

Rocío war einer der populärsten Mädchennamen Spaniens. In diesem Namen schwang alles mit, was sich für ein junges katholisches Mädchen ziemte – Reinheit, Jungfräulichkeit, Schönheit. Der Sinngehalt leitete sich aus der wörtlichen Bedeutung des Namens her

Tautropfen!.

Becker hörte die Stimme des alten Kanadiers in seinem Kopf widerhallen. Dewdrop. Rocío hatte ihren Namen in die einzige Sprache übersetzt, in der sie sich mit ihrem Kunden verständigen konnte – ins Englische! Aufgeregt machte Becker sich auf die Suche

nach einer Telefonzelle.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite folgte ihm knapp außer Sichtweite ein Mann. Er trug eine Nickelbrille.


KAPITEL 27

In der Crypto-Kuppel wurden die Schatten erst länger und dann schwächer. Die automatisch geregelte Beleuchtung fuhr langsam hoch. Susan saß immer noch an ihrem Terminal und wartete schweigend auf die Rückmeldung ihres Tracers. Es dauerte länger als

erwartet.

Ihre Gedanken waren auf Wanderschaft gegangen. David fehlte ihr, und Hale sollte endlich verschwinden. Er hatte sich nicht gerührt und zum Glück auch nichts gesagt. Er war völlig versunken in dem, was er an seinem Terminal trieb. Susan war egal, was es war, solange er sich nicht die Betriebsanzeige auf den Bildschirm holte. Offenbar hatte er es bislang nicht getan – sechzehn Stunden Rechenzeit hätten

ihn laut und vernehmlich nach Luft schnappen lassen.

Susan war bei der dritten Tasse Tee angelangt, als sich endlich etwas tat: Ihr Terminal gab einen Pieps von sich. Ihr Puls wurde schneller. Auf ihrem Bildschirm erschien ein blinkender Briefumschlag zur Ankündigung einer E-Mail. Susan schaute schnell

zu Hale hinüber. Er war tief in seiner Arbeit versunken.

Mit angehaltenem Atem machte sie einen Doppelklick auf den Umschlag. North Dakota!, flüsterte es in ihr, dann wollen wir mal

sehen, wer du bist!

Die E-Mail bestand nur aus einer einzigen Zeile. Susan las. Und las noch einmal:

DINNER BEI ALFREDO'S? UM ACHT? Auf der anderen Seite des Rings hörte sie Hale verstohlen kichern.


Susan las den Rest der Mail:

VON: GHALE@CRYPTO.NSA.GOV

Susan wurde wütend, zwang sich aber, ruhig zu bleiben. »Reife Leistung, Greg.«

»Sie machen dort ein fantastisches Carpaccio.« Hale grinste. »Was hältst du davon? Und hinterher könnten wir ...«

»Vergiss es!«

»Eingebildet bist du gar nicht.« Hale wandte sich seufzend wieder seiner Arbeit zu. Mit Susan Fletcher gab es einfach kein Weiterkommen. Die brillante Kryptographin war für ihn ein Quell nicht nachlassender Frustration. Hale hatte sich oft ausgemalt, mit Susan Sex zu haben – gegen die geschwungene Schale des TRANSLTR würde er sie drängen und, an die warmen schwarzen Kacheln gepresst, in sie eindringen. Aber Susan wollte nichts von ihm wissen. Dass sie in einen Universitätsdozenten verliebt war, der für ein paar lächerliche Kröten endlos schuftete, machte die Sache nur noch schlimmer. Was für eine Vergeudung, dachte Hale. Ihren Spitzen-Genpool wird sie durch die Fortpflanzung mit irgend so einem Knallkopf verschleudern – wo sie doch ihn haben konnte! Wir

könnten perfekte Kinder zeugen, dachte er.

»Woran arbeitest du gerade?«, erkundigte er sich, um eine andere Tour zu probieren.

Susan blieb die Antwort schuldig.

»Ich weiß ja, dass du nicht teamfähig bist, aber du hast doch nichts dagegen, wenn ich mal gucken komme?« Hale stand auf und kam um

den Ring der Terminals herum auf sie zu.


Susan spürte, dass Hales Neugier an einem Tag wie heute

schlimme Folgen haben konnte. »Es ist ein Diagnoseprogramm«, wiederholte sie kurz entschlossen Commander Strathmores Ausflüchte.

Hale blieb wie angewurzelt stehen. »Ein Diagnoseprogramm?« Er schien es ihr nicht abzunehmen. »Du hängst hier am Samstag herum und lässt ein Diagnoseprogramm laufen, anstatt mit deinem Prof.

einen draufzumachen?«

»Für dich immer noch Mr Becker.«

»Wie auch immer.«

Susan sah Hale strafend an. »Und du? Hast du denn nichts Besseres zu tun?«

»Du willst mich wohl loswerden.« Hale spielte den Gekränkten.

»Stimmt genau.«

»Aber Sue, du tust mir weh!«

Susan Fletchers Augen verengten sich. Sie konnte es nicht leiden, wenn Hale sie Sue nannte. Sie hatte im Prinzip nichts gegen die Kurzform ihres Namens, aber durchaus etwas dagegen, dass Hale sie

benutzte.

»Lass mich doch ein bisschen helfen«, diente Hale sich an. Er kam näher. »Ich habe ein Händchen für Diagnoseprogramme. Außerdem sterbe ich vor Neugier, wie das Programm aussieht, das sogar an einem Samstag die tüchtige Susan Fletcher an ihren Arbeitsplatz

ziehen kann.«


Susan spürte einen Adrenalinstoß. Sie blickte auf den Tracer auf ihrem Bildschirm. Hale durfte ihn nicht sehen – er würde zu viele

Fragen stellen. »Greg, ich komme allein zurecht«, sagte sie.

Aber Hale kam trotzdem näher. Susan musste etwas tun, und zwar schnell. Hale war nur noch ein paar Schritte entfernt, als sie aufstand und sich ihm in den Weg stellte. Seine Parfümschwaden warfen sie

fast um.

»Ich habe Nein gesagt!« Sie blickte Hale unerschrocken in die Augen.

Hale legte kokett den Kopf schief. Susans Geheimniskrämerei reizte ihn erst recht. Er tänzelte spielerisch näher. Auf das, was dann

kam, war er nicht gefasst.

Eiskalt und ohne mit der Wimper zu zucken, setzte ihm Susan den Zeigefinger auf die gestählte Brust. Sein Vorwärtsdrang erstarb.

Hale trat erschrocken einen Schritt zurück. Susan Fletcher hatte es offenbar todernst gemeint. Sie hatte ihn noch nie zuvor angerührt. Hale hatte sich den ersten Körperkontakt bei Gott etwas anders vorgestellt, aber es war immerhin ein Anfang. Er streifte Susan mit einem langen irritierten Blick und trat zögernd den Rückzug zu seinem Terminal an. Als er sich wieder hinsetzte, war ihm eines klar: Die schöne Susan Fletcher hatte brisantes Material auf dem

Bildschirm, und ein Diagnoseprogramm war das bestimmt nicht.


KAPITEL 28

Señor Roldán saß an seinem Schreibtisch und gratulierte sich selbst zu der gelungenen Abfuhr, die er der Guardia bei ihrem jüngsten Versuch, ihn über den Tisch zu ziehen, erteilt hatte. Da hatte doch glatt einer von den Brüdern die krumme Tour versucht, mit falschem deutschem Akzent ein Mädchen für die Nacht aufzureißen!

Was würde den Bullen wohl als Nächstes einfallen?

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Mit selbstbewusster Geste hob Señor Roldán den Hörer ab. »Buenas noches, Escortes

Belén.«

»Buenas noches«, vernahm er eine nasale männliche Stimme, die ein rasantes Spanisch sprach. Der Sprecher klang, als sei er leicht

erkältet. »Ist dort ein Hotel?«

»No, Señor. Welche Nummer haben Sie gewählt?« Roldán war nicht gewillt, sich an diesem Abend ein zweites Mal aufs Glatteis

führen zu lassen.

»34-62-10«, sagte die Stimme.

Roldán runzelte die Stirn. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor. Er versuchte, die Färbung einzuordnen – Burgos vielleicht? »Das ist zwar unsere Nummer«, sagte Roldán vorsichtig, »aber wir sind

eine Begleitagentur.«

Es wurde kurz still in der Leitung. »Oh ... verstehe. Tut mir Leid. Jemand hat mir diese Nummer gegeben. Ich dachte, es wäre die

Nummer eines Hotels. Ich komme nämlich aus Burgos und bin hier

nur zu Besuch. Entschuldigen Sie die Störung! Guten Abend...«

»¡Espére! Warten Sie!«, rief Roldán ins Telefon. Er war mit Leib


und Seele Verkäufer und konnte einfach nicht anders. Rief der Mann etwa auf Empfehlung an? Ein neuer Kunde aus dem Norden? So verrückt war Roldán nun auch wieder nicht, dass er aus lauter

Argwohn ein potenzielles Geschäft sausen ließ!

»Lieber Freund«, flötete er ins Telefon, »ich habe doch gleich einen leichten Zungenschlag von Burgos bei Ihnen herausgehört! Ich

komme nämlich aus Valencia. Was führt Sie nach Sevilla?«

»Ich handele mit Tonwaren. Majolika.«

»Majolika? Ach, wie interessant. Da kommt man bestimmt viel herum.«

Am anderen Ende der Leitung wurde krächzend gehustet. »Ja, ich bin leider sehr viel auf Achse.«

»Und nun haben Ihre Geschäfte Sie nach Sevilla geführt?«, hakte Roldán nach. Dieser Mann war nie im Leben ein Lockvogel der Bullen, das war ein Kunde, wie er im Buche steht! »Lassen Sie mich raten – ein Bekannter hat Ihnen unsere Nummer gegeben und gesagt,

Sie sollten doch einfach einmal bei uns anrufen, stimmt's?«

Der Anrufer schien verunsichert. »Aber nicht doch, Sie verstehen mich falsch.«

»Sie brauchen sich nicht zu genieren, Señor! Wir sind eine Begleitagentur, nichts, wofür man sich zu schämen braucht! Bei uns können Sie ein hübsches Mädchen buchen, das sie zum Dinner begleitet – das ist alles. Wer hat Ihnen denn unsere Nummer gegeben? Vielleicht ist es jemand, der regelmäßig bei uns bucht? Ich könnte

Ihnen einen Sonderrabatt einräumen.«

»Nein, nein«, antwortete die Stimme nun schon etwas gereizt.


»Ihre Nummer wurde mir keineswegs von jemand zugesteckt! Ich habe sie in einem Pass gefunden und versuche lediglich, den Verlierer

ausfindig zu machen.«

Roldán schluckte. Das war mitnichten ein Kunde. »Sie haben unsere Nummer gefunden, sagen Sie?«

»Ja, in einem Pass, heute im Park. Im Pass lag ein Zettelchen, auf dem Ihre Nummer stand. Ich dachte, es könnte die Nummer des Hotels sein, wo derjenige, der den Pass verloren hat, abgestiegen ist. Dann hätte ich ihm nämlich den Pass vorbeibringen können. Leider

ein Irrtum. Ich werde den Pass bei meiner Abreise bei der Polizei ...«

»Perdón«, fiel Rodán dem Anrufer nervös ins Wort. »Darf ich Ihnen einen besseren Vorschlag machen?« Roldán hielt sich etwas auf seine Diskretion zugute, und die Einschaltung der Polizei konnte aus einem Kunden im Handumdrehen einen ehemaligen Kunden machen. »Da der Verlierer des Passes unsere Telefonnummer bei sich hatte, dürfte er einer unserer Kunden sein. Ich würde Ihnen gern die Mühe

ersparen, extra zur Polizei gehen zu müssen.«

Der Anrufer zögerte. »Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich einfach...«

»Lieber Freund, ich möchte Sie nur vor einer möglicherweise übereilten Entscheidung bewahren. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber die Polizei von Sevilla ist nicht immer so tüchtig wie die Polizei bei Ihnen im Norden. Es kann Tage dauern, bis der Mann seinen Pass wiederbekommt. Wenn Sie mir den Namen des Verlierers nennen, kann ich vermutlich dafür sorgen, dass er seinen Pass sofort

zurückbekommt.«

»Nun gut, es wird wohl nichts schaden...« Roldán hörte Papier rascheln, dann war der Anrufer wieder am Apparat. »Es ist ein deutscher Name. Ich weiß nicht, wie man ihn ausspricht... Hoff...


Hoffmann.«

Der Name sagte Roldán nichts, aber er hatte Kunden aus der ganzen Welt, und kaum einer hinterließ bei ihm den richtigen Namen. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie der Mann auf seinem Passfoto

aussieht? Das könnte mir vielleicht weiterhelfen.«

»Sein Gesicht ist... außerordentlich feist«, sagte die Stimme.

Roldán wusste sofort Bescheid. Er erinnerte sich an den Fettsack nur zu gut, den Mann, um den sich Rocío kümmern sollte. Seltsam,

dachte Roldán, zwei Anrufe hintereinander wegen dieses Deutschen.

»Der Señor heißt Hoffmann?« Roldán unterdrückte ein Kichern. »Aber natürlich. Ich kenne den Herrn sehr gut. Wenn Sie mir den Pass vorbeibringen, werde ich dafür sorgen, dass er seine Papiere

umgehend zurückbekommt.«

»Ich bin in der Innenstadt und habe kein Auto«, wehrte der Anrufer ab. »Könnten Sie nicht herkommen?«

»Leider kann ich das Telefon nicht unbeaufsichtigt lassen«, wandte Roldán ein. »Aber bis zu uns ist es wirklich nicht weit. Wenn Sie...«

»Bedauere, aber um Ihre Adresse zu suchen, fehlt mir die Zeit. Hier ist ganz in der Nähe ein Polizeirevier. Ich werde den Pass dort abgeben. Wenn Sie Señor Hoffmann sehen, können Sie ihm ja sagen,

wo er seinen Pass abholen kann.«

»Nein, warten Sie«, schrie Roldán, »wir sollten die Polizei unbedingt aus dem Spiel lassen! Sie sind in der Innenstadt, sagen Sie? Kennen Sie das Hotel Alfonso XIII? Eines der besten Häuser unserer

Stadt.«


»Ja, kenne ich. Es ist nicht weit von hier.«

»Wunderbar! Señor Hoffmann ist dort abgestiegen. Er müsste sich jetzt eigentlich im Hotel aufhalten.«

Der Anrufer zögerte. »Aha. Nun gut, dann muss ich mich wohl dort hinbemühen.«

»Ausgezeichnet! Señor Hoffmann wollte heute Abend im Hotelrestaurant mit einer unserer Gesellschafterinnen zu Abend speisen.« Vermutlich lag Hoffmann mit dem Mädchen schon im Bett, aber Roldán musste vorsichtig sein, um den spießigen Anrufer nicht zu verschrecken. »Geben sie den Pass einfach bei Manuel ab. Das ist der Portier. Sagen Sie, ich hätte Sie geschickt. Er möchte den Pass

Rocío geben. Rocío ist heute Abend Señor Hoffmanns Gesellschafterin. Sie wird dafür Sorge tragen, dass der Mann wieder in den Besitz seiner Papiere kommt. Sie können ja ein Kärtchen mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse dazulegen, dann kann Señor

Hoffmann Ihnen ein kleines Dankeschön zukommen lassen.«

»Eine gute Idee. Das Alfonso XIII also? Ich werde den Pass sogleich dort abgeben. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe!«

David Becker hängte ein. Na also, das Alfonso XIII. Er schmunzelte. Man muss nur die richtigen Fragen stellen.

Als er ein paar Augenblicke später die Calle Delicias hinunterging, folgte ihm geräuschlos eine stumme Gestalt.


KAPITEL 29

Susan schaute durch die Glaswand von Node 3 in die verlassene Crypto-Kuppel hinaus. Der Zusammenstoß mit Hale ging ihr immer noch nach. Hale war wieder in seine Arbeit vertieft und hielt dankenswerterweise die Klappe. Wenn er nur endlich verduften

würde!

Sie überlegte, ob sie Strathmore anrufen sollte. Der Commander konnte Hale problemlos vor die Tür setzen – schließlich war Samstag. Aber ein Rauswurf würde Hale erst recht argwöhnisch werden lassen. Kaum draußen, würde er bestimmt sämtliche Kollegen anrufen und sich erkundigen, was ihrer Meinung nach los sein könnte. Susan entschloss sich, Hale in Ruhe zu lassen. In absehbarer Zeit würde er

wohl von selbst wieder verschwinden.

Ein nicht dechiffrierbarer Algorithmus. Susans Gedanken waren wieder bei Diabolus. Sie seufzte. Sie wollte einfach nicht glauben, dass es möglich sein sollte, einen solchen Algorithmus zu erzeugen – aber den Beweis, dass es doch möglich war, hatte sie unmittelbar vor Augen: Der TRANSLTR biss sich an dem Algorithmus seit vielen

Stunden die Zähne aus.

Susan dachte an Strathmore, der wacker die Verantwortung trug und mit kühler Überlegung tat, was angesichts der Katastrophe getan

werden musste.

Manchmal glaubte Susan, in Strathmore David wieder zu

erkennen. Die beiden hatten eine ganze Reihe von gemeinsamen Eigenschaften: Intelligenz, Zähigkeit, Engagement. Manchmal hatte sie den Eindruck, Strathmore wäre ohne sie verloren. Ihre unverbrüchliche Liebe zur Kryptographie schien für ihn ein Quell des Lebensmuts zu sein, der ihn das ewige Einerlei des politischen Tagesgeschäfts überstehen ließ und die Erinnerung an seine Jahre als Codeknacker in ihm wach hielt.


Susan brauchte Strathmore nicht minder. In einer Welt machtgieriger Männer war er ihr Rückhalt, ihr Beschützer, der Förderer ihrer Karriere und der Erfüllungsgehilfe ihrer Träume, wie er oft scherzhaft bemerkte. Und ganz so Unrecht hat er damit ja nicht, dachte Susan. Schließlich hatte Strathmore, natürlich ganz ohne jede Absicht, den schicksalsträchtigen Anruf getätigt, durch den David an jenem Nachmittag bei der NSA aufgetaucht war. Susans Gedanken flogen zurück zu David. Ihr Blick wanderte unwillkürlich zu dem kleinen Fax, das sie mit Tesafilm in die Lade für ihr Keyboard geklebt

hatte.

Seit sieben Monaten prangte es schon da. Es war der einzige Code, den Susan Fletcher bislang noch nicht zu knacken vermocht hatte. Das

Fax war von David. Sie las es zum fünfhundertsten Mal: NIMM BITTE DIESES KLEINE FAX ICH LIEBE DICH GANZ OHNE WACHS

DAVID

Er hatte ihr das Fax nach einer kleinen Meinungsverschiedenheit geschickt. Seit Monaten schon lag sie ihm in den Ohren, er möge ihr verraten, was es bedeute, aber er hatte sich nicht erweichen lassen. Ohne Wachs. Es war Davids kleine Rache. Susan hatte ihm eine ganze Menge über die Kunst des Dechiffrierens beigebracht. Um ihn auf Trab zu halten, hatte sie angefangen, alle schriftlichen Mitteilungen mit einem leichten Code zu verschlüsseln. Ob Einkaufsliste oder

Zettelchen mit Liebesgeflüster – alles war codiert. Es war ein Spiel, das David zu einem recht guten Kryptographen gemacht hatte. Dann hatte er angefangen, sich zu revanchieren und alle seine Mitteilungen mit »Ohne Wachs, David« zu unterschreiben. Susan hatte inzwischen über zwei Dutzend Zettel von David, die alle auf diese Weise


gezeichnet waren. Ohne Wachs.

Susan hatte David angefleht, ihr den geheimen Sinn zu verraten, aber er schwieg beharrlich. Jedes mal, wenn sie davon anfing, lächelte

er nur und sagte: »Die Kryptographin bist doch du!«

Die Chefkryptographin der NSA hatte alles versucht – Substitutionschiffren, Zahlenquadrate, sogar Anagramme. Sie hatte ihrem Computer den Befehl gegeben, die Buchstaben zu neuen Wörtern anzuordnen, aber außer dem wenig aufschlussreichen »HANS WOCHE« war nichts dabei herausgekommen. Anscheinend war Ensei Tankado doch nicht der einzige Mensch auf der Welt, der

einen undechiffrierbaren Code schreiben konnte.

Das Zischen des pneumatischen Türmechanismus riss Susan aus ihren Gedanken. Commander Strathmore kam hereingeschritten.

»Gibt's schon was Neues, Susan?«, rief er.

Strathmore bemerkte Greg Hale und blieb abrupt stehen. »Einen schönen guten Abend, Mr Hale«, sagte er und legte die Stirn in Falten.

»Voller Einsatz, auch am Samstag! Was verschafft uns die Ehre?«

Hale grinste unschuldig zurück. »Wer viel verdient, muss auch viel arbeiten.«

»Verstehe«, grunzte Strathmore, der offenbar nicht wusste, wie er reagieren sollte – doch auch er schien Hale in Ruhe lassen zu wollen. Er wandte sich an Susan. »Miss Fletcher«, sagte er eher beiläufig,

»ich möchte Sie einen Augenblick sprechen. Aber draußen.«

Susan zögerte. »Äh, jawohl, Sir.« Sie schaute beklommen auf ihren Monitor und dann hinüber zu Greg Hale. »Einen Moment noch,

bitte.«


Sie tippte auf ein paar Tasten und lud das ScreenLock-Programm, das ihre Dateien vor fremdem Zugriff schützte. Sämtliche Terminals

in Node 3 waren damit ausgerüstet. Da die Terminals rund um die Uhr liefen, konnten die Kryptographen mit ScreenLock dafür sorgen, dass sich niemand während ihrer Abwesenheit an ihren Dateien zu schaffen machte. Susan gab ihren Zugriffscode ein. Der Bildschirm wurde schwarz. Er würde dunkel bleiben, bis sie wieder zurückkam

und erneut die richtige Zahlenfolge eintippte.

Sie schlüpfte in die Schuhe und folgte dem Commander nach draußen.

»Was zum Teufel macht Hale denn hier?«, schnaubte Strathmore, kaum, dass er mit Susan vor der Tür angekommen war.

»Was er immer macht«, gab Susan zurück. »Gar nichts.«

Strathmore wirkte besorgt. »Hat er etwas vom TRANSLTR gesagt?«

»Nein, aber wenn er auf den Kontrollmonitor zugreift und die sechzehn Stunden Laufzeit sieht, wird er zweifellos Krawall

schlagen.«

»Einen Grund zum Zugreifen hat er eigentlich nicht«, meinte Strathmore.

Susan blickte den Commander an. »Wollen Sie ihn nicht lieber nach Hause schicken?«

»Nein. Wir werden ihn in Ruhe lassen.« Strathmore schaute hinüber zum Sys-Sec-Büro. »Ist Charturkian schon gegangen?«


»Ich weiß nicht. Gesehen habe ich ihn nicht.«

»Mein Gott!«, stöhnte Strathmore, »was für ein Affentheater!« Er fuhr sich mit der Hand über die dunklen Bartstoppeln, die in den letzten sechsunddreißig Stunden an seinem Kinn gesprossen waren. »Hat sich mit dem Tracer schon etwas getan? Es fällt mir schwer,

tatenlos da oben in meinem Büro herumzusitzen.«

»Noch nicht. Gibt es etwas Neues von David?«

Strathmore schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe ihm gesagt, er soll sich erst wieder melden, wenn er den Ring an sich gebracht hat.«

Susan sah ihn überrascht an. »Warum das? Was ist, wenn er Hilfe braucht?«

»Von hier aus kann ich ihm nicht helfen«, sagte Strathmore achselzuckend. »Er ist auf sich selbst gestellt. Außerdem möchte ich keine ungesicherte Telefonverbindung riskieren. Es könnte jemand

lauschen.«

Susans Augen weiteten sich besorgt. »Wie soll ich das verstehen?«

»David hat nichts zu befürchten«, sagte Strathmore mit beschwichtigender Miene und lächelte Susan aufmunternd zu. »Reine

Vorsichtsmaßnahme.«

Durch die reflektierende Glaswand Susans und Strathmores Blicken entzogen, trat Greg Hale nur zehn Meter von ihnen entfernt an Susans Terminal. Der Bildschirm war schwarz. Mit einem sichernden Blick hinaus zu Strathmore und Susan griff Hale in die Brieftasche und holte ein kleines Karteikärtchen heraus, um eine

Zahlenfolge abzulesen.


Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die beiden immer noch miteinander redeten, drückte er behutsam fünf Tasten von Susans

Keyboard. Der Monitor wurde hell.

»Bingo!«, sagte Hale grinsend.

Für Hale war es eine leichte Übung gewesen, sich die

Zugriffscodes der Terminals von Node 3 zu beschaffen. Die Arbeitsplätze hatten identische Keyboards. Hale hatte einfach eines Abends sein Keyboard abgesteckt, mit nach Hause genommen und einen Chip installiert, der die gedrückten Tasten nacheinander speicherte. Am nächsten Tag war er ein bisschen früher zur Arbeit gekommen, um das präparierte Keyboard gegen das eines Kollegen auszutauschen. Am Ende des Tages hatte er den Tausch rückgängig

gemacht und die auf dem Chip gespeicherten Daten heruntergelesen. Den Zugriffscode aufzuspüren war trotz der Millionen betätigter Tasten einfach, denn jeder Kryptograph gab morgens als Erstes seinen Code ein. Es war ein Kinderspiel: Hale brauchte sich nur die ersten fünf Zeichen auf der Liste zu notieren.

Welche Ironie, dachte Hale, während er auf Susans Monitor schaute. Er hatte sich den Zugriffscode eigentlich nur zum Spaß beschafft, aber jetzt war er froh, dass er ihn hatte. Das Programm auf

Susans Bildschirm sah nach etwas Wichtigem aus.

Hale brauchte einen Moment, um durchzusteigen. Das Programm war in LIMBO geschrieben – nicht unbedingt seine Stärke -, aber ein Diagnoseprogramm war es nicht. Nur drei der auf dem Monitor

angezeigten Wörter sagten ihm etwas, aber das genügte schon:

TRACER: SUCHE LÄUFT ...

»Tracer?«, murmelte er. »Suche läuft... aber wonach?« Nachdem er sich hingesetzt und Susans Bildschirm studiert hatte, wusste er, was

zu tun war.


Hale verstand von LIMBO immerhin genug, um zu wissen, dass es sich stark an zwei andere Programmiersprachen anlehnte, an C und Pascal, und die kannte er aus dem Effeff. Er hob kurz den Blick. Strathmore und Susan waren immer noch ins Gespräch vertieft. Hale begann zu improvisieren. Er gab ein paar leicht modifizierte Pascal­Befehle ein und drückte auf ENTER. Im Statusfenster des Tracers

zeigte sich die erhoffte Reaktion:

SUCHE ABBRECHEN? Schnell tippte er: JA

SIND SIE SICHER? Wieder tippte er: JA Gleich darauf piepste der Computer:

SUCHE ABGEBROCHEN

Hale grinste. Von Susans Terminal aus hatte er den Tracer vorzeitig zur Selbstzerstörung veranlasst. Was auch immer Susan

suchte, ihre Suche war bis auf weiteres storniert.

Um keine Spuren zu hinterlassen, navigierte sich Hale geschickt in Susans System-Aktiväts-Protokoll und löschte sämtliche von ihm eingegebenen Befehle. Zum Abschluss drückte er die Tasten von

Susans Zugriffscode.

Der Monitor wurde wieder schwarz.

Als Susan zurückkam, saß Greg Hale an seinem Terminal, als ob


nichts geschehen wäre.


KAPITEL 30

Das Vier-Sterne-Hotel Alfonso XIII lag von einem hohen schmiedeeisernen Gitter umgeben inmitten von Fliederbüschen etwas zurück von der Puerta de Jerez. David Becker stieg die marmornen Stufen des Eingangs hinauf. Als er nach dem Türknauf greifen wollte, tat sich die Tür wie von selbst vor ihm auf. Ein Page erschien, um ihn hineinzukomplimentieren. »Ihr Gepäck, Señor? Kann ich Ihnen

behilflich sein?«

»Danke, ich möchte nur den Portier sprechen.« Das beleidigte Gesicht des Pagen verriet, dass ihre noch keine fünf Sekunden alte Bekanntschaft nicht zu seiner Zufriedenheit verlaufen war. »Por aquí, señor, « näselte er, »hier entlang«, und schritt Becker zum Empfang voraus. Er deutete auf den Portier, um sich sogleich wieder in nichts

aufzulösen.

Der Eingangsbereich war erlesen – nicht allzu groß, aber elegant. Spaniens goldenes Zeitalter war zwar schon längst Vergangenheit, aber in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts hatte diese kleine Nation die Welt beherrscht. Die Räumlichkeit mit ihren Rüstungen, Radierungen von militärischen Begegnungen und dem Schaukasten mit Goldbarren aus der Neuen Welt bot eine stolze Reminiszenz

dieser großartigsten Epoche der spanischen Geschichte.

Hinter dem Empfangstresen mit der Aufschrift CONSERJE stand ein gepflegter schlanker Mann. Nach der Intensität seines beflissenen Lächelns zu schließen, hatte er das ganze Leben auf diesen einen Augenblick gewartet, um seine Dienste anzubieten. »¿En qué puedo servirle, señor? Womit kann ich dienen?«, lispelte er affektiert, wobei

er Becker von oben bis unten taxierte.

»Ich möchte Manuel sprechen«, antwortete Becker auf Spanisch.

Das Lächeln auf dem gebräunten Gesicht des Mannes wurde noch beflissener. »Sí, sí, señor, Sie sprechen mit Manuel. Was wünschen


Sie?«

»Señor Roldán von Escortes Belén hat mir gesagt, Sie würden...«

Der Portier brachte Becker mit einer hastigen Geste zum Schweigen. Nervös schaute er sich in der Lobby um. »Wenn Sie sich bitte hier herüber bemühen wollen!«, lispelte er und wedelte Becker zum Ende der Empfangstheke. »Also«, nahm er den Faden fast im

Flüsterton wieder auf, »womit kann ich Ihnen behilflich sein?«

Becker senkte die Stimme und begann von vorne. »Ich möchte eine von Señor Roldáns Damen sprechen, die, wie ich annehme, hier

zu Abend speist. Es handelt sich um Señorita Rocío.«

Der Portier blies überwältigt die Backen auf. »Ah, Señorita Rocío! – ein wunderbares Geschöpf!«

»Ich muss sie unverzüglich sprechen.«

»Aber Señor, Señorita Rocío betreut zurzeit einen Kunden!«

Becker nickte verständnisvoll. »Gewiss. Leider ist es sehr wichtig.« Eine Frage der nationalen Sicherheit.

Der Portier schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Aber wenn sie vielleicht eine...«

»Es dauert nur einen Moment. Befindet sich die Señorita denn nicht im Restaurant?«

Der Portier schüttelte den Kopf. »Das Restaurant hat vor einer halben Stunde geschlossen. Ich fürchte, Señorita Rocío und ihr Gast haben sich schon zurückgezogen. Wenn Sie so freundlich sind, eine


Nachricht zu hinterlassen, kann ich sie Señorita Rocío morgen früh überreichen.« Er deutete hinter sich auf die nummerierten Fächer an

der Wand.

»Vielleicht könnte ich sie kurz auf dem Zimmer anrufen und...«

»Tut mir Leid.« Die Geduld des Portiers näherte sich langsam ihrem Ende. »Im Alfonso XIII ist die Ungestörtheit des Gastes das

oberste Gebot!«

Becker hatte nicht die Absicht, mindestens zehn Stunden zu warten, bis ein Fettwanst mit seiner Nutte zum Frühstück

heruntergewatschelt kam.

»Verstehe«, sagte er. »Tut mir Leid, dass Sie sich wegen mir bemühen mussten.« Er drehte sich um und ging zu einem Nussbaum­Rollpult, das ihm schon beim Hereinkommen aufgefallen war. Ein großzügiges Sortiment von Alfonso-XIII-Postkarten, Briefpapier, Schreibzeug und Umschlägen war darauf ausgelegt. Er steckte ein leeres Blatt in einen Umschlag. Vorne drauf schrieb er ein einziges

Wort. ROCÍO.

Er ging zum Empfang zurück.

»Wie dumm von mir, dass ich Sie noch einmal behelligen muss«, sagte er verlegen zum Portier. »Ich hätte Señorita Rocío gern persönlich gesagt, wie gut ich mich neulich mit ihr amüsiert habe, aber ich werde leider heute Nacht noch abreisen. Dann muss es eben mit diesen wenigen Zeilen ein Bewenden haben.« Er legte den

Umschlag auf die Empfangstheke.

Der Portier blickte auf den Umschlag. Wieder so ein liebeskranker


Heterosexueller, dachte er betrübt. Welch eine Vergeudung. Er blickte hoch und lächelte. »Aber selbstverständlich, Señor... ?«

»Buisán«, ergänzte Becker. »Miguel Buisán.«

»Gewiss doch. Sie können sicher sein, dass Señorita Rocío Ihren Gruß gleich morgen früh erhält.«

»Vielen Dank.« Becker lächelte und wandte sich zum Gehen.

Nach einem diskreten Kennerblick auf Beckers Allerwertesten nahm der Portier den Umschlag und wandte sich den nummerierten Fächern in der Rückwand zu. Als seine Hand mit dem Umschlag in

eines der Fächer glitt, fuhr Becker jäh herum zu einer letzten Frage.

»Bitte, wo bekomme ich ein Taxi?«

Das Timing war perfekt. Die Antwort des Portiers war Becker gleichgültig, aber er hatte das Kuvert in dem Fach mit der Aufschrift

SUITE 301 verschwinden sehen.

Becker bedankte sich noch einmal und machte kehrt. Sein Blick suchte den Aufzug.

Rein und raus, murmelte er vor sich hin.


KAPITEL 31

Susan begab sich wieder an ihren Arbeitsplatz. Das Gespräch mit Strathmore hatte ihre Sorge um Davids Sicherheit vertieft.

»Nun, was hat Strathmore denn gewollt? Ein romantisches Tête-à-Tête mit seiner Chefkryptographin?«, stichelte Hale hinter seinem

Terminal.

Susan ignorierte die Spitze. Sie setzte sich an ihr Terminal und gab ihren Zugriffscode ein. Der Bildschirm wurde hell. Das Tracer­Programm hatte immer noch keine Rückmeldung über North Dakota

geliefert.

Verdammt, was dauert denn da so lang?

»Du machst so ein wütendes Gesicht«, sagte Hale unschuldig. »Ärger mit deinem Diagnoseprogramm?«

»Nichts Ernstes«, gab sie zurück, aber sie war sich keineswegs sicher. Der Tracer war längst überfällig. Sie überlegte, ob sie sich bei der Eingabe vertan haben konnte, und begann, die langen LIMBO-Zeichenfolgen auf ihrem Bildschirm nach einem Grund für die

Verzögerung zu durchsuchen.

Hale sah ihr schadenfroh zu. »Hey, ich wollte dich immer schon was fragen. Was hältst du eigentlich von dem unentschlüsselbaren

Algorithmus, an dem Ensei Tankado angeblich herumdoktert?«

Susan fuhr hoch. Ihr Magen schlug einen Purzelbaum. »Ein unentschlüsselbarer Algorithmus?« Sie erlangte ihre Fassung wieder.

»Ach so ... Ich glaube, davon habe ich schon mal was gelesen.« »Ziemlich überzogen, so eine Behauptung«, meinte Hale.


»Aber ja«, stimmte Susan zu. Warum fing Hale plötzlich davon an? »Ich glaube nicht daran. Schließlich weiß doch jeder, dass etwas

Derartiges mathematisch unmöglich ist.«

Hale lächelte. »Sicher. Das Bergofsky-Prinzip.«

»Und der gesunde Menschenverstand!«, ergänzte Susan bissig.

»Aber, wer weiß...« Hale ließ einen theatralischen Seufzer los. »›Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als eure

Schulweisheit sich träumt. ‹ « »Wie bitte?« »Shakespeare«, erläuterte Hale. »Hamlet.«

»Du hast im Knast wohl viel Zeit gehabt zum Lesen.«

Hale grinste unbeeindruckt. »Im Ernst, Susan, könntest du dir vorstellen, dass Tankado vielleicht wirklich einen unentschlüsselbaren

Algorithmus geschrieben hat?«

Die Unterhaltung lief in eine ungute Richtung. »Also, wenn wir es nicht geschafft haben . ..«

»Vielleicht ist Tankado besser als wir.«

»Vielleicht«, sagte Susan achselzuckend und tat desinteressiert.

»Wir haben eine Zeit lang korrespondiert«, sagte Hale. »Hast du das gewusst?«


Susan fuhr hoch. Sie versuchte ihren Schreck zu verbergen. »Ach ja?«

»Ja. Nachdem ich damals das Hintertürchen im Skipjack-Algorithmus entdeckt hatte, hat er mir geschrieben – wir seien Brüder

im globalen Kampf um die digitale Vertraulichkeit, hat er gesagt.«

Susan bemühte sich, ihr ungläubiges Erstaunen zu kaschieren. Hale und Tankado kennen einander persönlich! Sie versuchte,

Gleichgültigkeit zu heucheln.

»Er hat mich beglückwünscht, weil ich das Hintertürchen in Skipjack gefunden hatte«, fuhr Hale fort. »Er nannte den Vorgang einen Anschlag gegen die Persönlichkeitsrechte aller freien Bürger dieser Welt. Susan, du musst doch zugeben, dieses Hintertürchen war eine ausgemachte Schweinerei. Sich den Weltweiten Zugriff auf E­Mails zu sichern! Strathmore hatte nichts anderes verdient, als damit

auf die Schnauze zu fallen, wenn du mich fragst!«

»Also Greg!«, empörte sich Susan. Sie versuchte, ihren Ärger herunterzuschlucken. »Dieses Hintertürchen sollte der NSA die Möglichkeit geben, E-Mails aufzuspüren, die unsere nationale

Sicherheit bedrohen!«

»Ach ja?« Hale seufzte in gespielter Verzweiflung. »Und da muss man eben das Herumschnüffeln in den E-Mails rechtschaffener

Bürger in Kauf nehmen, oder?«

»Wir schnüffeln nicht in den E-Mails rechtschaffener Bürger, und das weißt du genau! Auch das FBI darf Telefone abhören, aber das heißt noch lange nicht, dass es jedes Telefonat abhört, das getätigt

wird.«

»Wenn sie genügend Leute dafür hätten, würden sie es aber tun!«


Susan überging die Bemerkung. »Der Staat muss das Recht haben, zum Schutz des Gemeinwohls Informationen zu sammeln.«

»Ach du lieber Gott«, stöhnte Hale. »Man könnte meinen, Strathmore hätte dir eine Gehirnwäsche verpasst. Du weißt verdammt genau, dass das FBI nicht nach Lust und Laune abhören darf. Es braucht dazu einen Gerichtsbeschluss. Ein manipulierter Verschlüsselungsstandard hätte dagegen zur Folge, dass die NSA

jeden jederzeit und überall ausspähen kann.«

»Das stimmt – und so sollte es auch sein!« Susans Stimme hatte einen harten Klang bekommen. »Und wenn du mit deiner Entdeckung dieses Hintertürchens nicht dazwischengepfuscht hättest, könnten wir jeden Code knacken, und nicht nur das bisschen, was der TRANSLTR

schafft.«

»Wenn ich das Hintertürchen nicht gefunden hätte«, wandte Hale ein, »dann wäre es eben ein anderer gewesen. Ihr solltet euch bei mir bedanken, dass ich es so früh schon entdeckt habe. Kannst du dir den Aufstand vorstellen, wenn es erst nach der Einführung von Skipjack

bekannt geworden wäre?«

»Das mag sein wie es will«, schoss Susan zurück, »jedenfalls hast du erreicht, dass die paranoide EFF jetzt glaubt, wir würden in jeden

unserer Algorithmen ein Hintertürchen einbauen!« »Tun wir das denn nicht?«, fragte Hale hämisch.

Susan warf ihm einen bösen Blick zu.

»Na ja, von mir aus«, lenkte Hale ein. »Jetzt ist das sowieso egal. Ihr habt den TRANSLTR gebaut. Ihr könnt lesen, was ihr wollt, wann

ihr wollt – kein Hahn kräht danach. Ihr habt gewonnen.«


»Wolltest du nicht sagen: Wir haben gewonnen? Soviel ich weiß, arbeitest du doch für die NSA.«

»Nicht mehr lange«, flötete Hale.

»Keine leeren Versprechungen!«

»Im Ernst. Eines nicht allzu fernen Tages werde ich von hier verschwinden.«

»Es wird mir das Herz brechen!« Susan merkte, dass sie wegen all der Dinge, die heute schief gelaufen waren, Hale am liebsten lauthals angeschrien hätte. Sie wollte ihn fertig machen wegen Diabolus, wegen ihrer Probleme mit David, wegen der geplatzten Fahrt in die Smoky Mountains – lauter Dinge, für die er überhaupt nicht verantwortlich war. Das Einzige, was man ihm vorwerfen konnte, war seine Aufdringlichkeit, und darüber hätte sie eigentlich erhaben sein müssen. Als Abteilungsleiterin hatte sie die Aufgabe, für Frieden und Ausgleich zu sorgen, pädagogisch zu wirken. Schließlich war Hale

noch jung und naiv.

Susan schaute zu ihm hinüber. Eigentlich schade, dachte sie. Hale hatte das Zeug zu einem hervorragenden Mitarbeiter der Crypto – sofern er endlich begriff, wie wichtig die Arbeit der NSA in

Wirklichkeit war.

»Greg«, sagte Susan ruhig und kontrolliert. »Ich bin heute ziemlich gestresst. Es regt mich einfach auf, wenn du über die NSA redest, als wären wir ordinäre Spanner auf High-Tech-Niveau. Diese Behörde ist nur zu einem Zweck ins Leben gerufen worden: zum Schutz der Sicherheit unseres Landes. Da müssen eben manchmal ein paar faule Äpfel aussortiert werden. Ich glaube, die meisten Bürger würden mit Freuden ein wenig von ihrer Freiheit opfern, wenn sie im Gegenzug dazu die Sicherheit hätten, dass Gesetzesbrecher nicht

schalten und walten können, wie es ihnen passt.«


Hale schwieg.

»Früher oder später«, fuhr Susan fort, »müssen sich die Bürger unseres Landes für eine Richtung entscheiden. Es gibt viel Positives, aber eben auch eine ganze Menge von krummen Dingern. Es muss jemand geben, der das alles sichten und das Gute vom Schlechten trennen kann. Und das ist unser Job. Das ist unsere Pflicht. Ob es uns passt oder nicht, zwischen Demokratie und Anarchie liegt nur ein

schmaler Grat. Und die NSA ist sein Wächter.«

Hale nickte nachdenklich. »Quis custodiet ipsos custodes?«

Susan sah ihn fragend an.

»Das ist Lateinisch, aus den Satiren des Juvenal. Es heißt: ›Wer überwacht die Wächter?‹«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Susan.

»Aber es ist doch ganz einfach! Wenn wir uns als Wächter der Gesellschaft aufspielen, wer wacht dann über uns, damit nicht wir zur

Gefahr werden?«

Susan sah ihn an. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

Hale lächelte. »Tankado hat alle seine Mails an mich mit diesem Spruch gezeichnet. Es war sein Lieblingsspruch.«


KAPITEL 32

David Becker stand vor Suite 301 auf dem Etagenflur. Irgendwo hinter dieser Tür befand sich der Ring. Eine Frage der nationalen

Sicherheit.

Becker vernahm, dass sich drinnen jemand bewegte. Eine gedämpfte Unterhaltung. Er klopfte.

»Ja?«, rief eine tiefe, unverkennbar deutsche Stimme.

Becker reagierte nicht.

Die Tür ging einen Spalt weit auf. Ein rundliches Gesicht schaute auf ihn herab.

Becker kannte den Namen des Mannes nicht. Er lächelte höflich. »Sind Sie Deutscher?«, fragte er.

Der Mann nickte etwas verunsichert.

»Kann ich Sie einen Moment sprechen?«, fuhr Becker in fließendem Deutsch fort.

Der Mann sah ihn unwirsch an. »Was wollen Sie?«

Becker ärgerte sich, dass er den Auftritt nicht besser geplant hatte. Er suchte nach den passenden Worten. »Sie haben etwas, das ich

brauche.«

Es war augenscheinlich nicht die richtige Eröffnung. Die Augen des Deutschen verengten sich.


»Einen Ring«, sagte Becker. »Sie haben einen Ring.«

»Machen Sie, dass Sie fortkommen!«, knurrte der Deutsche und wollte die Tür zuschlagen. Becker setzte reflexhaft den Fuß in den

Türspalt. Er bedauerte es sofort.

Der Deutsche brauste auf. »Was soll das?«

Becker wusste, dass er wieder einmal zu sehr auf die Tube gedrückt hatte. Nervös blickte er rechts und links den Flur hinunter. Er war bereits aus der Klinik hinausgeflogen, einen zweiten

Rausschmiss konnte er sich nicht leisten.

»Nehmen Sie sofort den Fuß weg!«, brüllte ihn der Deutsche an.

Becker suchte an den Wurstfingern des Mannes nach einem Ring. Nichts. Du bist so nah dran!, dachte er. »Sie haben einen Ring!«, rief

er.

Die Tür knallte ihm ins Gesicht.

David Becker stand eine geraume Zeit auf dem prächtigen Hotelflur. Die Reproduktion eines surrealistischen Bildes von Salvador Dalí hing nicht weit von ihm an der Wand. Das passt, stöhnte er, du befindest dich mitten in einem absurden Alptraum! Heute früh war er in seinem eigenen Bett aufgewacht, und jetzt war er im Begriff, auf der Suche nach einem geheimnisvollen Ring in das

Hotelzimmer eines wildfremden Mannes einzudringen.

Strathmores ernste Stimme rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Sie müssen diesen Ring finden!

Becker atmete tief durch. Er wäre am liebsten umgekehrt und nach Hause geflogen. Er betrachtete wieder die Tür mit der Nummer 301.


Auf der anderen Seite wartete seine Rückfahrkarte – der goldene Ring. Er brauchte ihn nur zu holen.

Er stieß entschlossen die Luft aus, schritt zur Tür und pochte. Jetzt waren härtere Bandagen angesagt.

Der Deutsche riss die Tür auf und wollte protestieren, aber Becker schnitt ihm das Wort ab. Mit dem Ruf »Polizei!« hielt er ihm die Mitgliedskarte seines Squash-Clubs vor die Nase, drängte sich ins

Zimmer und knipste das große Deckenlicht an.

Der Dicke fuhr herum und schaute Becker entgeistert an. »Was fällt Ihnen ein ... ?«

»Ruhe!« Becker schaltete um auf Englisch mit spanischem Akzent. »Sie haben eine Prostituierte auf Ihrem Zimmer!« Becker sah sich um. Das Zimmer war so nobel, wie ein Hotelzimmer nur sein konnte. Rosen, Champagner im Kühler, ein riesiges Himmelbett. Rocío war

nirgendwo zu sehen. Die Tür zum Badezimmer war geschlossen.

»Eine Prostituierte?« Der Blick des Deutschen flog zur Badezimmertür. Der Mann war größer, als Becker gedacht hatte. Seine haarige Brust begann unmittelbar unter dem Dreifachkinn und wölbte sich vor bis zu seiner kolossalen Wampe. Die Kordel des

Bademantels umspannte nur knapp seine Leibesfülle.

Becker starrte dem Riesen in die Augen. »Wie heißen Sie?«

Panik huschte über das feiste Gesicht. »Was wollen Sie?«

»Ich bin vom Touristendezernat der Guardia Civil von Sevilla. Haben Sie eine Prostituierte auf Ihrem Zimmer?«

Der Deutsche schaute wieder nervös zur Badezimmertür. »Ja«,


räumte er schließlich ein.

»Wissen Sie, dass das in Spanien eine Straftat ist?«

»Nein«, log der Dicke, »das habe ich nicht gewusst. Aber ich werde die Dame sofort wegschicken.«

»Ich fürchte, dafür ist es jetzt zu spät«, erwiderte Becker. Er machte ein paar Schritte durch das Zimmer. »Aber ich könnte Ihnen

einen Vorschlag machen.«

»Einen Vorschlag?«, sagte der Deutsche hoffnungsvoll.

»Ja. Ich könnte Sie jetzt sofort auf das Kommissariat mitnehmen, oder ...« Becker legte eine dramatische Pause ein und ließ die Knöchel knacken.

»Oder was?« In die Augen des Dicken kroch die Angst.

»Oder wir machen ein kleines Geschäft.«

»Ein Geschäft?« Der Deutsche schien die Storys zu kennen, die über die Bestechlichkeit der spanischen Guardia Civil im Umlauf

waren.

»Sie haben etwas, wofür ich mich interessiere.«

»Aber natürlich!« Der Dicke griff eilfertig nach seiner Brieftasche auf der Kleiderablage. »Wie viel?«

Beckers Kinnlade sackte in gespielter Empörung herunter. »Beabsichtigen Sie etwa, einen Hüter des Gesetzes zu bestechen?«,


fragte er scharf.

»Aber nein, keinesfalls! Ich dachte nur...« Der Dicke legte geflissentlich die Brieftasche wieder weg. »Ich... ich...« Er war völlig von der Rolle. Händeringend ließ er sich auf die Bettkante fallen. Das

Bett ächzte unter seinem Gewicht. »Ich bedaure, dass ...«

Becker zog wie nebenbei eine Rose aus dem Bukett in der Mitte des Zimmers und roch daran, um sie dann achtlos auf den Boden fallen zu lassen. Unvermittelt fuhr er herum. »Was wissen Sie über

den Mord?«

Der Deutsche wurde leichenblass. »Mord?«

»Jawohl. Der Asiat heute Vormittag. Im Park. Es war ein heimtückischer Mord!« Becker benutzte den deutschen Ausdruck. Er

liebte ihn. Er war so Furcht einflößend.

»Ein Mord? Er ... er hatte doch ...«

»Ja, bitte?«

»Aber ... das ist unmöglich«, stieß der Deutsche hervor. »Ich war doch dabei. Der Japaner hatte einen Herzanfall. Ich habe es doch

genau gesehen. Kein Schuss, kein Blut!«

Becker schüttelte herablassend den Kopf. »Die Dinge sind in Wirklichkeit oft anders, als sie zu sein scheinen ...«

Der Dicke wurde noch blasser. Becker lächelte, innerlich mit sich zufrieden. Die Lüge hatte gewirkt. Der Dicke schwitzte wie ein

Schwein.


»Was ... was wollen Sie von mir?«, stotterte er. »Ich weiß gar nichts.«

Becker fing an, auf und ab zu gehen. »Das Mordopfer hat einen goldenen Ring getragen. Ich brauche diesen Ring.«

»Ich ... ich habe ihn nicht!«

Becker seufzte gönnerhaft und machte eine Geste zur Badezimmertür. »Und Rocío? Dewdrop?«

Die Farbe des Dicken wechselte von schneeweiß zu dunkelrot. »Sie kennen Dewdrop?« Er wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel des Bademantels von der feisten Stirn. Er wollte gerade etwas sagen,

als die Badezimmertür aufging.

Die beiden Männer blickten auf.

Eine himmlische Erscheinung bot sich ihren Blicken. Rocío Eva Granada stand in der Tür. Langes, fließendes rotes Haar, makellose iberische Haut, dunkelbraune Augen, eine hohe glatte Stirn. Sie trug den gleichen Frottee-Bademantel wie der Deutsche, die Kordel eng um die schmale Taille geschlungen, darunter ausladende Hüften. Die am Hals locker herabfallenden Schals des Bademantels umrahmten die Wölbungen eines leicht gebräunten, vollkommenen Busens. Sie

trat ins Zimmer – das Selbstbewusstsein in Person.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, erkundigte sie sich auf Englisch.

Becker schaffte es, die atemberaubende Frau auf der anderen Seite des Zimmers anzusehen, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich

brauche den Ring«, sagte er kühl.


»Wer sind Sie?«

Becker schaltete um auf Spanisch mit andalusischem Akzent. »Guardia Civil.«

Rocío lachte auf. »Ach was, niemals!«, prustete sie auf Spanisch.

Becker spürte einen Kloß im Hals. Rocío war bei weitem nicht so auf den Kopf gefallen wie ihr Freier, aber Becker blieb ruhig. »Niemals?«, äffte er sie nach. »Sie möchten wohl, dass ich Sie aufs

Kommissariat mitnehme, um es Ihnen zu beweisen?«

Rocío schien das nicht zu beeindrucken. »Ich möchte Sie nicht in eine peinliche Lage bringen, deshalb werde ich von Ihrem Angebot

keinen Gebrauch machen. Nun, wer sind Sie also?«

Becker blieb bei seiner Geschichte. »Ich bin von der Guardia von Sevilla.«

Rocío kam drohend auf ihn zu. »Ich kenne jeden Polizisten in dem Verein! Die Bullen sind meine besten Kunden!«

Becker fühlte sich nackt unter ihren Blicken. Er versuchte eine andere Tour. »Ich gehöre zu einem Sonderdezernat für Touristen. Geben Sie mir jetzt den Ring, oder ich muss Sie aufs Kommissariat

mitnehmen und ...«

»Und was?«, fiel ihm Rocío ins Wort, die Brauen in gespielter Neugier hochgewölbt.

Becker verstummte. Er hatte das Spiel überreizt. Der Schuss war nach hinten losgegangen. Verdammt noch mal, warum fällt sie nicht

darauf herein?


Rocío kam noch näher. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen, aber wenn Sie nicht augenblicklich verschwinden, rufe ich den Hoteldetektiv, und die echte Guardia Civil buchtet Sie ein wegen

Amtsanmaßung!«

Becker wusste, dass Strathmore ihn im Nu wieder aus dem Gefängnis herausgepaukt haben würde, aber der Commander hatte strikt größte Diskretion verlangt. Beckers Verhaftung war in seinem

Plan nicht vorgesehen.

Rocío stand inzwischen auf Armeslänge vor ihm und funkelte ihn an.

»Okay«, seufzte Becker in deutlich hörbarem Eingeständnis seiner Niederlage. Er ließ das Spiel mit dem spanischen Akzent sein. »Ich bin nicht von der spanischen Polizei. Ich suche im Auftrag einer US-Behörde nach diesem Ring. Ich bin befugt, viel Geld dafür zu

bezahlen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Eine lange Stille entstand.

Rocío schien Beckers Kapitulation auszukosten. Ihre Lippen teilten sich zu einem spitzbübischen Lächeln. »Nun, das war doch gar nicht so schwer, oder?« Sie ließ sich in einen Sessel fallen und schlug die

rassigen Beine übereinander. »Wie viel bieten Sie?«

Becker unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Er kam sofort zum Geschäft. »Fünftausend amerikanische Dollar, das sind siebenhundertfünfzigtausend Peseten.« Es war die Hälfte dessen, was in seinem Umschlag steckte, aber vermutlich zehnmal mehr, als der

Ring wert war.

Rocío hob eine Braue. »Das ist viel Geld.«


»Ja, das ist es. Also, abgemacht?«

Rocío schüttelte den Kopf. »Unglücklicherweise kann ich auf Ihr Angebot nicht eingehen.«

»Eine Million Peseten!«, legte Becker nach. »Mehr habe ich nicht bei mir.«

»Na, na!«, erwiderte Rocío mit einem Lächeln. »Wer so miserabel feilscht wie ihr Amerikaner, könnte sich auf dem Markt unserer Stadt

keinen halben Tag lang halten.«

»Bargeld, auf die Hand!«, sagte Becker und griff nach dem Umschlag in seiner Tasche. Ich will endlich nach Hause!

Rocío schüttelte wieder den Kopf. »Ich kann es nicht annehmen.«

Becker wurde langsam sauer. »Und warum nicht?«

»Weil ich den Ring nicht mehr habe«, sagte Rocío. »Ich habe ihn schon verkauft.«


KAPITEL 33

Tokugen Numataka ging wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Sein Kontaktmann North Dakota hatte sich noch nicht gemeldet. Verfluchte

Amerikaner. Kein Empfinden für Pünktlichkeit!

Er hätte North Dakota seinerseits angerufen, hatte aber keine Telefonnummer. Numataka hasste es, auf diese Weise Geschäfte zu

machen – er hatte die Dinge lieber selbst in der Hand.

Numataka hatte von Anfang an die Befürchtung gehegt, die Anrufe dieses North Dakota könnten ein Täuschungsmanöver sein, mit dem ihn ein japanischer Konkurrent zum Narren halten wollte. Die alten Zweifel meldeten sich wieder. Mehr Informationen müssen her,

beschloss er.

Er stürmte aus seinem Büro in den Hauptkorridor von Numatech. Die Angestellten verbeugten sich ehrerbietig vor ihrem vorbeieilenden Chef. Numataka wäre nicht auf die Idee gekommen, dass sie ihn tatsächlich verehrten – die Verbeugung war eine Höflichkeitsgeste, die japanische Angestellte auch dem verhasstesten Arbeitgeber

zollten.

Numataka begab sich direkt zur Hauptvermittlung seiner Firma. Eine einzige Telefonistin bewältigte sämtliche Anrufe über eine Corenco 2000 Telefonkonsole mit zwölf ankommenden Leitungen. Sie war sehr beschäftigt, erhob sich aber bei Numatakas Eintreten

sofort und verbeugte sich.

»Setzten Sie sich«, bellte Numataka.

Die Telefonistin gehorchte.

»Ich habe heute um sechzehn Uhr fünfundvierzig auf meinem Privatanschluss einen Anruferhalten. Sagen Sie mir, woher das


Gespräch gekommen ist!« Numataka hätte sich ohrfeigen können, dass er nicht schon längst nachgefragt hatte.

Die Telefonistin schluckte nervös. »Dieses Gerät registriert leider nicht die Nummern der Anrufer. Aber ich werde mich bei der Telefongesellschaft erkundigen. Ich bin sicher, dass sie Ihnen die

gewünschte Auskunft geben kann.«

Für Numataka stand das außer Zweifel. Im digitalen Zeitalter war Vertraulichkeit ein Begriff von gestern geworden. Alles wurde inzwischen irgendwo gespeichert. Die Telefongesellschaften registrierten genauestens, wer wen wann angerufen und wie lange das

Gespräch gedauert hatte.

»Tun Sie das!«, ordnete er an. »Unterrichten Sie mich sofort, wenn Sie etwas erfahren.«


KAPITEL 34

Susan saß in Node 3 und wartete auf das Ergebnis ihres Tracers. Sie war allein. Hale war nach draußen gegangen, um etwas Luft zu schnappen – wofür sie ihm sehr dankbar war. Gleichwohl wirkte die

Einsamkeit in Node 3 auf Susan deprimierend. Die neu entdeckte

Verbindung zwischen Hale und Tankado ließ sie nicht mehr los.

Wer überwacht die Wächter?, sagte sie zu sich selbst. Quis custodiet ipsos custodes? Der Spruch spukte ihr pausenlos im Kopf herum, bis sie ihn endlich mit aller Macht aus ihrem Bewusstsein

verdrängte.

Sie dachte an David. Hoffentlich ging es ihm gut. Sie hatte immer noch Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass er in Spanien war. Je schneller die Schlüssel gefunden wurden und die Sache zu Ende

gebracht werden konnte, desto besser.

Susan hatte das Gefühl dafür verloren, wie lange sie schon hier saß und auf den Tracer wartete. Zwei Stunden? Oder drei? Sie schaute hinaus in die verlassene Crypto-Kuppel und wünschte sich, dass ihr Terminal endlich piepste, aber alles blieb still. Die Spätsommersonne war untergegangen. Die automatisch gesteuerten Leuchtstoffröhren an der Decke waren angesprungen. Susan spürte, dass ihr die Zeit

allmählich davonlief.

Sie schaute auf ihren Bildschirm. »Nun komm schon, du hast

genug Zeit gehabt«, murrte sie, nahm die Maus und klickte sich durch ins Statusfenster. »Wie lang bist du denn schon unterwegs?«

Sie öffnete das Fenster, in dem ähnlich wie bei der Betriebsanzeige des TRANSLTR eine digitale Uhr die Stunden und Minuten anzeigte, die der Tracer unterwegs war. In Erwartung der Zeitanzeige beobachtete Susan ihren Monitor. Aber sie bekam etwas völlig

anderes zu sehen. Der Anblick ließ ihr das Blut in den Adern stocken:


TRACERPROGRAMM ABGEBROCHEN

»Programmabbruch?«, schrie sie auf. »Wie das?«

In plötzlicher Panik durchsuchte Susan ihre Daten nach einem Befehl, der irrtümlich einen Programmabbruch verursacht haben konnte. Der Programmabbruch schien von selbst geschehen zu sein. Susan wusste, dass das nur eines bedeuten konnte: Das Tracerprogramm hatte einen Fehler, einen »bug«, wie es auf Englisch

so schön hieß.

Für Susan waren »bugs« das Lästigste, was beim Programmieren auftreten konnte. Da Computer sklavisch an eine präzise Abfolge von Operationen gebunden waren, konnten kleinste Programmierungsfehler zu massiven Störungen führen. Simple syntaktische Fehler, zum Beispiel ein Komma zu setzen, wo ein Punkt hingehört hätte, konnten ganze Systeme zum Absturz bringen. Susan musste über den Ursprung der Bezeichnung »bug« immer noch

lächeln.

Sie entstand im Zusammenhang mit dem ersten Computer der Welt, einem zimmergroßen Gewirr von elektromechanischen Schaltkreisen, dem Mark 1, der im Jahr 1944 in einem Laboratorium der Harvard Universität zusammengebaut worden war. Eines Tages hatte der Computer plötzlich eine Macke, auf die sich niemand einen Reim machen konnte. Nach stundenlanger Suche hatte eine Laborhilfskraft das Problem endlich lokalisiert. Ein Käfer, eben ein

»bug«, war auf eine Lötstelle des Computers gekrochen und hatte einen Kurzschluss verursacht. Von diesem Moment an hießen Computermacken im englischen Sprachraum »bugs«.

Die Suche nach einem »bug« in einem Computerprogramm konnte Tage dauern. Oft mussten Tausende von Programmzeilen nach einem möglicherweise winzigen Fehler durchsucht werden. Es war, als müsse man in einem vielbändigen Lexikon einen einzigen


Druckfehler suchen.

Dazu hast du jetzt keine Zeit, schimpfte Susan. Somit blieb nur eine Möglichkeit – den Tracer auf Verdacht noch einmal losschicken. Sie wusste, dass sich dabei der gleiche Fehler erneut einstellen und zum Programmabbruch führen konnte, aber den Fehler zu eliminieren

hätte Zeit gekostet, die sie und der Commander jetzt nicht hatten.

Während sie noch auf den Bildschirm starrte und herumrätselte, was sie falsch gemacht haben könnte, fiel ihr auf, dass etwas nicht zusammenpasste. Erst letzten Monat hatte sie eben jenes Tracerprogramm benutzt und keinerlei Schwierigkeiten damit gehabt.

Wo sollte der Fehler so plötzlich hergekommen sein?

Strathmores Bemerkung fiel ihr auf einmal ein. Ich habe selbst versucht, Ihren Tracer loszuschicken ... Er hat zwar Daten geliefert, aber sie ergaben keinen Sinn.

Susan legte den Kopf schief und überlegte. War das möglich?

Wenn Strathmore Daten zurückerhalten hatte, musste der Tracer offenbar funktionieren. Dass die Daten keinen Sinn ergaben, mochte daran liegen, dass Strathmore einen falschen Suchpfad eingegeben

hatte – aber der Tracer als solcher musste funktioniert haben.

Susan überlegte. Für einen Programmabbruch kommen neben internen Programmierungsfehlern auch noch andere Ursachen infrage, sagte sie sich. Manchal waren es äußere Ursachen: plötzliche

Spannungsspitzen in der Stromversorgung, Staubpartikel auf den Platinen, schlechte Verkabelung und so weiter. Bei der peniblen Wartung, die man der Hardware in Node 3 angedeihen ließ, hatte sie

daran gar nicht gedacht.

Susan stand auf und ging zu einem großen Regal mit technischen


Handbüchern, griff sich ein Manual mit der Aufschrift SYS-OP und fing an zu blättern. Schnell hatte sie gefunden, wonach sie suchte. Sie nahm das Handbuch mit zu ihrem Terminal und tippte ein paar Befehle ein. Sie musste einen Augenblick warten, während der Computer die Liste der in den letzten drei Stunden eingegebenen Befehle durchging. Sie hoffte, mit der Suche einer äußeren Einwirkung auf die Spur zu kommen: einem Abbruchbefehl, der durch einen Fehler in der Stromversorgung oder einen defekten Chip

entstanden sein mochte.

Das Terminal gab einen Piepton von sich. Susans Puls wurde schneller. Mit angehaltenem Atem schaute sie auf den Bildschirm:

FEHLERNUMMER 22

Susan spürte Hoffnung aufkeimen. Das war eine gute Nachricht. Wenn die Sache eine Fehlernummer hatte, war der Tracer als solcher in Ordnung. Susan dachte angestrengt nach, wofür Nummer 22 stand.

Hardwarefehler waren in Node 3 so selten, dass ihr die Bedeutung der einzelnen Nummern entfallen war. Sie zog wieder das Handbuch zu

Rate und ging die Liste der Fehlernummern durch: 19: DEFEKTE FESTPLATTE 20: GLEICHSTROM-ÜBERSPANNUNG

21: HARDWARESTÖRUNG

Bei Nummer 22 stutzte sie. Verblüfft überprüfte sie, ob auch wirklich diese Nummer auf ihrem Bildschirm stand, aber der Befund

war eindeutig:

FEHLERNUMMER 22


Stirnrunzelnd schaute sie wieder ins Handbuch. Die Fehlerbeschreibung ergab schlichtweg keinen Sinn. Dort hieß es:

22. MANUELLER PROGRAMMABBRUCH


KAPITEL 35

David Becker starrte Rocío entsetzt an. »Sie haben den Ring verkauft?«

Rocío nickte. Das seidige rote Haar fiel wie ein Fächer über ihre Schultern.

Becker konnte es einfach nicht glauben. »¿Pero... aber...?«

Rocío zuckte die Achseln. »An ein Mädchen im Park«, sagte sie auf Spanisch.

Becker spürte seine Knie weich werden. Das darf doch nicht wahr sein!

Rocío lächelte scheu und wies auf den Deutschen. »El quería que lo guardara. Er wollte ihn behalten. Aber ich habe Nein gesagt. Ich habe das Blut einer Gitana in mir, wissen Sie, Zigeunerblut. Wir Zigeuner haben nicht nur rote Haare, wir sind auch sehr abergläubisch. Wenn einem ein Sterbender einen Ring schenken will,

ist das ein böses Zeichen.«

»Haben Sie das Mädchen gekannt?«, bohrte Becker.

Rocío zog die Brauen in die Höhe. »¡Vaya! Ihnen liegt aber wirklich viel an diesem Ring!«

Becker nickte ernst. »Noch einmal: Wem haben Sie den Ring verkauft?«

Der Deutsche saß auf dem Bett und begriff überhaupt nichts. Sein romantischer Abend war im Eimer, und er wusste nicht, warum. »Was


ist eigentlich hier los?«

Becker schenkte ihm keine Beachtung.

»Ich habe dem Mädchen den Ring streng genommen gar nicht verkauft«, sagte Rocío. »Ich habe es versucht, aber es war ja fast noch ein Kind und hatte kein Geld. Da habe ich dem jungen Ding den Ring am Ende so gegeben. Hätte ich gewusst, dass Sie mit Ihrem großzügigen Angebot daherkommen, hätte ich ihn natürlich für Sie

aufgehoben.«

»Warum haben Sie den Park verlassen?«, wollte Becker wissen. »Ein Mensch war zu Tode gekommen! Warum haben Sie nicht auf die

Polizei gewartet und den Ring dem Beamten ausgehändigt?«

»Señor Becker, ich bin für vieles zu haben, aber nicht für Ärger. Außerdem schien der alte Herr die Situation im Griff zu haben.«

»Der Kanadier?«

»Ja, genau. Er hat den Krankenwagen gerufen. Da sind wir kurz entschlossen gegangen. Ich habe keinen Grund gesehen, wieso ich

oder mein Kunde sich mit der Polizei herumschlagen sollten.«

Becker nickte abwesend. Er war immer noch damit beschäftigt, diese grausame Wendung des Schicksals zu verdauen. Sie hat den

verfluchten Ring weggegeben!

»Ich habe versucht, dem Sterbenden zu helfen«, verteidigte sich Rocío, »aber er schien gar nicht daran interessiert zu sein. Er hat immer nur diese Geste mit seinem Ring gemacht. Mit seinen drei verkrüppelten Fingern, die so merkwürdig nach oben standen, hat er uns den Ring förmlich ins Gesicht gestoßen. Immer wieder hat er uns die Hand entgegengestreckt in der Hoffnung, dass wir ihm den Ring


abnehmen. Ich wollte nichts davon wissen, aber mein Bekannter hat den Ring schließlich doch genommen. Dann ist der Mann

gestorben.«

»Und daraufhin haben Sie es mit einer Herzmassage versucht?«, mutmaßte Becker.

»Nein, wir haben den Mann überhaupt nicht angerührt. Mein Bekannter bekam es mit der Angst zu tun. Er ist zwar ein Riesenkerl,

aber in Wirklichkeit ist er ein Schlappschwanz.« Rocío lächelte Becker verführerisch an. »Keine Bange, er versteht kein einziges Wort

Spanisch.«

Becker runzelte die Stirn. Wieder fragte er sich, woher die Hämatome auf Tankados Brust gekommen waren. »Haben die

Sanitäter eine Herzmassage durchgeführt?«

»Das weiß ich nicht. Als sie eingetroffen sind, waren wir ja schon fort.«

»Sie meinen, nachdem Sie den Ring gestohlen hatten«, sagte Becker finster.

Rocío sah ihn entwaffnend an. »Wir haben den Ring nicht gestohlen. Der Mann lag im Sterben. Seine Absicht war klar und

deutlich zu erkennen. Wir haben ihm seinen letzten Willen erfüllt!«

Becker wurde wieder versöhnlich. Rocío hatte Recht. Vermutlich hätte er sich genauso verhalten. »Aber dann haben Sie den Ring einem

wildfremden Mädchen gegeben.«

»Ich habe es Ihnen doch schon erklärt. Der Ring hat mich nervös gemacht. Das Mädchen war mit lauter Schmuck behängt. Da habe ich

gedacht, der Ring würde ihm gefallen.«


»Und dem Mädchen ist das nicht irgendwie komisch vorgekommen, dass Sie einfach so einen Ring verschenken?«

»Nein. Ich habe gesagt, ich hätte den Ring im Park gefunden. Ich dachte, das Mädchen würde mir etwas dafür geben, doch das war ein Irrtum. Aber das war mir auch egal. Ich wollte den Ring einfach nur

loswerden.«

»Wann haben Sie dem Mädchen den Ring gegeben?«

Rocío hob die Achseln. »Heute Mittag. Ungefähr eine Stunde, nachdem wir an den Ring gekommen waren.«

Becker sah auf die Uhr. Es war jetzt dreiundzwanzig Uhr achtundvierzig. Die Spur war inzwischen fast zwölf Stunden alt. Becker seufzte. Was in drei Teufels Namen hast du eigentlich hier verloren ? Du wolltest in den Smoky Mountains sein! Er stellte die einzige Frage, die ihm noch einfiel. »Wie hat dieses Mädchen denn

ausgesehen?«

»Era un punki«, antwortete Rocío. Becker sah sie verwirrt an. »¿Unpunki?« »Sí. Punki.«

»Eine Punkerin?«

»Ja, eine Punkerin! ¡Con muchas joyas! Mit lauter Glitzerzeug und Ketten behängt! An einem Ohr hatte sie so einen komischen

Ohrhänger, einen Totenkopf, glaube ich.« »Es gibt Punk-Rocker in Sevilla?«


Rocío lächelte. »jTodo bajo el sol! Alles, was es unter der Sonne gibt!« Das war der Slogan des Fremdenverkehrsbüros von Sevilla.

»Hat das Mädchen Ihnen gesagt, wie es heißt?«

»Nein.«

»Hat es gesagt, wo es hin will?«

»Nein. Sein Spanisch war ganz miserabel.«

»Ach, es war gar keine Spanierin?«

»Nein, Engländerin, glaube ich. Mit ganz verrückten Haaren - rot, weiß und blau.«

Becker schauderte bei dem Gedanken an die groteske Farbkombination. »Könnte es vielleicht auch eine Amerikanerin

gewesen sein?«, fragte er schließlich.

»Das glaube ich nicht«, widersprach Rocío. »Das T-Shirt des Mädchens sah aus wie die britische Flagge.«

Becker nickte stumm. »Okay, rot-weiß-blaue Haare, ein Union-Jack-T-Shirt, einen Totenkopf-Ohrhänger, was noch?«

»Nichts weiter. Nur eine ganz normale Punkerin.«

Eine ganz normale Punkerin! Becker war in der Welt der Colleges zu Hause, wo die jungen Leute Sweatshirts und ordentliche Frisuren trugen! Von dem, was diese Frau ihm beschrieb, hatte er noch nicht einmal eine vage Vorstellung. »Fällt Ihnen denn sonst nichts mehr


ein?«, bohrte er.

Rocío dachte kurz nach. »Nein, das war schon alles.«

In diesem Augenblick krachte das Bett. Rocíos Kunde hatte sich

bewegt. Becker sah ihn an. »Wissen Sie noch etwas?«, fragte er den Mann in perfektem Deutsch. »Irgendetwas, was mir dienlich sein könnte, um diese Punkerin mit dem Ring zu finden?«

Es gab eine lange Pause, als ob der schwabbelige Riese etwas sagen wollte, aber nicht wusste, wie. Seine Unterlippe bebte, dann sammelte er sich und sagte etwas. Durch seinen schweren deutschen Akzent entstellt, gab er vier englische Wörter von sich. »Fock off and

die.«

Becker holte tief Luft. »Wie bitte?«

»Fock off and die!«, wiederholte der Dicke und patschte sich mit seiner fleischigen Linken auf den rechten Unterarm – eine

ungeschickte Imitation der derben Geste für fuck you.

Für Empörung war Becker viel zu müde. Fuck off and die? Hau ab und verrecke? Was war in den Schlappschwanz gefahren? Becker wandte sich wieder an Rocío. »Klingt, als wäre ich hier nicht mehr

willkommen«, sagte er auf Spanisch.

»Kümmern Sie sich nicht um ihn«, entgegnete Rocio mit einem Lächeln. »Er ist nur ein bisschen frustriert. Er bekommt schon noch, wofür er mich bezahlt.« Sie warf kokett die Locken und blinzelte

Becker verführerisch zu.

»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte Becker. »Irgendetwas, was mir weiterhelfen könnte?«


Rocío schüttelte den Kopf. »Das ist alles. Sie werden das Mädchen aber nicht finden. Sevilla ist eine große Stadt. Man kann sich hier

ganz schön verlaufen.«

»Ich werde mein Bestes tun.« Eine Frage der nationalen Sicherheit.

»Wenn Sie kein Glück haben«, sagte Rocío mit einem Blick auf die Beule in Beckers Jackett, wo der Umschlag steckte, »dann kommen sie doch wieder her. Mein Bekannter wird bestimmt schlafen. Klopfen Sie leise. Ich finde schon ein Zimmer für uns. Sie werden eine Seite von Sevilla erleben, die Ihnen unvergesslich bleiben

wird.« Sie machte eine sinnliche Schnute.

Becker zwang sich zu einem höflichen Lächeln und entschuldigte sich bei dem Deutschen für die Unannehmlichkeiten. »Ich werde mich

jetzt auf den Weg machen.«

Der schwabbelige Riese lächelte zaghaft. »Keine Ursache.« Becker ging zur Tür. Keine Ursache?, wunderte er sich. Und was war mit

>fock off and die


KAPITEL 36

Manueller Programmabbruch? Susan starrte perplex auf ihren Bildschirm.

Sie war sicher, keinen Abbruchbefehl eingegeben zu haben, jedenfalls nicht absichtlich. War es möglich, dass sie irrtümlich die

entsprechende Zeichenfolge getippt hatte?

»Unmöglich!«, murmelte sie. Laut Kopfzeile war der Abbruchbefehl vor noch nicht einmal zwanzig Minuten erfolgt. Aber in den letzten zwanzig Minuten hatte sie lediglich ihren Zugriffscode eingetippt, als sie mit dem Commander nach draußen gegangen war. Der Computer konnte die Zeichenfolge des Zugriffscodes unmöglich

als Abbruchbefehl interpretiert haben.

Susan holte sich das ScreenLock-Protokoll auf den Bildschirm, auch wenn es reine Zeitverschwendung war. Sie überprüfte die eingegebene Zeichenfolge des Zugriffscodes auf seine Richtigkeit.

Natürlich hatte sie den Code richtig eingetippt.

Wo kommt dann der Abbruchbefehl her?, sinnierte sie zornig.

Stirnrunzelnd schloss sie das ScreenLock-Fenster. In dem Sekundenbruchteil, in dem es vom Bildschirm verschwand, sah sie etwas. Sie öffnete das Fenster erneut und schaute sich die Daten genau an. Sie passten nicht zusammen. Es gab einen korrekten

»Bildschirmlöschen«-Eintrag für die Zeit, zu der sie Node 3 verlassen hatte, aber der Zeitpunkt der folgenden Bildschirmaktivierung war

merkwürdig. Zwischen den beiden Eintragungen lagen nur ein paar Minuten, aber Susan war sicher, dass sie mit dem Commander länger als nur ein paar Minuten gesprochen hatte.

Sie fuhr die Eintragungen nach unten ab und konnte nur staunen. Drei Minuten später war wieder ein »Bildschirmlöschen«-Befehl


registriert. Dem Protokoll zufolge hatte jemand ihr Terminal in Betrieb genommen und wieder abgeschaltet, während sie draußen

war.

»Das ist doch nicht möglich!«, keuchte Susan. Als einziger Kandidat für einen Zugriff kam Greg Hale in Frage, aber Susan wusste mit Bestimmtheit, dass sie ihm ihren Zugriffscode nicht gegeben hatte. In bester kryptographischer Tradition hatte sie sich einen vollkommen willkürlichen Code ausgedacht und ihn auch nicht niedergeschrieben. Es war völlig undenkbar, dass Hale den aus fünf alphanumerischen Zeichen bestehenden Code erraten haben konnte. Die Wahrscheinlichkeit dafür lag bei sechsunddreißig hoch fünf –

über einhundertzwölftausend Möglichkeiten.

Aber das Protokoll der ScreenLock-Befehle war eindeutig. Hale hatte sich in Susans Abwesenheit an ihrem Terminal zu schaffen gemacht. Er hatte ihrem Tracer einen Abbruchbefehl hinterhergejagt. Für Susan wich die Frage nach dem Wie schnell der Frage nach dem Warum. Für einen Einbruch in ihr Terminal fehlte Hale jedes Motiv. Er hatte ja noch nicht einmal gewusst, dass sie einen Tracer losgeschickt hatte. Und selbst wenn er es gewusst hätte, dachte Susan, wieso sollte er etwas gegen ihre Suche nach der Adresse eines North

Dakota haben?

Die ungelöste Frage schien sich in ihrem Kopf zu verselbstständigen und zu vervielfachen. »Das Wichtigste zuerst!«, ermahnte sie sich laut. Mit Hale würde sie sich später beschäftigen. Konzentriert konfigurierte sie den Tracer noch einmal und drückte auf

die Entertaste. Ihr Terminal piepste:

TRACER ABGESCHICKT

Es mochte Stunden dauern, bis die Rückmeldung kam. Susan verfluchte Hale und fragte sich, wie um alles in der Welt er an ihren Zugriffscode gelangt sein und welches Interesse er an dem Tracer


haben konnte.

Sie stand auf und ging schnurstracks zu Hales Terminal. Der Bildschirm war dunkel, aber zugriffsgeschützt war das Terminal nicht, wie sie an dem schwachen Flimmern der Bildschirmränder erkennen konnte. Die Kryptographen verriegelten ihr Termial nur abends, wenn

sie Node 3 verließen, ansonsten stellten sie lediglich die Helligkeit des Bildschirms auf null – ein allgemein gültiges und durch einen Ehrenkodex geschütztes Signal, dass an diesem Terminal niemand

etwas zu suchen hatte.

Susan setzte sich an Hales Tastatur. »Pfeif auf den Ehrenkodex!«, sagte sie. »Was zum Teufel geht hier vor?«

Mit einem kurzen Blick über die Schulter hinaus in die verlassene Crypto-Kuppel fuhr Susan die Helligkeit des Monitors hoch. Er wurde hell, war aber völlig leer. Susan runzelte die Stirn. Was jetzt? Sie rief

ein Suchprogramm auf und tippte:

SUCHE: TRACER

Es war ein Schuss ins Dunkle, aber wenn in Hales Computer irgendwelche Bezüge zu Susans Tracer gespeichert waren, würde das Suchprogramm sie finden. Das würde Rückschlüsse erlauben, weshalb Hale Susans Programm durch seinen Eingriff abgebrochen

hatte. Schon Sekunden später kam eine Meldung:

SUCHBEGRIFF NICHT GEFUNDEN

Susan überlegte einen Moment. Sie wusste noch nicht einal genau, wonach sie suchen sollte. Sie machte einen neuen Versuch:

SUCHE: SCREENLOCK


Auf dem Monitor erschien eine Hand voll unverdächtiger Meldungen, aber keinerlei Hinweis darauf, dass Hale Susans

Zugriffscode in seinem Computer gespeichert haben könnte.

Susan stieß einen lauten Seufzer aus. Mit welchem Programm hat er denn heute gearbeitet? Sie ging in Hales Menü mit den letzten Anwendungen. Er hatte zuletzt das E-Mail-Programm benutzt. Sie suchte Hales Festplatte durch und stieß schließlich auf seinen E-Mail­Ordner, der diskret in einem anderen Verzeichnis versteckt war. Als sie den Ordner öffnete, erschienen etliche Unterverzeichnisse – Hale hatte offenbar zahllose E-Mail-Identitäten und eine Vielzahl von Accounts. Einer davon war anonym, was Susan wenig überraschte. Sie ging in den anonymen Account und klickte auf eine alte Mail.

Was sie da zu lesen bekam, verschlug ihr den Atem:

AN: NDAKOTA@ARA.ANON.ORG

VON: ET@DOSHISHA.EDU

GROSSER DURCHBRUCH! DIABOLUS IST FAST FERTIG.

DAS WIRD DIE NSA UM JAHRZEHNTE

ZURÜCKWERFEN!

Wie im Traum las Susan die Nachricht wieder und wieder. Zitternd öffnete sie eine andere Mail.

AN: NDAKOTA@ARA.ANON.ORG

VON: ET@DOSHISHA.EDU


DER ROTIERENDE KLARTEXT FUNKTIONIERT!

MUTATIONSKETTEN SIND DIE LÖSUNG!

Es war unfassbar, und doch war es Realität. E-Mails von Ensei Tankado! Er hatte an Greg Hale geschrieben. Die beiden arbeiteten zusammen. Susan war wie erschlagen von der ungeheuerlichen Wahrheit, die ihr vom Bildschirm entgegenflimmerte. Greg Hale ist

NDAKOTA!

Susans Augen saugten sich an dem Bildschirm fest. Verzweifelt durchforstete sie ihr Gehirn nach einer anderen Erklärung, aber es gab keine. Hier hatte sie den schlagenden Beweis, unvermutet und über jeden Zweifel erhaben. Tankado hatte Mutationsketten benutzt, um eine rotierende Klartextfunktion zu erzeugen, und Greg Hale hatte mit

ihm konspiriert, um die NSA zu ruinieren!

»Das ... das ... gibt es einfach nicht!«

Als wollte Hale widersprechen, hörte Susan das Echo seiner Stimme in ihrem Kopf: Wir haben eine Zeit lang korrespondiert ... Strathmore hatte nichts anderes verdient ... Eines nicht allzu fernen Tages werde ich von hier verschwinden ...

Dennoch konnte Susan noch immer nicht akzeptieren, was ihre Augen sahen. Gewiss, Greg Hale war eine Pest, und arrogant war er auch – aber er war kein Verräter. Er konnte einschätzen, wie katastrophal sich Diabolus auf die NSA auswirken musste. Es war einfach undenkbar, dass er sich an einem Komplott zur Vermarktung

dieses Programms beteiligt hatte.

Und doch, dachte Susan, was hätte ihn davon abhalten sollen, was außer Ehrgefühl und Anstand? Das Skipjack-Fiasko fiel ihr ein. Greg Hale hatte der NSA schon einmal einen Strich durch die Rechnung


gemacht. Was sollte ihn daran hindern, es ein zweites Mal zu versuchen?

Aber Tankado ..., rätselte Susan, wieso vertraut ein Paranoiker wie Tankado ausgerechnet einem so unsicheren Kantonisten wie Greg

Hale?

Doch das zählte jetzt alles nicht mehr. Jetzt galt es, Strathmore ins Bild zu setzen. Ein ironischer Schlenker des Schicksals hatte ihnen Tankados Partner direkt vor die Nase gewedelt. Sie hätte nur zu gern gewusst, ob Hale bereits erfahren hatte, dass Tankado nicht mehr

lebte.

Susan schloss Hales E-Mail-Verzeichnis. Sie beabsichtigte, das Terminal genau so zu hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatte. Hale

würde nicht das Geringste merken – noch nicht jedenfalls. Nicht ohne Erstaunen wurde Susan klar, dass der Key für Diabolus womöglich irgendwo in diesem Terminal schlummerte.

Als Susan den letzten Ordner schloss, huschte draußen ein

Schatten über die Glaswand von Node 3 . Sie fuhr hoch und sah Greg Hale näher kommen. Susan schwamm in Adrenalin. Greg war auf

dem Weg zur Schiebetür!

Sie kalkulierte die Entfernung zu ihrem Platz. »Verdammt«, zischte sie zwischen den Zähnen. Der Rückweg war nicht mehr zu

schaffen. Hale war schon fast an der Tür.

Susan fuhr herum und suchte Node 3 verzweifelt nach einem Ausweg ab. Der Fußschalter der Schiebetür hinter ihr klickte, der Öffnungsmechanismus sprach an. Susan reagierte rein instinktiv. Ihre Sohlen gruben sich in den Teppich. Mit wenigen Sprüngen schnellte sie in die Küche. Als die Scheiben der Schiebetür zischend auseinander führen, kam Susan schlitternd vor dem Kühlschrank zum


Stehen und riss ihn auf. An der Kante des obersten Fachs schaukelte gefährlich ein Glaskrug, blieb aber zum Glück wackelnd

stehen.

»Hungrig?«, erkundigte sich Hale, der quer durch den Raum auf die Küche zukam. Seine Stimme war ruhig mit einem neckischen

Unterton. »Leistest du mir auf einen Happen Tofu Gesellschaft?«

Susan atmete tief durch, dann drehte sie sich um und schaute nach draußen zu Greg. »Ach, danke, ich glaube, ich werde nur...« Der Rest

des Satzes blieb ihr im Hals stecken. Sie erbleichte.

Hale sah sie kühl an. »Ist was?«

Susan biss sich auf die Lippen und schaute Hale geradewegs in die Augen. »Nein, gar nichts«, sagte sie nonchalant, aber eine größere Unwahrheit hätte sie gar nicht von sich geben können. Auf der anderen Seite des Raums leuchtete der Bildschirm von Hales

Terminal! Sie hatte vergessen, die Helligkeit herunterzufahren!


KAPITEL 37

Erschöpft ging Becker an die Bar im Erdgeschoss des Alfonso XIII . Ein zwergenhafter Barkeeper breitete eine Platzserviette vor ihm aus. »iQué quiere tomar usted? Was möchten Sie trinken?«

»Danke, nichts«, sagte Becker. »Ich wollte mich bei Ihnen nur erkundigen, ob es hier in der Stadt irgendwo einen Club für Punk-Rocker gibt.«

Der Barmann sah ihn befremdet an. »Einen Club für punki?

»Ja! Gibt es in dieser Stadt einen Schuppen, wo solche Jugendliche rumhängen?«

»No lo sé, sehor. Das weiß ich nicht. Hier jedenfalls nicht!« Er lächelte. »Wie wär's mit einem Drink?«

Becker hätte den Kerl am liebsten am Kragen gepackt und geschüttelt. Heute lief aber auch nichts wie geplant.

»Was darf es sein?« wiederholte der Barkeeper. »iFino? iJerez?«

Sanfte Klänge klassischer Musik rieselten aus den Deckenlautsprechern. Bach, dachte Becker, das vierte Brandenburgische Konzert. Letztes Jahr hatte er mit Susan an der Universität eine Aufführung der Brandenburgischen Konzerte mit der Academy of St. Martin in the Fields gehört. Er wünschte sich auf einmal, Susan wäre hier. Aus den Schlitzen der Klimaanlage fächelte eine kühle Brise. Die Temperatur draußen auf der Straße kam ihm jäh in den Sinn. Er sah sich schon auf der schweißtreibenden Suche nach einem Punk-Mädchen mit der britischen Flagge als T-Shirt die tristen Staßen von Triana abklappern. Er musste wieder an Susan denken.

»Zumo de arändano«, hörte er sich sagen. »Preiselbeersaft.«


Der Barkeeper sah ihn fassungslos an. »¿Solo?« Preiselbeersaft wurde in Spanien gern getrunken, aber pur? Einfach unvorstellbar.

»Sí«, sagte Becker. »Solo.«

»¿Echo un poco de Smirnoff?«, erkundigte sich der Barmann. »Mit einem kleinen Schuss Wodka?«

»No, gracias.«

»¡Gratis!«, offerierte der Zwerg. »Auf Kosten des Hauses!«

Becker brummte der Schädel. Er stellte sich das Elend von Triana vor, die drückende Hitze und die lange Nacht, die er noch vor sich

hatte. Er nickte. »St, échame un poco de vodka.«

Der Barmann wirkte erleichtert. Emsig machte er sich an die Zubereitung des Getränks.

Becker schaute sich in der prunkvollen Bar um. Er kam sich vor wie im Traum. Alles hätte mehr Sinn ergeben als die Wahrheit. Du

bist Universitätsprofessor, dachte er, und jetzt spielst du James Bond!

Der Barkeeper kam geschäftig herbei und servierte Becker schwungvoll das Getränk. »A su gusto, señor. Preiselbeersaft mit

einem kleinen Schuss Wodka.«

Becker bedankte sich und nahm einen Schluck. Er bekam prompt einen Erstickungsanfall. Das soll ein kleiner Schuss gewesen sein?


KAPITEL 38

Hale blieb auf halbem Weg zur kleinen Küche von Node 3 stehen und starrte Susan an. »Sue, was ist mit dir? Du siehst ja furchtbar

aus!«

Susan kämpfte ihre aufsteigende Panik nieder. Fünf Meter entfernt leuchtete Hales Monitor hell vor sich hin. »Ich ... es ist nichts weiter«, stieß sie hervor. Ihr Herz pochte wie wild.

Hale sah sie verwundert an. »Möchtest du ein Glas Wasser?«

Susan war zu keiner Antwort fähig. Sie hätte sich selbst in den Hintern treten können. Wie konntest du nur vergessen, diesen verdammten Monitor wieder dunkel zu stellen? Wenn Hale merkte, dass sie an seinem Rechner gearbeitet hatte, würde er sich ausrechnen können, dass sie seine Identität mit North Dakota kannte. Und Susan musste befürchten, dass Hale zu allem im Stande war, damit diese

Information Node 3 nicht verließ.

Sie überlegte, ob sie einen Sprung zur Tür wagen sollte. Aber dazu bekam sie keine Gelegenheit. Plötzlich wurde wieder von draußen an die Glaswand gehämmert. Hale und Susan fuhren herum. Es war Charturkian. Schweißnass hieb er wieder einmal mit den Fäusten

gegen die Glaswand. Er sah aus, als hätte er den Weltuntergang erlebt.

Hale bedachte den Sys-Sec-Mann mit einem verwunderten Blick. Er wandte sich wieder an Susan. »Ich bin gleich wieder da. Trink inzwischen ein Glas Wasser!« Er machte kehrt und verschwand nach

draußen.

Susan flog zu Hales Terminal und stellte den Monitor schwarz. Sie spürte ihren Herzschlag bis unter die Schädeldecke. Sie drehte sich um und beobachtete das aufgeregte Gespräch, das in der Kuppel


vonstatten ging.

Charturkian war augenscheinlich doch nicht nach Hause gegangen. In regelrechter Panik überschüttete er Greg mit seinen Entdeckungen, aber das zählte jetzt nicht mehr. Hale wusste ohnehin alles, was es zu

wissen gab.

Du musst zu Strathmore, dachte Susan. Und zwar schnell!


KAPITEL 39

Zimmer 301. Rocío Eva Granada stand nackt vor dem Badezimmerspiegel. Der Moment, vor dem ihr den ganzen Tag gegraust hatte, war gekommen. Der Deutsche, der größte und unförmigste Mann, mit dem sie je zu tun gehabt hatte, lag schon im

Bett und erwartete sie.

Zögernd holte sie einen Eiswürfel aus dem Sektkühler und rieb sich damit über die Brustwarzen. Schnell wurden ihre Knospen hart. Das war ihr Willkommensgeschenk. Die Männer sollten sich bei ihr willkommen fühlen. Sie strich mit den Händen über ihren geschmeidigen wohl gebräunten Körper und hoffte, dass er noch vier bis fünf Jahre mitspielte, bis sie genug Geld beisammen hatte, um sich zur Ruhe zu setzen. Señor Roldán knöpfte ihr zwar den Großteil von dem, was sie anschaffte, wieder ab, aber ohne ihn hätte sie sich mit den Besoffenen von Triana abgeben müssen. So bekam sie es wenigstens mit Freiern zu tun, die Geld hatten. Diese Männer verprügelten sie nicht und waren leicht zu befriedigen. Rocío schlüpfte in ihre Reizwäsche, holte tief Luft und öffnete die

Badezimmertür.

Dem Deutschen fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie in dem schwarzen Spitzen-Negligee ins Zimmer trat, unter dem ihre Brüste deutlich zum Vorschein kamen. Ihre kupferne Haut schimmerte in der

gedämpften Beleuchtung.

»Komm her!«, murmelte der Dicke, warf den Bademantel ab und wälzte sich auf den Rücken.

Rocío zwang sich zu einem Lächeln. Sie trat ans Bett und betrachtete den riesigen Teutonen. Sie kicherte erleichtert. Zwischen

seinen Schenkeln regte sich ein recht winziges Organ.

Er griff nach ihr und zerrte ihr ungeduldig das Negligee vom Leib. Seine Wurstfinger betatschten jeden Zoll ihres nackten Körpers. Sie


ließ sich auf ihn fallen und wand sich stöhnend in gespielter Ekstase. Als er sie auf den Rücken drehte und sich auf sie wälzte, hatte sie das Gefühl, zerquetscht zu werden. Das Gesicht an seinen schwabbeligen Hals gepresst, rang sie nach Luft und hoffte, dass es

schnell vorbei sein würde.

»jSí, sü«, stöhnte sie und grub die Fingernägel anfeuernd in seinen feisten Rücken.

Allerlei Bilder schossen ihr durch den Kopf - Gesichter der unzähligen Männer, die sie befriedigt hatte, Zimmerdecken, die sie in der Dunkelheit stundenlang angestarrt hatte, Träume vom eigenen

Kindersegen ...

Plötzlich und ohne jede Warnung bäumte sich der Deutsche auf, wurde starr und fiel in sich zusammen. War's das schon?, dachte sie

ebenso überrascht wie erleichtert.

Sie wollte unter dem Dicken hervorkriechen. »Liebling«, flüsterte sie, »ich möchte mich auf dich setzen.« Aber der Dicke rührte sich

nicht.

Sie versuchte, seine gewaltigen Schultern beiseite zu wuchten. »Liebling, ich... ich kriege keine Luft!« Es wurde ihr mulmig. Sein Gewicht drohte ihr den Brustkorb einzudrücken. »/Despiértäte!

Aufwachen!« Sie riss an seinen verfilzten Haaren.

Sie fühlte etwas Warmes, Klebriges herabfließen - auf ihre Wangen, in ihren Mund. Es schmeckte salzig. Rocío versuchte verzweifelt, sich von ihrer unförmigen Last zu befreien. Ein merkwürdiger Lichtschein fiel auf das verzerrte Gesicht des Deutschen. Aus einem Loch in seiner Schläfe troff Blut auf sie herab. Rocío wollte schreien, aber sie hatte keine Luft in den Lungen. Der

Dicke zerquetschte sie. Halb ohnmächtig reckte sie die Arme dem Lichtschein entgegen, der von der Tür herüberfiel. Sie sah eine Hand.


Eine Pistole mit Schalldämpfer. Einen Blitz. Und dann nichts mehr.


KAPITEL 40

Am Ausgang von Node 3 redete der völlig aufgelöste Systemtechniker mit Händen und Füßen auf Greg Hale ein, um ihn zu

überzeugen, dass der TRANSLTR in Gefahr war.

Susan hatte nur einen Gedanken: Du musst zu Strathmore! Als sie zur Tür hinauslief, packte Phil Charturkian sie an der Schulter. »Miss Fletcher, wir haben einen Virus! Ich bin absolut sicher! Sie

müssen ...«

Susan riss sich los und funkelte den Mann an. »Ich dachte, der Commander hat Sie nach Hause geschickt!«

»Aber der Kontrollmonitor! Er zeigt achtzehn Stunden...«

»Commander Strathmore hat Sie nach Hause geschickt!«

»STRATHMORE SOLL MICH AM ARSCH LECKEN!«,

kreischte Charturkian, dass es in der Kuppel widerhallte.

»Mr Charturkian?«, ertönte von oben eine sonore Stimme. Hoch über den Streitenden stand Strathmore vor seinem Büro am Geländer.

Die drei erstarrten.

Einen kurzen Moment lang war in der Crypto-Kuppel nur das ungleichmäßige Generatorbrummen zu vernehmen. Susan versuchte verzweifelt, Strathmores Blick zu erhäschen. Commander, Hale ist

North Dakota!


Aber Strathmore hatte nur Augen für den jungen Systemtechniker. Den Blick unverwandt auf Charturkian gerichtet, kam er langsam die

Treppe herunter, durchquerte die Kuppel und blieb schließlich zwei Handbreit vor dem zitternden Techniker stehen. »Bitte, was wollten Sie sagen?«

»Sir«, keuchte Charturkian, »der TRANSLTR ist in Gefahr.«

Susan versuchte, zu Wort zu kommen. »Commander, wenn ich Sie bitte einen ...«

Ohne den Blick von dem Techniker zu wenden, brachte Strathmore sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Sir, wir haben eine infizierte Datei. Ich bin absolut sicher!«, sagte Charturkian.

Strathmores Gesicht nahm eine dunkelrote Färbung an. »Mr Charturkian, das haben wir nun zur Genüge durchdiskutiert. Im

TRANSLTR ist keine infizierte Datei!«

»Doch!«, kreischte Charturkian. »Und wenn die Datei in die zentrale Datenbank gerät ...«

»Wo zum Teufel soll diese verdammte infizierte Datei denn sein?«, brüllte Strathmore. »Zeigen Sie sie mir!«

»Das kann ich nicht«, sagte Charturkian kleinlaut.

»Natürlich können Sie das nicht! Weil es keine infizierte Datei gibt!«

»Commander, ich muss Sie ...«, versuchte Susan erneut, sich


einzuschalten, doch wieder prallte sie an einer Handbewegung Strathmores ab.

Sie sah Hale nervös an. Er wirkte kühl und distanziert. Genau wie zu erwarten, dachte Susan. Hale braucht sich über einen Virus nicht

zu beunruhigen. Er weiß ja genau, was im TRANSLTR vorgeht.

Charturkian ließ nicht locker. »Sir, die verseuchte Datei existiert aber. Gauntlet hat sie nur nicht erkannt.«

»Wenn Gauntlet sie nicht erkannt hat, wie wollen ausgerechnet Sie dann erkannt haben, dass es sie gibt?«

Charturkians Ton gewann an Zuversicht. »Mutationsketten, Sir. Ich habe eine Rundum-Analyse gefahren und Mutationsketten

festgestellt!«

Susan begriff, warum Charturkian so von der Rolle war. Mutationsketten. Sie wusste, dass derartige Programmsequenzen die Daten auf extrem komplexe Weise durcheinander bringen konnten. Sie kamen in Computerviren sehr häufig vor, besonders in Viren, die große Datenblöcke auf einmal angreifen und verändern konnten. Aus Tankados E-Mails wusste sie natürlich, dass die Mutationsketten, die Charturkian gesehen hatte, völlig anderer Natur waren – sie waren ein Teil von Diabolus.

»Als ich die Ketten gesehen habe, Sir, habe ich anfangs gedacht, die Gauntlet-Filter hätten versagt. Aber dann habe ich ein paar Tests gefahren und festgestellt...« Er zögerte und machte plötzlich ein ängstliches Gesicht. »Ich habe festgestellt, dass jemand die Gauntlet-Filter umgangen hat.«

Es wurde mucksmäuschenstill. Die Rötung von Strathmores Gesicht vertiefte sich bedenklich. Es war völlig klar, wem der Vorwurf galt. Strathmore hatte das einzige Terminal in der ganzen


Abteilung, von dem aus ein Umgehen des Gauntlet-Filtersystems möglich war.

»Mr Charturkian«, sagte Strathmore eisig, »es geht Sie zwar in keiner Weise etwas an, aber ich habe die Gauntlet-Filter umgangen.« Strathmore stand kurz vor der Explosion. »Wie ich Ihnen zuvor schon erläutert habe, lasse ich ein hoch entwickeltes Diagnoseprogramm laufen. Die Mutationsketten, die Sie im TRANSLTR festgestellt haben, sind dort, weil ich sie eingegeben habe. Sie sind Teil dieses Programms. Das Gauntlet-System hat die Annahme der Daten verweigert, darum habe ich die Filter umgangen. Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen, Mr Charturkian, bevor Sie uns

verlassen?«

In einem Sekundenbruchteil sah Susan klar. Als Strathmore den verschlüsselten Diabolus-Algorithmus aus dem Internet heruntergeladen hatte, um dem TRANSLTR anschließend die Entschlüsselung zu überlassen, hatte das Gauntlet-System auf die Mutationsketten angesprochen. Da Strathmore unbedingt wissen wollte, ob Diabolus zu knacken war, hatte er die Datei am

Filtersystem vorbei eingegeben.

Das Gauntlet-System zu umgehen war normalerweise undenkbar. In diesem Fall jedoch musste es unbedenklich erscheinen, denn der Commander wusste ja, worum es sich bei dieser Datei handelte, und

kannte ihren Autor.

»Bei allem gebotenen Respekt, Sir«, beharrte Charturkian, »von einem Diagnoseprogramm mit Mutationsketten habe ich bislang

weder etwas gehört noch ge ...«

Susan konnte keine Sekunde mehr an sich halten. »Commmander«, platzte sie heraus, »ich muss Sie wirklich unbedingt ...«

Diesmal war es das schrille Piepsen von Strathmores Handy, das sie unterbrach. Der Commander riss das Mobiltelefon ans Ohr. »Was


ist los?«, bellte er, um sogleich zu verstummen und schweigend zuzuhören.

Susan vergaß Hale einen Moment. Inbrünstig wünschte sie, der Anrufer möge David sein. Sag mir, dass ihm nichts passiert ist, dachte sie. Sag mir, dass er den Ring gefunden hat! Aber als sich ihre Augen mit denen Strathmores trafen, runzelte Strathmore die Stirn. Er hatte

nicht David am Apparat.

Susan wurde es eng um die Brust. Sie wollte ja nur wissen, ob der Mann, den sie liebte, in Sicherheit war. Strathmores Ungeduld hatte ganz andere Gründe, das war ihr klar. Wenn David nicht bald fündig wurde, musste der Commander Unterstützung schicken, Feldagenten

der NSA – ein Spiel, das er lieber vermieden hätte.

»Commander«, drängte Charturkian, »ich glaube wirklich, wir sollten überprüfen, ob ...«

»Einen Moment bitte«, sagte Strathmore entschuldigend ins Telefon, bevor er die Sprechmuschel zuhielt und einen zornigen Blick auf seinen jungen Systemtechniker abschoss. »Mr Charturkian«, knurrte er, »das Gespräch ist beendet. Sie werden jetzt die Crypo-Abteilung verlassen. Und zwar augenblicklich! Das ist ein Befehl!«

Charturkian stand wie vom Donner gerührt. »Sir, aber die Mutations ...«

»AUGENBLICKLICH!«, brüllte Strathmore.

Charturkian starrte ihn einen Moment lang sprachlos an, dann stürmte er zum Sys-Sec-Lab davon.

Strathmore drehte sich um und musterte Hale mit einem verwunderten Blick. Susan konnte sein Erstaunen gut verstehen. Hale


war die ganze Zeit ruhig gewesen. Viel zu ruhig. Hale wusste nur zu gut, dass es kein Diagnoseprogramm mit Mutationsketten gab, erst recht keines, das den TRANSLTR achtzehn Stunden lang auf Trab gehalten hätte – gleichwohl hatte er kein Wort gesagt. Die ganze Aufregung schien ihn nicht zu berühren. Strathmore hätte

offensichtlich gern den Grund gewusst. Susan kannte ihn.

»Commander«, sagte sie eindringlich, »wenn ich Sie bitte kurz...«

»Gleich«, unterbrach er sie, den Blick immer noch fragend auf Hale gerichtet. »Ich muss erst dieses Telefonat beenden.« Er drehte

sich auf dem Absatz um und strebte zu seinem Büro.

Susan öffnete den Mund, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Hale ist North Dakota! Unfähig zu atmen, stand sie stocksteif

da. Sie spürte Hales starren Blick.

Mit einer galanten, einladenden Geste zur Schiebetür von Node 3 trat Hale an ihre Seite. »Bitte nach dir, Sue!«


KAPITEL 41

In einer Wäschekammer auf der dritten Etage des Alfonso XIII lag ein Zimmermädchen bewusstlos auf dem Boden. Der Mann mit der Nickelbrille steckte das Passepartout in ihre Schürzentasche zurück. Als er sie niederschlug, hatte er ihren Aufschrei nicht wahrgenommen.

Wie auch – er war seit seinem zwölften Lebensjahr taub.

Mit einer gewissen Ehrfurcht griff er nach dem batteriegespeisten Minigerät an seinem Gürtel, das Geschenk seines Auftraggebers. Es hatte ihm ein neues Leben geschenkt. Er konnte seine Aufträge jetzt überall in der Welt entgegennehmen. Die Kommunikation erfolgte

verzögerungsfrei und ohne jede Möglichkeit der Ortung.

Eifrig betätigte er den Schalter. Der Monitor in seiner Brille leuchtete auf. Wieder einmal trommelten seine Finger gegeneinander. Wie immer hatte er sich auch diesmal die Namen seiner Opfer beschafft – eine kurze Durchsuchung der Briefbeziehungsweise Handtasche hatte genügt. Die Kontakte an seinen Fingerspitzen wirbelten. Wie von Geisterhand erschienen Buchstaben in seinem

Brillenglas.

ZIELPERSON: HANS HUBER – ELIMINIERT

ZIELPERSON: ROCÍO EVA GRANADA -

ELIMINIERT

Drei Etagen tiefer hatte David Becker seine Zeche bezahlt und wanderte mit dem Glas in der Hand durch die Lobby. Er wandte sich zur offenen Hotelterrasse, um Luft zu schnappen. Von wegen, rein und raus, dachte er. Die Sache hatte sich völlig anders entwickelt als


geplant. Er musste eine Entscheidung treffen. Sollte er nicht lieber alles hinschmeißen und zusehen, dass er zum Flughafen kam? Eine Frage der nationalen Sicherheit! Er fluchte leise vor sich hin. Warum

hatte man dann, verdammt noch mal, einen Pauker geschickt?

Becker manövrierte sich aus dem Blickfeld des Barkeepers und kippte den Rest seines Drinks in einen Blumentopf mit Jasmin. Der Wodka hatte ihn benommen gemacht. Die preiswerteste Schnapsleiche aller Zeiten, hatte Susan ihn oft im Scherz genannt. An einem Trinkwasserspender füllte er den schweren Kristallbecher mit

Wasser und gönnte sich einen kräftigen Schluck.

Er stellte das Glas ab. Um einen klaren Kopf zu bekommen, streckte er sich ein paar mal, dann durchquerte er die Lobby.

Als er am Aufzug vorbeikam, ging die Tür auf. Der Mann, der im Fahrstuhl stand, führte hastig das Taschentuch an die Nase, um sich zu schnäuzen. Lediglich seine dicke Nickelbrille war zu erkennen.

Becker lächelte ihm höflich zu und ging seiner Wege ... hinaus in die

stickige Nacht von Sevilla.


KAPITEL 42

Susan ertappte sich dabei, dass sie erregt in Node 3 auf und ab tigerte. Sie hätte Hale bloßstellen müssen, als es noch möglich

gewesen war!

Greg Hale saß an seinem Terminal. »Sue, hast du etwas auf dem Herzen, das du gerne loswerden möchtest? Stress ist ein Killer!«,

sagte er.

Susan zwang sich, Platz zu nehmen. Sie hatte gehofft, Strathmore würde nach Beendigung seines Telefonats wiederkommen, um mit ihr zu sprechen, doch er ließ sich nicht blicken. Um der inneren Unruhe Herr zu werden, schaute sie auf ihren Bildschirm. Der Tracer war noch unterwegs – zum zweiten Mal -, aber die Suche war gegenstandslos geworden. Die Adresse, die das Suchprogramm

melden würde, kannte sie bereits: GHALE@CRYPTO.NSA.GOV.

Susan schaute hinauf zu Strathmores Büro. Sie hielt es nicht mehr aus. Es war an der Zeit, das Telefonat des Commanders zu

unterbrechen. Sie stand auf und ging zur Tür.

Hale schien auf einmal unruhig zu werden. Susans merkwürdiges Verhalten musste ihm aufgefallen sein. Er sprang auf. Mit ein paar schnellen Schritten war er am Ausgang. Er verschränkte die Arme vor

der Brust und verstellte Susan den Durchgang.

»Ich will wissen, was los ist«, verlangte er. »Hier geht etwas vor. Was ist los?«

Susan merkte, dass es langsam gefährlich wurde. »Lass mich gefälligst durch«, sagte sie so ungerührt wie möglich.

»Nun sag schon«, drängte Hale. »Strathmore hat Charturkian


praktisch gefeuert, nur weil er seinen Job gemacht hat. Was läuft da im TRANSLTR? Wir haben keine Diagnoseprogramme, die achtzehn Stunden lang laufen. Du weißt selbst, dass das völliger

Blödsinn ist. Nun sag schon, was ist los?«

Susans Augen wurden eng. Du weißt ganz genau, was los ist! »Lass mich vorbei, Greg. Ich muss mal zur Toilette.«

Hale grinste. Er ließ sich viel Zeit, bis er endlich ein kleines Stück beiseite trat. »Nichts für ungut, Sue. Ich mag dich eben.«

Susan drängte sich an Hale vorbei zur Tür hinaus. Noch durch das Spiegelglas hindurch spürte sie seinen bohrenden Blick in ihrem

Rücken.

Zögernd trottete sie zur Toilette. Hale sollte keinen Verdacht schöpfen. Dieser Umweg musste vor dem Gang zum Commander

eben sein.


KAPITEL 43

Der forsche Mittvierziger Chad Brinkerhoff war gut in Form, gut gekleidet und gut informiert. Nicht der Anflug eines Fältchens verunzierte seine wohlgebräunte Haut und seinen leichten Sommeranzug. Sein Haar war dicht, sandfarben und vor allem sein eigenes. Seine Augen glänzten in einem strahlenden Blau, was er

nicht zuletzt farbigen Kontaktlinsen verdankte.

Bei Betrachtung seines holzgetäfelten Büros musste er sich eingestehen, dass er es bei der NSA nicht mehr weiter bringen konnte.

Er saß im neunten Stock, der Mahagoni-Etage. Büro 9 A 197. Das

Chefbüro.

Es war Samstagabend. In der Mahagoni-Etage war praktisch keiner mehr da. Die Riege der leitenden Beamten war komplett ausgeflogen und trieb, was einflussreiche Männer am Wochenende eben so trieben. Chad Brinkerhoff hatte immer davon geträumt, in dieser Behörde eines Tages auf einem »richtigen« Posten zu landen, aber irgendwie hatte er es nur zum »persönlichen Referenten« gebracht – das offizielle Abstellgleis für die Verlierer im politischen Ämterschacher. Er arbeitete zwar Seite an Seite mit dem mächtigsten Mann des amerikanischen Geheimdienstes, aber das war auch kein Trost für Brinkerhoff, der mit Auszeichnung von einer prominenten Universität abgegangen war. Da saß er nun – ein Mann in den besten Jahren, aber ohne wirklichen Einfluss, ohne wirkliche Macht, und verbrachte seine

Tage damit, einem anderen den Terminkalender zu führen. Der Job als persönlicher Referent des Chefs war für Brinkerhoff natürlich mit bestimmten Annehmlichkeiten verbunden: ein schönes Büro auf der Chefetage, ungehinderten Zugang zu allen Abteilungen der NSA und ein gewisses Flair, das von dem noblen Umfeld auf ihn abfärbte. Er war der Laufbursche der Mächtigen. Brinkerhoff wusste tief in seinem Inneren, dass er der geborene Referent war – aufgeweckt genug, um Notizen aufzunehmen, attraktiv genug, um Pressekonferenzen zu

geben, und faul genug, um es dabei zu belassen.


Der Glockenschlag seiner Kaminsims-Uhr akzentuierte das Ende eines weiteren Tages seiner unbefriedigenden Existenz. Mist, dachte er, fünf Uhr nachmittags an einem Samstag. Wozu sitzt du überhaupt

noch hier herum?

»Chad?« Eine Frau stand in seiner Bürotür.

Brinkerhoff hob den Blick. Es war Midge Milken, Leland Fontaines Analystin für behördeninterne Sicherheit. Sie war über fünfzig, etwas vollschlank und – sehr zu Brinkerhoffs Überraschung – durchaus attraktiv. Die einem Flirt durchaus nicht abgeneigte Analystin, die drei Ehen hinter sich hatte, bewegte sich mit kerniger Autorität durch die Chefbüros. Sie war hochintelligent, intuitiv begabt, bewältigte ein übermenschliches Arbeitspensum und kannte die Feinheiten des inneren Gefüges der NSA angeblich besser als der

liebe Gott persönlich.

Verdammt, dachte Brinkerhoff und beäugte die Frau in ihrem fließenden steingrauen Kaschmir-Strickkleid mit dem V-Ausschnitt,

entweder wirst du älter, oder sie wird laufend jünger.

»Die Berichte von dieser Woche.« Midge wedelte lächelnd mit einem Packen Papier. »Sieh dir die Werte mal an.«

Brinkerhoff betrachtete anerkennend Midges Figur. »Die Werte stimmen, das kann ich von hier aus sehen.«

»Also, wirklich, Chad«, erwiderte sie mokant, »ich könnte deine Mutter sein!«

Erinnere mich bloß nicht daran, dachte Brinkerhoff.

Midge stöckelte herein und platzierte eine wohlgerundete Pobacke auf Brinkerhoffs Schreibtisch. »Ich bin schon auf dem Weg nach


Hause, aber wenn dein Chef aus Südamerika zurückkommt, möchte er die Zusammenstellung dieser Zahlen sehen. Und das ist Montag in aller Herrgottsfrühe.« Sie knallte Brinkerhoff die Ausdrucke auf den Schreibtisch.

»Wer bin ich denn, ein Buchhalter?«

»Nein, mein Süßer, du bist einer, der nichts anbrennen lässt. Ich dachte, das wüsstest du.«

»Und wie komme ich dann dazu, mich mit Schnee von gestern zu befassen?«

Sie griff sich ordnend ins Haar. »Du wolltest doch immer schon mehr Verantwortung. Da hast du sie.«

Er sah mit einem Hundeblick zu ihr auf. »Midge ... ich habe überhaupt nichts vom Leben.«

Sie blickte auf ihn herunter und tippte mit dem Finger auf den Papierstapel. »Chad Brinkerhoff, das ist dein Leben!« Sie wurde versöhnlich. »Kann ich noch etwas für dich tun, bevor ich mich

empfehle?«

Er schaute sie flehend an und rollte die Schultern. »Mein Nacken ist ganz verspannt.«

Midge biss nicht an. »Nimm eine Tablette.«

»Keine Rückenmassage?«, schmollte er.

»Im Cosmopolitan steht, zwei Drittel aller Rückenmassagen enden im Bett.«


»Bei uns aber nie!«, jammerte Brinkerhoff.

»Genau.« Midge zwinkerte ihm zu. »Da liegt ja auch das Problem.«

»Midge...«

»Gute Nacht, Chad.« Sie strebte zur Tür.

»Du willst schon gehen?«

Midge hielt unter dem Türrahmen inne. »Ich würde ja bleiben«, sagte sie, »aber ich habe immerhin noch ein bisschen Stolz im Leib. Ich bin nicht bereit, die zweite Geige zu spielen – schon gar nicht

neben einem Teenager.«

»Meine Frau ist kein Teenager«, verteidigte sich Brinkerhoff. »Sie benimmt sich nur so.«

Midge sah ihn erstaunt an. »Von deiner Frau ist überhaupt nicht die Rede.« Sie klimperte unschuldig mit den Wimpern. »Ich meine Carmen.« Sie gab dem Namen einen rollenden puertoricanischen

Akzent.«

»Wen?« Brinkerhoffs Stimme schwankte leicht.

»Carmen! Von Küchenpersonal!«

Brinkerhoff spürte, wie er rot wurde. Carmen Huerta war eine neunzehnjährige Konditorin, die im Kasino der NSA beschäftigt war. Brinkerhoff hatte mit ihr nach Dienstschluss ein paar Techtelmechtel

im Vorratsmagazin gehabt.


Midge blinzelte ihm schelmisch zu. »Chad, denk dran ... Big Brother is watching you!«

Big Brother? Brinkerhoff schnappte ungläubig nach Luft. Im VORRATSMAGAZIN auch?

Big Brother, oder Brother, wie Midge meist sagte, war ein Centrex 333, der in einem kleinen Kabinett neben dem Hauptraum der Bürosuite untergebracht war. Brother war Midges Augapfel. Der Computer empfing Daten von 148 Videoüberwachungskameras, 377 angzapften Telefonleitungen und 212 Wanzen, die im NSA-Komplex

verstreut angebracht waren.

Die Direktoren der NSA hatten erst aus Erfahrung klug werden müssen, um zu lernen, dass 26.000 Mitarbeiter nicht nur eine große Hilfe, sondern auch eine große Gefahr waren. Jeder nennenswerte Geheimnisverrat in der Geschichte der NSA war von innen gekommen. Als Analystin der internen Sicherheit hatte Midge die Aufgabe, alles zu verfolgen, was innerhalb der Mauern der NSA vor sich ging – wozu offenbar auch die Vorgänge im Vorratsmagazin des

Kasinos gehörten.

Brinkerhoff stand auf. Er wollte sich rechtfertigen, aber Midge war schon unterwegs nach draußen. »Die Hände immer hübsch über der

Bettdecke«, rief sie ihm über die Schulter zu. »Und keine Spielereien, wenn ich nicht da bin! Die Wände haben Augen und Ohren.«

Brinkerhoff sank wieder in seinen Schreibtischsessel und lauschte dem Klacken ihrer Absätze hinterher, das sich den Gang hinunter entfernte. Aber er konnte sich wenigstens darauf verlassen, dass Midge dichthielt. Selbst nicht frei von Schwächen hatte sie sich auf ein paar Unbesonnenheiten eingelassen – in erster Linie

Rückenmassagen mit Beiprogramm bei Brinkerhoff.

Brinkerhoffs Gedanken weilten wieder bei Carmen. Er stellte sich


ihren geschmeidigen Körper vor, ihre schokoladefarbenen Schenkel und die Begleitmusik des Mittelwellensenders, der in voller Lautstärke Salsa aus San Juan geschmettert hatte. Er lächelte. Wenn du fertig bist, könntest du ja noch auf einen Imbiss bei ihr

vorbeischauen.

Er entfaltete den ersten Ausdruck.

CRYPTO – KOSTEN/NUTZEN-RECHNUNG

Seine Stimmung verbesserte sich schlagartig. Die Hausaufgaben, die Midge ihm gebracht hatte, waren ein Klacks. Der Rechnungsbericht der Crypto war stets eine leichte Übung. Von Rechts wegen hätte Brinkerhoff sämtliche Positionen einzeln addieren müssen, aber die einzige Zahl, für die sich die Direktoren je interessiert hatten, waren die DKD – die Durchschnittskosten pro Dechiffrierung. Solange sich diese Zahl unter tausend Dollar hielt, war Fontaine vollauf zufrieden. Ein Tausender pro Entschlüsselung, kicherte Brinkerhoff. Die Steuermittel im Einsatz. Während er sich zügig durch die Unterlagen arbeitete und die täglichen DKDS

überprüfte, schlichen sich Bilder von Carmen Huerta in sein Gehirn ... wie sie sich selbst mit Honig und Puderzucker bekleckerte. Kurze Zeit später war er mit der Arbeit so gut wie durch. Die Crypto-Daten

waren perfekt – wie immer.

Als er den Bericht schon weglegen wollte, um nach dem nächsten zu greifen, stach ihm der letzte DKD-Wert am Ende des Blattes ins Auge. Er fiel total aus dem Rahmen. Die Zahl war so groß, dass sie in die nächsten Spalten hinüberlief und die ganze Seite verunzierte.

Brinkerhoff betrachtete sie fassungslos.

999 999 999. Er holte tief Luft. Eine Milliarde Dollar? Die Bilder von Carmen zerplatzten wie eine Seifenblase. Ein Milliarden-Dollar­Code ?


Brinkerhoff saß einen Augenblick lang wie gelähmt, um dann in den Flur hinauszustürzen, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.

»Midge! Midge! Komm zurück!«


KAPITEL 44

Phil Charturkian stand kochend vor Wut im Sys-Sec-Lab. Strathmores Befehl hallte in seinem Kopf wider. Sie werden jetzt die Crypto-Abteilung verlassen. Und zwar augenblicklich! Fluchend

kickte er den Abfallbehälter durch das Laboratorium.

»Ein Diagnoseprogramm! Beim Arsch des Propheten! Seit wann darf der Vizedirektor einfach die Gauntletfilter umgehen?«

Die Sys-Sec-Leute wurden sehr gut bezahlt, damit sie die Computersysteme der NSA vor Schaden bewahrten. Phil Charturkian hatte begriffen, dass man für diesen Job lediglich zwei Voraussetzungen brauchte, diese allerdings in hohem Grade:

Sachverstand und einen paranoiden Hang, die Flöhe husten zu hören.

Zum Teufel aber auch, du hörst keine Flöhe husten! Der verdammte Betriebsmonitor zeigt achtzehn Stunden an!

Das war ein Virus. Charturkian hatte es im Urin. Für ihn war sonnenklar, was hier los war: Strathmore hatte Mist gebaut, weil er die Gauntlet-Filter umgangen hatte, und jetzt versuchte er sich mit der

windigen Geschichte von einem Diagnoseprogramm herauszureden.

Charturkian wäre nicht ganz so aufgebracht gewesen, wenn der TRANSLTR das Einzige gewesen wäre, worum er sich Sorgen machen musste. Aber so war es eben nicht. Das riesige Dechiffrierungsmonster war keineswegs eine einsame Insel, auch wenn man diesen Eindruck haben konnte. Die Kryptographien glaubten zwar, der einzige Zweck von Gauntlet bestünde im Schutz ihres Lieblingsspielzeugs, aber jeder Sys-Sec-Techniker hätte sie eines Besseren belehren können. Die Gauntlet-Virenfilter dienten einem viel höheren Zweck: dem Schutz der zentralen Datenbank der

NSA.


Die Geschichte des Aufbaus dieser Datenbank hatte Charturkian schon immer fasziniert. Trotz der Bemühungen des Verteidigungsministeriums in den späten Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, das Internet unter eigener Regie zu halten, war dieses Netzwerk einfach ein viel zu nützliches Instrument, um nicht das größte Interesse und die Begehrlichkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Zuerst erzwangen sich die Universitäten den Zugang. Kurz danach kamen die kommerziellen Server. Dann brachen alle Dämme, und jedermann konnte ins Internet. Zu Beginn der Neunzigerjahre war das einst so wohl behütete »Internet« der Regierung zu einem undurchdringlichen Dschungel von E-Mails jeglicher Provenienz bis

hin zur Cyber-Pornographie geworden.

Nach einer Serie von nicht öffentlich bekannt gewordenen, aber nichtsdestoweniger höchst schädlichen Hacker-Einbrüchen in die Computer des Marine-Geheimdienstes führte kein Weg mehr an der Erkenntnis vorbei, dass Regierungsgeheimnisse in Computern, auf die man über das wuchernde Internet zugreifen konnte, nicht mehr sicher

waren.

Der Präsident erließ in Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsministerium eine Geheimverordnung zur Finanzierung eines neuen, völlig abgeschütteten Regierungs-Computernetzwerks, das an die Stelle des unbrauchbar gewordenen Internets treten und die Verbindung zwischen den US-Nachrichten- und Geheimdiensten und der Regierung garantieren sollte. Um Staatsgeheimnisse in Zukunft vor Hackern zu schützen, sollten sämtliche sensiblen Daten an einem einzigen, hochgradig gesicherten Ort zusammengefasst werden: in der

neu entworfenen zentralen Datenbank der NSA, dem Fort Knox der

Geheimdiensterkenntnisse der USA.

Buchstäblich Millionen von Fotos, Tonbändern, Videos und Dokumenten der höchsten Geheimhaltungsstufe wurden digitalisiert und in die unersättlichen Speicher überspielt, worauf die Originaldokumente vernichtet wurden. Die Datenbank wurde durch eine dreifach abgesicherte Stromversorgung und ein mehrstufiges digitales Datensicherungssystem geschützt. Zum Schutz vor


magnetischer Strahlung und der Einwirkung von Explosionen hatte man sie fünfundsechzig Meter tief unter die Erde verlegt. Alles, was im Kontrollraum vor sich ging, war prinzipiell Top Secret Umbra –

Gegenstand der höchsten Geheimhaltungsstufe der USA.

Nie zuvor waren die Geheimnisse des Landes sicherer aufgehoben gewesen. Die uneinnehmbare Datenbank beherbergte Baupläne von modernsten Waffensystemen, Namenlisten des Zeugenschutz-Programms, die Deckidentitäten von Feldagenten, detaillierte Analysen und mögliche Strategien für verdeckte Operationen und vieles andere mehr. Die Liste war endlos. Mit Einbrüchen in US-Geheimdienstarchive war es vorbei.

Die Führungskräfte der NSA wussten natürlich genau, dass gespeicherte Daten nur dann etwas nützen, wenn man auch auf sie zugreifen kann. Der eigentliche Clou der Datenbank war weniger, dass alle Daten durch die Speicherung aus dem Verkehr gezogen waren, sondern dass sie jeweils nur den befugten Personen zur Verfügung standen. Jede gespeicherte Information hatte eine Sicherheitseinstufung und war nur in einem vom Tätigkeitsfeld des jeweiligen Regierungsbeamten abhängigen Umfang verfügbar. Ein U-Boot-Kommandant zum Beispiel konnte sich die neuesten Satellitenaufnahmen russischer Häfen aus dem Speicher holen, hatte aber keinen Zugriff auf eine Antidrogenkampagne in Südamerika. CIA-Analysten konnten die Biografien bekannter und mutmaßlicher Attentäter einsehen, nicht jedoch die Codes zum Abfeuern von Atomraketen, die wiederum nur dem Präsidenten zugänglich waren.

Die Sys-Sec-Techniker hatten natürlich keinerlei Zugriff auf die Informationen der Datenbank, aber sie waren für ihre Sicherheit verantwortlich. Wie alle großen Datenbanken – von Versicherungsgesellschaften bis zu Universitäten – stand auch diese Einrichtung der NSA unter dem ständigen Beschuss von Computerhackern, die gern einen Blick in die dort schlummernden Geheimnisse geworfen hätten. Aber die NSA hatte die besten Sicherheitsprogrammierer der Welt. Nie war es jemandem auch nur ansatzweise gelungen, die Datenbank der NSA zu infiltrieren – und die NSA hatte keinerlei Grund zu der Befürchtung, dass es jemals


gelingen könnte.

Phil Charturkian saß im Sys-Sec-Lab und überlegte fieberhaft, ob er verschwinden sollte oder nicht. Strathmores Unbekümmertheit war für ihn mehr als beunruhigend, denn Probleme im TRANSLTR zogen

Probleme in der zentralen Datenbank nach sich.

Es musste doch jedem klar sein, dass der TRANSLTR und die Datenbank unlösbar miteinander verbunden waren! Jeder neue Code wurde sofort nach der Dechiffrierung durch vierhundertfünfzig Meter Glasfaserkabel von der Crypto-Abteilung zur sicheren Aufbewahrung in die Datenbank geschossen. Das geheiligte Speicherwerk hatte nur wenige Zugänge – und der TRANSLTR besaß einen davon. Der Gauntlet-Filter sollte der unüberwindliche Wächter dieser Pforte sein.

Und Strathmore hatte Gauntlet einfach umgangen!

Charturkian konnte sein Herz pochen hören. Der TRANSLTR hat die achtzehn-Stunden-Marke überschritten! Die Vorstellung, dass ein Virus in den TRANSLTR gelangt war und bald in den Kellern der NSA Amok laufen würde, war zu viel für ihn. »Das musst du

melden!«, brach es aus ihm heraus.

In einer Situation wie dieser hatte Charturkian einen bestimmten Mann anzurufen: Seinen Sys-Sec-Abteilungsleiter mit dem Spitznamen Jabba, den äußerst kurz angebundenen, vierhundert Pfund schweren Computer-Guru, der das Gauntlet-System konstruiert hatte. Bei der NSA war er ein Halbgott – stets allgegenwärtig, löschte er virtuelle Feuersbrünste unter hemmungslosen Flüchen auf die Unfähigkeit und Ignoranz der verantwortlichen Idioten, denen es offensichtlich an jeglicher Vorstellungskraft fehlte. Wenn Jabba erfuhr, dass Strathmore das Gauntlet-System umgangen hatte, würde der Teufel los sein. Tut mir Leid, dachte Charturkian, aber du hast hier einen Job zu erledigen. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer des Mobilanschlusses, auf dem Jabba rund um die Uhr

erreichbar war.


KAPITEL 45

David Becker wanderte ziellos die Avenida el Cid hinunter und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Auf dem Kopfsteinpflaster spielten verschwommene Schatten um seine Füße. Er war immer noch benebelt von dem Wodka. Er dachte wieder an Susan. Ob sie seine

Nachricht schon abgehört hatte?

Ein Stück weiter vorne hielt quietschend ein Bus. Die Türen gingen auf, aber niemand stieg aus. Als der Bus anfahren wollte, kamen drei Teenager aus einer Bar gestürmt und rannten schreiend

und gestikulierend hinterher. Das Motorgeräusch erstarb wieder.

Becker war noch etwa dreißig Meter entfernt. Sein getrübter Blick wurde schlagartig wieder glasklar, aber er wollte seinen Augen nicht trauen. Was er da sah, war einfach unmöglich. Die Chancen dafür

standen eins zu einer Million.

Du hast Halluzinationen.

Als die Türen für die jungen Leute noch einmal aufgingen und sie sich im Einstieg drängten, sah Becker es wieder. Diesmal war er hundertprozentig sicher. Im Licht der Straßenlampe an der Ecke hatte

er es deutlich erkannt.

Die jungen Leute stiegen ein. Als der Motor langsam auf Touren kam, rannte Becker bereits im vollen Lauf auf den Bus zu. Das bizarre Bild hatte sich in sein Hirn eingebrannt – schwarzer Lippenstift,

wilder Lidschatten und die Haare ... zu drei abstehenden rot-weiß­blauen Spitztüten hochgedreht.

Der Bus setzte sich in Bewegung. Becker stürmte in eine Auspuffwolke aus Kohlenmonoxid.


»¡Espera!«, schrie er aus vollem Halse. Seine feinen Lederslipper flitzten über das Pflaster, aber die Squasherprobte Sprungkraft fehlte. Becker verfluchte den Barkeeper und den Jetlag. Der Bus war zum Glück ein älteres Modell und musste die anstehende Steigung im ersten Gang nehmen. Becker spürte, dass er langsam aufholte. Er musste den Bus erreicht haben, bevor der Fahrer den zweiten Gang

einlegte.

Der Fahrer trat die Kupplung, um hochzuschalten. Die beiden Auspuffrohre spien Becker eine Wolke schwarzen Dieselqualm ins Gesicht, aber er legte noch einen Zahn zu. Er war schon neben dem Bus, der Heckeinstieg zum Greifen nahe. Wie bei allen Bussen von

Sevilla stand er als billiger Ersatz einer Klimaanlage weit offen.

Becker ignorierte das Brennen in den Beinmuskeln. Seine Augen fixierten den Einstieg. Neben ihm rollten schulterhohe Reifen. Er versuchte aufzuspringen, verfehlte aber die Haltestange und wäre fast gestürzt. Er mobilisierte seine letzten Reserven. Unter dem Bus hörte

er die Kupplung arbeiten.

Er schaltet! Du schaffst es nicht!

Aber bis die Zahnräder des höheren Gangs endgültig ineinander griffen, verlor der Bus minial an Fahrt. Becker sprang. Seine Finger krallten sich um die Haltestange. Der Bus zog an. Becker wurde nach oben katapultiert. Er dachte, der Arm würde ihm aus dem

Schultergelenk gerissen.

Becker lag völlig erschöpft im Einstieg. Das Pflaster raste nur wenige Handbreit unter ihm vorbei. Er war wieder vollkommen nüchtern. Schulter und Beine taten ihm weh. Halt suchend richtete er sich auf und zog sich schwankend in den abgedunkelten Bus. Wenige Sitzreihen vor ihm ragten aus den Silhouetten der Fahrgäste drei unverkennbare Spitztüten aus Haar in die Luft. Rot, weiß und blau. Du

hast es geschafft!


In Beckers Kopf tanzten allerlei Bilder — der Ring, der wartende Learjet 60 und zu guter Letzt Susan.

Becker war auf Höhe der Sitzreihe des Mädchens. Er überlegte, wie er es ansprechen sollte. Der Lichtschein einer Straßenlaterne

huschte über das Gesicht der Punkerin.

Becker erstarrte. Die Schminke war über einen kräftigen Stoppelbart geschmiert. Es war kein Mädchen, sondern ein junger Bursche mit einer schwarzen Lederjacke, die er auf dem nackten Oberkörper trug. Ein silberner Knopf war durch seine Oberlippe

gepierct.

»Eh, Alter, was liegt an?«, stieß der Punker heiser hervor. Er hatte einen New Yorker Akzent.

Wie ein Stürzender im freien Fall schaute Becker in die Gesichter der Fahrgäste, die ihn ihrerseits anstarrten. Es waren ausschließlich Punks. Mindestens die Hälfte hatte rot-weißblaue Haare. Er erlebte die

Szene wie in Zeitlupe.

»jSiéntate!«, brüllte der Fahrer.

Becker war zu benommen, um darauf zu achten.

»jSiéntate!«, brüllte der Fahrer noch einmal. »Hinsetzen!«

Becker blickte geistesabwesend in das aufgebrachte Gesicht im Rückspiegel, aber zu spät.

Der Busfahrer trat kräftig auf die Bremse. Vergeblich suchte Becker an einer Sitzlehne Halt. Er verlor das Gleichgewicht. Nach

einem unfreiwilligen Purzelbaum knallte er hart auf den rauen Boden.


An der Avenida el Cid löste sich eine Gestalt aus dem Halbdunkel. Der Mann rückte seine Nickelbrille zurecht und schaute dem davonfahrenden Bus hinterher. David Becker war entwischt, aber nur vorübergehend. Unter allen Bussen von Sevilla war er ausgerechnet in

die berüchtigte Linie 27 geraten.

Die Nummer 27 fuhr ohne Zwischenhalt durch bis zur Endstation.


KAPITEL 46

Phil Charturkian knallte den Hörer hin. Jabbas Anschluss war besetzt. Jabba hielt nichts von der Anklopf-Funktion. Für ihn war das nur eine weitere Beutelschneiderei der Telefongesellschaft AT&T, weil sie dann jeden Anruf durchstellen konnte. Der schlichte Satz: »Mein Anschluss ist leider besetzt, ich rufe Sie gleich zurück«, spülte jährlich Millionen in die Kassen der Telefongesellschaften. Jabbas Weigerung, die Anklopf-Funktion in Anspruch zu nehmen, war sein stiller Protest gegen die NSA-Vorschrift, im Notfall immer und

überall über Handy erreichbar zu sein.

Charturkian drehte sich um und schaute in die leere Crypto-Kuppel hinaus. Das Generatorbrummen schien mit jeder Minute lauter von unten emporzudringen. Er spürte, dass ihm allmählich die Zeit davonlief. Er wusste aber auch, dass er eigentlich zu verschwinden hatte, doch das Brummen aus dem Untergrund mutierte mehr und mehr zum Mantra eines Sys-Sec-Technikers: Erst handeln, dann

erklären.

In der Welt der Computersicherheit entschieden oft Minuten darüber, ob ein System gerettet werden konnte oder den Bach hinunterging. Nur selten reichte die Zeit, eine rettende Maßnahme zu erklären, bevor man sie ergriff. Ein Sys-Sec-Techniker wurde für

seine Sachkenntnis bezahlt – und für seinen Instinkt.

Erst handeln, dann erklären. Charturkian wusste, was er zu tun hatte. Wenn der Staub sich gelegt hatte, würde er entweder ein Held

der NSA oder arbeitslos sein.

Das große Dechiffrierungsungeheuer hatte einen Virus, daran bestand für ihn kein Zeifel. Es gab nur eine einzige verantwortungsbewusste Maßnahme: abschalten. Dafür gab es zwei Möglichkeiten. Einmal vom Terminal im Büro des Commanders aus, was völlig ausgeschlossen war. Und dann war da noch der Notschalter auf einer der unteren Etagen des Wartungssilos unter der Crypto-


Kuppel.

Charturkian schluckte. Er hasste diesen Silo. Er war nur ein einziges Mal unten gewesen, während seiner Ausbildung. Es war dort wie in einer Welt der Aliens, mit dem Gewirr der Gitterlaufstege und Kühlmittelröhren und dem Schwindel erregenden Blick vierzig Meter

hinunter zu dem dröhnenden Stromaggregat.

Es war der letzte Ort, den er freiwillig aufgesucht hätte, und Strathmore war der Letzte, dem er zu begegnen wünschte – aber Pflicht war nun einmal Pflicht. Eines Tages wird man dir dafür

dankbar sein, dachte er, ohne so recht daran zu glauben.

Er holte tief Luft und öffnete den Spind seines Vorgesetzten. In einem Fach mit Computerbauteilen stand hinter einem LAN-Tester und allerlei Messgeräten für Netzwerke ein Kaffeebecher mit dem Logo der Stanford Universität. Charturkian griff hinein und zog einen

Sicherheitsschlüssel heraus.

Es ist schon erstaunlich, was Vorgesetzte alles nicht wissen, dachte er.


KAPITEL 47

Ein Milliarden-Dollar-Code?«, spottete Midge, während sie mit Brinkerhoff den Flur zurückkging. »Du hast schon bessere Witze

gemacht.«

»Ich schwör's dir!«, beharrte er.

Sie sah ihn von der Seite her an. »Ich warne dich! Wenn das eine Masche ist, mit der du mich um den Finger wickeln willst, dann ... !«

»Midge, das würde ich mir niemals ...«

»Geschenkt, Chad. Erinnere mich nicht daran.«

Eine halbe Minute später saß Midge an Brinkerhoffs Schreibtisch und studierte den Crypto-Bericht.

»Hier, dieser DKD-Wert!«, sagte er über sie gebeugt und deutete auf die fragliche Zahl. »Eine Milliarde Dollar.«

»Tatsächlich!«, kicherte sie. »Ein bisschen hoch ist er schon.«

»Ja«, stöhnte Brinkerhoff. »Aber nur ein kleines bisschen.«

»Sieht aus wie ein Bruch durch null.«

»Ein was?«

»Ein Bruch durch null«, sagte sie und ging die übrigen Zahlen durch. »Die DKD werden als Quotient ermittelt: Gesamtsumme der

Aufwendungen geteilt durch die Gesamtzahl der Dechiffrierungen.«


»Klar.« Brinkerhoff nickte abwesend und bemühte sich, Midge nicht allzu unverblümt in den Ausschnitt zu linsen.

»Wenn der Nenner null ist«, erklärte Midge, »nimmt der Quotient den Wert unendlich an. Ein Computer kann mit unendlich nichts anfangen, also schreibt er lauter Neuner.« Sie deutete auf eine andere Zahlenkolonne. »Sieh mal, hier.«

»Ja.« Brinkerhoffs Augen fanden zurück zum Papier.

»Das ist die Produktionsleistung von heute. Sieh dir mal die Zahl der Dechiffrierungen an.«

Brinkerhoff folgte pflichteifrig ihrem Zeigefinger, der an der Kolonne nach unten glitt.

ZAHL DER DECHIFFRIERUNGEN = 0

Midge tippte mit dem Finger auf die Null. »Genau, wie ich vermutet habe. Ein Bruch durch null!«

Brinkerhoff zog die Brauen hoch. »Dann ist also alles in bester Ordnung?«

Sie zuckte die Achseln. »Das heißt lediglich, dass wir heute keinen Code geknackt haben. Der TRANSLTR macht wohl Pause.«

»Er macht Pause?« Brinkerhoff sah sie skeptisch an. Er war lange genug die rechte Hand des Direktors gewesen, um zu wissen, dass »Pause« nicht zu den Lieblingsvokabeln seines Chefs gehörte – besonders, was den TRANSLTR betraf. Für die zwei Milliarden, die Fontaine für das Dechiffrierungsungetüm locker gemacht hatte, wollte er auch etwas sehen. Jede Sekunde, die der TRANSLTR nicht lief,


war zum Fenster hinausgeschmissenes Geld.

»Äh... Midge, Pause gibt's beim TRANSLTR nicht«, gab Brinkerhoff zu bedenken. »Er läuft Tag und Nacht durch, und das

weißt du.«

Sie zuckte wieder die Achseln. »Vielleicht hatte Strathmore gestern keine Lust, sich zur Vorbereitung des Wochenendpensums die Nacht um die Ohren zu hauen. Vielleicht hat er gewusst, dass Fontaine nicht da ist, und hat sich vorzeitig aus dem Staub gemacht,

um angeln zu gehen.«

»Nun mach mal halblang!« Brinkerhoff schaute Midge unwillig an. »Du brauchst nicht immer auf dem Mann herumzuhacken.«

Es war kein Geheimnis: Midge Milken konnte Trevor Strathmore nicht leiden. Strathmore hatte mit der zusätzlichen Programmzeile in Skipjack ein ausgeklügeltes Täuschungsmanöver in Szene gesetzt – und war damit auf die Schnauze gefallen. Die NSA hatte für seine hochfliegenden Pläne mächtig Federn lassen müssen. Die EFF hatte an Stärke hinzugewonnen, Fontaines Glaubwürdigkeit vor dem Kongress war beschädigt worden, und, was das Schlimmste war, die NSA hatte ihren Mantel der Anonymität auf weite Strecken eingebüßt. Auf einmal beschwerten sich Hausfrauen aus Minnesota bei America Online oder Prodigy, die NSA könnte ihre E-Mails mitlesen – als ob die NSA sich etwas aus einem Rezept für die Herstellung von

kandierten Süßkartoffeln gemacht hätte!

Strathmores Pleite hatte der NSA schwer geschadet, und Midge fühlte sich dafür verantwortlich. Nicht, dass sie den Alleingang des Commanders hätte voraussehen können, aber unter dem Strich sah die Sache so aus, dass hinter dem Rücken von Leland Fontaine eine nicht autorisierte Solonummer stattgefunden hatte, und Midge wurde dafür bezahlt, diesen Rücken zu decken. Fontaines Neigung zur Nichteinmischung machte ihn angreifbar – und Midge folglich nervös. Aber der Direktor hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass man sich


aus der Arbeit von tüchtigen Mitarbeitern besser heraushält und sie ungestört ihren Job machen lässt. Getreu dieser Devise hatte er sich

auch Trevor Strathmore gegenüber verhalten.

»Midge, du weißt ganz genau, dass sich Strathmore keinen Lenz macht«, wandte Brinkerhoff ein. »Er hält den TRANSLTR ständig auf

Trab!«

Midge nickte. Im Grunde wusste sie genau, dass der Vorwurf der Drückebergerei bei Strathmore nicht griff. Der Commander hatte sich

seiner Sache verschrieben wie kaum ein Zweiter. Er trug die Übel dieser Welt als sein persönliches Kreuz. Der Skipjack-Plan war auf Strathmores eigenem Mist gewachsen – ein kühner Versuch, die Welt zu erlösen. Wie so viele Erlösungsversuche hatte leider auch dieser mit einer Kreuzigung geendet.

»Okay«, räumte Midge ein, »dann bin ich eben ein bisschen zu hart gewesen.«

»Ein bisschen?« Brinkerhoff sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Strathmore hat einen Dateien-Rückstau von mindestens fünf Kilometern Länge aufzuarbeiten! Und da soll er den TRANSLTR

ein ganzes Wochenende lang Däumchen drehen lassen?«

»Okay, okay«, seufzte Midge. »Mein Fehler.« Mit gerunzelter Stirn überlegte sie, weshalb der TRANSLTR den ganzen Tag keinen einzigen Code geknackt hatte. »Lass mich doch einmal etwas nachsehen«, sagte sie und fing an, in den Berichten zu blättern. Als sie gefunden hatte, was sie suchte, ging sie die Zahlen durch, um gleich anschließend zu nicken. »Okay Chad, du hast Recht. Der TRANSLTR ist unter Hochdruck gelaufen. Die Verbrauchswerte liegen sogar ein bisschen höher als sonst. Seit gestern um Mittemacht haben wir eine

halbe Million Kilowattstunden verbraten.« »Und was sagt uns das?«


»Weiß ich auch nicht genau. Aber seltsam ist es schon«, meinte Midge nachdenklich.

»Möchtest du deine Daten nicht lieber noch einmal neu kompilieren?«

Sie sah ihn unwirsch an. Es gab zwei Dinge, die man bei Midge Milken niemals in Frage stellen durfte. Das eine waren ihre Daten.

Brinkerhoff wartete ab, während Midge die Zahlen studierte.

»Hmm«, sagte sie schließlich. »Die Werte von gestern liegen im üblichen Rahmen. 237 Codes geknackt, DKD 874 Dollar.

Durchschnittszeit pro Code knapp über sechs Minuten. Ver brauchswerte durchschnittlich. Der letzte Code, der in den

TRANSLTR. ..« Sie hielt inne.

»Was ist?«

»Das ist aber komisch«, sagte sie. »Die letzte Datei von der gestrigen Serie ist um dreiundzwanzig Uhr siebenunddreißig

gelaufen.«

»Und?«

»Der TRANSLTR knackt ungefähr alle sechs Minuten einen Code. Somit müsste die letzte Datei des Tages näher an Mitternacht gelaufen

sein. Es sieht aber nicht danach aus, dass ...« Midge brach abrupt ab

und schnappte nach Luft.

Brinkerhoff schreckte zusammen. »Was ist?«

Midge starrte fassungslos den Ausdruck an. »Sieh dir diese Datei


an, die, die gestern Nacht in den TRANSLTR gekommen ist!«

»Ja, und?«

»Sie ist immer noch nicht geknackt! Die Eingabezeit war 23:37:08 Uhr, aber hier steht keine Dechiffrierungszeit!« Midge suchte hektisch

in den Blättern herum. »Weder gestern noch heute!«

»Vielleicht fahren Sie da unten ein langes Diagnoseprogramm«, sagte Brinkerhoff und zuckte die Achseln.

Midge schüttelte den Kopf. »Achtzehn Stunden lang?« Sie zögerte. »Kaum anzunehmen. Außerdem geht aus den Daten hervor, dass es

eine Datei von draußen ist. Wir müssen Strathmore anrufen.«

»Zu Hause?« Brinkerhoff schluckte. »An einem Samstagabend?«

»Ach was. So, wie ich Strathmore kenne, weiß er Bescheid. Ich wette, dass er hier ist. Ich habe das im Urin.« Midge Milkens Urin war das Zweite, was man niemals in Frage stellen durfte. »Los«, sagte sie

und stand auf. »Mal sehen, ob ich Recht habe.«


Brinkerhoff folgte Midge in ihr Büro. Sie setzte sich hin und legte auf den Keypads von Big Brother los wie ein Virtuose an der Orgel. Brinkerhoff schaute hinauf zu der Batterie der Kontrollmonitore an der Wand, auf denen überall nur das NSA-Wappen zu sehen war.

»Willst du etwa in der Crypto schnüffeln?«, erkundigte er sich nervös.

»Quatsch! Schön wär's, geht aber nicht. Die Crypto ist tabu. Da gibt's kein Video, kein Mikro, kein gar nichts – auf Strathmores Anordnung. Wir haben lediglich die Statistik über das Rein und Raus und ein paar grundsätzliche TRANSLTR – Daten. Wir können schon von Glück sagen, dass wir wenigstens das haben. Strathmore wollte auf einer Insel der Seligen leben, aber Fontaine hat auf Basisdaten

bestanden.«

Brinkerhoff sah sie überrascht an. »In der Crypto gibt es keine Videoüberwachung?«

»Was ist daran so aufregend?«, sagte sie, ohne den Blick von den Monitoren zu wenden. »Suchst du für dich und Carmen ein

ungestörtes Plätzchen?«

Brinkerhoff grunzte etwas Unverständliches.

Midge drückte noch ein paar Tasten. »Ich hole mir Strathmores Fahrstuhl-Protokoll.« Sie studierte kurz ihren Monitor, dann klopfte sie mit den Knöcheln auf den Tisch. »Er ist da«, sagte sie. »Er ist jetzt in der Crypto. Er ist gestern in aller Herrgottsfrühe reingegangen, und seitdem hat sich sein Fahrstuhl nicht mehr bewegt. Außerdem habe ich keine Meldung, dass er am Haupteingang die Magnetkarte benutzt

hätte. Er ist definitiv in seinem Bau.«

Brinkerhoff stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Wenn Strathmore in der Crypto sitzt, dann heißt das doch, dass alles in

Ordnung ist, oder?«


Midge überlegte. »Möglicherweise«, meinte sie hinhaltend. »Möglicherweise?«

»Lass ihn uns zur Sicherheit einfach mal anrufen.«

Brinkerhoff stöhnte auf. »Midge, der Mann ist unser stellvertretender Direktor! Ich bin sicher, dass er alles im Griff hat.

Wir sollten uns nicht in Spekulationen verlieren und ...«

»Ach, Chad, sei nicht so ein Schafskopf. Wir tun doch nur unsere Pflicht! Wir haben einen Ausreißer in der Statistik, und wir wollen wissen, was los ist. Außerdem möchte ich Strathmore wieder einmal daran erinnern, dass Big Brother ein Auge auf ihn hat. Er soll lieber zweimal überlegen, bevor er nochmal eine hirnrissige Großtat zur Rettung der Menschheit vom Stapel lässt.« Midge griff nach dem

Telefon und fing an zu wählen.

Brinkerhoff sah ihr unbehaglich zu. »Hältst du es wirklich für eine gute Idee, ihn zu stören?«

»Ich werde ihn nicht stören«, sagte Midge und warf Brinkerhoff den Hörer zu. »Du wirst es tun.«


KAPITEL 48

»Was?«, stieß Midge in ungläubiger Empörung hervor. »Strathmore sagt, unsere Daten stimmen nicht?«

Brinkerhoff legte nickend wieder auf.

»Sag bloß, Strathmore hat abgestritten, dass der TRANSLTR seit achtzehn Stunden an einer einzigen Datei herumknackt!«

»Er war sehr zuvorkommend«, strahlte Brinkerhoff, der stolz darauf war, dass er den Anruf überlebt hatte. »Wie er mir versichert hat, ist mit dem TRANSLTR alles in bester Ordnung. Während wir uns unterhielten, würde der Rechner alle sechs Minuten einen Code

knacken. Er hat sich bei mir sogar für die Nachfrage bedankt.«

»Der Kerl lügt!«, zischte Midge. »Ich erstelle diese Crypto-Statistiken seit zwei Jahren, und meine Daten haben immer

gestimmt.«

»Es gibt immer ein erstes Mal«, meinte Brinkerhoff nonchalant.

Midge schoss einen missbilligenden Blick auf ihn ab. »Die Daten sind doppelt überprüft.«

»Na, du weißt ja, wie es so schön über Computer heißt: ›Wenn sie einen Fehler machen, dann wenigstens immer den gleichen‹.«

Midge fuhr herum und funkelte ihn böse an. »Das ist nicht

komisch, Chad! Der Vizedirektor hat das Büro des Direktors soeben mit einer schamlosen Lüge abgespeist! Ich will wissen, warum!«

Brinkerhoff wünschte auf einmal, er hätte Midge nicht zurückgerufen. Das Telefonat mit Strathmore hatte sie auf die Palme


gebracht. Seit Skipjack verwandelte sich Midge jedes Mal auf erschreckende Weise von einer Sirene in eine Furie, sobald sie das Gefühl hatte, dass etwas Verdächtiges im Busch war, und war dann nicht mehr zu genießen, bis sie der Sache auf den Grund gegangen

war.

»Midge, es könnte doch durchaus sein, dass unsere Daten nicht stimmen«, sagte Brinkerhoff mit Nachdruck. »Denk doch mal nach – eine Datei, die den TRANSLTR achtzehn Stunden auf Trab hält, wo

gibt's denn so was? Geh nach Hause, es ist schon spät.«

Sie sah ihn von oben herab an und knallte die Unterlagen auf den Tisch. »Aber meine Daten sind wasserdicht! Ich spür's im Urin, dass

sie stimmen.«

Brinkerhoff runzelte die Stirn. Nicht einmal der Direktor wagte noch Zweifel anzumelden, wenn Midge Milken etwas im Urin hatte.

Sie hatte die bestürzende Gewohnheit, stets Recht zu behalten.

»Da ist etwas im Busch«, erklärte sie, »und ich werde herausfinden, was.«


KAPITEL 49

Becker rappelte sich vom Fahrzeugboden hoch und ließ sich auf einen leeren Sitz fallen.

»Geiler Stunt, Alter«, spottete der Bursche mit den gefärbten Haaren. Becker blinzelte. Neben ihm saß der Punker, dem er nachgerannt war. Verdrießlich betrachtete er die Flut der blau-weiß­roten Köpfe.

»Was habt ihr mit euren Haaren gemacht?«, ächzte Becker und deutete auf das Gewackel der Köpfe. »Sie sind alle ...«

»... total blau-weiß-rot«, kam ihm der Bursche zu Hilfe.

Becker nickte und versuchte, nicht auf die entzündete Stelle an der gepiercten Oberlippe des Jungen zu starren.

»Judas Taboo«, stellte der Punker lakonisch fest.

Becker begriff gar nichts.

Der Junge spuckte in den Mittelgang. Beckers Ignoranz schien ihn maßlos zu nerven. »Judas Taboo ist der größte Punker seit Sid Vicious, Mann! Hat sich hier vor einem Jahr den goldenen Schuss

gesetzt. Sein Memoral Day, Alter!«

Becker nickte unbestimmt. Der Zusammenhang war ihm immer noch etwas rätselhaft.

»Hat beim Abkacken die Haare so gehabt, Mann. Wer etwas auf sich hält, hat heute die Haare auch so, klar?«


Becker sagte lange nichts. Ganz langsam wandte er den Blick nach vorne. Im ganzen Bus sah er nur Punker. Die meisten starrten ihn auch

noch an.

Heute hat jeder Judas-Taboo-Fan blau-weiß-rote Haare.

Es war an der Zeit auszusteigen. Becker streckte die Hand aus und zog am Klingelstrang zum Fahrer. Er zog noch einmal. Nichts

passierte. Ziemlich hektisch zog er ein drittes mal.

»Im Siebenundzwanziger haben sie die Klingel abgehängt«, sagte der Punker und spie wieder aus. »Weil wir damit sonst nur Scheiße

machen, klar?«

Becker sah ihn an. »Heißt das, dass man nicht aussteigen kann?«

Der Punker lachte sich halb tot. »Erst an der Endstation, Mann!«

Fünf Minuten später bretterte der Bus über eine spanische Landstraße. »Hält das Ding jemals wieder an?«, fragte Becker den

Burschen neben sich.

Der Punker nickte. »Bloß noch ein paar Kilometer.«

»Wo fahren wir überhaupt hin?«

Der Punker fing an, breit zu grinsen. »Mann, das hast du noch nicht gecheckt?«

Becker hob die Schultern.

Der Junge brach in hysterisches Gelächter aus. »Oh, Scheiße,


Mann, da wirst du bestimmt tierisch drauf abfahren!«


KAPITEL 50

Nur ein paar Meter vom Gehäuse des TRANSLTR entfernt stand Phil Charturkian über einer weißen Aufschrift auf dem Boden:

CRYPTO UNTERMASCHINERIE

FÜR UNBEFUGTE KEIN ZUTRITT

Er war eindeutig unbefugt. Er warf einen schnellen Seitenblick hinauf zu Strathmores Büro. Die Vorhänge waren immer noch zugezogen. Charturkian hatte Susan Fletcher die Toilette aufsuchen sehen, folglich war sie kein Problem. Damit blieb nur noch Greg Hale.

Er schaute hinüber zur spiegelnden Wand von Node 3 . Ob der

Kryptograph ihn beobachtete?

»Egal«, knurrte er.

Der Umriss der Bodenklappe zu seinen Füßen war kaum zu erkennen. Charturkian nahm den Schlüssel zur Hand, den er im Sys-Sec-Lab an sich genommen hatte. Er kniete sich hin, steckte den Schlüssel in das Schloss im Boden und drehte ihn um. Die Verriegelung klickte. Er schraubte die große Halteklaue lose. Die Verankerung des Einstiegs löste sich. Mit einem sichernden Blick über die Schulter, zog er an der Klappe. Sie war relativ klein, nur etwa neunzig mal neunzig Zentimeter, aber schwer. Als sie endlich

aufschwang, prallte Charturkian zurück.

Ein Schwall heißer Dämpfe mit dem stechenden Geruch des Kühlmittels fuhr ihm ins Gesicht. Dunstschwaden wehten aus der Öffnung, von unten rot angestrahlt durch das Arbeitslicht. Das ferne Generatorbrummen wurde zum Dröhnen. Charturkian stand auf und spähte in die Öffnung hinab. Sie ähnelte mehr einem Höllenloch als dem Wartungseinstieg eines Computers. Eine schmale Leiter führte zu


einer unter dem Kuppelboden aufgehängten Plattform hinab. Von dort ging eine Treppe weiter nach unten und verlor sich in wirbelnden Dunstschwaden.

Greg Hale stand in Node 3 hinter dem Einwegspiegel. Er beobachtete Phil Charturkian, der sich in den Einstieg zur Untermaschinerie hinabließ. Von Hales Standort aus konnte man den Eindruck haben, der Kopf des Sys-Sec-Technikers ruhe vom Rumpf getrennt auf dem spiegelnden Boden, um dann zögernd in den

wehenden Dunst hinabzusinken.

»Gute Idee«, murmelte Hale. Es war ihm klar, was Charturkian vorhatte. Wenn der Techniker davon ausging, dass der TRANSLTR einen Virus hatte, war die Notabschaltung von Hand die einzig logische Maßnahme – leider mit der unausweichlichen Konsequenz, dass es in der Crypto-Abteilung in zehn Minuten von Sys-Sec-Leuten nur so wimmeln würde. Notmaßnahmen wurden an der Hauptschalttafel unübersehbar angezeigt. Aber Hale konnte nicht zulassen, dass die Sys-Sec-Abteilung in der Crypto eine groß angelegte Fehlersuchaktion startete. Charturkian musste aufgehalten

werden.

Hale eilte zur Einstiegsklappe.


KAPITEL 51

Jabba sah aus wie eine riesige Kaulquappe. Wie die Filmkreatur, der er seinen Spitznamen verdankte, war auch er unbehaart und hatte eine Kugelgestalt. Als Schutzengel vom Dienst für sämtliche Computersysteme der NSA zog er mit seinem Lötkolben von Abteilung zu Abteilung, beseitigte Wackelkontakte und verbreitete sein Credo, dass Vorbeugung die beste Therapie sei. Unter seinem Regime war kein einziger NSA-Computer von einem Virus befallen

worden, und wenn es nach ihm ging, sollte es auch so bleiben.

Jabbas Heimat war eine erhöhte Work-Station in den Katakomben der NSA, von der aus er die ultrageheime unterirdische Zentraldatenbank überblicken konnte. Hier konnte ein Virus den größten Schaden anrichten, und hier verbrachte er den größten Teil seiner Zeit. Im Moment jedoch machte Jabba Pause und widmete sich im Nachtkasino der NSA einer Pepperoni-Calzone. Er schlug gerade

das Essbesteck in seine dritte Portion, als sein Handy piepste.

»Legen Sie los«, sagte er mit vollem Mund, bevor er den Rest herunterschluckte .

»Jabba«, sagte eine Frauenstimme, »hier ist Midge.«

»Die Daten-Queen!«, brach es aus dem Riesenkerl hervor. Für Midge Milken hatte er immer schon eine Schwäche gehabt. Sie war nicht auf den Kopf gefallen und außerdem die einzige Frau, die je mit

ihm geflirtet hatte. »Wie zum Teufel geht's denn so?« »Kann nicht klagen.«

Jabba wischte sich den Mund. »Bist du im Laden?« »Ja.«


»Hast du Lust, mir bei einer Calzone Gesellschaft zu leisten?«

»Würde ich liebend gerne, aber ich muss auf meine Hüften schauen.«

»Wie aufregend!«, kicherte er. »Das möchte ich auch mal.«

»Du bist ein böser Junge.«

»Du hast ja keine Ahnung!«

»Ich bin froh, dass ich dich hier im Haus erwischt habe. Ich brauche mal einen Tipp.«

Jabba nahm einen großen Schluck Limo. »Schieß los.«

»Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten, aber in meiner Crypto-Statistik bin ich auf was Komisches gestoßen.«

»Nämlich?« Er nahm noch einen Schluck.

»Ich habe hier eine Meldung, dass der TRANSLTR seit achtzehn Stunden an ein und derselben Datei arbeitet. Bis jetzt hat er sie nicht

geknackt.«

Jabbas Limo ergoss sich über seine Calzone. »Du hast was?«

»Kannst du dir das erklären?«

Jabba trocknete seine Calzone mit der Serviette. »Was ist das überhaupt für eine Statistik?«


»Produktionsstatistik. Grundkostenanalyse und so.« Midge erläuterte kurz, was sie zusammen mit Brinkerhoff festgestellt hatte.

»Hast du schon Strathmore angerufen?«

»Na klar. Er sagt, in der Crypto läuft alles nach Plan. Der TRANSLTR knackt angeblich mit Volldampf Dateien. Mit unseren

Daten sei etwas nicht in Ordnung.«

Jabba legte die gewaltige Stirn in Falten. »Was ist dann das Problem? Deine Aufstellung stimmt halt nicht.«

Midge blieb die Antwort schuldig.

Jabba merkte, worauf sie hinauswollte. »Du glaubst aber, dass sie doch stimmt, oder?«

»Richtig.«

»Dann hätte Strathmore gelogen.«

»Das will ich damit nicht unbedingt sagen«, meinte Midge diplomatisch. Sie wusste, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte. »Es ist nur so, dass meine Aufstellungen in der Vergangenheit immer

gestimmt haben. Ich wollte einfach mal eine zweite Meinung hören.«

»Ich möchte dir nur ungern zu nahe treten«, sagte Jabba, »aber in deinen Daten ist der Wurm.«

»Glaubst du wirklich?«

»Darauf wette ich meinen Job.« Jabba stopfte sich einen großen Bissen matschige Calzone in den Mund. »Länger als drei Stunden hat


sich noch nie eine Datei im TRANSLTR halten können, Diagnoseprogramme, Grenzlasttests und was es sonst noch an Raffinessen gibt mit eingerechnet. Das Einzige, was den TRANSLTR achtzehn Stunden lang lahm legen könnte, wäre ein Virus oder so.

Etwas anderes kommt dafür nicht in Frage.«

»Ein Virus?«

»Ja, irgendein redundanter Kreislauf, eine Schleife. Es müsste etwas sein, was die Prozessoren mit sich selbst kurzschließt,

elektronischer Sand im Getriebe.«

»Strathmore ist schon seit sechsunddreißig Stunden ununterbrochen in der Crypto zugange«, sagte Midge hinhaltend.

»Könnte es sein, dass er sich mit einem Virus herumschlägt?«

Jabba lachte. »Strathmore ist schon seit sechsunddreißig Stunden in seinem Bau? Die arme Socke! Vielleicht hat ihn seine Frau

rausgeschmissen. Die beiden haben angeblich Zoff.«

Midge überlegte. Sie hatte von Strathmores Problemen auch schon gehört. Vielleicht bildete sie sich nur etwas ein.

»Midge«, schnaufte Jabba und nuckelte an seinem Getränk, »wenn Strathmores Spielzeug einen Virus hätte, wäre seine erste Reaktion gewesen, mich anzurufen. Strathmore hat zwar einiges auf dem Kasten, aber von Viren hat er keine Ahnung. Der TRANSLTR ist sein Ein und Alles. Beim ersten Anzeichen von Problemen hätte er nach der Feuerwehr geschrien — und das bin immer noch ich.« Jabba lutschte einen langen Faden Mozarella in sich hinein. »Außerdem ist es völlig ausgeschlossen, dass der TRANSLTR einen Virus hat. Gauntlet ist der beste Satz Paketfilter, den ich je geschrieben habe. Da

kommt nichts durch.«

Midge sagte lange gar nichts, dann seufzte sie. »Und sonst


irgendeine Idee?«

»In deinen Daten ist der Wurm.«

»Das hast du schon mal gesagt.«

»Eben.«

Midge runzelte die Stirn. »Und dass du vielleicht etwas gehört hättest? Irgendetwas?«

Jabba lachte auf. »Midge, nun hör mal zu. Okay, Skipjack ist in die Hosen gegangen. Strathmore hat Mist gebaut. Aber nun lass mal gut sein. Das ist vergessen und vergeben.« Eine lange Pause entstand. Jabba merkte, dass er zu weit gegangen war. »Tut mir Leid, Midge. Ich weiß, dass du damals für diese Scheiße Prügel bezogen hast. Strathmore hätte die Finger davon lassen müssen. Ich weiß, was du

von ihm hältst.«

»Für mich hat das jetzt mit Skipjack überhaupt nichts zu tun!«, sagte sie bestimmt.

Und ob!, dachte Jabba. »Hör zu, Midge. Strathmore ist mir völlig egal. Der Mann ist für mich ein Kryptograph, und das sind sowieso lauter eingebildete Arschlöcher, die immer alles gestern schon haben möchten. Jede Datei ist stets genau die, von der abhängt, ob die Welt

untergeht.«

»Und was willst du damit sagen?«

Jabba seufzte. »Ich will damit sagen, dass Strathmore einen Sprung in der Schüssel hat wie alle anderen Codeknacker auch. Aber ich weiß auch, dass ihm der TRANSLTR mehr am Herzen liegt als seine liebe


Ehefrau. Wenn er ein Problem hätte, hätte er mich längst angerufen.«

Midge blieb lange stumm. »Du meinst also«, seufzte sie schließlich, »dass in meinen Daten der Wurm ist?«

»Gibt's hier ein Echo?«, erwiderte Jabba grinsend.

Midge lachte.

»Midge, gib mir doch einfach einen Auftrag rein. Dann komm ich am Montag zu dir hoch und schau mal nach deiner Anlage. Und bis dahin sieh zu, dass du von hier verschwindest. Mein Gott, es ist

Samstagabend! Such dir jemand zum Bumsen oder sonst was!« Sie seufzte. »Ich arbeite dran, Jabba. Glaub mir, ich arbeite dran!«


KAPITEL 52

Der Club El Brujo – der »Hexer« – lag in einer Vorstadt an der Endhaltestelle der Buslinie 27 und glich eher einer Festung als einem Tanzschuppen. Der Bau war von einer hohen Mauer umgeben, aus deren Krone in den frischen Mörtel gesteckte Flaschenscherben herausragten – ein brutales Sicherheitssystem, das den illegalen Zutritt

nur um den Preis übler Fleischwunden ermöglichte.

Während der Busfahrt hatte Becker sich damit abgefunden, dass seine Mission gescheitert war. Es war an der Zeit, Strathmore anzurufen, die schlechte Nachricht loszuwerden und den Heimweg anzutreten. Er hatte alles getan, was in seinen Kräften stand, aber die

Suche war hoffnungslos geworden.

Becker war im Bus sitzen geblieben und ließ den Blick über die Horden schweifen, die sich gegenseitig in den Eingang des Clubs schubsten. Vor seinen Augen wogte das größte Punkeraufgebot, das er je gesehen hatte. Blau-weiß-rote Haartrachten überall. Plötzlich war er nicht mehr so sicher, ob sein Gewissen mitspielen würde, wenn er die

Suche an dieser Stelle abbrach.

Seufzend betrachtete er die Menge und wog seine Chancen ab. Wo sonst sollte sie sich an einem Samstagabend schon herumtreiben?, dachte er achselzuckend. Mit einem Fluch auf sein unfreiwilliges

Glück stieg er aus.

Ein eng gemauerter Schlauch bildete den Zugang zum Club. Kaum hatte Becker ihn betreten, verfiel er dem Vorwärtsdrang der eifrigen Kundschaft.

»Weg da, schwule Sau!« Ein Mensch, der sich zum Nadelkissen umfunktioniert hatte, hieb ihm den Ellbogen in die Seite und drängte

vorbei.


»Geiles Kulturseil!« Jemand zerrte an Beckers Krawatte.

»Willste vögeln?« Ein Mädchen, das aussah wie eine Statistin aus dem Film Die Nacht der lebenden Toten, glotzte ihn von unten herauf

an.

Der düstere Durchgang öffnete sich in eine riesige Betonhalle, in der es nach Alkohol und Körperausdünstungen stank. Die Szene war surreal – wie eine Höhle tief in einem Berg, in der sich Hunderte von

Leibern wie ein einziger Mega- Körper bewegten. Die Hände fest in die Hüften gestemmt, wogten die Tänzer auf und ab, Köpfe wackelten wie unbelebte Kürbisse auf steifem Rückgrat. Manche waren anscheinend völlig verrückt geworden und warfen sich von der Bühne in ein Meer menschlicher Gliedmaßen. Leiber wurden wie menschliche Beachbälle vor- und zurückgereicht. Flackernde Stroboskoplichter an der Decke verliehen dem Ganzen die Aura eines

alten Stummfilms.

An der gegenüberliegenden Wand dröhnten Lautsprecherboxen von der Größe eines Lieferwagens. Der Lärm war so brutal, dass selbst die besessensten Tänzer sich auf höchstens zehn Meter an die

wummernden Woofer heranwagten.

Becker verstopfte sich die Ohren. Sein Blick glitt suchend über die Menge. Wohin er auch schaute, überall blau-weiß-rote Köpfe. Die Kleidung der dicht aneinander gepackten Leiber war nicht zu erkennen, geschweige denn ein T-Shirt mit britischer Flagge. Becker hätte nicht gewagt, sich in das Getümmel hineinzubegeben. Man wäre

sofort zertrampelt worden.

Eine Gestalt neben Becker übergab sich. Na, prächtig, stöhnte er und flüchtete in einen über und über mit Graffiti besprühten Flur. Der Flur ging in einen verspiegelten Tunnelgang über und mündete auf

einen Innenhof, in dem Tische und Stühle herumstanden. Auch hier wimmelte es von Punk-Rockern, aber Becker kam sich vor wie an der


Pforte zum Paradies – die Musik war zum fernen Dröhnen verebbt, und über ihm öffnete sich majestätisch der Sternenhimmel.

Ohne auf die neugierigen Blicke zu achten, schob sich Becker durch die Menge. Er lockerte die Krawatte. Am ersten unbesetzten Tisch ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Er räumte die leeren Bierflaschen auf den Boden, legte die Arme auf den Tisch und bettete

den Kopf hinein. Nur ein paar Minuten, dachte er.

Er hatte den Eindruck, Strathmores Anruf sei ein ganzes Menschenleben her.

Der Mann mit der Nickelbrille saß acht Kilometer entfernt im Fond eines Seat-Taxis, das mit Vollgas über die Landstraße raste.

»El Brujo!«, knurrte er, um den Fahrer an sein Ziel zu erinnern.

Der Fahrer nickte. Verstohlen betrachtete er seinen Fahrgast im Rückspiegel. El Brujo, schniefte er. Was da neuerdings für Leute hin

wollen! Das Publikum wird jeden Abend merkwürdiger.


KAPITEL 53

Tokugen Numataka lag nackt auf dem Massagetisch, der in seinem Penthouse-Büro aufgebaut war. Seine Masseuse bearbeitete die Knoten in seinem Nacken. Ihre Handflächen glitten in die fleischigen Taschen an seinen Schulterblättern und arbeiteten sich den Rücken hinunter almählich tiefer bis zum Rand des Handtuchs, das seine

Blöße bedeckte. Ihre Hände glitten noch tiefer ... unter das Handtuch. Numataka nahm kaum Notiz davon. Seine Gedanken waren ganz woanders. Er wartete schon seit langem auf das Klingeln seines

Telefons. Es war stumm geblieben.

Es klopfte an der Tür.

»Herein!«, rief Numataka. Die Masseuse zog hurtig die Hände unter dem Handtuch hervor.

Die Telefonistin trat ein und verbeugte sich. »Verehrter Herr Direktor?«

»Sprechen Sie!«

Die Frau verbeugte sich abermals. »Ich habe mit der Vermittlung der Telefongesellschaft gesprochen. Der Anruf ist aus dem Land mit

dem Ländercode I gekommen – aus den Vereinigten Staaten.«

Numataka nickte. Das war eine gute Nachricht. Der Anruf kam aus den Vereinigten Staaten. Er lächelte. Er war also doch echt.

»Und von wo in den Vereinigten Staaten?«, wollte er wissen.

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