An diese zwei Tage in der ersten Oktoberwoche sollten sich noch lange danach viele Menschen lebhaft und mit Schaudern erinnern.
Am Dienstag dieser Woche gab der alte Ben Rosselli, Präsident der First Mercantile American Bank und Enkel des Gründers der Bank, eine persönliche Erklärung ab, die überraschend und erschreckend und deren Nachhall in jeder Abteilung der Bank und weit darüber hinaus zu vernehmen war. Am nächsten Tag, Mittwoch, entdeckte das »Flaggschiff« der Bank, die Cityfiliale, das Vorhandensein eines Diebes - und damit wurde eine Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, die kaum ein Mensch hätte vorhersehen können und an deren Ende finanzieller Zusammenbruch, menschliche Tragödie und Tod standen.
Die Erklärung des Bankpräsidenten kam ohne Vorwarnung; bemerkenswerterweise war auch vorher nichts durchgesickert. Früh am Morgen hatte Ben Rosselli einige seiner Direktoren angerufen; manche erreichte er zu Hause beim Frühstück, andere kurz nach ihrem Eintreffen am Arbeitsplatz. Er benachrichtigte auch noch einige, die nicht Mitglieder des Direktoriums waren, schlichte, altgediente Angestellte, die der alte Ben als seine Freunde betrachtete.
Die Nachricht lautete in jedem Fall gleich: Bitte seien Sie um 11.00 Uhr vormittags im Sitzungszimmer des Towers der Zentrale.
Außer Ben waren jetzt alle im Sitzungszimmer versammelt, an die zwanzig; sie standen in Gruppen zusammen, unterhielten sich leise und warteten. Alle standen; niemand konnte sich dazu entschließen, als erster einen Stuhl von dem spiegelblank polierten Direktoriumstisch zurückzuziehen, der länger als ein Squash Court war und Platz für vierzig Personen bot.
Eine scharfe Stimme übertönte das leise Stimmengewirr: »Wer hat das angeordnet?«
Köpfe wandten sich um. Roscoe Heyward, Vizepräsident und Finanzdirektor, hatte zu einem Kellner in weißer Jacke vom Kasino der leitenden Angestellten gesprochen. Der Mann war mit Cherry-Karaffen hereingekommen und war dabei einzuschenken.
Heyward, in der FMA Bank als streng und unnahbar bekannt, war leidenschaftlicher Abstinenzler. Sein betonter Blick auf die Uhr besagte deutlich: Trinken - und schon so früh am Tage! Mehrere, die bereits nach ihren Gläsern gegriffen hatten, zogen die Hand zurück.
»Weisung von Mr. Rosselli, Sir«, erklärte der Kellner. »Und er hat ausdrücklich den besten Sherry verlangt.«
Eine stämmige Gestalt, nach neuester Mode in Hellgrau gekleidet, wandte sich um und sagte unbefangen: »Jetzt oder später, warum etwas Gutes stehenlassen?«
Alex Vandervoort, blauäugig und blond mit einem Hauch von Grau an den Schläfen, war ebenfalls Vizepräsident und Mitglied des Direktoriums. Seine freundliche und zwanglose Art, dazu seine Aufgeschlossenheit allem Modernen gegenüber ließen nicht so schnell vermuten, daß sich ein stählerner Wille darunter verbarg. Diese beiden - Heyward und Vandervoort - bildeten die zweite Führungsebene unterhalb der Präsidentschaft; sie waren beide erfahrene Männer und zur Zusammenarbeit bereit, aber auch gleichzeitig in vieler Hinsicht Rivalen. Diese Rivalität, ihre gegensätzlichen Ansichten teilten sich der ganzen Bank mit und verschafften beiden ein Gefolge eigener Anhänger auf den unteren Ebenen.
Alex nahm jetzt zwei gefüllte Gläser und reichte eins davon Edwina D'Orsey, der brünetten, hochgewachsenen, ranghöchsten Frau in der FMA.
Edwina fing einen mißbilligenden Blick von Heyward auf. Na und, dachte sie. Roscoe wußte, daß sie zur Anhängerschaft von Vandervoort gehörte.
»Danke, Alex«, sagte sie und nahm das Glas.
Es trat ein Augenblick der Spannung ein, dann folgten andere dem Beispiel.
Man sah es Roscoe Heyward an, daß er sich ärgerte. Er schien noch etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber anders.
An der Tür des Sitzungszimmers erhob der Vizepräsident für Sicherheitsfragen, Nolan Wainwright, ein baumlanger Othello und einer der beiden anwesenden schwarzen Direktoren, die Stimme. »Mrs. D'Orsey, meine Herren - Mr. Rosselli.«
Das Stimmengewirr erstarb.
Ben Rosselli hatte den Raum betreten. Mit einem leichten Lächeln ließ er den Blick über die Gruppe schweifen. Wie immer strahlte seine Erscheinung etwas wohlwollend Väterliches aus und dazu die beruhigende Solidität eines Mannes, dem Tausende von Mitbürgern ihr Geld zu sicherem Gewahrsam anvertrauten. Beide Rollen paßten zu ihm, und er kleidete sich entsprechend: Er trug das Schwarz der Staatsmänner und Bankiers, und über die unvermeidliche Weste schwang sich eine dünne goldene Uhrkette. Auffallend war die Ähnlichkeit dieses Mannes mit dem ersten Rosselli, jenem Giovanni Rosselli, der die Bank vor einem Jahrhundert im Keller eines Krämerladens gegründet hatte. Giovannis Patrizierhaupt mit wallendem Silberhaar und stattlichem Schnurrbart zierte die Ausweise und Traveller-Schecks der Bank als Symbol der Rechtschaffenheit, und seine Büste war der Blickfang unten auf der Rosselli Plaza.
Silberhaar und Bart des gegenwärtigen Rosselli waren fast ebenso üppig. Die Mode hatte sich im Laufe des einen Jahrhunderts einmal im Kreise gedreht. Kein Abbild aber konnte die Dynamik der Familie wiedergeben, die alle Rossellis besessen hatten und die, im Verein mit Einfallsreichtum und grenzenloser Energie, die First Mercantile American zu ihrem derzeitigen Rang erhoben hatte. Heute aber ließ Ben Rosselli die übliche Lebhaftigkeit vermissen. Er stützte sich beim Gehen auf einen Stock, was noch keiner der Anwesenden je gesehen hatte.
Jetzt streckte er die Hand aus, wie um einen der schweren Direktorenstühle zu sich heranzuziehen. Aber Nolan Wainwright, der ihm am nächsten stand, kam ihm zuvor. Der Sicherheitschef schwenkte den Stuhl herum, so daß die hohe Lehne dem Direktoriumstisch zugewandt war. Mit einem gemurmelten Dank nahm der Präsident Platz und setzte sich zurecht.
Dann machte Ben Rosselli eine einladende Handbewegung. »Keine Umstände heute. Wir machen es kurz. Wenn Sie mögen, rücken Sie sich einen Stuhl heran. Danke, wunderbar.« Die letzte Bemerkung galt dem Kellner, von dem er ein Glas Sherry angenommen hatte. Der Mann verließ das Sitzungszimmer und schloß die Tür hinter sich.
Irgend jemand bot Edwina D'Orsey einen Stuhl an; auch andere setzten sich, aber die meisten blieben stehen.
Alex Vandervoort sprach als erster. »Offenbar haben wir uns hier zum Feiern versammelt.« Er schwenkte sein Glas. »Die Frage ist nur - was feiern wir?«
Wieder lächelte Ben Rosselli flüchtig. »Ich wollte, es wäre eine Feier, Alex. Es handelt sich aber nur um einen Anlaß, bei dem vielleicht ein guter Schluck hilfreich sein könnte.« Er machte eine Pause, und plötzlich breitete sich neue Spannung über dem Raum aus. Jedem war jetzt bewußt, daß es sich hier nicht um eine gewöhnliche Sitzung handelte. Aus den Mienen sprachen Unsicherheit und Besorgnis.
»Ich werde bald sterben«, sagte Ben Rosselli. »Die Ärzte geben mir nicht mehr viel Zeit. Ich dachte, Sie hätten ein Recht, das zu erfahren.« Er hob sein Glas, betrachtete es und trank einen kleinen Schluck.
Im Sitzungssaal hatte bisher Ruhe geherrscht; jetzt war die Stille beinahe zu spüren. Niemand bewegte sich, niemand sagte ein Wort. Von draußen drangen schwache Geräusche herein; das gedämpfte Klappern einer Schreibmaschine, das Summen der Klimaanlage; irgendwo im Freien stieg ein Düsenflugzeug in den Himmel über der Stadt.
Der alte Ben beugte sich, auf den Stock gestützt, ein wenig vor. »Bitte, wollen wir doch nicht verlegen sein. Wir sind alte Freunde; deshalb habe ich Sie auch hergebeten. Ach ja, und um Ihren Fragen zuvorzukommen: Was ich Ihnen eben mitgeteilt habe, ist definitiv; würde ich auch nur die geringste Chance sehen, daß es sich anders verhält, hätte ich noch gewartet. Und das andere, was Sie jetzt vermutlich wissen möchten - es handelt sich um Lungenkrebs, und zwar, wie man mir gesagt hat, im weit fortgeschrittenen Stadium. Weihnachten werde ich wahrscheinlich nicht mehr erleben.« Er machte eine Pause, und plötzlich wurden Gebrechlichkeit und Erschöpfung sichtbar. Leiser fügte er hinzu: »So, jetzt wissen Sie's, und ich überlasse es Ihnen, ob und wann Sie es bekanntgeben wollen.«
Edwina D'Orsey dachte: Den Zeitpunkt werden wir nicht wählen können. In dem Augenblick, da sich das Sitzungszimmer leerte, würde sich das eben Gehörte mit der Geschwindigkeit eines Präriefeuers durch die ganze Bank und weit darüber hinaus ausbreiten. Die Nachricht würde viele berühren einige schmerzlich, andere mehr in sachlicher Hinsicht. Sie selbst fühlte sich wie betäubt, und sie spürte, daß die anderen ähnlich reagierten.
»Mr. Ben«, sagte plötzlich einer der älteren Anwesenden. Pop Monroe war Bürochef in der Treuhandabteilung, und er sprach mit unsicherer Stimme. »Mr. Ben, ich weiß nicht, was - ich meine, es hat uns die Sprache verschlagen. Ich glaube, keiner weiß, was er jetzt dazu sagen soll.«
Zustimmendes und mitfühlendes Gemurmel wurde laut, fast wie ein Aufstöhnen.
Roscoe Heyward übertönte es mit glatter, starker Stimme: »Was wir sagen können und auch sagen müssen« - es schwang ein Hauch von Tadel mit, als wollte der Finanzdirektor zu verstehen geben, daß die anderen ihm als erstem das Wort hätten überlassen sollen -, »ist folgendes: Diese furchtbare Nachricht hat uns wie ein Schlag getroffen, und sie erfüllt uns mit Trauer. Doch wir beten um Zeitaufschub und damit um Hoffnung. Wie die meisten von uns wissen, sind ärztliche Voraussagen nur selten richtig und genau. Und die ärztliche Wissenschaft kann heute sehr viel leisten, wenn es darum geht aufzuhalten, ja, zu heilen... «
»Roscoe, ich sagte doch, daß ich das schon alles hinter mir habe«, sagte Ben Rosselli mit einer ersten Spur von Gereiztheit. »Und was die Ärzte betrifft, so habe ich die besten konsultiert, wie Sie ja wohl auch nicht anders erwartet haben.«
»Allerdings«, sagte Heyward. »Aber wir müssen immer daran denken, daß es eine höhere Macht gibt als Ärzte, und es muß unser aller Pflicht sein« - er warf einen fordernden Blick in die Runde -, »zu Gott um Gnade zu beten oder doch wenigstens um mehr Zeit, als Sie jetzt zu haben glauben.«
Der ältere Mann sagte trocken: »Mir scheint, daß Gott sich schon entschieden hat.«
Alex Vandervoort bemerkte: »Ben, wir sind alle sehr betroffen. Mir selbst tut ganz besonders leid, was ich vorhin gesagt habe.«
»Das mit dem Feiern? Ich bitte Sie! Wie hätten Sie es denn wissen sollen.« Der alte Mann kicherte in sich hinein. »Und außerdem, warum eigentlich nicht? Ich habe ein schönes Leben hinter mir, was nicht jeder von sich sagen kann. Das ist Anlaß genug zum Feiern.« Er tastete seine Anzugtaschen ab, dann sah er die anderen fragend an. »Hat jemand eine Zigarette für mich? Die Ärzte haben's mir verboten.«
Mehrere Schachteln wurden ihm hingehalten. Roscoe Heyward fragte: »Sollten Sie das nicht lieber sein lassen?«
Ben Rosselli warf ihm einen sarkastischen Blick zu, versagte sich aber die Antwort. Es war kein Geheimnis, daß er den Bankier Heyward zwar respektierte, aber nie zu einer persönlichen Beziehung zu ihm gelangt war.
Alex Vandervoort gab dem Bankpräsidenten Feuer. Seine Augen waren feucht; das galt auch für manchen anderen.
»In einem Augenblick wie diesem«, sagte Ben, »muß man für Verschiedenes dankbar sein. So zum Beispiel für die Tatsache, daß man eine Vorwarnung erhalten hat, daß einem also Gelegenheit geschenkt ist, manches noch in Ordnung zu bringen.« Der Rauch seiner Zigarette kräuselte sich um ihn herum. »Natürlich gibt es andererseits auch Anlaß genug, den Lauf zu bedauern, den manches genommen hat. Auch darüber grübelt man nach.«
Niemandem brauchte man zu sagen, was er vor allem bedauerte - daß er keinen Erben hatte. Sein einziger Sohn war im Zweiten Weltkrieg gefallen; und nur wenige Jahre waren vergangen, seit ein vielversprechender Enkel inmitten der sinnlosen Vergeudung in Vietnam sein Leben hatte lassen müssen.
Ein Hustenanfall schüttelte den alten Mann. Nolan Wainwright, der ihm am nächsten stand, griff hinüber, nahm die Zigarette aus zitternden Fingern entgegen und drückte sie aus. Jetzt wurde deutlich, wie geschwächt Ben Rosselli war, wie sehr ihn dieser heutige Tag angestrengt hatte.
Niemand ahnte es, aber er sollte die Bank nie mehr betreten.
Sie kamen einzeln zu ihm, schüttelten ihm vorsichtig die Hand und suchten nach Worten. Als Edwina D'Orsey an der Reihe war, küßte sie ihn leicht auf die Wange, und er blinzelte ihr zu.
Roscoe Heyward verließ als einer der ersten das Sitzungszimmer. Für den Vizepräsidenten und Finanzdirektor hatten sich aus dem eben Gehörten zwei wichtige Aufgaben ergeben.
Die eine war die Sicherstellung eines reibungslosen Führungswechsels nach Ben Rossellis Tod. Die zweite war die Sicherstellung seiner eigenen Ernennung zum Präsidenten und Direktoriumsvorsitzenden.
Heyward galt schon länger als aussichtsreicher Kandidat. Dasselbe traf auf Alex Vandervoort zu, und möglicherweise hatte Alex, jedenfalls innerhalb der Bank selbst, die stärkere Hausmacht. Im Direktorium aber, wo die Entscheidung fallen würde, hatte Heyward nach eigener Überzeugung die bessere Unterstützung.
Erfahren in allen Sparten der Bankpolitik und ausgestattet mit einem stahlharten, disziplinierten Verstand, hatte Heyward schon während der Direktoriumssitzung begonnen, seinen Feldzug zu planen. Jetzt strebte er seiner Büro-Suite zu, getäfelten Räumen mit dichten, beigefarbenen Teppichböden und einem atemberaubenden Blick auf die sich tief unten ausbreitende Stadt. Als er an seinem Schreibtisch saß, ließ er die rangältere seiner beiden Sekretärinnen, Mrs. Callaghan, kommen und deckte sie mit einem Schnellfeuer von Anweisungen ein.
Die erste Anweisung lautete, sofort alle auswärtigen Mitglieder des Direktoriums anzurufen, mit denen Roscoe Heyward der Reihe nach zu sprechen gedachte. Eine Namenliste lag vor ihm auf dem Schreibtisch. Von diesen speziellen Gesprächen abgesehen, wünschte er nicht gestört zu werden.
Außerdem erhielt sie Anweisung, beim Hinausgehen die äußere Bürotür zu schließen, was ungewöhnlich war, denn FMA-Direktoren respektierten die vor einem Jahrhundert begründete und von Ben Rosselli entschlossen gewahrte Tradition der offenen Tür. Es galt nun, diese Tradition abzubauen. Alleinsein war im Moment das wichtigste.
Mit schnellem Blick hatte Heyward während der Vormittagssitzung erkannt, daß außer den leitenden Angestellten nur zwei Direktoriumsmitglieder der First Mercantile American zugegen gewesen waren. Diese beiden Direktoren waren persönliche Freunde Ben Rossellis - und das war offensichtlich der Grund, warum er sie dazugebeten hatte. Was bedeutete, daß fünfzehn Mitglieder des Direktoriums bislang noch nichts von seinem zu erwartenden Ableben wußten. Heyward wollte sicherstellen, daß alle fünfzehn die Nachricht von ihm persönlich erhielten.
Er kalkulierte zwei Möglichkeiten ein. Erstens waren die Tatsachen so plötzlich und so folgenschwer, daß es zu einem instinktiven Bündnis zwischen dem Empfänger der Nachricht und ihrem Übermittler kommen mußte. Und außerdem war es denkbar, daß einige Direktoren es übel vermerken würden, daß man sie nicht im voraus informiert hatte, insbesondere da einige FMA-Angestellten der niederen Weihen die Erklärung im Sitzungszimmer hatten anhören dürfen. Roscoe Heyward war entschlossen, aus solchen Ressentiments Kapital zu schlagen.
Ein Summer ertönte. Er nahm das erste Telefonat entgegen und begann zu sprechen. Es folgte ein weiterer Anruf, dann noch einer. Mehrere Direktoren waren nicht in der Stadt, aber Dora Callaghan, als erfahrene und loyale Adjutantin, spürte sie auf.
Eine halbe Stunde nach Beginn seiner Telefonate informierte Roscoe Hey ward den Honorable Harold Austin mit ernster Stimme: »Hier in der Bank sind wir natürlich alle schmerzlichst berührt. Was Ben uns erzählt hat, erscheint uns einfach unglaublich.«
»Großer Gott!« In der Stimme des Gesprächspartners schwang noch die eben ausgedrückte Betroffenheit mit. »Und es auch noch persönlich mitteilen zu müssen!« Harold Austin, eine der tragenden Säulen der Stadt und dritte Generation einer alten Familie, hatte vor langer Zeit eine einzige Amtsperiode lang dem Kongreß angehört und sich daher das Recht auf den Titel »Honorable« erworben, ein Recht, von dem er gern Gebrauch machte. Jetzt war er Inhaber der größten Werbeagentur des Bundesstaates und langjähriges und einflußreiches Direktoriumsmitglied der Bank.
Die Bemerkung über die persönliche Unterrichtung gab Heyward das benötigte Stichwort. »Ich verstehe genau, was Sie hinsichtlich der Art dieser Bekanntmachung andeuten wollen. Und offen gesagt kam sie mir auch etwas ungewöhnlich vor. Was mich vor allem mit Sorge erfüllt hat, war die Tatsache, daß die Direktoren nicht als erste unterrichtet wurden. Meiner Meinung nach hätte das unbedingt geschehen müssen. Aber da es nun einmal nicht geschehen ist, hielt ich es für meine Pflicht, Sie und die anderen Herren unverzüglich zu informieren.« Heywards strenges Adlergesicht verriet äußerste Konzentration; die grauen Augen hinter den randlosen Brillengläsern blickten kalt.
»Ganz Ihrer Meinung, Roscoe«, sagte die Stimme am Telefon. »Ich finde, man hätte uns informieren sollen, und ich weiß Ihre Haltung zu schätzen.«
»Danke, Harold. In Augenblicken wie diesen ist man einfach nie ganz sicher, was das beste ist. Eins nur steht fest: Irgend jemand muß die Führung übernehmen.«
Andere mit Vornamen anzureden, fiel Heyward ausgesprochen leicht. Er selbst war von Familie, er kannte sich in den meisten Machtzentren des Bundesstaates aus, und er war ein geachtetes Mitglied dessen, was die Engländer das Old Boy Network nennen, jenes Netzes zuverlässiger Verbindungen der Wenigen und der Privilegierten. Seine persönlichen Verbindungen reichten weit über die Grenzen des Bundesstaates hinaus, bis nach Washington und anderswohin. Heyward war stolz auf seine gesellschaftliche Position und seine mächtigen und prominenten Freunde. Er unterließ es selten, auf seine direkte Abstammung von einem der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung hinzuweisen.
Jetzt stieß er nach: »Außerdem sollten alle Direktoriumsmitglieder schon allein deshalb informiert sein, weil diese traurige Nachricht ungeheure Auswirkungen haben wird. Und so etwas spricht sich schnell herum.«
»Daran besteht kein Zweifel«, pflichtete ihm The Hon. Harold bei. »Spätestens morgen hat die Presse davon erfahren und wird Fragen stellen.«
»Genau. Und falsche Publicity könnte Einleger beunruhigen und sich auf unsere Aktienkurse auswirken.«
»Hm.«
Roscoe Heyward spürte, wie sich im Kopf seines Direktoriumskollegen Räder in Bewegung setzten. Die Familienstiftung Austin, die The Hon. Harold verwaltete, enthielt ein dickes Paket FMA-Aktien.
Heyward soufflierte: »Wenn natürlich das Direktorium energische Maßnahmen ergreift, um die Aktionäre und Einleger und auch die breite Öffentlichkeit zu beruhigen, könnten die Auswirkungen geringfügig sein.«
»Abgesehen einmal von den Freunden Ben Rossellis«, erinnerte Austin ihn trocken.
»Ich habe natürlich rein geschäftlich gesprochen. Mein Schmerz, das versichere ich Ihnen, ist so tief wie der jedes anderen.«
»Worauf zielen Sie eigentlich ab, Roscoe?«
»Im allgemeinen, Harold - auf die Wahrung der Kontinuität der Autorität. Im besonderen - im Amt des Direktoriumsvorsitzenden sollte es keine Vakanz geben, auch nicht einen einzigen Tag lang.« Heyward fuhr fort: »Ohne Ben gegenüber respektlos klingen zu wollen und bei aller Zuneigung, die wir ihm gegenüber empfinden, kommt man doch nicht um die Feststellung herum, daß diese Bank schon viel zu lange als ein Ein-Mann-Unternehmen gilt. Das hat sich natürlich in Wirklichkeit schon seit vielen Jahren geändert; keine Bank kann einen Platz unter den ersten zwanzig des Landes erringen und dennoch von einem einzelnen Mann geführt werden. Aber es gibt eine Menge Menschen, die das trotzdem noch glauben. Aus diesem Grunde haben die Direktoren jetzt, so traurig der Anlaß auch sein mag, Gelegenheit, durch ihr Handeln diese Legende ein für allemal zu zerstören.«
Heyward spürte, daß sich der andere Mann seine Antwort sorgfältig überlegte. Und er sah Austin förmlich vor sich einen gutaussehenden, alternden Playboy-Typ, teuer und auffallend gekleidet und mit wallendem eisgrauen Haar, das nur dem besten Stylisten der Stadt anvertraut wurde. Wahrscheinlich rauchte er auch jetzt wie gewöhnlich eine lange Zigarre. Doch The Hon. Harold war kein Dummkopf und galt als gewiegter, erfolgreicher Geschäftsmann. Nach geraumer Zeit erklärte er: »Ich denke, Ihr Argument für Kontinuität überzeugt mich. Und ich bin mit Ihnen der Meinung, daß man sich über einen Nachfolger für Ben Rosselli einigen und den Namen am besten noch vor Bens Ableben bekanntgeben sollte.«
Heyward lauschte angespannt, als der andere fortfuhr.
»Und ich finde, daß Sie, Roscoe, dieser Mann sind. Der Ansicht bin ich schon seit langem. Sie haben die Qualifikationen, die Erfahrung und auch die Härte. Ich bin aus diesem Grunde bereit, Sie zu unterstützen, und es gibt andere im Direktorium, die ich bestimmt dazu bewegen kann, den gleichen Weg einzuschlagen. Was sicher in Ihrem Sinn ist, wie ich annehme.«
»Ich bin Ihnen natürlich sehr zu Dank verpflichtet... «
»Natürlich. Vielleicht darf ich gelegentlich - Sie wissen ja, eine Hand wäscht die andere...«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»Gut. Wir verstehen uns also.«
Das Gespräch hatte einen überaus befriedigenden Verlauf genommen, fand Roscoe Heyward, als er den Hörer auflegte. Harold Austin war für seine Loyalität bekannt, ein Mann, der sein einmal gegebenes Wort auch hielt.
Die vorangegangenen Telefongespräche waren gleichermaßen erfolgreich verlaufen.
Als er wenig später mit einem anderen Direktor sprach -Philip Johannsen, Präsident von MidContinent Rubber -, ergab sich ebenfalls eine günstige Gelegenheit. Johannsen bemerkte von sich aus, daß er, ganz offen gesagt, mit Alex Vandervoort eigentlich nicht so recht konform gehen könne; seine Ideen seien ihm zu unorthodox.
»Alex ist unorthodox«, sagte Heyward. »Allerdings hat er ja auch einige persönliche Probleme. Ich weiß nicht, inwieweit sich das eine aus dem anderen ergibt.«
»Probleme welcher Art?«
»Nun ja, Frauengeschichten. Ich möchte nicht gern...«
»Unsinn, Roscoe, das ist wichtig. Selbstverständlich bleibt es unter uns. Fahren Sie fort.«
»Nun, also erstens hat Alex Schwierigkeiten in seiner Ehe. Und dann hat er sich auch mit einer anderen Frau eingelassen. Einer Linksaktivistin, die oft im Gerede ist, und nicht gerade in Zusammenhängen, die für die Bank von Nutzen wären. Manchmal frage ich mich, wie stark eigentlich ihr Einfluß auf Alex ist. Aber wie gesagt, ich möchte nicht gern... «
»Sie haben recht daran getan, es mir zu sagen, Roscoe«, gab Johannsen zurück. »Über so etwas sollten die Direktoren informiert werden. Links, sagten Sie?«
»Ja. Sie heißt Margot Bracken.«
»Ich glaube, ich habe schon von ihr gehört. Und was ich von ihr gehört habe, hat mir nicht gefallen.«
Heyward lächelte.
Weniger zufrieden war er jedoch zwei Telefongespräche später, als er einen der auswärtigen Direktoren erreichte, und zwar Leonard L. Kingswood, Direktoriumsmitglied von Northam Steel.
Kingswood, der seine Karriere als Ofenschweißer in einem Stahlwerk begonnen hatte, sagte: »Kommen Sie mir bloß nicht mit solchem Quatsch, Roscoe«, als Heyward andeutete, die Direktoren der Bank hätten im voraus über Ben Rossellis Erklärung informiert werden müssen. »Ich hätte das ganz genauso gemacht wie Ben. So was teilt man zuerst den Menschen mit, die einem am nächsten stehen, später dann den Direktoren und den anderen Bonzen.«
Was die Möglichkeit eines Kursrückgangs bei den Aktien der First Mercantile American betraf, so bestand Len Kingswoods Reaktion in den beiden Worten: »Na und?«
»Na klar«, setzte er hinzu, »wenn diese Nachricht sich herumspricht, wird FMA einen Punkt, vielleicht zwei oder drei Punkte fallen. Das wird nicht zu vermeiden sein, weil die meisten Transaktionen im Auftrage von nervösen Schwachköpfen getätigt werden, von Leuten, die nicht zwischen Hysterie und Tatsachen unterscheiden können. Aber ebenso unvermeidlich wird der Kurs binnen einer Woche wiedersteigen, einfach deshalb, weil die Werte vorhanden sind, weil die Bank gesund ist, wie wir alle, die wir Einblick haben, wissen.«
Und später in diesem Gespräch: »Roscoe, Sie sind hier Ihr eigener Lobbyist, das ist so durchsichtig wie ein frisch geputztes Fenster. Deshalb will ich ebenso deutlich werden, das spart uns beiden Zeit.
Sie sind ein erstklassiger Finanzdirektor, der beste Mann, was Zahlen und Geld angeht, den ich überhaupt kenne. Und wenn Sie eines Tages mal den Drang verspüren sollten, hierher zu uns, zu Northam, überzuwechseln, und zwar mit einem dickeren Gehalt und Aktienbezugsrecht, werde ich meine eigenen Leute ein wenig umgruppieren und Sie an die Finanzspitze setzen, mein Lieber. Das ist ein Angebot und ein Versprechen. Ich meine es ehrlich.«
Der Vorsitzende der Stahlgesellschaft überging Heywards gemurmelten Dank und fuhr fort:
»Aber so gut Sie auch sind, Roscoe, eines muß ich Ihnen doch sagen - Sie sind keine Führungspersönlichkeit. So sehe ich es jedenfalls, und so werde ich mich auch äußern, wenn das Direktorium zusammentritt, um über Bens Nachfolge zu entscheiden. Das andere, was ich Ihnen am besten gleich sage, ist, daß meine Wahl auf Vandervoort fällt. Das sollten Sie wissen.«
Heyward antwortete mit unverändert glatter Stimme: »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Leonard.«
»Gut. Und falls Sie irgendwann ernstlich an mein Angebot denken sollten, rufen Sie mich an.«
Roscoe Heyward hatte keinerlei Absicht, für Northam Steel zu arbeiten. Geld war ihm wichtig, aber nach dem beißenden Urteil, das Leonard eben über ihn gefällt hatte, ließ sein Stolz es nicht zu. Außerdem war er noch voller Zuversicht, zur Spitze der FMA aufsteigen zu können.
Wieder summte das Telefon. Er nahm den Hörer ans Ohr, und Dora Callaghan meldete einen weiteren Direktor. »Mr. Floyd LeBerre.«
»Floyd«, hub Heyward an, und seine Stimme war tief und ernst. »Es ist mir überaus schmerzlich, daß ich derjenige sein muß, der Ihnen eine traurige, eine tragische Nachricht mitzuteilen hat...«
Nicht alle Teilnehmer an der denkwürdigen Versammlung verließen das Sitzungszimmer so eilig wie Roscoe Heyward. Ein paar blieben noch an der Tür stehen, ganz unter dem Eindruck des Schocks, und unterhielten sich leise.
Der altgediente Angestellte von der Treuhandabteilung, Pop Monroe, sagte mit verhaltener Stimme zu Edwina D'Orsey: »Das ist wirklich ein sehr trauriger Tag.«
Edwina nickte; sie war noch nicht in der Lage, etwas zu sagen. Ben Rosselli hatte ihr als Freund viel bedeutet, und mit Stolz hatte er ihren Aufstieg in der Bank beobachtet.
Alex Vandervoort blieb neben Edwina stehen, dann zeigte er auf sein Büro, das nur wenige Türen entfernt war. »Möchten Sie sich ein paar Minuten erholen?«
Dankbar sagte sie: »Ja, gern.«
Die Büros der führenden Direktoren und Manager der Bank befanden sich im selben Stockwerk wie das Sitzungszimmer -im 36. Stock, hoch oben im Tower der Zentrale der FMA. Alex Vandervoorts Büro-Suite hatte, wie andere auch, eine für zwanglose Besprechungen vorgesehene Ecke, und dort schenkte Edwina sich Kaffee aus einer Kaffeemaschine ein. Vandervoort holte sich seine Pfeife und zündete sie an. Sie beobachtete, wie seine Finger sich schnell und diszipliniert bewegten. Seine Hände glichen seinem Körper, kurz und breit, die Finger endeten plötzlich in breiten, aber gepflegten Fingernägeln.
Zwischen den beiden bestand seit langem ein sehr herzliches und kameradschaftliches Verhältnis. Obwohl Edwina, Vorsteherin der größten Cityfiliale der First Mercantile American, in der Hierarchie der Bank mehrere Leitersprossen unterhalb von Alex angesiedelt war, hatte er sie stets als gleichrangig behandelt und in Angelegenheiten, die ihre Filiale betrafen, oft direkt mit ihr verhandelt, unter Umgehung der verschiedenen Organisationsebenen, die sie trennten.
»Alex«, sagte Edwina, »ich wollte Ihnen schon vorhin sagen, daß Sie wie ein Skelett aussehen.«
Ein freundliches Lächeln ließ sein glattes, rundes Gesicht aufleuchten. »Man sieht's, wie?«
Alex Vandervoort war ein leidenschaftlicher Partygänger, der gutes Essen und guten Wein liebte. Bedauerlicherweise setzte er sehr leicht Gewicht an. Periodisch verordnete er sich deshalb, wie auch jetzt wieder, strenge Diät.
In unausgesprochener Übereinkunft mieden sie für den Augenblick das Thema, das ihnen beiden am meisten am Herzen lag.
Er fragte: »Was macht das Geschäft in diesem Monat?«
»Es läuft. Und für das nächste Jahr bin ich optimistisch.«
»Apropos nächstes Jahr. Was sagt denn Lewis voraus?« Lewis D'Orsey, Edwinas Mann, war Inhaber und Verleger eines weithin gelesenen Informationsbriefes für Investoren.
»Nicht viel Gutes. Er prophezeit zunächst eine gewisse Stärkung des Dollars, auf die jedoch ein weiteres Absinken folgt, so wie es beim britischen Pfund passiert ist. Lewis meint außerdem, daß diejenigen in Washington, die behaupten, die amerikanische Rezession hätte die Talsohle bereits durchschritten, von reinem Wunschdenken geleitet werden - es sind dieselben falschen Propheten, die auch in Vietnam ein >Licht am Ende des Tunnels< zu sehen meinten.«
»Ich bin ganz seiner Meinung, besonders was den Dollar betrifft.« Nachdenklich fuhr Alex fort: »Wissen Sie, Edwina, es ist einer der Fehler des amerikanischen Bankgeschäfts, daß wir unsere Kunden nie dazu ermutigt haben, Devisenkonten zu errichten - in Schweizer Franken, in D-Mark, in anderen Währungen, wie es europäische Bankiers tun. Natürlich versorgen wir die großen Gesellschaften, weil die erfahren genug sind, um darauf zu bestehen. Und die amerikanischen Banken machen für sich selbst hübsche Gewinne mit dem Devisengeschäft. Aber sehr selten, wenn überhaupt, tun sie es für den kleinen oder mittleren Kunden. Hätten wir vor zehn oder auch nur fünf Jahren europäische Währungskonten gefördert, dann hätten einige unserer Kunden an der Dollarabwertung profitiert, anstatt zu verlieren.«
»Würde das US-Finanzministerium nicht dagegen einschreiten?«
»Wahrscheinlich schon. Aber öffentlichem Druck würde es sich beugen müssen. Wie immer.«
»Haben Sie jemals den Gedanken vorgetragen - daß mehr Leute Devisenkonten halten sollten?« erkundigte sich Edwina.
»Einmal hab' ich's versucht. Abgeschossen haben sie mich. Für uns amerikanische Banker ist der Dollar heilig und sei er noch so schwach auf der Brust. Das ist eine Vogel-StraußPolitik, die wir den Kunden aufgezwungen haben, und es hat sie Geld gekostet. Nur ein paar sehr Erfahrene hatten den Verstand, Schweizer Bankkonten zu eröffnen, bevor die Dollarabwertungen kamen.«
»Ich habe oft darüber nachgedacht«, gestand Edwina.
»Jedesmal, wenn es passierte, hatten die Banker im voraus gewußt, daß es unvermeidlich war. Aber unseren Kunden - mit Ausnahme von ein paar Vorzugskunden - haben wir kein Sterbenswörtchen gesagt, haben ihnen nicht nahegelegt, Dollars zu verkaufen.«
»Das galt als unpatriotisch. Sogar Ben...«
Alex schwieg. Mehrere Augenblicke lang saßen sie schweigend da.
Durch die Fensterwand an der Ostseite von Alex' Suite konnten sie die vor ihnen ausgebreitete, robust wirkende Mittelwest-Stadt sehen. Am nächsten lagen die Büroschluchten des Stadtkerns; die höchsten Bauten waren nur wenig niedriger als der Tower der Zentrale der First Mercantile American Bank. Jenseits des Stadtkerns wand sich in weitem Doppel-S der breite, verkehrsreiche Fluß, dessen Farbe - heute wie üblich -ein verschmutztes Grau war. Ein sich überkreuzendes Lattenwerk von Flußbrücken, Eisenbahnsträngen und Stadtautobahnen lief wie von der Spule gerutschte Bänder zu den Industriegebieten und fernen Vororten, die man hinter dem dichten Dunstschleier allerdings nur ahnen konnte. Aber näher als Industrie und Vororte, wenn auch schon jenseits des Flusses, lagen die zentralen Wohnviertel der Stadt, ein Labyrinth von vorwiegend abbruchreifen Gebäuden, von etlichen als Schandfleck der Stadt bezeichnet.
Im Zentrum dieses Gebietes zeichnete sich die Silhouette eines neuen hohen Gebäudes und das stählerne Skelett eines zweiten gegen den Himmel ab.
Edwina zeigte auf das Hochhaus und das Stahlgerüst. »Wenn ich jetzt in Bens Lage wäre«, sagte sie, »und wenn ich den Wunsch hätte, daß irgend etwas an mich erinnern sollte, dann würde ich wohl Forum East wählen.«
»Das meine ich auch.« Alex folgte Edwinas Blick. »Eins steht fest. Ohne ihn wäre das ein Gedanke geblieben, ein Stück Papier, nicht mehr.«
Forum East war ein bedeutendes städtebauliches Entwicklungsprojekt zur Stadtkernsanierung. Ben Rosselli hatte die First Mercantile American finanziell an dem Projekt beteiligt, und Alex Vandervoort vertrat bei diesem Objekt verantwortlich die Interessen der Bank. Die große Cityfiliale, die Edwina leitete, vergab die Baukredite und befaßte sich mit den Details des Hypothekengeschäfts.
»Ich mußte gerade an die Veränderungen denken, die es hier geben wird«, sagte Edwina, und sie wollte hinzufügen: wenn Ben tot ist...
»Natürlich wird es Veränderungen geben - vielleicht sogar erhebliche. Ich hoffe, sie werden sich nicht ungünstig auf Forum East auswirken.«
Sie seufzte. »Es ist noch keine Stunde her, seit Ben es uns gesagt hat... «
»Und wir sprechen über zukünftige Bankgeschäfte, bevor er noch unter der Erde ist. Wir müssen es wohl auch, Edwina. Ben würde es nicht anders von uns erwarten. Einige wichtige Entscheidungen müssen bald getroffen werden.«
»Unter anderem, wer Bens Nachfolger als Präsident werden soll.«
»Das auch.«
»Nicht wenige von uns in der Bank hoffen, daß Sie es werden.«
»Offen gesagt, ich hoffe es auch.«
Beide ließen unausgesprochen, daß Alex Vandervoort bis zu diesem Tage als Ben Rossellis ausersehener späterer Erbe gegolten hatte - nur noch nicht so bald. Alex war erst seit zwei Jahren bei der First Mercantile American. Vorher war er Manager bei der Bundes-Reserve-Bank gewesen, und Ben Rosselli hatte ihn persönlich für die FMA gewonnen, auch damit, daß er ihm ein späteres Aufrücken an die Spitze in Aussicht gestellt hatte.
»In ungefähr fünf Jahren«, hatte der alte Ben damals zu Alex gesagt, »möchte ich meinen Platz jemandem übergeben, der mit großen Zahlen umgehen und die Ertragsbasis festigen kann, denn einen anderen Weg gibt es nicht für eine Bank, die von einer Position der Stärke aus Geschäfte machen will. Aber er muß mehr sein als nur ein Techniker der Spitzenklasse. Der Mann, den ich mit der Führung dieser Bank betrauen möchte, darf nie vergessen, daß die Kleineinleger - einzelne Menschen -von Anfang an unser starkes Fundament gewesen sind. Banker machen heutzutage oft den Fehler, daß sie in allzu große Höhen entschweben.«
Ben Rosselli machte ganz klar, daß er kein festes Versprechen abgab, aber er fügte hinzu: »Ich habe den Eindruck, Alex, daß Sie der Mann sind, den wir brauchen. Wir wollen eine Zeitlang zusammen arbeiten, dann werden wir sehen.«
Also zog Alex ein. Er brachte seine Erfahrung mit und ein ausgesprochenes Talent für die neue Technologie, und bald machte sich beides positiv für die Bank bemerkbar. Im übrigen stellte es sich heraus, daß er Bens Meinungen und Überzeugungen weitgehend teilte.
Schon sehr viel früher hatte Alex Einblick in das Bankgeschäft bekommen - durch seinen Vater, einen holländischen Einwanderer, der Farmer in Minnesota wurde.
Pieter Vandervoort sr. hatte sich ein Bankdarlehen aufgeladen, und um die Zinsen zahlen zu können, hatte er vom ersten Morgengrauen bis in die Nacht hinein schuften müssen, gewöhnlich an sieben Tagen der Woche. Am Ende war er an Überarbeitung gestorben, ohne einen Cent zu hinterlassen. Die Bank verkaufte sein Land und holte nicht nur die ausstehenden Zinsen herein, sondern auch noch ihre ursprüngliche Anlage. Die Erfahrungen seines Vaters hatten Alex - in seinem Schmerz - davon überzeugt, daß man hinter dem Bankschalter, nicht davor stehen müsse.
Mittels eines Stipendiums an der Harvarduniversität und eines mit Auszeichnung bestandenen Volkswirtschaftsexamens führte Alex' endgültiger Weg dann ins Bankgeschäft.
»Es kann sich ja noch alles zum Guten wenden«, sagte Edwina D'Orsey. »Ich nehme an, das Direktorium wird den Präsidenten wählen.«
»Ja«, antwortete Alex beinahe geistesabwesend. Er hatte an Ben Rosselli gedacht und an seinen Vater; seine Erinnerungen an die beiden waren seltsam ineinander verschlungen.
»Dienstjahre sind nicht alles.«
»Aber sie spielen eine Rolle.«
Im Geiste wog Alex seine Chancen ab. Er wußte, daß er genügend Talent und Erfahrung besaß, um an der Spitze der First Mercantile American stehen zu können, aber es war doch anzunehmen, daß die Direktoren jemanden vorziehen würden, der schon länger im Hause war. Roscoe Heyward zum Beispiel hatte schon fast zwanzig Jahre für die Bank gearbeitet, und trotz seines gelegentlichen Mangels an Resonanz bei Ben Rosselli konnte er sich auf eine beträchtliche Gefolgschaft im Direktorium stützen.
Noch gestern hatten die Chancen für Alex gut gestanden. Jetzt hatte sich das geändert.
Er erhob sich und klopfte seine Pfeife aus. »Ich muß wieder an die Arbeit.«
»Ich auch.«
Aber als Alex allein war, saß er lange schweigend da.
Edwina nahm einen Expreß-Fahrstuhl vom Direktionsgeschoß hinab in die Schalterhalle des Towers der Zentrale der FMA -eine architektonische Kreuzung zwischen dem Lincoln Center und der Sixtinischen Kapelle. In der Halle wimmelte es von Menschen - Bankangestellten, die es eilig hatten, Boten, Kunden, Touristen auf Sightseeing-Tour. Sie nickte einem Sicherheitsbeamten zu, der freundlich gegrüßt hatte.
Durch die gewölbte Glasfront konnte Edwina die Rosselli Plaza sehen mit ihren Bäumen, Bänken, einem Skulpturenhof und einer aufschäumenden Fontäne. Im Sommer war die Plaza ein beliebter Treffpunkt. Büroangestellte aus der City aßen dort in der Mittagspause ihre mitgebrachten Sandwiches. Aber jetzt wirkte der Platz grau und ungastlich. Ein rauher Herbstwind wirbelte welkes Laub und Staubwolken empor und fegte Fußgänger vor sich her, die eilig der Wärme des Foyers entgegenstrebten.
Es war die Jahreszeit, dachte Edwina, die sie am wenigsten mochte. Sie hatte etwas Melancholisches und erweckte Gedanken an den bevorstehenden Winter, an Tod.
Unwillkürlich schauderte sie. Dann machte sie sich auf den Weg zu dem mit Teppichen ausgelegten und sanft beleuchteten »Tunnel«, der die Zentrale der FMA mit der Haupt-Cityfiliale verband, einem palaisähnlichen eingeschossigen Bau.
Ihrem Reich.
Der Mittwoch in der Cityfiliale begann routinemäßig. Edwina D'Orsey war in dieser Woche zum Dienst eingeteilt und erschien pünktlich um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde bevor sich die schwerfälligen Bronzetore der Bank für die Kundschaft öffneten.
Von ihr als Leiterin der »Flaggschiff «-Filiale der FMA und als Vizepräsidentin hätte kein Mensch verlangt, daß sie sich wie alle anderen in den Dienst teilte. Aber Edwina legte Wert darauf, sich nicht davon auszuschließen. Außerdem war es eine kleine Demonstration. Sie erwartete keinerlei Vorrechte nur deshalb, weil sie eine Frau war - das hatte sie in ihren fünfzehn Jahren bei der First Mercantile American immer ganz deutlich gemacht. Außerdem hatte man turnusmäßig nur alle zehn Wochen Dienst.
Am Seiteneingang des Gebäudes kramte sie in ihrer braunen Gucci-Handtasche nach dem Schlüssel; sie fand ihn unter einem Sammelsurium von Lippenstift, Brieftasche, Kreditkarten, Puderdose, Kamm, einer Einkaufsliste und anderem Krimskrams. Entgegen ihrer sonstigen Art herrschte in ihrer Handtasche stets ein heilloses Durcheinander. Bevor sie den Schlüssel ins Schloß steckte, suchte sie das Signal »Kein Überfall«. Es war da, wo es hingehörte - eine kleine gelbe Karte, unauffällig in ein Fenster gestellt. Diese Karte einige Minuten vor dem Eintreffen des Diensthabenden dort aufzustellen war Aufgabe eines Pförtners, der täglich als erster die große Filiale zu betreten hatte. War drinnen alles in Ordnung, stellte er das Signal dort auf, wo es für die nach und nach eintreffenden Angestellten zu sehen war. Waren aber Bankräuber in der Nacht eingebrochen, die jetzt darauf lauerten, Geiseln nehmen zu können - als ersten natürlich den Pförtner -, so konnte er kein Signal aufstellen, und das Fehlen des Zeichens wurde zur Warnung. Der Diensthabende und die Angestellten, die später kamen, würden die Bank selbstverständlich nicht betreten und sofort Hilfe holen.
Wegen der zunehmenden Zahl von Raubüberfällen jeder Art waren jetzt die meisten Banken zum System des ÜberfallSignals übergegangen. Art und Aufstellung des vereinbarten Zeichens wechselten so häufig wie möglich.
Nach Betreten der Bank begab sich Edwina als erstes zu einem in Scharnieren hängenden Brett der Wandtäfelung und klappte es auf. Sichtbar wurde ein Knopf, auf den sie drückte -zweimal lang, dreimal kurz, einmal lang. Für den Sicherheitsdienst drüben im Tower der Zentrale hieß das, daß der beim Eintritt Edwinas ausgelöste Türalarm ignoriert werden konnte und daß sich jemand in der Bank befand, der dazu befugt war. Ebenso hatte der Pförtner nach seinem Eintritt seinen eigenen Sicherheitscode gemorst.
Das Einsatzkommando des bankeigenen Sicherheitsdienstes, das ähnliche Signale aus anderen FMA-Filialen erhielt, schaltete jetzt das Alarmsystem des Gebäudes von »Alarm« auf »Bereitschaft«.
Hätte Edwina als Diensthabende oder der Pförtner es versäumt, ihren Klingelcode zu morsen, hätte der Sicherheitsdienst sofort die Polizei alarmiert. In Minutenfrist wäre die Filiale umstellt gewesen.
Die Codezeichen wurden, wie bei allen Sicherheitssystemen üblich, oft gewechselt.
In immer stärker werdendem Maße waren überall die Banken dazu übergegangen, sich auf positive Signale zu verlassen, wenn alles sicher und in Ordnung war, und auf das Ausbleiben von Signalen im umgekehrten Fall. Auf diese Art konnten als Geiseln festgehaltene Bankangestellte die höchste Alarmstufe auslösen, indem sie ganz einfach gar nichts taten.
Nach und nach trafen andere Abteilungsleiter und Angestellte ein, die von dem uniformierten Pförtner, der sich am Nebeneingang aufgestellt hatte, kontrolliert wurden.
»Guten Morgen, Mrs. D'Orsey.« Ein weißhaariger Mann namens Tottenhoe, der seit Jahrzehnten in Diensten der Bank stand, gesellte sich zu Edwina. Er war der Innenleiter, zuständig für Personalfragen und den routinemäßigen Arbeitsablauf. Mit seinem langen, kummervollen Gesicht sah er aus wie ein uraltes Känguruh. Seine übliche Niedergeschlagenheit und pessimistische Lebenseinstellung waren mit Herannahen seines Pensionsalters noch spürbarer geworden. Er empfand sein Alter als Affront und schien andere dafür verantwortlich zu machen. Edwina und Tottenhoe durchquerten gemeinsam die Schalterhalle und gingen eine breite, mit Läufern ausgelegte Treppe hinunter zum Tresorraum. Zu den Pflichten des Diensthabenden gehörte es, das Öffnen und Schließen der Tresoranlage zu überwachen.
Während sie an der Panzertür auf das Ablaufen des Zeitschlosses warteten, sagte Tottenhoe mit düsterer Miene: »Es gibt da ein Gerücht, daß Mr. Rosselli bald sterben wird. Stimmt das?«
»Ich fürchte, ja.« Sie erzählte ihm in aller Kürze vom Verlauf der Versammlung.
Am Vorabend, zu Hause, hatte Edwina kaum an etwas anderes gedacht, aber an diesem Morgen hatte sie sich fest vorgenommen, sich auf die Arbeit und die Angelegenheiten der Bank zu konzentrieren. Das, und nichts anderes, würde Ben von ihr erwarten.
Tottenhoe brummte irgend etwas vor sich hin, was sie nicht verstand.
Edwina warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr. 8.40 Uhr. Sekunden später überzeugte sie ein schwaches Klicken im Inneren der massiven Chromstahltür, daß sich die am Vorabend vor dem endgültigen Verschließen der Bank eingestellte und über Nacht laufende Uhr im Zeitschloß abgeschaltet hatte. Jetzt konnten die Kombinationsschlösser geöffnet werden. Das war bis zu diesem Augenblick nicht möglich gewesen.
Edwina betätigte einen anderen, ebenfalls verborgenen Signalknopf und teilte damit dem Kontrollraum mit, daß sie im Begriffe sei, den Tresorraum zu öffnen - und zwar unter normalen Umständen, nicht unter Zwang.
Nebeneinander vor der Tür stehend, stellten Edwina und Tottenhoe jetzt mit flinken Fingern ihre Kombinationen ein. Keiner kannte die Kombinationseinstellung des anderen; also hätte keiner von ihnen den Tresorraum allein öffnen können.
Einer der Assistenten Tottenhoes, Miles Eastin, war inzwischen eingetroffen. Der junge gutaussehende, gepflegte Mann war immer fröhlich und gut aufgelegt - in wohltuendem Gegensatz zu Tottenhoes ewig gleichbleibender Leichenbittermiene. Edwina mochte Eastin gern. Er wurde von einem Kassierer begleitet, der den ganzen Tag lang alles Geld kontrollierte, das im Tresorraum eintraf oder ihn verließ. Allein an Bargeld würde er während der nun beginnenden sechs Kassenstunden fast eine Million Dollar in Noten und Münzen zu kontrollieren haben.
Die Schecks, die während des gleichen Zeitabschnitts die große Bankfiliale passierten, würden einen Wert von weiteren zwanzig Millionen Dollar darstellen.
Edwina trat zurück, und zusammen schwenkten der Kassierer und Miles Eastin die gewaltige Präzisionstür auf. Bis zum Geschäftsschluß am Abend würde diese Stahltür nun offenbleiben.
»Ich habe gerade einen Anruf erhalten«, sagte Eastin zu dem Innenleiter. »Zwei weitere Kassierer fallen heute aus.«
Tottenhoes melancholische Miene wurde noch melancholischer.
»Grippe?« fragte Edwina.
Die in den letzten zehn Tagen in der Stadt herrschende Grippe-Epidemie hatte in der Bank zu akutem Personalmangel geführt. Besonders an Kassierern fehlte es.
»Grippe«, bestätigte Miles Eastin.
»Ich wünschte, mich würd's endlich auch erwischen, dann könnte ich nach Hause gehen, mich ins Bett legen und es einem anderen überlassen, sich den Kopf über die Schalterbesetzung zu zerbrechen«, brummte Tottenhoe. Dann fragte er Edwina: »Sollen wir überhaupt heute öffnen?«
»Es wird uns wohl gar nichts anderes übrigbleiben.«
»Dann müssen eben ein paar von den höheren Angestellten aushelfen. Und Sie sind der erste«, sagte er zu Miles Eastin. »Los, greifen Sie sich einen Kassenwagen und machen Sie sich bereit für die Kundschaft. Können Sie noch zählen?«
»Bis zwanzig schaff ich's noch«, sagte Eastin. »Solange ich mir bei der Arbeit die Socken ausziehen darf.«
Edwina lächelte. Um Eastin machte sie sich keine Sorgen; was der anfaßte, das klappte. Nach Tottenhoes Pensionierung im nächsten Jahr würde sie höchstwahrscheinlich Miles Eastin für den Posten vorschlagen.
Er erwiderte das Lächeln. »Keine Angst, Mrs. D'Orsey. Ich bin ein ziemlich guter Libero. Außerdem habe ich gestern abend drei Stunden lang Handball gespielt und dabei ganz allein Buch über die Tore geführt.«
»Haben Sie denn gewonnen?«
»Wenn ich die Tore selbst notiere? Na klar.«
Edwina kannte auch Eastins zweites Hobby. Es hatte sich schon mehrfach als nützlich für die Bank erwiesen. Er sammelte Banknoten und Münzen und hatte sich beachtliche Kenntnisse auf dem Gebiet erworben. Zu Miles Eastins Aufgaben gehörte es, neuen Angestellten der Filiale Einweisungs vorträge zu halten, und die reicherte er gern mit historischen Goldkörnern an, indem er zum Beispiel erzählte, daß der Ursprung von Papiergeld und Inflation in China zu suchen sei. Die erste in der Geschichtsschreibung verzeichnete Inflation, so erklärte er dann, habe sich im dreizehnten Jahrhundert ereignet, als der Mongolenkaiser Kublai Khan, außerstande, seinen Männern den Sold in barer Münze auszuzahlen, mittels eines hölzernen Druckstocks eine Art Kriegsgeld hergestellt hatte. Bedauerlicherweise wurde so viel gedruckt, daß es rasch wertlos wurde. »Es gibt Fachleute«, pflegte der junge Eastin dann zu sagen, »die die Ansicht vertreten, daß der Dollar zur Zeit mongolisiert wird.« Wegen seiner privaten Kenntnisse war Eastin schließlich zum hauseigenen Sachverständigen für Falschgeld avanciert, und zweifelhafte Banknoten, die an einem der Schalter auftauchten, wurden ihm zur Begutachtung vorgelegt.
Die drei - Edwina, Eastin, Tottenhoe - stiegen wieder die Treppen von der Tresoranlage zum Hauptschalterraum empor.
Leinwandsäcke mit Bargeld wurden von einem draußen parkenden gepanzerten Fahrzeug angeliefert. Die beiden Geldboten waren bewaffnet.
Größere Beträge an Bargeld wurden stets früh am Morgen geliefert, nachdem sie vorher von der Bundes-Reserve-Bank abgeholt und zur FMA-Zentrale gebracht worden waren. Von dort wurde das Geld dann in die einzelnen Filialen verteilt. Daß alles immer an ein und demselben Tag zu geschehen hatte, war wohlbegründet. Überschüssiges Bargeld in Tresorräumen brachte keinen Ertrag; außerdem bestand die Gefahr, daß es verlorengehen oder geraubt werden könnte.
Deshalb mußte jeder Filialleiter das Kunststück beherrschen, niemals knapp an Bargeld zu werden, dabei aber auch niemals zuviel davon in seiner Stahlkammer zu haben.
Eine große Filiale wie die FMA-Cityfiliale lagerte gewöhnlich ein Arbeitskapital von einer halben Million Dollar in bar. Das gerade jetzt eintreffende Geld - eine weitere Viertelmillion -war die an einem durchschnittlichen Banktag erforderliche Reserve.
Tottenhoe sagte brummig zu den Geldboten: »Hoffentlich bringen Sie uns diesmal sauberes Geld, nicht so schmutzige Scheine wie seit Tagen schon.«
»Ich hab' den Jungs in der Zentrale schon erzählt, daß Sie sich immer so über die Schmutzlappen ärgern«, sagte einer der Boten. Er war noch ziemlich jung, lange schwarze Haarsträhnen quollen unter seiner Uniformmütze hervor und ringelten sich über Kragen und Schultern seiner Uniformjacke. Edwina blickte unwillkürlich zu Boden, um zu sehen, ob er Schuhe trug. Er hatte welche an.
»Die sagten, Sie hätten schon angerufen, Mr. Tottenhoe«, fuhr der Bote fort. »Also, was mich betrifft, ich nehme das Geld, ganz egal, ob sauber oder schmutzig.«
»Bedauerlicherweise sind einige unserer Kunden anderer Meinung«, sagte Tottenhoe etwas säuerlich.
Frische Banknoten, die über die Reserve-Bank von der Staatlichen Druck- und Prägeanstalt eintrafen, waren bei allen Banken hoch begehrt. Erstaunlich viele Kunden, genannt »die Luxusindustrie«, wiesen schmutzige Banknoten zurück und verlangten neue oder doch zumindest saubere. Glücklicherweise gab es auch andere, denen es absolut gleichgültig war, wie die Scheine aussahen, und die Kassierer hatten Anweisung, jede Gelegenheit zu nutzen, um besonders schmutzige Noten loszuwerden, damit sie die frischen, knisternden Scheine für die Kunden aufsparen konnten, die danach fragten.
»Wie man so hört, sollen 'ne Menge prima Fälschungen im Umlauf sein. Vielleicht können wir Ihnen mit einem Packen aushelfen.« Der zweite Bote feixte und blinzelte seinem Kollegen zu.
Edwina sagte zu ihm: »Danke, auf die Hilfe können wir gern verzichten. Wir haben leider schon zuviel von der Sorte.«
Erst vorige Woche hatte die Bank fast eintausend Dollar in gefälschten Noten entdeckt - Geld, dessen Ursprung nicht mehr festzustellen war. Wahrscheinlich war es an den Kassen eingezahlt worden - von Leuten, die selbst betrogen worden waren und die nun ihre Verluste an die Bank weitergaben, oder auch von Leuten, die keine Ahnung hatten, daß es sich bei ihren Scheinen um Falschgeld handelte. Verwunderlich war das nicht, denn die Fälschungen waren von höchster Qualität.
Agenten vom Falschgelddezernat des Secret Service, die die Angelegenheit mit Edwina und Miles Eastin erörtert hatten, machten kein Hehl aus ihrer Besorgnis. »Wir haben noch nie so gute Blüten gesehen, und es waren auch noch nie so viele davon im Umlauf«, gab einer von ihnen zu. Nach einer vorsichtigen Schätzung waren im vorigen Jahr Falschgeldnoten im Nennwert von dreißig Millionen Dollar hergestellt worden. »Und 'n ganzer Haufen mehr wird nie entdeckt.«
England und Kanada waren die Hauptlieferanten von falscher US-Währung. Die Agenten wußten auch, daß eine unglaubliche Menge davon in Europa umlief. »Da merken sie's nicht so schnell, deshalb warnen Sie Ihre Freunde davor, in Europa amerikanische Banknoten anzunehmen. Sie könnten nichts wert sein.«
Der erste der bewaffneten Boten rückte die Säcke auf seinen Schultern zurecht. »Keine Bange, Leute! Da drin sind echte grüne Scheine. Das gehört bei uns zum Service!«
Beide Boten stiegen die Treppe zum Tresorraum hinunter.
Edwina ging zu ihrem Schreibtisch auf der Plattform. Überall in der Bank herrschte jetzt zunehmende Geschäftigkeit. Der vordere Haupteingang war geöffnet, die ersten Kunden des Tages strömten herein.
Die Plattform, auf der nach alter Tradition die ranghöchsten Bankbeamten arbeiteten, war etwas erhöht und mit karmesinrotem Teppich belegt. Edwinas Schreibtisch, der größte und imposanteste, war von zwei Flaggen flankiert - rechts hinter ihr die Stars and Stripes, zu ihrer Linken der Wimpel des Bundesstaates. Wenn sie daran saß, hatte sie manchmal das Gefühl, im Fernsehen aufzutreten, im Begriff, eine feierliche Erklärung abzugeben, während die Kameras auf sie zurollten.
Die große Cityfiliale wirkte sehr modern. Als der Tower der Zentrale der FMA Bank vor ungefähr einem Jahr errichtet wurde, hatte man auf das benachbarte Bauwerk teuerstes Fachwissen und ein Vermögen an Baukosten für Renovierungsarbeiten verwendet. Das Resultat: Bequemlichkeit für die Kunden, ausgezeichnete Arbeitsbedingungen und Eindruck satten Wohlstands, der durch vorherrschendes Karmesinrot und Mahagoni mit angemessenen Einsprengseln von Gold hervorgerufen wurde. Gelegentlich, gestand Edwina sich ein, wirkte diese Opulenz ein wenig peinlich.
Während sie in dem Drehsessel mit der hohen Lehne Platz nahm, strich sie sich glättend über das kurze Haar -unnötigerweise, da es wie üblich makellos gepflegt war.
Dann griff sie nach einem Stapel von Akten mit Darlehensanträgen über Summen, die so hoch waren, daß kein anderer Angestellter der Filiale die Vollmacht hatte, sie zu genehmigen.
Sie selbst war berechtigt, Darlehen bis zu einer Million Dollar in jedem Einzelfall zu gewähren, vorausgesetzt, daß zwei andere Beauftragte der Filiale zustimmten. Was ausnahmslos geschah. Anträge auf höhere Summen wurden an die Kreditabteilung in der Zentrale weitergeleitet.
Wie in jedem Bankinstitut galt auch in der First Mercantile American die Kredithöhe, die ein Geschäftsleiter genehmigen durfte, als persönliches Statussymbol. Sie bestimmte auch den Rang des Betreffenden in der Bankhierarchie, denn seine Paraphe auf dem Schriftstück bedeutete die endgültige Genehmigung eines Kreditantrages.
Für eine Filialleiterin war Edwinas Zeichen von ungewöhnlich hoher Qualität, denn als Vorsteherin der wichtigen FMA-Cityfiliale trug sie eine besondere Verantwortung. Der Leiter einer weniger bedeutenden Niederlassung war im allgemeinen nur berechtigt, Kredite bis zur Höhe einer halben Million Dollar zu genehmigen, je nach seiner Befähigung und seinem Dienstalter. Edwina hatte sich oft darüber mokiert, daß diese Zeichnungsqualität einem Kastensystem mit allerlei Vergünstigungen und Privilegien gleichkam. In der Kreditabteilung der Zentrale arbeitete ein Kredit-Unterinspektor, dessen Vollmachten auf magere fünfzigtausend Dollar begrenzt waren, an einem wenig imposanten Schreibtisch zusammen mit anderen in einem Großraumbüro. Als nächsten in der Hack- und Pickordnung hatte er den Kredit-Inspektor über sich, dessen Paraphe für eine Viertelmillion gut war. Ihm stand ein größerer Schreibtisch in einem Glaskasten zu.
Ein solides, richtiges Büro mit Tür und Fenster war das Privileg eines Kredit-Oberinspektors, dessen Zeichnungsberechtigung bis zu einer halben Million Dollar hinaufreichte. Ihm standen außerdem ein geräumiger Schreibtisch, ein Ölbild an der Wand und mit seinem Namen bedrucktes Briefpapier zu sowie täglich ein Exemplar des »Wall Street Journal« und allmorgendlich die kostenlosen Dienste eines Schuhputzers. Er teilte sich mit einem anderen KreditOberinspektor eine Sekretärin.
Ein Kredit-Vizepräsident schließlich, dessen Signatur für eine Million Dollar gut war, arbeitete in einem Eckbüro mit zwei Fenstern, zwei Ölbildern und einer eigenen Sekretärin. Sein Briefpapier trug seinen Namen in Stahlstich. Auch er bekam Schuhputz und Zeitung gratis, dazu aber noch verschiedene Magazine und Zeitschriften, für Dienstfahrten stand ihm ein Firmenwagen zur Verfügung, und sein Mittagessen konnte er im Kasino für leitende Angestellte einnehmen.
Edwina standen fast alle diese Vergünstigungen zu. Von der Schuhpolitur hatte sie nie Gebrauch gemacht.
An diesem Vormittag prüfte sie zwei Kreditanträge, genehmigte den einen und notierte einige Fragen auf den Rand des anderen. Ein dritter Antrag ließ sie stutzen.
Ihr schoß das Erlebnis vom Vortag wieder durch den Kopf, und ein wenig verstört las sie das Aktenstück noch einmal durch.
Der Kreditbearbeiter, der die Akte zusammengestellt hatte, meldete sich auf Edwinas Anruf über die Sprechanlage sofort.
»Castleman.«
»Cliff, kommen Sie doch bitte mal herüber.«
»Sofort.« Der Mann, der nur ein halbes Dutzend Schreibtische von ihr entfernt saß, warf einen Blick zu ihr hinüber. »Und wetten, daß ich weiß, warum Sie mich sprechen wollen?«
Als er Augenblicke später auf dem Stuhl neben ihrem Schreibtisch Platz nahm, wanderte sein Blick zu dem aufgeschlagenen Aktenstück. »Na bitte, hab' ich's nicht gesagt? Es gibt schon kuriose Sachen bei uns, was?«
Cliff Castleman war klein, pedantisch, mit einem runden rosigen Gesicht und einem sanften Lächeln. Bankkunden, die um ein Darlehen einkamen, mochten ihn, weil er geduldig zuhören konnte und verständnisvoll wirkte. Aber er war zugleich ein erfahrener Kreditmann mit ausgezeichnetem Urteil.
»Ich hatte gehofft«, begann Edwina, »daß sich dieser Antrag als ein Witz herausstellen würde, wenn auch als ein sehr schlechter.«
»Makaber dürfte zutreffender sein, Mrs. D'Orsey. Wenn das Ganze auch den Eindruck erweckt - ich versichere Ihnen, es ist kein Scherz. Der Antrag ist ernstgemeint.« Castleman deutete auf die Akte. »Ich habe alle Unterlagen und Angaben beigefügt, weil ich wußte, daß Sie sie würden sehen wollen. Ich nehme an, Sie haben den Bericht gelesen. Und meine Empfehlung.«
»Wollen Sie mir allen Ernstes empfehlen, soviel Geld für diesen Zweck zu gewähren?«
»Ich meine es todernst.« Castleman brach ab. »Verzeihung, das sollte keine Anspielung sein. Aber ich bin wirklich der Meinung, Sie sollten den Kredit bewilligen.«
Es stand alles in der Akte. Ein 43 Jahre alter Handelsvertreter für pharmazeutische Produkte namens Gosburne, wohnhaft und beschäftigt am Ort, beantragte einen Kredit von 25 000 Dollar. Er war verheiratet - in erster Ehe, die schon seit siebzehn Jahren bestand, das kleine Vorstadthaus war Eigentum der Gosburnes, abgesehen von einer kleinen Hypothek. Seit acht Jahren hatte das Ehepaar ein gemeinsames Konto bei der FMA - alles absolut in Ordnung. Ein früheres, wenn auch kleineres Darlehen war prompt zurückgezahlt worden. Beruflich wie finanziell stand Gosburne gut da.
Die beantragte Summe sollte für den Kauf einer großen Edelstahlkapsel dienen, die das Kind der Gosburnes, Andrea, aufnehmen sollte. Sie war vor sechs Tagen im Alter von fünfzehn Jahren an einem Nierenleiden gestorben. Zur Zeit befand sich die in Trockeneis gelagerte Leiche des Kindes in der Halle eines Bestattungsunternehmens. Das Blut war ihr unmittelbar nach dem Tod entzogen und durch eine blutähnliche »Frostschutz«-Lösung mit der Bezeichnung Dimethylsulfoxid ersetzt worden.
Die Stahlkapsel war eigens zu dem Zweck konstruiert worden, flüssigen Stickstoff bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt aufzunehmen. Die in Aluminiumfolie gehüllte Leiche sollte in diese Flüssigkeit eingetaucht werden.
Kapseln der gewünschten Art - in Wirklichkeit handelte es sich um eine riesige Flasche, die unter der Bezeichnung »Cryo-Crypt« gehandelt wurde - gab es in Los Angeles zu kaufen, und sie sollte mit dem Flugzeug herangeschafft werden, sobald die Bank den Kredit genehmigt hatte. Etwa ein Drittel der beantragten Kreditsumme war für die Vorauszahlung der Kapsel-Lagerkosten bestimmt sowie für die alle vier Monate erforderliche Erneuerung des flüssigen Stickstoffs.
Castleman fragte Edwina: »Sie haben schon von Firmen gehört, die Leichen tiefgekühlt einlagern?«
»Gehört schon. Eine pseudo-wissenschaftliche Sache. Nicht sehr seriös.«
»Das stimmt. Und pseudo ist das rechte Wort. Aber diese Leute haben viele Anhänger, und sie haben Gosburne und seiner Frau eingeredet, daß sie warten müssen, bis die ärztliche Kunst fortgeschrittener sei als heute - sagen wir, in fünfzig oder hundert Jahren. Dann werde man Andrea auftauen, ins Leben zurückrufen und heilen können. Übrigens haben diese TiefkühlLeute auch einen eigenen Werbespruch: Einfrieren - Warten -Wiederbelebem.«
»Grauslich«, sagte Edwina.
»Im Prinzip bin ich auch Ihrer Meinung«, räumte der Kreditbearbeiter ein. »Aber sehen Sie die Sache einmal mit ihren Augen. Sie glauben daran. Außerdem sind sie erwachsen, ausreichend intelligent und tief religiös. Woher wollen wir Bankleute das Recht nehmen, Richter und Geschworene in einer Person zu sein? Für mich lautet die einzige Frage - kann Gosburne den Kredit zurückzahlen? Ich habe mir die Zahlen angesehen, und ich sage, er kann es, und er wird es. Vielleicht ist der Mann ein Spinner. Aber die Akten zeigen, daß er jedenfalls ein Spinner ist, der seine Rechnungen bezahlt.«
Widerstrebend sah Edwina sich die Angaben über die Einnahmen und Ausgaben an. »Es wird für ihn eine harte finanzielle Belastung.«
»Das weiß der Mann, und er schwört, daß er damit fertig wird. Er will noch eine Nebenbeschäftigung annehmen. Und seine Frau sucht sich auch eine Arbeit.«
»Sie haben noch vier jüngere Kinder«, bemerkte Edwina zögernd.
»Ja.«
»Hat jemand sie darauf hingewiesen, daß die anderen Kinder - die lebenden - bald Geld für ihre Ausbildung und für vieles andere brauchen und daß sie die 25000 Dollar bestimmt dringender nötig haben werden?«
»Ich habe darauf hingewiesen«, sagte Castleman. »Ich hatte zwei lange Gespräche mit Gosburne. Aber er sagt, die ganze Familie habe den Fall besprochen und die Entscheidung gemeinsam getroffen. Sie glauben, daß es eine Chance gibt, Andrea eines Tages wieder ins Leben zurückzuholen, und das ist ihnen jedes Opfer wert. Die Kinder sagen außerdem, daß sie später die Sorge übernehmen wollen.«
»Mein Gott.« Wieder schweiften Edwinas Gedanken zurück zum vergangenen Tag. Wann immer Ben Rossellis Ende käme, es würde ein würdiger Tod sein. Diese ganze Angelegenheit machte den Tod häßlich und zum Gespött. Durfte man das Geld der Bank - zu einem Teil Bens Geld - für einen solchen Zweck verwenden?
»Mrs. D'Orsey«, sagte Castleman, »ich habe diese Sache seit zwei Tagen auf dem Tisch. Anfangs dachte ich genauso wie Sie - die Angelegenheit hat etwas Krankhaftes. Aber ich habe darüber nachgedacht und meine Meinung geändert. Ich finde, es handelt sich um ein akzeptables Risiko.«
Akzeptables Risiko. Edwina war sich bewußt, daß Cliff Castleman im Grunde recht hatte, denn das ganze Bankgeschäft drehte sich um nichts anderes als um akzeptable Risiken. Er hatte auch recht mit seiner Erklärung, daß keine Bank sich als Richter über persönliche Angelegenheiten aufspielen sollte.
Natürlich könnte sich dieses spezielle Risiko doch als zu groß herausstellen. Aber selbst wenn das eintreten sollte, würde man es Castleman nicht anlasten. Er hatte sich in seiner ganzen bisherigen Karriere gut gehalten, seine »Siege« waren weit größer als seine Verluste. Tatsächlich war es so, daß eine ununterbrochene Kette von Erfolgen gar nicht gern gesehen wurde. Von einem aktiven und dynamischen Kleinkreditbearbeiter erwartete man geradezu, daß einige der von ihm vergebenen Darlehen »sauer« wurden. Geschah das nie, konnte sich sein Erfolg ins Gegenteil verkehren, nämlich dann, wenn ein Computertext die Geschäftsleitung darauf aufmerksam machte, dieser Mann bewirke durch übertriebene Vorsicht, daß der Bank Geschäfte entgingen.
»Also gut«, sagte Edwina. »Ich finde die Angelegenheit abscheulich, aber ich schließe mich Ihrem Urteil an.«
Sie kritzelte ihre Initialen. Castleman ging wieder zu seinem Schreibtisch zurück.
So hatte dieser Tag - abgesehen von einem Darlehen für eine eingefrorene Tochter - wie jeder andere begonnen.
Er blieb auch so bis zum frühen Nachmittag.
An Tagen, an denen sie allein zu Mittag aß, ging Edwina in die Cafeteria drüben im Souterrain der FMA-Zentrale. Es war laut dort, das Essen war mittelmäßig, aber es wurde schnell bedient, und sie konnte in fünfzehn Minuten wieder draußen sein.
An diesem Tag hatte sie einen Kunden als Gast, und sie machte von ihrem Privileg als Vizepräsidentin Gebrauch. Sie führte ihn in das Kasino für leitende Angestellte hoch oben im Direktions-Turm. Ihr Gast war Finanzdirektor des größten Warenhauses der Stadt, und er suchte einen kurzfristigen Drei-Millionen-Dollar-Kredit zur Deckung einer Liquiditätslücke, die durch einen schwachen Herbstausverkauf im Verein mit außergewöhnlich kostspieligen Einkäufen für das Weihnachtsgeschäft entstanden war.
»Diese verdammte Inflation!« schimpfte der Finanzdirektor, während er sich seinem Spinat-Souffle widmete. Dann leckte er sich die Lippen und fügte hinzu: »Aber wir holen unser Geld in den nächsten beiden Monaten wieder herein, und noch einen Batzen dazu. Santa Claus hat es immer gut mit uns gemeint.«
Das Konto dieses Warenhauses war wichtig für die Bank; trotzdem verhandelte Edwina mit Härte und schlug günstige Bedingungen für die FMA heraus. Der Kunde brummte und schimpfte vor sich hin, aber als der Pfirsich Melba zum Nachtisch erschien, hatte er die Bedingungen akzeptiert. Die drei Millionen Dollar überstiegen zwar Edwinas persönliche Vollmacht, aber sie rechnete nicht mit Schwierigkeiten von seiten der Geschäftsleitung. Sollte es nötig werden, würde sie eben mit Alex Vandervoort reden, um die Sache zu beschleunigen; er hatte ihre Entscheidungen in der Vergangenheit immer unterstützt.
Als sie beim Kaffee saßen, brachte die Kellnerin eine Nachricht an ihren Tisch.
»Mrs. D'Orsey«, sagte das Mädchen, »ein Mr. Tottenhoe ist am Telefon und möchte Sie sprechen. Er sagt, es sei dringend.«
Edwina entschuldigte sich bei ihrem Gast und ging in den kleinen Nebenraum, wo das Telefon stand.
Die Stimme des Innenleiters klang gekränkt. »Ich habe überall versucht, Sie aufzutreiben.«
»Das ist Ihnen ja nun gelungen. Was gibt's denn?«
»Wir haben einen erheblichen Fehlbetrag an Bargeld.« Er berichtete: Eine Kassiererin hatte den Verlust vor einer halben Stunde gemeldet. Seither wurde ununterbrochen nachgeprüft. Edwina glaubte aus Tottenhoes Stimme nicht nur tiefe Melancholie, sondern auch Panik herauszuhören und fragte, wie groß der Betrag sei.
Er schluckte vernehmlich. »Sechstausend Dollar.«
»Ich komme sofort.«
In weniger als einer Minute hatte sie sich von ihrem Gast verabschiedet und fuhr im Expreß-Lift abwärts.
»Das einzige, was bisher feststeht«, sagte Tottenhoe mürrisch, »ist die Tatsache, daß sechstausend Dollar in bar nicht da sind, wo sie sein müßten.«
Der Innenleiter war einer der vier Personen, die jetzt um Edwina D'Orseys Schreibtisch herum saßen. Die anderen waren Edwina selbst, der junge Miles Eastin, Tottenhoes Assistent, und eine Kassiererin namens Juanita Nunez.
Das Geld fehlte in Juanita Nunez' Kassenwagen.
Eine halbe Stunde war seit Edwinas Rückkehr in die Cityfiliale vergangen. Während die anderen ihr am Schreibtisch gegenübersaßen und sie ansahen, wandte sich Edwina an Tottenhoe. »Es stimmt, was Sie sagen, aber das genügt mir nicht. Ich möchte, daß wir alles noch einmal ganz von vorn durchgehen, langsam und sorgfältig.«
Es war kurz nach 15.00 Uhr. Die letzten Kunden hatten die Bank verlassen, die äußeren Türen waren geschlossen.
Wie üblich ging die emsige Tätigkeit in der Filiale auch nach Ende der Kassenstunden weiter; aber Edwina spürte, wie die Blicke heimlich zu der Plattform herüberhuschten. Die Angestellten hatten inzwischen gemerkt, daß hier ernsthaft etwas nicht in Ordnung war.
Sie rief sich ins Bewußtsein, daß jetzt alles darauf ankam, Ruhe zu bewahren, analytisch zu denken, jede noch so bruchstückhafte Information genau zu prüfen. Sie nahm sich vor, auf jede Nuance in Haltung und Sprache der anderen zu achten - und ganz besonders bei Mrs. NUnez.
Edwina wußte aber auch, daß sie es nicht mehr lange hinauszögern durfte, die Zentrale von dem allem Anschein nach erheblichen Bargeldverlust zu benachrichtigen. Danach würde sich die Sicherheitsabteilung einschalten und wahrscheinlich auch das FBI. Aber solange es noch eine Chance gab, den Fall ohne Aufhebens zu klären, wollte sie es wenigstens versuchen.
»Wenn Sie gestatten, Mrs. D'Orsey«, sagte Miles Eastin, »mache ich den Anfang, denn ich war der erste, dem Juanita es gemeldet hat.« Seine übliche forsche Fröhlichkeit war verschwunden.
Wie Eastin der Gruppe berichtete, war die Möglichkeit eines Defizits im Barbestand wenige Minuten vor 14.00 Uhr zu seiner Kenntnis gelangt. Juanita Nünez war bei ihm erschienen und hatte erklärt, sie glaube, daß aus ihrem Bargeldfach die Summe von sechstausend Dollar verschwunden sei.
Miles Eastin arbeitete gerade selbst als Kassierer an einem Schalter; er war fast den ganzen Tag über eingesprungen, weil zu viele Kassierer fehlten, und da sich sein Arbeitsplatz nur zwei Schalter von Juanita Nünez entfernt befand, hatte sie ihm ihren Verdacht gemeldet; bevor sie zu ihm gegangen war, hatte sie ihr Geldfach verschlossen.
Eastin hatte sofort sein eigenes Geldfach verschlossen und war zu Tottenhoe gegangen.
Mit noch düstrerer Miene als üblich nahm Tottenhoe jetzt den Faden auf.
Er war sofort zu Mrs. Nünez gegangen und hatte mit ihr gesprochen. Anfangs hatte er nicht geglaubt, daß genau runde sechstausend Dollar verschwunden sein sollten, denn selbst wenn sie den Verdacht hatte, daß Geld fehlte, so war es doch in diesem Stadium praktisch unmöglich, schon die Höhe des Betrages anzugeben.
Der Innenleiter zählte auf: Juanita Nünez hatte den ganzen Tag gearbeitet. Begonnen hatte sie am Morgen mit etwas mehr als zehntausend Dollar Bargeld aus dem Tresorraum, und seit Öffnung der Schalterhalle um 9.00 Uhr hatte sie die verschiedensten Beträge eingenommen und ausgezahlt. Das bedeutete, daß sie schon fast fünf Stunden lang gearbeitet hatte, ausgenommen die Mittagspause von 45 Minuten Dauer, und während dieser ganzen Zeit hatten sich viele Menschen in der Bank befunden. Alle Kassierer hatten viel zu tun. Außerdem waren die Bareinzahlungen an diesem Tag höher gewesen als üblich; deshalb dürfte der Geldbetrag in ihrem Fach - Schecks nicht mitgerechnet - auf gut und gern zwanzig- oder fünfundzwanzigtausend Dollar angewachsen sein. Wieso also, argumentierte Tottenhoe, konnte Mrs. Nunez so sicher sein, nicht nur, daß Geld fehlte, sondern auch, daß eine ganz bestimmte Summe fehlte?
Edwina nickte. Die gleiche Frage hatte sich ihr auch schon aufgedrängt.
So unauffällig wie möglich beobachtete Edwina die junge Frau. Sie war klein, sehr schlank, dunkelhaarig, nicht eigentlich hübsch, aber doch aufreizend, in einer halb mädchenhaften, halb wissenden Art. Sie sah wie eine Puertorikanerin aus, und das war sie auch. Bei den wenigen Worten, die sie gesagt hatte - sie redete nur, wenn sie gefragt wurde -, sprach sie mit deutlichem Akzent.
Es war nicht leicht zu entscheiden, welche Position Juanita Nunez eigentlich bezog. Kooperativ war ihre Haltung gewiß nicht, jedenfalls nicht nach außen, dachte Edwina, und die junge Frau hatte keinerlei Informationen beigesteuert, die über ihre ursprünglich abgegebene Erklärung hinausgegangen wären. Von Anfang an hatte der Gesichtsausdruck der Kassiererin entweder mürrisch oder ablehnend-feindselig gewirkt. Gelegentlich schienen ihre Gedanken abzuschweifen, so als langweile sie sich und halte die ganze Prozedur für reine Zeitverschwendung. Aber sie war zugleich auch nervös, was sich durch die krampfhaft zusammengepreßten Hände und beständiges Herumdrehen eines dünnen goldenen Eherings verriet. Edwina hatte den auf ihrem Schreibtisch liegenden Personalbogen durchgesehen und wußte, daß Juanita Nunez fünfundzwanzig Jahre alt und verheiratet war, doch getrennt lebte, und daß sie ein drei Jahre altes Kind hatte. Sie arbeitete seit fast zwei Jahren für die First Mercantile American, und zwar von Anfang an als Kassiererin. Was nicht auf dem Personalbogen stand, was Edwina aber irgendwann einmal gehört hatte, war dies: Mrs. Nünez sorgte allein, ohne Hilfe für ihr Kind, und sie war in finanziellen Schwierigkeiten gewesen, war es vielleicht auch jetzt noch, weil ihr Mann sich nicht nur davongemacht, sondern ihr auch Schulden hinterlassen hatte.
Obwohl er bezweifelte, daß Mrs. Nünez die Höhe der möglicherweise fehlenden Summe kennen konnte, fuhr Tottenhoe fort, habe er sie an ihrem Schalter ablösen und sie sogleich »mit ihrem Bargeldbestand einschließen« lassen.
Dieses »Einschließen« war in Wirklichkeit eine Schutzmaßnahme für den betroffenen Angestellten; es handelte sich um eine in Fällen dieser Art übliche Routinemaßnahme. Sie bedeutete lediglich, daß der Kassierer zusammen mit seinem Geldfach und einer Rechenmaschine in einem kleinen geschlossenen Büro untergebracht und angewiesen wurde, sämtliche Transaktionen des Tages nachzurechnen.
Tottenhoe wartete draußen.
Schon nach kurzer Zeit rief sie den Innenleiter herein. Ihr Bargeldbestand stimme nicht, erklärte sie. Es fehle ein Betrag von sechstausend Dollar.
Tottenhoe zog Miles Eastin hinzu, und gemeinsam nahmen sie eine zweite Kontrolle vor, während Juanita Nünez dabeisaß und zusah. Sie stellten fest, daß ihre Angaben korrekt waren. Ohne Zweifel fehlte Bargeld, und zwar genau die Summe, die sie von Anfang an genannt hatte.
Als die Dinge so weit gediehen waren, hatte Tottenhoe Edwina angerufen.
»Damit sind wir also wieder am Ausgangspunkt angelangt«, sagte Edwina. »Hat vielleicht irgend jemand eine neue Idee?«
Miles Eastin meldete sich zu Wort. »Ich würde Juanita gern ein paar weitere Fragen stellen.«
Edwina nickte.
»Denken Sie bitte genau über meine Frage nach, Juanita«, begann Eastin. »Haben Sie heute irgendwann im Laufe des Tages einem anderen Kassierer mit Geld ausgeholfen?«
Die Gepflogenheit war allen bekannt. Es kam oft vor, daß einem Kassierer Banknoten oder Münzen eines bestimmten Wertes ausgingen, und wenn das mitten im Hochbetrieb geschah, marschierten die Kassierer nicht erst in den Tresorraum, sondern halfen sich gegenseitig durch »Kaufen« oder »Verkaufen« von Bargeld aus. Um die Sache aktenkundig zu machen, füllten sie rasch ein kleines Formular aus. Aber gelegentlich wurden in der Eile oder aus Unachtsamkeit Fehler gemacht, so daß dann am Ende des Geschäftstages der eine Kassierer zu wenig, der andere zuviel Bargeld hatte. Es war jedoch kaum vorstellbar, daß eine Differenz dieser Art sechstausend Dollar betragen sollte.
»Nein«, sagte die Kassiererin. »Kein Kauf, kein Verkauf. Heute nicht.«
Eastin gab nicht auf. »Ist Ihnen heute irgendwann aufgefallen, daß ein anderer Angestellter in die Nähe Ihres Bargeldes gekommen ist, so daß er etwas hätte nehmen können?«
»Nein.«
»Als Sie heute zu mir kamen, Juanita«, sagte Eastin, »und mir meldeten, daß Ihrer Meinung nach Geld fehlte, wie lange hatten Sie da schon etwas davon gewußt?«
»Ein paar Minuten.«
Edwina warf ein: »Wie lange nach Ihrer Mittagspause war das, Mrs. Nunez?«
Die junge Frau zögerte, sie schien sich in diesem Punkt weniger sicher zu sein. »Vielleicht zwanzig Minuten.«
»Reden wir jetzt mal von der Zeit vor Ihrer Mittagspause«, sagte Edwina. »Glauben Sie, daß das Geld da auch schon gefehlt hat?«
Juanita Nunez schüttelte verneinend den Kopf.
»Wieso können Sie sich dessen so sicher sein?«
»Ich weiß es.«
Edwina begann sich über die wenig hilfreichen und einsilbigen Antworten zu ärgern. Und die verdrossene Feindseligkeit, die sie von Anfang an gespürt hatte, schien jetzt deutlicher hervorzutreten.
Tottenhoe wiederholte die entscheidende Frage. »Warum waren Sie nach der Mittagspause so sicher, nicht nur, daß Bargeld fehlte, sondern auch, daß eine ganz bestimmte Summe fehlte?«
Das kleine Gesicht der jungen Frau drückte Trotz aus. »Ich wußte es.«
Es herrschte ungläubiges Schweigen.
»Halten Sie es für denkbar, daß Sie irgendwann im Laufe des Tages einem Kunden versehentlich sechstausend Dollar ausgezahlt haben?«
»Nein.«
Miles Eastin fragte: »Als Sie vor der Mittagspause Ihren Schalterplatz verließen, Juanita, da haben Sie doch Ihr Geldfach in den Tresorraum gebracht, das Kombinationsschloß eingestellt und das Geld dort gelassen. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Wissen Sie ganz genau, daß Sie das Schloß betätigt haben?«
Die junge Frau nickte entschieden mit dem Kopf.
»War das Schloß des Innenleiters geschlossen?«
»Nein, es war offen. «
Auch das war normal. War die Kombination des Innenleiters am Morgen auf »Offen« eingestellt, so war es üblich, sie tagsüber in dieser Position zu lassen.
»Aber als Sie vom Essen zurückkamen, da war Ihr Geldfach noch im Tresorraum, und es war noch verschlossen?«
»Ja.«
»Kennt außer Ihnen selbst noch irgend jemand Ihre Kombination? Haben Sie sie irgendwann mal einem anderen verraten?«
»Nein.«
Einen Augenblick stockte die Befragung. Die beiden anderen, die an ihrem Schreibtisch saßen, gingen jetzt wohl, wie Edwina vermutete, im Geiste noch einmal Schritt für Schritt das TresorVerfahren dieser Filiale durch.
Das Bargeldfach, von dem Miles Eastin gesprochen hatte, war in Wirklichkeit eine tragbare Panzerkassette auf einem ziemlich hohen Ständer mit Rollen, leicht genug, um ohne große Mühe bewegt werden zu können. Einige Banken nannten das Ding auch den Bargeldwagen. Jeder Kassierer besaß seinen eigenen Wagen, der auffällig numeriert war und im allgemeinen immer nur von diesem einen Kassierer benutzt wurde. Ein paar Ersatzwagen standen für Ausnahmefälle zur Verfügung. Einen davon hatte sich Miles Eastin an diesem Tag genommen.
Alle Kassierer-Geldwagen wurden beim Einfahren in den Tresorraum und beim Verlassen genau vom StahlkammerChefkassierer registriert. Es war nicht möglich, einen Geldwagen hineinzubringen oder herauszuholen, ohne daß der Chefkassierer es bemerkte und registrierte; ebenso unmöglich war es, den Wagen eines Kollegen herauszuholen, sei es mit Absicht oder aus Versehen. Nachts und an den Wochenenden war die massive Stahlkammer fester versiegelt als ein Pharaonengrab.
Jeder Geldwagen hatte zwei Kombinationsschlösser, die gegen alle Eingriffe von außen gesichert waren. Das eine Schloß stellte der Kassierer selbst ein, das andere betätigte der Innenleiter oder sein Assistent. Wenn also morgens ein Geldfach geöffnet wurde, dann geschah es in Anwesenheit von zwei Personen - nämlich des Kassierers und eines Betriebsangehörigen.
Die Kassierer hatten Anweisung, sich ihre Kombination einzuprägen und sie keinem anderen Menschen anzuvertrauen; auf Wunsch des Kassierers konnte jedoch seine Kombination jederzeit geändert werden. Es gab nur eine einzige schriftliche Notiz über die Kombination des Kassierers, und die befand sich in einem versiegelten, doppelt gezeichneten Umschlag, der zusammen mit anderen in einem - ebenfalls mit Doppelschloß versehenen - Stahlschließfach verwahrt wurde. Das Siegel dieses Umschlags wurde nur aufgebrochen, wenn ein Kassierer starb, erkrankte oder die Bank verließ.
Auf diese Weise wurde sichergestellt, daß nur der tatsächliche Benutzer des Bargeldfachs die Kombination kannte, mit der es geöffnet werden konnte. Kassierer und Bank waren so gegen Diebstahl geschützt.
Außerdem waren die Bargeldwagen durch ein eingebautes Alarmsystem gesichert. Wurden sie an ihren Platz hinter dem Schalter geschoben, verband eine automatische Steckervorrichtung sie mit einer Signalanlage, die ihre Fühler über die ganze Bank und darüber hinaus ausstreckte. Eine Warntaste war in dem Fach unter einem harmlos wirkenden Stapel von Banknoten verborgen. Das war das »Ködergeld«.
Die Kassierer durften das Ködergeld niemals für normale Transaktionen verwenden; bei einem Banküberfall jedoch hatten sie dieses Geld zuerst auszuhändigen. Durch das einfache Aufnehmen der Noten wurde die lautlose Warntaste betätigt. Sie alarmierte die Sicherheitsabteilung der Bank und die Polizei, die gewöhnlich in Minutenschnelle auf dem Schauplatz erschien; außerdem setzte die Taste die in der Decke verborgenen Filmkameras in Betrieb. Die Nummern der Köder-Banknoten waren notiert und konnten später vor Gericht als Beweismittel dienen.
Edwina fragte Tottenhoe: »Ist das Ködergeld unter den verschwundenen sechstausend Dollar?«
Der Innenleiter schüttelte den Kopf. »Nein. Das Ködergeld ist in Ordnung. Ich habe es geprüft.«
Also auch hier Fehlanzeige, überlegte Edwina.
Miles Eastin wandte sich noch einmal an die Kassiererin.
»Juanita, wenn Sie mal ganz genau überlegen, können Sie sich dann vorstellen, daß irgend jemand, irgendeiner das Geld aus Ihrem Fach genommen haben könnte?«
»Nein«, sagte Juanita Nünez.
Edwina beobachtete die junge Frau genau, als sie antwortete, und sie glaubte, so etwas wie Furcht zu entdecken. Grund genug hätte sie ja, denn bei einem Verlust in dieser Größenordnung gab so leicht keine Bank auf.
Edwina glaubte jetzt zu wissen, was mit dem verschwundenen Geld passiert war: Juanita Nunez hatte es gestohlen. Eine andere Erklärung war nicht möglich. Die Schwierigkeit bestand nur darin nachzuweisen, wie sie es gestohlen hatte.
Das wahrscheinlichste war, daß Juanita Nünez das Geld einem Komplicen einfach ausgezahlt hatte. Das wäre keinem Menschen aufgefallen. An einem Tag mit lebhaftem Kundenverkehr mußte es wie ein ganz routinemäßiger Auszahlungsvorgang gewirkt haben. Oder die junge Frau konnte das Geld am Körper versteckt und es während der Mittagspause aus der Bank hinausgeschmuggelt haben. Diese Methode war allerdings sehr viel riskanter.
Über eines mußte sich Mrs. Nünez allerdings im klaren gewesen sein, nämlich daß sie ihre Stellung verlieren würde, gleichgültig, ob ihr der Diebstahl nachgewiesen werden konnte oder nicht. Den Kassierern wurden gelegentliche BargeldUnstimmigkeiten zugestanden; Irrtümer beim Zählen waren normal und einkalkuliert. Im Laufe eines Jahres hatten die meisten Kassierer einen Durchschnitt von acht Mehr- oder Minderbeträgen. Wenn der Fehlbetrag die Summe von fünfundzwanzig Dollar nicht überschritt, sagte gewöhnlich kein Mensch etwas. Wem aber ein erheblicher Betrag fehlte, dem flatterte die Kündigung ins Haus; das wußte jeder Kassierer.
Es war natürlich denkbar, daß Juanita Nunez das einkalkuliert hatte. Vielleicht waren ihr sechstausend Dollar bar auf der Hand im Augenblick wichtiger als ihr Arbeitsplatz, auch wenn sie es später schwer haben würde, eine neue Anstellung zu finden. Wie dem auch gewesen sein mochte, Edwina tat die junge Frau leid. Sicher war es bei ihr ein Akt der Verzweiflung gewesen. Vielleicht hing ihre Notlage mit ihrem Kind zusammen.
»Ich glaube nicht, daß wir jetzt noch etwas tun können«, sagte Edwina zu der Gruppe. »Ich muß die Zentrale benachrichtigen. Sie wird dann die Untersuchungen weiterführen.«
Als die drei aufstanden, fügte sie hinzu: »Mrs. Nunez, bitte bleiben Sie.« Die junge Frau setzte sich wieder.
Als die anderen außer Hörweite waren, versuchte es Edwina noch einmal in einem ganz persönlichen Ton: »Juanita, ich meine, wir sollten jetzt ganz offen miteinander reden, wie zwei gute Freunde.« Sie hatte ihre anfängliche Ungeduld von sich geschoben. Sie spürte, wie die dunklen Augen der jungen Frau angespannt auf ihrem Gesicht ruhten.
»Zwei Dinge sind Ihnen gewiß längst klar. Erstens, daß es eine sehr gründliche Untersuchung geben wird; man wird das FBI einschalten, denn unsere Bank ist über die Grenzen unseres Bundesstaates hinaus versichert. Zweitens ist es ganz ausgeschlossen, daß man Sie nicht verdächtigen wird.« Edwina machte eine Pause. »Ich spreche in dieser Sache ganz offen. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe. Aber ich habe kein Geld genommen.«
Edwina fiel auf, daß die junge Frau noch immer nervös ihren Ehering herumdrehte.
Edwina überlegte sich jedes Wort, das sie jetzt sprach. Sie mußte auf jeden Fall eine direkte Beschuldigung umgehen; sonst könnten der Bank später juristische Schwierigkeiten entstehen.
»Wie lange die Untersuchung auch dauert, Juanita, es ist so gut wie sicher, daß die Wahrheit schließlich herauskommt; das ist eine alte Erfahrungstatsache. Die Ermittler sind gründlich. Sie geben nicht auf.«
Die junge Frau wiederholte, diesmal mit mehr Nachdruck: »Ich habe das Geld nicht genommen.«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Aber eins möchte ich Ihnen ans Herz legen: Sollten Sie zufällig etwas wissen, was Sie noch nicht gesagt haben, dann sagen Sie es jetzt, dann sagen Sie es mir hier, wo wir in aller Ruhe beisammensitzen und uns unterhalten. Danach gibt es diese Chance nicht mehr. Dann ist es zu spät.«
Juanita Nünez schien etwas sagen zu wollen. Edwina hob eine Hand. »Nein, hören Sie mich erst zu Ende an. Ich gebe Ihnen ein Versprechen. Erhält die Bank das Geld zurück, sagen wir, bis morgen, dann wird es keine gerichtlichen Schritte, kein Strafverfahren geben. In aller Fairneß muß ich allerdings sagen, daß jemand, der diese Summe genommen hat, nicht mehr für unsere Bank arbeiten kann. Aber mehr würde auch nicht passieren. Das garantiere ich. Juanita, haben Sie mir irgend etwas zu sagen?«
»Nein, nein, nein! jTe lo juro por mi hija!« Die Augen der Kassiererin funkelten, ihr Gesicht hatte sich vor Zorn gerötet. »Ich sage Ihnen doch, ich habe kein Geld genommen, weder jetzt noch sonst irgendwann!«
Edwina seufzte.
»Gut, das war's dann fürs erste. Aber bitte verlassen Sie die Bank nicht, ohne mir vorher Bescheid zu geben.«
Juanita Nunez schien eine weitere hitzige Antwort auf der Zunge zu liegen, aber dann stand sie mit einem leichten Achselzucken auf und wandte sich zum Gehen.
Von ihrem erhöhten Schreibtisch aus ließ Edwina den Blick über das emsige Treiben rings um sie her schweifen. Das war ihre eigene kleine Welt, ihr persönlicher Verantwortungsbereich. Noch immer wurden die Transaktionen des Tages durchgerechnet und verbucht. Allerdings hatte eine erste Kontrolle bereits ergeben, daß kein Kassierer - wie man zunächst noch gehofft hatte - einen Überschußbetrag von sechstausend Dollar in seiner Kasse hatte.
Alles klang gedämpft in diesem modernen Bau - das Stimmengewirr, das Rascheln von Papieren, das Scheppern von Münzen, das Klicken und Rasseln der Rechenmaschinen. Einen Augenblick nahm sie das alles in sich auf, und plötzlich mußte sie denken, daß sie diese Woche aus zwei Gründen nicht so leicht vergessen würde. Dann erinnerte sie sich an ihre Pflicht. Sie hob einen Telefonhörer ab und wählte einen Hausanschluß.
»Sicherheitsabteilung«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Bitte Mr. Wainwright«, sagte Edwina.
Seit dem vergangenen Tag fiel es Nolan Wainwright schwer, sich auf die normale Alltagsarbeit in der Bank zu konzentrieren.
Den Chef der Sicherheitsabteilung hatte das Treffen am Dienstag morgen im Sitzungssaal tief berührt, nicht zuletzt deshalb, weil ihn im Laufe eines Jahrzehnts Freundschaft und gegenseitiger Respekt mit Ben Rosselli verbunden hatten.
So war es allerdings nicht immer gewesen.
Als er am Vortag vom Direktionsgeschoß in sein eigenes, bescheideneres Büro zurückgekehrt war, dessen Fenster auf einen Lichtschacht hinausgingen, hatte Wainwright seine Sekretärin gebeten, ihn vorläufig nicht zu stören. Dann hatte er sich niedergeschlagen an seinen Schreibtisch gesetzt, und seine Gedanken waren viele Jahre zurückgewandert, in die Zeit, da er zum ersten Mal mit Ben Rossellis Willen kollidiert war.
Zehn Jahre war das nun her. Nolan Wainwright war damals gerade zum Polizeichef einer kleinen Stadt im Norden des Bundesstaates ernannt worden. Davor war er Leutnant der Kriminalpolizei in einer Großstadt gewesen, wo er einen ausgezeichneten Ruf genossen hatte. Er war ohne Zweifel für einen Chefposten befähigt, und in dem allgemeinen Klima, das damals herrschte, konnte es sich für seine Kandidatur nur als nützlich erweisen, daß die Farbe seiner Haut Schwarz war.
Kurz nach der Ernennung des neuen Polizeichefs wurde Ben Rosselli in dieser Stadt von einer Verkehrsstreife gestoppt, da er in einem Tempo von 120 Stundenkilometern durch eine Straße am Rande des kleinen Orts gebraust war. Der Streifenpolizist überreichte ihm den Strafzettel und eine Vorladung vor das Verkehrsgericht.
Vielleicht weil sein Leben in jeder anderen Beziehung eher konservativ verlief, hatte Ben Rosselli eine Vorliebe für schnelle Wagen, und er fuhr sie so, wie ihre Konstrukteure es vorgesehen hatten - mit dem rechten Fuß in Bodennähe.
Eine Vorladung wegen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit war eine Routinesache. Wieder in der Zentrale der First Mercantile American angelangt, schickte er die Vorladung wie üblich an die Sicherheitsabteilung der Bank mit der Weisung, die Sache in Ordnung zu bringen. Für den mächtigsten Geldmann des Bundesstaates ließ sich manches diskret regeln - und meistens auch mit Erfolg.
Die Vorladung wurde am nächsten Tag durch Kurier dem FMA-Filialleiter der Stadt zugestellt, in der man Ben Rosselli erwischt hatte. Es ergab sich zufällig, daß der Filialleiter zugleich auch Mitglied des Gemeinderats war und seinen ganzen Einfluß geltend gemacht hatte, um Nolan Wainwrights Ernennung zum Polizeichef durchzusetzen.
Der Filialleiter und Kommunalpolitiker begab sich zum Büro des Polizeichefs, um die Vorladung vor das Verkehrsgericht annullieren zu lassen. Er war die Liebenswürdigkeit selbst. Aber Nolan Wainwright blieb eisern.
Schon etwas weniger liebenswürdig wies der Politiker den Polizeichef auf die Tatsache hin, daß er ein Neuling in dieser Kommune sei, daß er dringend Freunde brauche und störrisches Verweigern eines kleinen Gefallens ihm keine gewinne. Wainwright lehnte es ab, irgend etwas in der Vorladungssache zu unternehmen.
Der Kommunalpolitiker kehrte jetzt den Bankier heraus und erinnerte den Polizeichef daran, daß er bei der First Mercantile American ein Wohnungsdarlehen beantragt habe, um Frau und Kinder in die Stadt nachholen zu können. Mr. Rosselli, fügte der Filialleiter überflüssigerweise hinzu, sei Präsident der FMA.
Nolan Wainwright entgegnete, er könne keinerlei Zusammenhang zwischen einem Wohnungsdarlehen und einer Vorladung vor das Verkehrsgericht erblicken.
Die Dinge nahmen ihren Lauf, und Mr. Rosselli, der sich vor Gericht durch einen Anwalt vertreten ließ, erhielt eine hohe Geldbuße auferlegt wegen erheblicher Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit und außerdem drei Strafpunkte, die in seinen Führerschein eingetragen wurden. Er schäumte vor Wut.
Auch die andere Sache nahm ihren Lauf, und der Antrag Nolan Wainwrights auf Gewährung eines Wohnungsdarlehens wurde von der First Mercantile American Bank abgelehnt.
Es war noch keine Woche vergangen, da erschien Wainwright in Rossellis Büro im 36. Stock des Towers der Zentrale. Ben Rosselli hielt sich immer viel zugute auf seine Politik der offenen Tür.
Als er erfuhr, wer ihn da besuchte, war Ben Rosselli überrascht, daß es sich um einen Schwarzen handelte. Das hatte ihm keiner gesagt. Nicht, daß es den noch immer schwelenden Zorn zu kühle n vermochte, den der Bankier wegen der beschämenden Strafpunkte in seinem Führerschein empfand - es waren immerhin die ersten seines Lebens.
Wainwright sprach kühl und besonnen. Zu Ben Rossellis Ehre muß gesagt werden, daß er weder vom Darlehensantrag des Polizeichefs Kenntnis gehabt hatte noch von der Ablehnung dieses Antrags; mancherlei Dinge wurden auf sehr viel niedrigerer Ebene entschieden. Aber die Sache roch nach einer Ungerechtigkeit, und so ließ er auf der Stelle die Darlehensakte kommen, die er durchsah, während Nolan Wainwright wartete.
»Eins würde mich interessieren«, sagte Ben Rosselli, als er mit der Lektüre zu Ende war, »was werden Sie tun, wenn wir diesen Darlehensantrag ablehnen?«
Wainwrights Antwort fiel kurz und kalt aus. »Ich werde kämpfe n. Ich nehme mir einen Anwalt, und dann gehen wir erst einmal zum Bürgerrechtsausschuß. Haben wir da keinen Erfolg, werde ich nacheinander jede Möglichkeit ausnutzen, um Ihnen Schwierigkeiten zu machen.«
Es war zu spüren, daß er es ernst meinte, und der Bankier fauchte ihn an: »Auf Drohungen reagiere ich nicht.«
»Ich habe Ihnen nicht gedroht. Sie haben mir eine Frage gestellt, und ich habe geantwortet.«
Ben Rosselli zögerte. Dann kritzelte er seine Unterschrift auf die Akte. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte er: »Der Antrag ist genehmigt.«
Bevor Wainwright ging, erkundigte sich der Bankier: »Was passiert jetzt, wenn ich zu schnell durch Ihre Stadt fahre?«
»Dann werden Sie wieder vorgeladen. Kommt es zu einem Schuldspruch im Wiederholungsfalle, wandern Sie wahrscheinlich ins Gefängnis.«
Als Ben Rosselli dem Polizisten nachblickte, schoß ihm - wie er Wainwright Jahre später anvertraute - der Gedanke durch den Kopf: Du selbstgerechter Hund. Warte nur, eines Tages kriege ich dich schon!
Es war ihm nie gelungen, jedenfalls nicht in diesem Sinne -wohl aber in einem anderen. Als die Bank später einen Sicherheitschef suchte, der - wie der Personaldirektor sagte -»hartnäckig, stark und gegen Korruption absolut gefeit« sein mußte, erklärte Ben Rosselli: »Ich kenne so einen Mann.«
Bald darauf wurde Nolan Wainwright das Angebot gemacht, ein Vertrag wurde unterschrieben, und Wainwright arbeitete hinfort für die FMA.
Von diesem Tage an war es nie mehr zu einem Zusammenstoß zwischen Ben Rosselli und Wainwright gekommen. Der neue Sicherheitschef leistete gute Arbeit; in Abendkursen eignete er sich an, was er über Theorie und Praxis des Bank- und Geldgeschäfts wissen mußte. Rosselli seinerseits mutete Wainwright niemals zu, gegen seinen strengen Moralkodex zu handeln, und seine Strafzettel wegen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit ließ er auf anderem Wege, nicht über die Sicherheitsabteilung, in Ordnung bringen, in der Annahme, daß Wainwright nichts davon wußte, was aber in den meisten Fällen ein Irrtum war. Die Freundschaft, die sie füreinander empfanden, wuchs und festigte sich, und nach dem Tode von Ben Rossellis Frau geschah es oft, daß Wainwright bei dem alten Mann zu Abend aß und sie dann bis in die Nacht hinein miteinander Schach spielten.
In gewisser Weise waren diese Abende auch für Wainwright ein Trost, denn kurz nach seinem Eintritt bei der FMA war seine Ehe geschieden worden. Seine neuen Aufgaben und die abendlichen Sitzungen mit dem alten Bankier halfen ihm ein wenig darüber hinweg.
Gelegentlich sprachen sie dabei auch über ihre persönlichen Ansichten und Überzeugungen, und es war ihnen bewußt, daß sie einander in mancher Beziehung beeinflußten. Diese Beeinflussung betraf manchmal aber auch so subtile Dinge, daß es ihnen selber verborgen blieb. Und Wainwright war es auch -was nur diesen beiden Männern bekannt war -, der nicht wenig dazu beitrug, daß der Bankpräsident sein persönliches Prestige und das Kapital der FMA für die Förderung des Projekts Forum East in jenem vernachlässigten Teil der Stadt einsetzte, in dem Wainwright geboren worden war und in dem er die Jahre seiner Kindheit und frühen Jugend verbracht hatte.
So hatte Nolan Wainwright, wie viele andere in der Bank, seine eigenen privaten Erinnerungen an Ben Rosselli, und so trug auch er seine eigene private Trauer.
Seine Niedergeschlagenheit war auch am Tag darauf nicht gewichen, und nach einem Vormittag, an dem er alles abgewimmelt hatte, was nicht unbedingt wichtig war, und den er hauptsächlich an seinem Schreibtisch verbracht hatte, war Wainwright allein zum Essen gegangen. Er fuhr zu einem kleinen Café am anderen Ende der Stadt, das er bisweilen aufsuchte, wenn ihn das Verlangen überkam, FMA und ihre Angelegenheiten für ein paar Minuten zu vergessen. Er kehrte pünktlich zu einem Treffen mit Vandervoort zurück.
Ort ihres Treffens war die »Keycharge«-Kreditkartenabteilung im Tower der Zentrale.
Das System der Keycharge-Kreditkarten war von der First Mercantile American entwickelt und später dann in Zusammenarbeit mit einer Gruppe anderer Banken in den Vereinigten Staaten, Kanada und vielen anderen Ländern übernommen worden. Der Größenordnung nach rangierte Keycharge unmittelbar hinter den Kreditkartensystemen BankAmericard und MasterCharge. Alex Vandervoort hatte innerhalb der FMA die Gesamtverantwortung für diese Abteilung.
Vandervoort war schon da und beobachtete, als Nolan Wainwright eintraf, den Betrieb im KeychargeBewilligungszentrum. Der Sicherheitschef gesellte sich zu ihm.
»Ich sehe hier gern zu«, sagte Alex. »Beste Gratisvorstellung in der ganzen Stadt.«
In einem großen, an einen Hörsaal erinnernden Raum mit schwacher Beleuchtung und schallschluckenden Wänden und Decken saßen rund fünfzig Angestellte - vorwiegend Frauen an langen Pultreihen. Jedes Pult hatte einen Bildschirm, ähnlich wie bei Fernsehgeräten, und darunter eine Tastatur.
In diesem Saal wurden den Keycharge-Karteninhabern Kredite bewilligt oder verweigert.
Wurden irgendwo Waren oder Dienstleistungen mit einer Keycharge-Karte bezahlt, konnte das betreffende Unternehmen die Karte ohne weiteres entgegennehmen, wenn der Rechnungsbetrag eine vorher vereinbarte Summe nicht überschritt. Diese Grenze schwankte, bewegte sich aber meistens zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Dollar. Bei größeren Einkäufen mußte erst die Kreditbewilligung eingeholt werden, aber das nahm nur wenige Sekunden in Anspruch.
Die Anfragen kamen rund um die Uhr, an sieben Tagen in der Woche. Sie kamen aus allen US-Bundesstaaten und aus jeder kanadischen Provinz, während eine Batterie schnatternder Fernschreiber Anfragen aus dreißig fremden Ländern ausspuckte, unter anderem auch aus Ländern des kommunistischen Machtbereichs. Während die Architekten des britischen Weltreiches einst ihr stolzes Hurra auf »Rot, Weiß und Blau« ausgebracht hatten, feierten die Väter des Wirtschaftsimperiums Keycharge mit gleicher Leidenschaft ihr »Blau, Grün und Gold« - die internationalen Farben der Keycharge- Karte.
Das Bewilligungsverfahren bewegte sich im Tempo eines Düsenflugzeugs.
Ganz gleich, wo sie auch waren, die Geschäftsleute und Unternehmer, denen die Kreditkarte präsentiert wurde, wählten direkt das Keycharge-Nervenzentrum im Tower der FMA-Zentrale an. Jeder Anruf wurde automatisch zu einem Pult geleitet, das gerade frei war, und die ersten Worte des Angestellten lauteten: »Ihre Geschäftsnummer bitte.«
Während sie genannt wurde, tippte der Angestellte sie auf seiner Tastatur, und die Nummer erschien gleichzeitig auf dem Bildschirm. Als nächstes folgten die Nummer der Kreditkarte und die Höhe des gewünschten Kredites. Auch diese beiden Angaben erschienen auf dem Bildschirm.
Der Angestellte drückte dann eine Taste, und die Angaben wurden einem Computer zugeleitet, der in Gedankenschnelle mit dem Signal »ANGENOMMEN« oder »ABGELEHNT« antwortete. Das erste Signal bedeutete, daß der Kunde Kredit hatte und sein Kauf bewilligt war, das zweite, daß der Kreditinhaber ein fauler Kunde war, dem man den Kredit gestrichen hatte. Die Bedingungen waren großzügig, da alle dem System angeschlossenen Banken daran interessiert waren, Geld zu verleihen; deshalb übertrafen die Kreditbewilligungen die Ablehnungen bei weitem. Der Angestellte informierte den Kaufmann, und der Computer registrierte die Transaktion. An einem normalen Geschäftstag liefen rund fünfzehntausend Anrufe ein.
Alex Vandervoort und Nolan Wainwright hatten sich Kopfhörer geben lassen, um die Gespräche zwischen Anrufern und Angestellten mithören zu können.
Der Sicherheitschef berührte Alex am Arm und deutete auf einen Fernsehschirm, dann stöpselte er beide Kopfhörerstecker um. Der Bildschirm, auf den Wainwright gezeigt hatte, blinkte immer wieder ein Signal vom Computer: »KARTE GESTOHLEN.«
Die junge Frau an dem Pult sprach mit ruhiger Stimme, wie sie es gelernt hatte: »Die Ihnen vorgelegte Karte ist als gestohlen gemeldet. Halten Sie nach Möglichkeit denjenigen, der die Karte vorgelegt hat, auf und benachrichtigen Sie das nächste Polizeirevier. Geben Sie die Karte nicht wieder heraus. Keycharge zahlt Ihnen für die Einsendung der Karte eine Belohnung von dreißig Dollar.«
Man hörte ein Flüstern, dann sagte eine laute Stimme: »Der Schuft ist getürmt. Aber seine Karte habe ich festgehalten. Ich schicke sie Ihnen.«
Der Geschäftsmann hörte sich recht vergnügt an wegen der schnell verdienten dreißig Dollar. Aber auch für das KeychargeSystem war es ein gites Geschäft, denn blieb eine gestohlene Karte im Umlauf, konnte sie für betrügerische Einkäufe benutzt werden, deren Gesamtwert die dreißig Dollar Belohnung weit übersteigen würde.
Wainwright nahm seinen Kopfhörer ab, Alex Vandervoort tat es ihm nach. »Es funktioniert gut«, sagte Wainwright, »wenn wir benachrichtigt werden und den Computer programmieren können. Leider passieren die meisten Betrugsfälle, bevor der Verlust einer Karte gemeldet wird.«
»Aber es gibt doch ein Warnsystem bei exzessiven Einkäufen?«
»Das allerdings. Zehn Einkäufe am Tag, und der Computer schlägt Alarm.«
Es gab nicht viele Karteninhaber, das wußten die beiden Männer, die jemals mehr als sechs oder acht Einkäufe an einem einzigen Tag tätigten. Es war also durchaus möglich, eine Karte als »WAHRSCHEINLICH FAUL« aufzuführen, ehe der rechtmäßige Besitzer ihren Verlust überhaupt bemerkt hatte.
Trotz aller Warnsysteme aber konnte eine verlorene oder gestohlene Keycharge-Karte bei einiger Vorsicht für betrügerische Einkäufe im Wert von zwanzigtausend Dollar innerhalb der einen Woche verwendet werden, die im allgemeinen verstrich, bevor der Diebstahl einer Karte gemeldet wurde. Bei den Kreditkarten-Dieben als Einkaufsware besonders beliebt waren Flugscheine für Langstreckenflüge, aber auch ganze Kartons mit Alkoholika. Beides ließ sich fast mühelos mit verlockendem Preisabschlag weiterverkaufen. Ein anderer beliebter Trick bestand darin, mit einer gestohlenen oder gefälschten Kreditkarte einen Wagen zu mieten - nach Möglichkeit ein teures Modell. Der Wagen wurde in eine andere Stadt gebracht, wo er mit neuen Nummernschildern und neuen Papieren versehen und dann verkauft oder ins Ausland exportiert wurde. Der Autoverleih bekam weder den Wagen noch den Kunden jemals wieder zu Gesicht. Andere Gangster hatten sich darauf spezialisiert, mit einer falschen Kreditkarte in Europa teuren Schmuck einzukaufen, wobei sie sich mit einem gefälschten Paß auszuweisen pflegten. Der Schmuck wurde dann zum Wiederverkauf in die Vereinigten Staaten geschmuggelt. Den Verlust trug die Kreditkartengesellschaft.
Wie sowohl Vandervoort als auch Wainwright wußten, war es für den Betrüger nicht schwer festzustellen, ob eine gestohlene Kreditkarte noch einmal verwendbar oder ob sie »heiß« war. Genug Kellner waren für ein Trinkgeld von 25 Dollar bereit, eine Karte zu prüfen. Sie brauchten nur in der wöchentlich herausgegebenen vertraulichen »Warnliste« nachzusehen, die die Kreditkartengesellschaft allen Kaufleuten, Hotels und Restaurants zustellte. War die Karte nicht auf der Liste geführt, wurde sie zu einem weiteren intensiven Einkaufsbummel benutzt.
»Wir haben in letzter Zeit verdammt viel Geld durch Betrug eingebüßt«, sagte Nolan Wainwright. »Weit über dem sonstigen Durchschnitt. Auch deshalb wollte ich gern mit Ihnen sprechen.«
Sie betraten ein Keycharge-Sicherheitsbüro, das Wainwright sich für diesen Nachmittag hatte reservieren lassen. Er schloß die Tür. Äußerlich waren die beiden Männer denkbar verschieden - Vandervoort war blond, rundlich, unsportlich und hatte einen Bauchansatz; Wainwright war schwarz, groß, durchtrainiert, hart und muskulös. Auch ihrer Persönlichkeit nach unterschieden sie sich, aber das Verhältnis zwischen ihnen war gut.
»So, jetzt veranstalten wir mal ein Ratespiel, aber ohne Preise«, sagte Nolan Wainwright. Nach Art eines Pokerspielers legte er acht Plastik-Kreditkarten vor sich auf den Schreibtisch, eine nach der anderen.
»Vier von diesen Kreditkarten sind gefälscht«, fuhr der Sicherheitschef fort. »Können Sie die herausfischen?«
»Aber sicher. Das ist doch leicht. Die Fälscher verwenden für das Prägen des Namens immer eine andere Schrift als für... « Vandervoort stockte, dann beugte er sich vor und betrachtete die Karten aus der Nähe. »Mein Gott! Bei denen hier ist die Schrift auf jeder Karte gleich.«
»Fast. Wenn man weiß, worauf man achten muß, kann man mit der Lupe leichte Abweichungen erkennen.« Wainwright zog eine Lupe hervor. Er trennte die Karten in zwei Gruppen, dann wies er auf Verschiedenheiten in der Prägung auf den vier echten Karten und den anderen hin.
Vandervoort nickte. »Ich sehe jetzt die Unterschiede, aber ohne das Glas hätte ich nichts gemerkt. Wie sehen die Fälschungen unter Ultraviolett aus?«
»Ganz genauso wie die echten.«
»Schlimm.«
Vor etlichen Monaten hatte man, dem Beispiel von American Express folgend, ein Geheimzeichen auf die Vorderseite aller authentischen Keycharge-Kreditkarten gedruckt. Es war nur unter ultravioletter Bestrahlung sichtbar. Sinn der Sache war es, eine schnelle und mühelose Prüfungsmethode für die Echtheit einer jeden Karte zu schaffen. Jetzt hatte man auch diese Sicherung umgangen.
»Allerdings, das ist schlimm«, bestätigte Nolan Wainwright. »Und das hier sind nur Kostproben. Ich habe noch vier Dutzend davon: abgefangen, nachdem sie mit Erfolg im Einzelhandel und in Restaurants, für Flugscheine, Alkoholika und andere Dinge gebraucht worden waren. Und von jeder Karte könnte man sagen, daß es die beste Fälschung ist, die uns je unter die Augen gekommen ist.«
»Verhaftungen?«
»Bisher nicht. Wenn die Leute spitzkriegen, daß eine faule Karte überprüft wird, marschieren sie einfach aus dem Laden, verlassen den Flugschalter, verduften, wie gerade eben vor ein paar Minuten.« Er zeigte mit der Hand hinüber zu dem Bewilligungszentrum. »Und außerdem, was hilft es uns schon, wenn wir ein paar Benutzer verhaften; das führt uns nicht unbedingt an den Ursprung der Karten. Die werden gewöhnlich unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen an den Mann gebracht und dann noch etliche Male weiterverkauft, bis jede Spur verwischt ist.«
Alex Vandervoort nahm eine der gefälschten blau-grüngoldenen Karten und drehte sie um. »Auch der Kunststoff scheint genau der gleiche zu sein.«
»Die Dinger werden aus echten Blankostücken gefertigt, die planmäßig gestohlen werden. Das ist die einzige Erklärung;
sonst könnten sie nicht so gut sein. Übrigens haben wir, glaube ich, die Quelle selbst aufgespürt«, fuhr der Sicherheitschef fort. »Vor vier Monaten ist bei einem unserer Lieferanten eingebrochen worden. Die Diebe konnten bis in den doppelt und dreifach gesicherten und gepanzerten Lagerraum eindringen, wo die fertigen Plastikplatten verwahrt werden. Dreihundert Bogen fehlten.«
Vandervoort stieß einen leisen Pfiff aus. Ein einziger Plastikbogen ergab sechsundsechzig Keycharge-Kreditkarten. Das konnte im ungünstigsten Fall fast zwanzigtausend gefälschte Karten bedeuten.
»Ich habe auch schon nachgerechnet.« Wainwright deutete wieder auf die Falsifikate auf dem Schreibtisch. »Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Okay, die Fälschungen, von denen wir wissen - oder zu wissen glauben -, können zehn Millionen Dollar Verlust bedeuten, bevor wir sie aus dem Verkehr ziehen. Aber die anderen, von denen wir noch nichts ahnen? Das können noch gut und gern zehnmal so viele sein.«
»Das sind ja schöne Aussichten!«
Alex Vandervoort ging in dem kleinen Büro auf und ab, während seine Gedanken Gestalt annahmen.
Er überlegte: Seit Einführung der Kreditkarten waren alle Banken, die sie ausgaben, von schweren Verlusten durch Fälschungen heimgesucht worden. Anfangs wurden ganze Postsäcke voller Karten gestohlen, und die Diebe feierten wahre Einkaufsorgien - auf Kosten der Bank. Einige Postsäcke waren geraubt und den Banken gegen ein Lösegeld zum Rückkauf angeboten worden. Die Banken hatten gezahlt, wohl wissend, daß es sie sehr viel teurer zu stehen kommen würde, wenn die Karten erst einmal in der Unterwelt verteilt und benutzt wurden. Im Jahre 1974 bezogen Pan American Airways Prügel von Presse und Öffentlichkeit, weil sie zugegeben hatten, Verbrechern für die Rückgabe großer Mengen gestohlener Flugschein-Formulare Geld gezahlt zu haben. Die Fluggesellschaft hatte damit enorme Verluste durch mißbräuchliche Benutzung der Flugscheine abwenden wollen. Diejenigen, die PanAm so heftig kritisierten, ahnten nicht, daß einige der Großbanken es seit Jahren in aller Stille ebenso machten.
Im Laufe der Zeit konnte der Diebstahl von Kreditkarten in der Post eingedämmt werden, aber inzwischen war die Unterwelt zu neuen, raffinierteren Methoden übergegangen. Dazu gehörte die Fälschung. Die ersten Kartenfälschungen waren plump und leicht erkennbar, aber die Qualität verbesserte sich laufend, bis - wie Wainwright demonstriert hatte - nur noch Experten den Unterschied entdecken konnten.
Kaum war eine neue Sicherheitsmaßnahme für Kreditkarten entwickelt, fand die kriminelle Intelligenz einen Ausweg oder ging zum Angriff auf einen anderen schwachen Punkt über. So kam zum Beispiel jetzt ein neuer Typ von Kreditkarten auf den Markt, der ein »zerhacktes« Paßbild des Karteninhabers zeigte. Mit bloßem Auge betrachtet, war dieses Foto ein konturenloser Fleck. Erst ein Dechiffrier-Betrachter machte daraus wieder ein scharfes, klar erkennbares Bild, das die Identifizierung des Karteninhabers ermöglichte. Im Augenblick schien das System vielversprechend, aber Alex bezweifelte keinen Moment, daß das organisierte Verbrechen schon bald dahinterkommen würde, wie man »zerhackte« Paßbilder duplizieren konnte.
Von Zeit zu Zeit gelang es, Leute, die gestohlene oder gefälschte Kreditkarten verwendeten, festzunehmen, zu überführen und zu verurteilen, aber das war immer nur ein geringer Prozentsatz. Das Hauptproblem der Banken lag in ihrem Mangel an Spezialisten, die in der Lage waren, diese moderne Form des Betrugs zu bekämpfen. Davon gab es einfach nicht genug.
Alex blieb stehen.
»Glauben Sie, daß bei diesen neuesten Fälschungen eine kriminelle Organisation dahintersteckt?« fragte er.
»Das ist mit Sicherheit der Fall. Bei einem derartig phantastischen Endprodukt muß eine Organisation dahinterstehen. Für Fälschungen dieser Qualität braucht man Kapital, Maschinen, Spezialkenntnisse und ein funktionierendes Verteilernetz. Es gibt andere Zeichen, die in diese Richtung weisen.«
»Zum Beispiel?«
»Wie Sie wissen«, führte Wainwright aus, »halte ich Kontakt zu Polizei und Staatsanwaltschaften. In letzter Zeit ist im ganzen Mittleren Westen eine starke Zunahme an Falschgeld, gefälschten Traveller-Schecks und gefälschten Kreditkarten zu verzeichnen - betroffen sind außer unseren eigenen Karten auch andere Kreditkartensysteme. Außerdem ist ein ungewöhnlich starker Verkehr in gestohlenen und gefälschten Wertpapieren und Schecks festzustellen.«
»Und Sie glauben, daß es da Zusammenhänge gibt, auch mit unseren Keycharge-Verlusten?«
»Sagen wir mal: Es ist durchaus möglich.«
»Was tut die Sicherheitsabteilung dagegen?«
»Soviel wir können. Jeder verlorenen oder sonstwie verschwundenen Keycharge-Karte, die betrügerisch verwendet wird, spüren wir, so gut es geht, nach. Die Sicherstellung von Karten und die Strafverfolgungen wegen Betrugs haben in diesem Jahr von Monat zu Monat zugenommen: die genauen Zahlen sind Ihnen in unseren Berichten vorgelegt worden. Jetzt kommen wir nur noch weiter, wenn wir eine Untersuchung großen Stils organisieren, aber dafür fehlt es mir an Leuten und an Geld.«
Alex Vandervoort lächelte trübe. »Ich wußte doch, daß es letzten Endes auf Ihren Etat hinausläuft.«
Und er konnte sich auch denken, was jetzt kommen würde. Er kannte die Probleme, mit denen Nolan Wainwright zu kämpfen hatte.
Wainwright, einer der Vizepräsidenten der First Mercantile American, war verantwortlich für alle Sicherheitsangelegenheiten in der Zentrale und in sämtlichen Filialen der Bank. Die Sicherheitsabteilung für das Kreditkartensystem war nur ein Teil seines Arbeitsbereiches. In den letzten Jahren waren Rang und Geltung des Sicherheitsdienstes innerhalb der Bank angehoben worden, man hatte auch den Etat vergrößert, aber die zur Verfügung gestellte Summe reichte noch immer nicht aus. Das wußte jeder in der Geschäftsleitung. Aber die Sicherheit warf nun einmal keine Gewinne ab, und deshalb rangierte sie auf der Liste für zusätzlich zu vergebende Geldmittel ziemlich weit unten.
»Sie haben bestimmt schon Vorschläge und Zahlen parat, Nolan. Das kennt man doch bei Ihnen.«
Wainwright legte den braunen Aktendeckel, den er mitgebracht hatte, auf den Tisch. »Da steht alles drin. Am dringendsten ist die Einstellung von zwei weiteren hauptberuflichen Prüfern für die Kreditkartenabteilung. Ich beantrage außerdem Geldmittel für einen getarnt arbeitenden Agenten, dessen Auftrag es sein wird, die Quelle dieser gefälschten Karten ausfindig zu machen und außerdem das Leck innerhalb unserer Bank zu orten.«
Überrascht blickte Vandervoort auf. »Glauben Sie denn, daß Sie jemanden dafür finden?«
Dieses Mal lächelte Wainwright. »Eine Anzeige in der Spalte >Stellenangebote< wird uns wohl nicht weiterhelfen. Aber versuchen kann ich's ja mal.«
»Ich will mir Ihre Vorschläge genau ansehen und mein möglichstes tun. Mehr kann ich nicht versprechen. Darf ich diese Karten behalten?«
Der Sicherheitschef nickte.
»Sonst noch etwas auf dem Herzen?«
»Nur dies: Ich habe den Eindruck, daß die Fälschung von Kreditkarten und ihre betrügerische Benutzung hier von niemandem so recht ernstgenommen wird, nicht einmal von Ihnen selbst, Alex. Wir beglückwünschen uns dazu, daß es gelungen ist, die Verluste auf 0,75 Prozent des Gesamtumsatzes zu begrenzen, aber der Umsatz ist enorm gestiegen, während der Prozentsatz nicht nur der gleiche geblieben ist, sondern sogar zugenommen hat. Wenn ich recht informiert bin, rechnen wir für das nächste Jahr mit einem Keycharge-Gesamtumsatz von drei Milliarden Dollar.«
»Ja. Das hoffen wir zumindest.«
»Das wären dann - wenn man den gleichen Prozentsatz unterstellt - Verluste durch Betrug von mehr als zweiundzwanzig Millionen Dollar.«
Vandervoort sagte trocken: »Wir reden da lieber in Prozentsätzen. Das klingt harmloser, und die Direktoren werden nicht um ihren Schlaf gebracht.«
»Ist das nicht ein bißchen zynisch?«
»Ja, das mag sein.«
Und doch war das die Haltung, wie Alex wußte, die die Banken - alle Banken - bewußt einnahmen. Sie bagatellisierten absichtlich die Kreditkartendelikte und nahmen die daraus resultierenden Verluste als Teil der Geschäftskosten hin. Erwirtschaftete irgendeine andere Abteilung der Bank einen Verlust von 7,5 Millionen Dollar in einem einzigen Jahr, dann wäre sofort die Hölle los. Bei Kreditkarten aber nahm man »drei Viertel Prozent« a conto Kriminalität hin, oder man ignorierte es der Bequemlichkeit halber. Die Alternative - ein energisch und mit allen gesetzlichen Mitteln geführter Kampf gegen das Verbrechen - wäre viel teurer. Natürlich konnte man sich auf den Standpunkt stellen, daß diese Einstellung der Banken durch nichts zu rechtfertigen war, weil am Ende die Kunden - die Kreditkarteninhaber - auf dem Wege über höhere Gebühren für die Verluste aufzukommen hatten. Vom finanziellen Gesichtspunkt aus jedoch war die Rechnung sinnvoll.
»Manchmal«, sagte Alex, »kommt mir das Kreditkartensystem ziemlich unverdaulich vor, jedenfalls zu einem Teil. Aber ich muß in den Grenzen dessen leben, was ich ändern und was ich eben nicht ändern kann. Das gilt auch für die Etat-Festsetzung.«
Er tippte mit dem Finger auf den Aktendeckel, den Wainwright auf den Tisch gelegt hatte. »Lassen Sie mir die Unterlagen da. Ich habe Ihnen ja schon versprochen, daß ich tun will, was ich kann.«
»Wenn ich nichts mehr von Ihnen höre, werde ich erscheinen und mit der Faust auf den Tisch schlagen.«
Alex Vandervoort verabschiedete sich; Nolan Wainwright, der ebenfalls gehen wollte, wurde durch eine Mitteilung aufgehalten. Er möge bitte sofort Mrs. D'Orsey anrufen, die Leiterin der Cityfiliale.
»Ich habe mit dem FBI gesprochen«, sagte Nolan Wainwright zu Edwina D'Orsey. »Morgen schickt man uns zwei Kriminalbeamte.«
»Warum nicht schon heute?«
Er lächelte. »Wenn bei uns eine Leiche läge... Es ist ja nicht einmal geschossen worden. Außerdem ringt das FBI mit einem Problem. Einem Problem namens Personalmangel.«
»Kommt mir bekannt vor.«
»Dann kann ich also die Leute nach Hause gehen lassen?« fragte Miles Eastin.
»Alle, bis auf die Kassiererin. Ich möchte noch einmal mit ihr sprechen«, antwortete Wainwright.
Es war früher Abend. Zwei Stunden waren vergangen, seit Wainwright, von Edwina gerufen, herübergekommen war und die Untersuchung aufgenommen hatte. Inzwischen war er noch einmal alles durchgegangen wie vor ihm Edwina D'Orsey. Er hatte mit ihr selbst gesprochen, dann die Kassiererin Juanita NUnez befragt und schließlich den Innenleiter Tottenhoe und dessen Assistenten, den jungen Miles Eastin, vernommen.
Er hatte auch mit anderen Kassierern gesprochen, die in der Nähe von Mrs. Nunez gearbeitet hatten.
Da er nicht gern auf dem Präsentierteller der Plattform arbeiten mochte, hatte Wainwright sich in einem hinteren Konferenzzimmer einquartiert. In diesem Zimmer befand er sich jetzt mit Edwina D'Orsey und Miles Eastin.
Etwas Neues hatte sich nicht ergeben; nur der Verdacht hatte sich erhärtet, daß es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Diebstahl handelte. Aus diesem Grund mußte nach geltendem Bundesgesetz das FBI hinzugezogen werden. Nur hielt man sich, wie Wainwright sehr gut wußte, bei Vorfällen dieser Art nicht immer strikt an die Vorschriften. Die First Mercantile American und andere Banken zogen es sehr oft vor, Gelddiebstähle unter der Kategorie »unerklärliches Verschwinden« laufen zu lassen, was ihnen die Möglichkeit gab, die Dinge intern zu regeln und sich das mit einer Strafverfolgung verbundene Aufsehen zu ersparen. Einem des Diebstahls verdächtigen Angestellten der Bank konnte es also geschehen, daß er einfach entlassen wurde - unter irgendeinem Vorwand. Und da ein Schuldiger selten Neigung verspürt, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, blieb eine überraschend hohe Zahl von Diebstählen geheim, selbst innerhalb der Bank.
Aber der Verlust, um den es hier ging - angenommen, es handelte sich tatsächlich um Diebstahl -, war zu hoch, die Umstände zu kraß, um die Angelegenheit zu verschweigen.
Es war auch nicht ratsam, weiter abzuwarten in der Hoffnung, daß irgendwelche neuen Tatsachen ans Licht kommen würden. Das FBI schätzte es nämlich gar nicht, wie Wainwright sehr wohl wußte, erst Tage nach dem Ereignis gerufen zu werden, um eine inzwischen kalt gewordene Spur aufzunehmen. Aber bis die Kriminalbeamten erschienen, wollte er selbst tun, was er konnte.
Als Edwina und Miles Eastin das kleine Büro verließen, sagte der Assistent des Innenleiters: »Ich schicke Ihnen Mrs. Nunez herein.«
Einen Augenblick später erschien die kleine, zarte Gestalt der Juanita Nunez in der Bürotür. »Kommen Sie rein«, sagte Nolan Wainwright. »Schließen Sie die Tür. Setzen Sie sich.«
Sein Ton war dienstlich und geschäftsmäßig. Sein Instinkt sagte ihm, daß vorgetäuschte Freundlichkeit bei dieser Frau nichts ausrichten würde.
»Ich möchte Ihre Geschichte noch einmal ganz von vorn hören, Schritt für Schritt.«
Juanita Nunez hatte das gleiche verdrossene und trotzige Gesicht aufgesetzt wie zuvor, aber jetzt zeigte es darüber hinaus auch eine Spur von Erschöpfung. Trotzdem stieß sie in einer plötzlichen Temperamentsaufwallung hervor: »Dreimal habe ich das schon erzählt. Alles!«
»Vielleicht haben Sie die anderen Male etwas vergessen.«
»Nichts habe ich vergessen!«
»Dann gehen wir eben alles ein viertes Mal durch, und wenn das FBI kommt, ein fünftes und danach vielleicht ein sechstes Mal.« Er sprach nicht laut, aber mit Autorität, und die ganze Zeit ließ er Juanita nicht aus den Augen. Wäre er noch bei der Polizei, dachte Wainwright, dann müßte er sie jetzt über ihre gesetzlichen Rechte belehren. Aber da er es nicht war, würde er es auch nicht tun. In solchen Situationen waren private Sicherheitsorgane manchmal der Polizei gegenüber im Vorteil.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken«, sagte die junge Frau. »Sie denken, ich werde diesmal was anderes sagen als die ersten drei Male, damit Sie mir nachweisen können, daß ich gelogen habe.«
»Haben Sie denn gelogen?«
»Nein!«
»Warum machen Sie sich dann solche Sorgen?«
Ihre Stimme zitterte. »Weil ich müde bin. Ich möchte gehen.«
»Ich auch. Und wenn da nicht die Kleinigkeit von sechstausend Dollar wäre, die verschwunden sind - und Sie geben zu, daß Sie diese sechstausend Dollar vorher in Ihrem Besitz hatten -, dann hätte ich längst Feierabend gemacht und wäre nach Hause gefahren. Aber das Geld ist nun mal weg, und wir hätten es gern wieder. Erzählen Sie mir also noch einmal, was heute nachmittag war - als Sie, wie Sie sagen, zum ersten Mal bemerkten, daß etwas nicht stimmte.«
»Es war, wie ich Ihnen gesagt habe - zwanzig Minuten nach der Mittagspause.«
Er las Verachtung in ihren Augen. Zu Anfang, als er die ersten Fragen an sie richtete, hatte er gespürt, daß sie ihm gegenüber unbefangener war als bei den anderen. Zweifellos nahm sie an, daß er, der Schwarze, und sie, die Puertorikanerin, gewissermaßen natürliche Verbündete wären oder, wenn das nicht, sie doch leichter mit ihm zurechtkommen würde. Sie konnte nicht ahnen, daß er absolut farbenblind war, wenn es galt, etwas zu untersuchen. Auch konnte er sich nicht um die persönlichen Sorgen kümmern, die dieses Mädchen vielleicht drückten. Edwina D'Orsey hatte so etwas erwähnt. Doch für Wainwright gab es keinen persönlichen Umstand, der Diebstahl oder Unehrlichkeit rechtfertigte.
Natürlich hatte die Nunez recht mit ihrer Behauptung, er wolle sie bei einer Abweichung von ihren ursprünglichen Angaben ertappen. Und das konnte leicht passieren, obwohl sie ungewöhnlich vorsichtig war. Sie hatte über Müdigkeit geklagt. Als erfahrener Untersuchungsleiter wußte Wainwright, daß Schuldige bei einsetzender Ermüdung während der Vernehmung dazu neigten, Fehler zu machen - zuerst einen geringfügigen, dann noch einen und noch einen, bis sie in einem zähen Netz von Lügen und Unstimmigkeiten zappelten und nicht mehr herauskamen.
War es jetzt soweit? Er trieb das Verhör weiter voran.
Es dauerte eine Dreiviertelstunde, und Juanita Nunez gab eine Darstellung der Ereignisse, die in nichts von ihren bisherigen Aussagen abwich. Obwohl er enttäuscht war, daß nichts Neues dabei herausgekommen war, hatte ihn Mrs. Nunez' Beharren auf ihrer Aussage auch nicht sonderlich beeindruckt. Als ehemaliger Polizist wußte er, daß es dafür zwei mögliche Deutungen gab: Entweder sagte sie die Wahrheit, oder sie hatte ihre Aussage so perfekt einstudiert, daß nichts sie aus dem Gleichgewicht zu bringen vermochte. Es sprach sogar einiges für die letztere Annahme, denn bei schuldlosen Personen gab es gewöhnlich leichte Abweichungen zwischen den verschiedenen Aussagen. Es war ein Punkt, auf den erfahrene Kriminalbeamte zu achten gelernt hatten.
Am Ende sagte Wainwright: »Gut, das war's für heute. Morgen kommt der Lügendetektor dran. Die Bank wird das arrangieren.«
Er sagte das ganz beiläufig, achtete dabei aber genau auf ihre Reaktion. Daß diese so plötzlich und so heftig ausfallen würde, hatte er allerdings nicht erwartet.
Das kleine dunkle Gesicht des Mädchens lief rot an. Mit einem Ruck richtete sie sich kerzengerade auf.
»Nein! Das lasse ich mir nicht gefallen!«
»Warum nicht?«
»Lügendetektor! Das ist eine Beleidigung!«
»I wo. Viele Leute lassen sich mit dem Lügendetektor testen. Wenn Sie schuldlos sind, wird der Apparat es zeigen.«
»Ich traue solchen Apparaten nicht. Auch Ihnen nicht. j Basta con mi palabra!«
Er überhörte das Spanisch; er nahm an, daß es sich um eine Beschimpfung handelte. »Sie haben gar keinen Grund, mir zu mißtrauen. Ich will nichts weiter von Ihnen als die Wahrheit.«
»Die haben Sie gehört! Aber Sie erkennen Sie nicht! Sie sind genauso wie die anderen, Sie glauben, ich habe das Geld genommen. Es hat keinen Zweck, Ihnen zu sagen, daß es nicht wahr ist.«
Wainwright stand auf. Er öffnete die Tür des kleinen Büros und trat zur Seite, um das Mädchen gehen zu lassen. »Vielleicht überlegen Sie sich das mit dem Test noch einmal bis morgen«, riet er ihr. »Es macht einen schlechten Eindruck, wenn Sie sich weigern.«
Sie sah ihm gerade ins Gesicht. »Ich muß doch so einen Test nicht über mich ergehen lassen, oder?«
»Nein.«
»Dann werde ich es auch nicht tun.«
Mit kurzen, hastigen Schritten marschierte sie aus dem Büro. Ein wenig später und ohne Eile folgte ihr Wainwright.
In der großen Schalterhalle waren die Lichter jetzt gedämpft, obwohl hier und da noch einige Angestellte an ihren Schreibtischen saßen. Die meisten waren schon gegangen. Draußen hatte sich die Dunkelheit über den rauhen Herbsttag gesenkt.
Juanita Nunez ging in den Umkleideraum, holte ihre Straßenkleidung aus dem Spind und kam zurück. Wainwright schenkte sie keine Beachtung. Miles Eastin, der mit einem Schlüssel gewartet hatte, schloß ihr das Hauptportal auf.
»Kann ich irgend etwas für Sie tun, Juanita?« fragte er. »Soll ich Sie nach Hause fahren?«
Sie schüttelte stumm den Kopf und ging hinaus.
Vom Fenster aus beobachtete Nolan Wainwright, wie sie zu einer Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite ging. Wenn er mehr Leute hätte, dachte er, könnte er sie jetzt beschatten lassen, aber wahrscheinlich würde das auch nicht viel nützen. Mrs. Nunez war zu gerissen, als daß sie sich verraten würde, indem sie einem anderen öffentlich das Geld übergab oder es an einem der üblichen Orte versteckte.
Bestimmt hatte sie das Geld auch nicht bei sich; sie wir zu schlau, um so ein Wagnis einzugehen. Außerdem machte diese Summe ein stattliches Päckchen aus, das man nicht so leicht verbergen konnte. Er hatte sie während des Gesprächs und auch hinterher genau angesehen. Ihre Kleider lagen eng an dem kleinen Körper an, und er hatte nirgendwo eine verdächtige Ausbuchtung entdeckt. Die Handtasche, die sie beim Verlassen der Bank trug, war winzig. Päckchen oder Tüten hatte sie nicht bei sich.
Es gab für ihn eigentlich keinen Zweifel mehr an Juanita Nunez' Schuld. Ihre Weigerung, sich einem Test mit dem Lügendetektor zu unterziehen, hatte ihn im Verein mit allen anderen Tatsachen und Anzeichen davon überzeugt. Und was ihren Gefühlsausbruch anging - nun, es war sehr wohl möglich, daß die Szene eingeplant und vielleicht sogar vorher einstudiert worden war. Jeder Bankangestellte wußte, daß bei begründetem Diebstahlsverdacht der Lügendetektor zum Einsatz kam; auch Juanita Nunez konnte es gewußt und sich darauf vorbereitet haben, daß man ihr mit diesem Vorschlag kommen würde.
Als ihm wieder einfiel, mit welcher Verachtung sie ihn angesehen hatte, während ihr vorher anzumerken gewesen war, daß sie ihn als möglichen Verbündeten betrachtete, fühlte Wainwright, wie Zorn in ihm aufstieg. Und er ertappte sich bei dem für ihn ganz ungewöhnlichen Wunsch, daß die Männer vom FBI sie tüchtig in die Mangel nehmen sollten. Allerdings, leicht würde es nicht sein, aus der etwas herauszubekommen. Die war zäh.
Miles Eastin hatte den Haupteingang wieder verschlossen und kam jetzt zurück.
»So«, sagte er fröhlich, »Zeit, daß wir unter die Dusche kommen.«
Der Sicherheitschef nickte. »Das war mal wieder ein Tag...«
Eastin schien noch etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber anders.
»Haben Sie noch was auf dem Herzen?« fragte Wainwright.
Wieder zögerte Eastin, aber dann gab er zu: »Doch, ja, da wäre noch was. Ich hab's bisher noch nicht erwähnt; vielleicht bilde ich es mir nur ein.«
»Hat es was mit dem verschwundenen Geld zu tun?«
»Ich glaube schon.«
Wainwright sagte mit einiger Schärfe: »Dann raus mit der Sprache, auch wenn Sie nicht ganz sicher sind.«
Eastin nickte. »Bitte, wenn Sie meinen....«
Wainwright wartete.
»Sie haben ja gehört - ich glaube, von Mrs. D'Orsey -, daß Juanita Nunez verheiratet ist. Ihr Mann hat sie verlassen. Er hat sie mit dem Kind sitzenlassen.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Als die beiden noch zusammen lebten, kam er gelegentlich hierher. Um sie zu sprechen, vermute ich. Ich habe ein, zwei Mal ein paar Worte mit ihm gewechselt. Sein Name war - ach ja, jetzt fällt's mir wieder ein. Er hieß Carlos.«
»Und? Was ist mit ihm?«
»Ich glaube, er war heute in der Bank.«
Wainwright sah ihn scharf an. »Sind Sie sicher?«
»Sicher? Na ja, also vor Gericht beschwören würde ich es nicht. Mir ist nur jemand aufgefallen; nanu, hab' ich gedacht, da ist ja Carlos! Aber dann hab' ich die Sache gleich wieder vergessen. Ich hatte viel zu tun. Es gab auch keinen Grund, darüber nachzudenken - erst sehr viel später.«
»Wann war das, als Sie ihn sahen?«
»Das muß so gegen zehn, elf Uhr gewesen sein.«
»Dieser Mann, der Ihrer Meinung nach der Mann von Mrs. Nunez gewesen sein könnte - haben Sie gesehen, daß er zu ihrem Schalter gegangen ist?«
»Nein, das habe ich nicht gesehen.« Eastins hübsches junges Gesicht wirkte zergrübelt und unsicher. »Wie gesagt, ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Ich kann nur eins sagen: Wenn er es wirklich war, dann hat er nicht sehr weit von Juanita gestanden.«
»Das ist alles?«
»Ja.« Und Miles Eastin fügte fast ein wenig zerknirscht hinzu: »Tut mir leid, aber mehr weiß ich wirklich nicht.«
»Gut, daß Sie es mir gesagt haben. Es könnte wichtig sein.«
Wenn Eastin sich nicht geirrt hatte, dachte Wainwright, könnte die Anwesenheit des Mannes zu seiner eigenen Theorie passen, daß die Frau nämlich einen Komplicen gehabt haben müsse; vielleicht lebte sie wieder mit ihrem Mann zusammen, oder die beiden hatten eine Absprache getroffen. Vielleicht hatte sie ihm das Geld am Schalter ausgezahlt, und er hatte damit die Bank verlassen, um die Beute später mit ihr zu teilen. Es war immerhin eine Möglichkeit, die das FBI interessieren würde.
»Von dem verschwundenen Geld mal abgesehen«, sagte Eastin, »reden alle in der Bank von Mr. Rosselli - wir haben gestern davon gehört, von seiner Krankheit. Die Leute sind ganz erschüttert.«
Plötzlich und schmerzlich fiel Wainwright alles wieder ein, als er den jüngeren Mann betrachtete, der gewöhnlich so strahlender Laune war, in diesem Augenblick aber ehrlich niedergeschlagen und traurig aussah.
Gleichzeitig gestand Wainwright sich ein, daß die Untersuchung bei ihm jeden Gedanken an Ben Rosselli verdrängt hatte. Und jetzt, als ihm alles wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wurde, empfand er neuen Zorn darüber, daß Diebereien auch zu solcher Zeit ihr jämmerliches Zeichen setzen durften.
Er murmelte einen Abschiedsgruß, wünschte Eastin eine gute Nacht und verließ die Cityfiliale durch den Tunnel. Mit seinem Hauptschlüssel öffnete er die Tür zum Tower der Zentrale.
Auf der anderen Straßenseite wartete Juanita Nunez - eine winzige Gestalt vor dem hochaufragenden Gebäudekomplex der First Mercantile American Bank und der Rosselli Plaza noch immer auf ihren Bus.
Sie hatte gesehen, wie der Sicherheitschef sie von einem Fenster der Bank aus beobachtete, und aufgeatmet, als das Gesicht verschwand, obwohl ihr die Vernunft sagte, daß die Erleichterung nur vorübergehend sein konnte, daß das Elend der letzten Stunden wiederkehren und es am nächsten Tag ebenso schlimm, wenn nicht viel schlimmer sein würde.
Ein kalter Wind, der messerscharf durch die Straßen der Stadt fegte, drang durch ihren dünnen Mantel und ließ sie erschauern. Der Bus, den sie gewöhnlich nahm, war abgefahren. Sie hoffte, daß bald der nächste kam.
Dieses Erschauern kam, wie Juanita wußte, zum Teil auch von ihrer Angst, denn in diesem Augenblick hatte sie eine Angst, die entsetzlicher war als alles, was sie in ihrem Leben bisher durchgemacht hatte.
Sie hatte Angst, und sie war ratlos.
Ratlos, weil sie keine Ahnung hatte, wie das Geld verschwunden war.
Juanita wußte, daß sie das Geld nicht gestohlen hatte, daß sie es nicht versehentlich über den Schaltertisch hinweg ausgezahlt hatte, daß sie es auch nicht auf irgendeine andere Weise beiseite geschafft hatte.
Das Schlimme war nur: kein Mensch würde ihr das glauben.
Sie hätte es wahrscheinlich auch nicht geglaubt, wenn die Sache einer Kollegin passiert wäre, gestand sie sich ein.
Wie konnten die sechstausend Dollar nur verschwunden sein? Es war unmöglich, unmöglich. Und doch waren sie verschwunden.
Immer wieder hatte sie sich an diesem Nachmittag jeden einzelnen Augenblick des Tages in die Erinnerung zurückgerufen, um eine Erklärung zu finden. Es gab keine. Sie hatte an jede einzelne Bargeld-Transaktion gedacht, die am Vormittag und am frühen Nachmittag über ihren Schalter gegangen war, und sie hatte dabei ihre, wie sie wohl wußte, ungewöhnlich starke Erinnerungskraft bis aufs äußerste angespannt, aber ihr war keine Lösung eingefallen. Nicht einmal die unwahrscheinlichsten Vermutungen, die sie anstellte, erbrachten irgendeinen Hinweis.
Sie wußte auch ganz genau, daß sie ihr Geldfach sicher verschlossen hatte, ehe sie es vor ihrer Mittagspause in den Tresorraum brachte, und sie wußte, daß es noch verschlossen war, als sie zurückkam; auch, daß sie die Kombination, die sie sich selbst ausgedacht, die sie selbst eingestellt hatte, keinem Menschen gegenüber je erwähnt hatte. Sie hatte sie auch nie aufgeschrieben; sie verließ sich, wie üblich, auf ihr Gedächtnis.
Und gerade dieses Gedächtnis hatte ihre Lage eigentlich noch verschlimmert.
Als sie um 14.00 Uhr die genaue Summe genannt hatte, die ihr fehlte, hatte ihr, wie sie wohl wußte, niemand geglaubt weder Mrs. D'Orsey noch Mr. Tottenhoe, noch Miles, der am freundlichsten von allen zu ihr gewesen war. Sie hatten es nicht für möglich gehalten, daß sie den Betrag kennen konnte.
Aber sie hatte ihn gekannt. Sie wußte immer, wieviel Bargeld sie noch hatte, wenn sie an ihrer Kasse stand. Nur konnte sie es den Leuten nicht erklären, wie oder warum das so war.
Sie war sich nicht einmal selbst genau im klaren darüber, wie sie die laufenden Additionen und Subtraktionen in ihrem Kopf vornahm. Es funktionierte einfach. Es geschah ganz ohne Anstrengung, die Rechenvorgänge waren ihr kaum bewußt. Solange Juanita zurückdenken konnte, waren ihr Addieren und Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren so einfach wie das Atmen erschienen und ebenso natürlich.
Sie tat es automatisch, wenn sie am Schalter Geld von einem Kunden entgegennahm oder Geld auszahlte. Und sie hatte es sich angewöhnt, immer wieder einen Blick auf ihren Barbestand zu werfen, zu kontrollieren, ob das Geld, das sie noch zur Verfügung hatte, auch wirklich vorhanden war, ob die Noten der verschiedenen Werte alle in ausreichender Menge an ihrem vorgeschriebenen Platz lagen. Es klappte sogar bei den Münzen. Da wußte sie zwar die Gesamtsumme nicht so genau wie bei den Noten, aber sie konnte den Betrag jederzeit recht genau überblicken und schätzen. Manchmal, wenn sie am Ende eines besonders lebhaften Tages ihr Geld nachzählte und durchrechnete, konnte die Zahl, die sie im Kopf hatte, um ein paar Dollar von der tatsächlichen Summe abweichen, um mehr aber nie.
Woher hatte sie diese Fähigkeit? Sie wußte es nicht.
Sie hatte in der Schule nie geglänzt, hatte in den meisten Fächern selten über dem unteren Durchschnitt gelegen. Selbst in Mathematik begriff sie im Grunde das Wesentliche nicht; sie konnte nur blitzartig rechnen und Zahlen im Kopfe speichern.
Endlich erschien der Bus mit Dieselgestank und stotterndem Motorengeräusch. Zusammen mit den anderen Wartenden kletterte sie hinein. Sitze waren nicht mehr frei, selbst die Stehenden fanden kaum Platz. Es gelang ihr, sich irgendwo festzuhalten, und während der Bus durch die Straßen der Stadt schwankte, zermarterte sie weiter ihr Gehirn.
Was würde morgen passieren? Miles hatte gesagt, daß Männer vom FBI kommen würden. Die Vorstellung ließ neue Furcht in ihr aufsteigen, und ihr Gesicht verkrampfte sich bei dem Gedanken an ihre aussichtslose Situation - es war der gleiche Ausdruck, den Edwina D'Orsey und Nolan Wainwright für Feindseligkeit gehalten hatten.
Am besten war es, so wenig wie möglich zu sagen, genau wie an diesem Tag. Es glaubte ihr ja doch niemand.
Was nun den Apparat betraf, den Lügendetektor, da würde sie sich weigern. Sie hatte keine Ahnung, wie so ein Ding funktionierte, aber wenn kein Mensch sie verstehen, ihr glauben oder ihr helfen wollte, warum sollte dann ein Apparat - der noch dazu der Bank gehörte - sich anders verhalten?
Sie mußte drei Häuserblocks weit marschieren von der Bushaltestelle bis zu dem Kindergarten, wo sie Estela morgens auf dem Weg zur Arbeit abzuliefern pflegte. Juanita ging, so schnell sie konnte, denn es war später als gewöhnlich.
Das kleine Mädchen lief ihr entgegen, als sie das enge Vorschul-Spielzimmer im Souterrain des Privathauses betrat. Das Haus war, wie alle anderen in dieser Gegend, alt und heruntergekommen, aber die Klassenzimmer waren sauber und fröhlich - und aus diesem Grunde hatte Juanita gerade diesem privaten Kindergarten den Vorzug gegeben, obwohl hier das Schulgeld höher war und ihren Etat stark belastete.
Estela war aufgeregt, voll Lebensfreude wie immer.
»Mammi! Mammi! Guck mal, mein Bild. Das ist eine PuffPuff.« Sie zeigte mit einem farbverschmierten Finger. »Da ist die Bemse. Das ist ein Mann.«
Sie war klein für ihre drei Jahre, dunkel wie Juanita, mit großen, blanken Augen, in denen sich jedes neue von ihr entdeckte Wunder spiegelte.
Juanita drückte sie an sich und sprach ihr liebevoll vor: »Bremse, amorcito.«
Die Stille in dem Haus besagte deutlich, daß die anderen Kinder schon alle gegangen waren.
Miss Ferroe, Inhaberin und Leiterin des Kindergartens, kam steif, mit gerunzelter Stirn herein. Sie warf einen vielsagenden Blick auf ihre Armbanduhr.
»Mrs. Nunez, als besonderes Entgegenkommen hat Estela Erlaubnis erhalten, länger zu bleiben als die anderen, aber dies ist wirklich viel zu spät... «
»Es tut mir leid, Miss Ferroe. In der Bank ist etwas Unvorhergesehenes passiert.«
»Auch ich habe private Verpflichtungen. Und die anderen Eltern beachten die Schlußzeiten unserer Schule.«
»Es wird nicht wieder vorkommen. Ich verspreche es.«
»Gut. Und da Sie gerade hier sind, Mrs. Nunez - darf ich Sie daran erinnern, daß die letzte Monatsrechnung für Estela noch nicht beglichen ist.«
»Ich zahle am Freitag. Dann bekomme ich mein Gehalt.«
»Ich bedaure, es erwähnen zu müssen, bitte verstehen Sie das. Estela ist ein liebes kleines Mädchen, und wir freuen uns, sie bei uns zu haben. Aber auch ich habe Rechnungen zu begleichen... «
»Ich verstehe. Freitag ganz bestimmt. Ich verspreche es.«
»Das ist das zweite Versprechen, Mrs. Nunez.«
»Ja, ich weiß.«
»Also gute Nacht dann. Gute Nacht, Estela.«
Trotz ihrer steifleinenen Art konnte diese Frau hervorragend mit Kindern umgehen, und Estela war glücklich dort. Das Geld, das sie dem Kindergarten noch schuldete, würde sie diese Woche von ihrem Gehalt nehmen müssen. Wie die anderen Kassierer erhielt sie es wöchentlich per Scheck. Irgendwie mußte sie dann eben zurechtkommen. Wie, das wußte sie noch nicht genau. Als Kassiererin verdiente sie 98 Dollar pro Woche. Nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben blieben ihr netto 83 Dollar. Davon mußte sie das Essen für zwei Personen bezahlen, die Miete für die kleine Etagenwohnung in Forum East ebenfalls, und auch die Finanzierungsgesellschaft würde die Zahlung der fälligen Raten verlangen, weil sie die letzte nicht überwiesen hatte.
Bevor Carlos vor einem Jahr einfach weggegangen und nicht wiedergekommen war, hatte Juanita in ihrer Naivität gemeinsam mit ihrem Mann einige Abzahlungsverträge unterschrieben. Er hatte sich Anzüge gekauft, einen Gebrauchtwagen, ein Farbfernsehgerät, und alles hatte er mitgenommen. Juanita zahlte noch immer; die Raten schienen sich grenzenlos in die Zukunft fortzupflanzen.
Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, dachte sie, als zur Finanzierungsgesellschaft zu gehen und um noch niedrigere Raten zu bitten. Man würde wieder unfreundlich reagieren, aber das mußte sie ertragen.
Auf dem Weg nach Hause hüpfte Estela fröhlich neben ihr her, die eine kleine Hand fest in Juanitas gelegt. In der anderen Hand trug Juanita das sorgsam zusammengerollte Bild, das Estela gemalt hatte. In der Wohnung angelangt, würden sie dann Abendbrot essen und hinterher zusammen spielen und lachen. Heute abend würde ihr das Lachen schwerfallen, dachte Juanita.
Die Angst und die Hilflosigkeit, die sie am Nachmittag empfunden hatte, vertieften sich noch, als sie zum ersten Mal daran dachte, was geschehen würde, wenn sie ihre Stellung verlor. Die Wahrscheinlichkeit war groß, das wußte sie.
Sie wußte auch, daß es sehr schwer sein würde, eine andere Arbeit zu finden. Keine andere Bank würde sie einstellen, und andere Arbeitgeber würden sie nach ihrem bisherigen Arbeitsplatz fragen, man würde sich erkundigen, von dem verschwundenen Geld hören und ihre Bewerbung ablehnen.
Was sollte sie machen, wenn sie keine Arbeit hatte? Wie sollte sie Estela versorgen?
Plötzlich blieb Juanita stehen, nahm ihre Tochter in die Arme und preßte sie an sich.
Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß ihr morgen jemand glauben, die Wahrheit erkennen würde...
Jemand, irgendjemand.
Aber wer?
Auch Alex Vandervoort war in der Stadt unterwegs.
Als er am Nachmittag von seinem Gespräch mit Nolan Wainwright zurückgekehrt war, hatte Alex, in seiner Büro-Suite auf und ab marschierend, versucht, die neuesten Ereignisse in die rechte Perspektive zu rücken. Ben Rossellis Ankündigung vom Vortag bot genügend Stoff zum Nachdenken. Desgleichen die neue, sich daraus ergebende Situation in der Bank. Und reichlich Stoff zum Nachdenken boten auch die Dinge, die sich in den letzten Monaten in Alex Vandervoorts persönlichem Leben entwickelt hatten.
Auf und ab zu marschieren - zwölf Schritte hin, zwölf Schritte zurück -, das war eine alte Gewohnheit von ihm. Einoder zweimal war er stehengeblieben und hatte noch einmal die gefälschten Keycharge-Kreditkarten, die der Sicherheitschef ihm überlassen hatte, genau betrachtet. Kredite und Kreditkarten beschäftigten ihn noch zusätzlich - nicht nur gefälschte Karten, sondern auch die echten.
Die echten waren hier durch Fahnenabzüge von Anzeigen vertreten, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Texte und Layout stammten von der Werbeagentur Austin, und die Anzeigen hatten den Zweck, die Inhaber von KeychargeKreditkarten zur stärkeren Benutzung ihrer Karten anzuregen.
Eine Anzeige drängte:
GELDSORGEN? WARUM?
BENUTZEN SIE IHRE KEYCHARGE-KARTE
UND
ÜBERLASSEN SIE UNS IHRE GELDSORGEN!
Eine andere behauptete:
RECHNUNGEN SIND SCHMERZLOS WENN SIE SAGEN »BUCHEN SIE'S VON MEINEM KEYCHARGE-KONTO AB!«
Eine dritte riet:
WARUM WARTEN?
IHR ZUKUNFTSTRAUM WIRD WIRKLICHKEIT - SCHON HEUTE!
BENUTZEN SIE KEYCHARGE
- JETZT!
Ein halbes Dutzend andere Anzeigen beschäftigte sich mit dem gleichen Thema.
Alex Vandervoort empfand Unbehagen, wenn er die Texte las.
Sein Unbehagen brauchte jedoch nicht in Taten umgesetzt zu werden. Die Anzeigentexte waren schon von der KeychargeAbteilung der Bank genehmigt und Alex nur zur Kenntnisnahme vorgelegt worden. Außerdem war die generelle Stoßrichtung der Texte schon vor mehreren Wochen vom Direktorium der Bank gebilligt worden, um die Ertragslage bei Keycharge zu steigern, denn das System hatte - wie alle Kreditkarten-Programme - in den ersten Jahren nach der Einführung Verluste gebracht.
Aber hatte das Direktorium wirklich eine so unverhohlen aggressive Werbekampagne im Auge gehabt?
Alex schob die Anzeigenabzüge zusammen und legte sie wieder in den Aktendeckel zurück. Am Abend, zu Hause, wollte er sie sich noch einmal vornehmen, und er würde eine zweite Meinung einholen, wahrscheinlich eine sehr entschiedene. Von Margot.
Margot.
Während er an sie dachte, kam ihm die Erinnerung zurück an das, was Ben Rosselli am Vortag zu ihnen gesagt hatte. Worte, die Alex als Mahnung empfunden hatte, als Mahnung an die Zerbrechlichkeit des Lebens, die Kürze der verbleibenden Zeit, an das unvermeidliche Ende; ein warnend erhobener Finger, daß das Unerwartete immer neben uns steht. Er war bewegt gewesen und traurig, weil es um Ben ging; aber der alte Mann hatte auch, ohne es zu wollen, aufs neue eine Frage heraufbeschworen, die Alex sich wieder und wieder gestellt hatte: Sollte er ein neues Leben mit Margot anfangen? Oder sollte er warten? Und worauf sollte er warten?
Auf Celia?
Diese Frage hatte er sich tausendmal gestellt.
Alex schaute hinaus über die Stadt, dorthin, wo er Celia wußte. Er fragte sich, was sie jetzt wohl tun mochte, wie es ihr ginge.
Die Antwort auf diese Fragen war leicht zu bekommen.
Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und wählte eine Nummer, die er auswendig kannte.
Eine Frauenstimme sagte: »Privates Pflegeheim.«
Er nannte seinen Namen und sagte: »Könnte ich bitte Dr. McCartney sprechen?«
Kurz darauf erkundigte sich eine ruhige und feste Männerstimme: »Wo sind Sie jetzt, Alex?«
»In meinem Büro. Ich habe an meine Frau denken müssen und wie es ihr wohl geht.«
»Ich frage, weil ich Sie heute anrufen und Ihnen vorschlagen wollte, ob Sie Celia nicht besuchen mögen.«
»Letztes Mal sagten Sie, ich sollte lieber davon Abstand nehmen.«
Der Psychiater berichtigte ihn behutsam. »Ich sagte, daß ich weitere Besuche vorläufig für nicht ratsam hielte. Die letzten Besuche, wie Sie sich erinnern werden, haben Ihre Frau eher aufgeregt, anstatt ihr zu helfen.«
»Ich weiß.« Alex zögerte, dann fragte er: »Es ist also eine Änderung eingetreten?«
»Ja, und ich wollte, ich könnte sagen, zum Besseren.«
Es hatte sich so oft etwas geändert, daß er schon ein wenig abgestumpft war. »Was für eine Veränderung?«
»Ihre Frau kapselt sich immer stärker ab. Ihre Flucht vor der Wirklichkeit ist jetzt fast absolut. Deshalb meine ich, daß Ihr Besuch vielleicht nützlich sein könnte.« Gleich darauf korrigierte er sich: »Zumindest dürfte er nicht schaden.«
»Gut. Ich komme heute abend vorbei.«
»Wann Sie wollen, Alex; und schauen Sie bitte zu mir herein. Sie wissen ja, wir haben keine festen Besuchszeiten und keine strengen Hausregeln.«
»Ja, ich weiß.«
Das war einer der Gründe dafür gewesen, dachte er, als er den Hörer auflegte, daß er dieses Heim gewählt hatte, als er vor fast vier Jahren in seiner Verzweiflung entscheiden mußte, was mit Celia geschehen sollte. In dem Heim wurde bewußt jede Anstaltsatmosphäre vermieden. Die Schwestern trugen keine Schwesterntracht. Soweit es zulässig und tragbar war, gestattete man den Patienten, sich frei zu bewegen und eigene Entscheidungen zu treffen. Von wenigen Fällen abgesehen, durften Freunde und Angehörige jederzeit zu Besuch kommen. Selbst der Name »Privates Pflegeheim« war gewählt worden, um möglichst jeden Gedanken an Irrenhaus und Asyl zu vertreiben. Und ein weiterer Grund, dieses Heim zu wählen, war die Tatsache, daß hier Dr. Timothy McCartney, ein junger, glänzender und ideenreicher Psychiater, einem Spezialistenteam vorstand, das schon Fälle geheilt hatte, in denen andere, übliche Behandlungsmethoden versagt hatten.
Es war eine kleine Klinik. Es gab hier nie mehr als einhundertundfünfzig Patienten, dafür war der Stab an Ärzten und Pflegepersonal ungewöhnlich groß. Man konnte sie mit einer Schule vergleichen, in der es nur kleine Klassen gab, so daß dem einzelnen Schüler mehr persönliche Aufmerksamkeit gewidmet werden konnte.
Der moderne Bau selbst und die Gartenanlagen waren so erfreulich, wie Geld und Phantasie es nur zu schaffen vermochten.
Es war eine Privatklinik. Und sie war enorm teuer, aber Alex war damals wie jetzt entschlossen, Celia unter allen Umständen die beste Pflege zu verschaffen. Es war, fand er, das wenigste, was er tun konnte.
Den Rest des Nachmittags widmete er Bankgeschäften. Kurz nach 18.00 Uhr verließ er die FMA-Zentrale, gab seinem Fahrer die Adresse der Klinik und las die Abendzeitung, während sie durch den Verkehr vorankrochen. Limousine und Fahrer aus dem Fuhrpark der Bank standen ihm in seiner Stellung jederzeit zur Verfügung - ein Privileg, das Alex genoß.
Die Klinik bot nach außen die Fassade eines großen Privathauses, durch nichts kenntlich gemacht als durch das übliche Nummernschild.
Eine attraktive Blondine in einem buntgemusterten Kleid ließ ihn ein. Eine kleine Anstecknadel an ihrer linken Schulter wies sie als Krankenschwester aus. Das war der einzige geduldete Unterschied in der Kleidung zwischen Personal und Patienten.
»Herr Doktor hat uns schon gesagt, daß Sie kommen, Mr. Vandervoort. Ich bringe Sie zu Ihrer Frau.«
Er ging neben ihr einen freundlichen Korridor entlang. Gelbund Grüntöne herrschten vor. In Nischen an den Wänden standen frische Blumen.
»Ich höre, daß es meiner Frau nicht besser geht«, sagte er.
»Leider nicht, fürchte ich.« Die Schwester warf ihm von der Seite einen raschen Blick zu; er spürte Mitleid in ihren Augen. Aber - Mitleid mit wem? Wie immer, wenn er hierher kam, merkte er, daß sin normaler optimistischer Schwung ihn im Stich ließ.
Sie befanden sich in einem Seitenflügel, einem der drei, die von der Empfangshalle abzweigten. Die Schwester blieb an einer Tür stehen.
»Ihre Frau ist in ihrem Zimmer, Mr. Vandervoort. Sie hatte heute keinen guten Tag. Bitte bedenken Sie das, falls sie nicht ganz...« Sie ließ den Satz unvollendet, berührte ihn ganz leicht am Arm und ging dann vor ihm in das Zimmer.
In dieser Klinik wurden die Patienten in Doppel- oder Einzelzimmern untergebracht, je nachdem, was man sich von der Gesellschaft anderer auf ihr Befinden versprach. Als Celia kam, brachte man sie zunächst in einem Zweibettzimmer unter, aber es hatte sich nicht bewährt; jetzt hatte sie ein Einzelzimmer. Der Raum war klein, aber sehr behaglich und persönlich. Er enthielt eine Couch, einen bequemen Lehnstuhl, ein kleines Sofa, einen Spieltisch und Bücherregale. Impressionistendrucke schmückten die Wände.
»Mrs. Vandervoort«, sagte die Schwester mit sehr sanfter Stimme, »Sie haben Besuch, Ihr Mann ist hier.«
Die Gestalt in dem Zimmer reagierte nicht, weder durch ein Wort noch durch eine Bewegung.
Alex hatte Celia zuletzt vor anderthalb Monaten gesehen, und obwohl er mit einer Verschlechterung ihres Zustandes gerechnet hatte, war ihr Anblick wie ein kalter Griff nach seinem Herzen.
Sie saß - wenn man diese Haltung so bezeichnen konnte etwas seitlich auf der Couch, so daß sie die Zimmertür schräg im Rücken hatte. Mit hängenden Schultern, den Kopf tief gesenkt, die Arme vor der Brust gekreuzt, so daß jede Hand eine Schulter umklammerte. Auch ihr Körper war zusammengekrümmt, die Beine waren angezogen, die Knie aneinandergepreßt. In dieser Haltung verharrte sie ohne die geringste Bewegung.
Er ging auf sie zu und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Hallo, Celia. Ich bin's - Alex. Ich habe an dich gedacht. Deshalb bin ich gekommen, um dich zu besuchen.«
Sie sagte leise, ohne Ausdruck: »Ja.« Sie rührte sich nicht.
Er verstärkte leicht den Druck auf ihre Schulter. »Willst du mich nicht einmal ansehen? Dann können wir uns zusammensetzen und ein bißchen plaudern.«
Die einzige Reaktion war eine spürbar werdende Starre, ein Versteifen der kauernden Position.
Ihre Haut war fleckig und ihr Haar nur flüchtig gekämmt, stellte Alex fest. Doch ihre sanfte, zerbrechliche Schönheit war noch nicht völlig geschwunden; aber lange konnte das nicht mehr dauern.
»Ist sie schon lange so?« fragte er die Schwester leise.
»Heute schon den ganzen Tag, gestern zum Teil; auch an einigen anderen Tagen war es so.« Sachlich fügte die junge Schwester hinzu: »Es ist für sie bequemer so; Sie lassen sich also am besten nichts anmerken. Setzen Sie sich einfach und unterhalten Sie sich mit ihr.«
Alex nickte. Während er in dem Lehnstuhl Platz nahm, ging die Schwester auf Zehenspitzen hinaus und schloß leise die Tür.
»Ich war vorige Woche im Ballett, Celia«, erzählte Alex. »Coppelia. Natalia Makarova tanzte die Titelrolle, Ivan Nagy den Franz. Sie waren ganz großartig zusammen, und die Musik war natürlich wunderbar. Ich mußte daran denken, wie sehr du Coppelia liebst, daß es immer dein Lieblingsballett war. Weißt du noch, wie du und ich an dem einen Abend, kurz nachdem wir geheiratet hatten,... «
Selbst jetzt noch sah er deutlich vor sich, wie Celia an jenem Abend ausgesehen hatte - in einem langen, blaßgrünen Chiffonkleid mit winzigen Pailletten, die glitzernd das Licht reflektierten. Wie üblich war sie von ätherischer Schönheit, schlank und zart wie Mariengarn, so als könne der nächste leise Windhauch kommen und sie ihm entführen, wenn er gerade nicht hinschaute. Er ließ sie damals nicht oft aus den Augen. Sie waren gerade sechs Monate verheiratet, und sie war noch immer scheu, wenn sie Freunde von Alex kennenlernte; oft, wenn sie mit mehreren von ihnen zusammenstanden, klammerte sie sich fest an seinen Arm. Sie war zehn Jahre jünger als er, und er hatte sich weiter nichts dabei gedacht. Im Gegenteil. Celias Scheu war damals, im Anfang, einer der Gründe gewesen, daß er sich in sie verliebt hatte, und ihre totale Abhängigkeit von ihm hatte ihn mit Stolz erfüllt. Erst viel später, als sie ihre Hilflosigkeit und Unsicherheit nicht ablegte -törichterweise, wie es ihm schien -, war er langsam ungeduldig und schließlich manchmal ärgerlich geworden.
Wie wenig hatte er damals begriffen, wie tragisch wenig! Mit etwas mehr Einsicht hätte er begreifen können, daß Celias Leben vor ihrer Begegnung grundverschieden von seinem eigenen verlaufen war und nichts sie auf das aktive gesellschaftliche und häusliche Leben vorbereitet hatte, das er als Selbstverständlichkeit hinnahm. Für Celia war alles neu und verwirrend und nicht selten auch beängstigend. Sie war das einzige Kind zurückgezogen lebender Eltern in bescheidenen Verhältnissen, sie hatte Klosterschulen besucht und nie etwas von dem Sauerteig des robusten College-Lebens gekostet. Bevor sie Alex kennenlernte, hatte sie nie irgendeine eigene Verantwortung getragen; ihre gesellschaftliche Erfahrung war gleich Null. Die Ehe steigerte ihre Unsicherheit; gleichzeitig wuchsen in ihr Spannungen und Zweifel an sich selbst, bis schließlich - wie die Psychiater es erklärten - durch die Last des Schuldgefühls ob ihres vermeintlichen Versagens etwas in ihr zerriß. Jetzt, rückblickend, machte Alex sich die schlimmsten Vorwürfe. Er hätte Celia so leicht helfen können, ihr Ratschläge erteilen, Spannungen abbauen, Beruhigung und Sicherheit geben können. Aber als es darauf ankam, hatte er nichts davon getan. Da hatte er nicht darüber nachgedacht, da war er zu beschäftigt gewesen, mit seiner Arbeit und mit seiner Karriere...
»... und es hat mir ehrlich leid getan, Celia, daß wir diese Vorstellung letzte Woche nicht gemeinsam gesehen haben... «
Dabei war er mit Margot in Coppelia gewesen, Margot, die er jetzt seit anderthalb Jahren kannte und die liebevoll jene Lücke ausfüllte, die es in seinem Leben nun schon so lange gab. Ohne Margot - oder eine andere - wäre Alex, schließlich ein Mann aus Fleisch und Blut, bald selbst ein Fall für den Psychiater geworden. Das jedenfalls redete er sich manchmal ein. Oder war das nur Selbsttäuschung, ein bequemes Argument gegen Schuldgefühle?
Jedenfalls war jetzt weder Ort noch Zeit, um Margots Namen zu erwähnen.
»Ach ja, und neulich habe ich die Harringtons getroffen. Du erinnerst dich doch an John und Elise. Sie haben mir erzählt, daß sie in Skandinavien waren und Elises Eltern besucht haben.«
»Ja«, sagte Celia tonlos.
Sie verharrte noch immer regungslos in ihrer zusammengekauerten Haltung, aber sie schien zuzuhören, deshalb sprach er weiter, in seinen Gedanken nur halb bei der Sache und in Wahrheit sich immer wieder fragend: Wie konnte es geschehen? Warum?
»Wir hatten in letzter Zeit viel Arbeit in der Bank, Celia.«
Einer der Gründe, nahm er an, mochte seine Arbeitswut gewesen sein, die vielen Stunden, die er Celia allein gelassen hatte, während ihre Ehe immer schwereren Schaden nahm. Das war, wie er jetzt wußte, gerade zu jener Zeit gewesen, als sie ihn am meisten brauchte. Celia hatte seine häufige Abwesenheit ohne Klage hingenommen, aber sie war immer furchtsamer geworden, hatte sich immer weiter in sich selbst zurückgezogen, hatte sich in Büchern vergraben oder endlos lange Pflanzen und Blumen betrachtet, als wollte sie ihr Wachsen beobachten; doch gelegentlich war sie - ganz gegen ihre sonstige Art und ohne ersichtlichen Grund - plötzlich von Lebhaftigkeit erfüllt gewesen, hatte endlos und manchmal auch zusammenhanglos geredet. In diesen Phasen schien Celia ganz ungewöhnliche Energien zu besitzen. Aber ebenso plötzlich war die Energie wieder verschwunden, und zurück blieb ein depressives, ganz in sich selbst versunkenes Geschöpf. Und währenddessen hatte sich der Kontakt zwischen ihnen fortschreitend vermindert, war jede Gemeinsamkeit geschrumpft.
Zu jener Zeit hatte er die Scheidung vorgeschlagen, etwas, woran er jetzt nur noch schamerfüllt zurückdenken konnte. Celia war wie niedergeschmettert gewesen, und er hatte das Thema nie wieder zur Sprache gebracht. Er hatte gehofft, daß sich die Dinge bessern würden, aber sie hatten sich nicht gebessert.
Erst spät, als ihm fast beiläufig der Gedanke gekommen war, daß Celia vielleicht psychiatrische Hilfe brauchte, und er ihr diese Hilfe verschafft hatte, war die Art ihres Leidens ans Licht gekommen. Eine Zeitlang hatten Qual und Sorge seine Liebe zu ihr wiederbelebt. Aber da war es schon zu spät.
Manchmal dachte er: Vielleicht war es schon immer zu spät gewesen. Vielleicht hätten nicht einmal mehr Freundlichkeit, tieferes Verständnis helfen können. Aber die Wahrheit würde er nie erfahren. Nie mehr durfte er überzeugt sein, sein Bestes getan zu haben, und deshalb würde er auch nie frei werden von dem Gefühl der Schuld, das ihn verfolgte und peinigte.
»Alle denken sie immer nur an Geld - wie man es ausgibt, wie man es borgt, wie man es verleiht, aber das ist wohl ganz natürlich und letztlich auch die Aufgabe der Banken. Gestern ist allerdings etwas Trauriges geschehen. Ben Rosselli, unser Präsident, hat nicht mehr lange zu leben; er hat eine Sitzung einberufen und es uns mitgeteilt... «
Alex fuhr fort und beschrieb, was sich ereignet hatte, er schilderte die Reaktion der Teilnehmer nach dem Treffen, dann brach er plötzlich ab.
Celia hatte angefangen zu zittern. Ihr Körper wiegte sich vor und zurück. Ein Jammerlaut, eine Art Stöhnen, entrang sich ihr.
War sie verstört, weil er die Bank erwähnt hatte? - die Bank, der er alle seine Energien gewidmet und damit die Kluft zwischen ihnen immer weiter aufgerissen hatte. Es war damals eine andere Bank gewesen, die Bundes-Reserve-Bank, aber für Celia glich eine Bank der anderen. Oder war es, weil er Ben Rossellis Tod erwähnt hatte?
Bald würde Ben sterben. Wie lange noch, bis auch Celia starb? Sehr lange vielleicht.
Sie konnte ihn ohne weiteres überleben, weiter so dahinvegetieren wie jetzt, mußte Alex denken.
Sie sah aus wie ein Tier!
Sein Mitleid verrauchte. Zorn packte ihn; die zornige Ungeduld, die ihre Ehe zerstört hatte. »Mein Gott noch mal, Celia, nimm dich doch zusammen!«
Ihr Zittern, ihr Stöhnen hörten nicht auf.
Er haßte sie! Sie war kein Mensch mehr, und doch versperrte sie ihm den Weg zu einem erfüllten Leben.
Alex stand auf und drückte heftig einen Klingelknopf an der Wand, der sofort Hilfe herbeiholen würde. Und da er nun schon aufgestanden war, steuerte er auf die Tür zu - um zu gehen.
Und sah mit einem letzten Blick zurück. Auf Celia - seine Frau, die er einst geliebt hatte; sah, was aus ihr geworden war;
sah die tiefe Kluft zwischen ihnen, die sie nun nie mehr würden überbrücken können. Er blieb stehen und weinte.
Weinte vor Mitleid, Trauer, Schuld; die Zornesaufwallung war verraucht, sein Haß fortgespült.
Er ging zu der Couch zurück, und vor ihr auf den Knien liegend, flehte er: »Celia, vergib mir! O Gott, vergib mir!«
Er spürte eine sanfte Hand auf der Schulter, hörte die Stimme der jungen Krankenschwester. »Mr. Vandervoort, es ist wohl am besten, wenn Sie jetzt gehen.«
»Wasser oder Soda, Alex?«
»Soda.«
Dr. McCartney holte eine Flasche aus dem kleinen Kühlschrank in seinem Sprechzimmer und hebelte den Kronenkorken mit einer Bewegung des Öffners vom Flaschenhals. Er goß vom Inhalt der Flasche in ein Glas, das schon ein gutes Maß Whisky enthielt, und tat Eis dazu. Er brachte Alex das Glas, dann schenkte er sich den Rest Soda ein, ohne Zusatz von Alkohol.
Für einen so großen Mann - Tim McCartney war gut einsneunzig groß, mit Brust und Schultern eines FootballSpielers und gewaltigen Pranken - waren seine Bewegungen bemerkenswert flink und gewandt. Obwohl der Klinik-Direktor nicht älter als Mitte Dreißig war, wirkten seine Stimme und seine ganze Art wie die eines gesetzteren Mannes, fand Alex. Vielleicht lag es zum Te il auch daran, daß das straff zurückgebürstete braune Haar an den Schläfen schon grau wurde. Und das wieder mochte seine Ursache darin haben, daß er solche Sitzungen wie eben jetzt mit ihm ständig erlebte, dachte Alex. Dankbar trank er einen Schluck Scotch.
Der holzgetäfelte Raum war sanft beleuchtet, die Farben waren insgesamt gedämpfter als draußen die Korridore und die anderen Räume. Zeitschriftenständer und Bücherregale, auf denen vorwiegend die Werke von Freud, Adler, Jung und Rogers vertreten waren, füllten die eine Wand.
Alex hatte sein Gleichgewicht nach der Begegnung mit Celia noch nicht völlig wiedererlangt, doch hatte der Schrecken auf seltsame Art an Wirklichkeit verloren.
Dr. McCartney ging zu seinem Schreibtischstuhl zurück und schwenkte ihn herum zu dem Sofa, auf dem Alex saß.
»Zunächst einmal sollte ich Ihnen sagen, daß die allgemeine Diagnose Ihrer Frau die gleiche bleibt - katatonische Schizophrenie. Darüber haben wir ja schon gesprochen.«
»Ganz richtig, ich habe viele medizinische Fachausdrücke gehört.«
»Ich will Ihnen weitere Proben davon ersparen.«
Alex schwenkte das Eis in seinem Glas herum und nahm noch einen Schluck; der Whisky hatte ihn erwärmt. »Sagen Sie mir jetzt, wie es um Celia steht.«
»Es mag für Sie schwer zu begreifen sein, aber Ihre Frau ist trotz allem, was Sie gesehen haben, relativ glücklich.«
»Allerdings«, sagte Alex, »das ist wirklich nicht leicht zu begreifen.«
Der Psychiater sagte mit ruhigem Nachdruck: »Glück ist für uns alle eine relative Sache. Celia ist im Besitz einer Art Sicherheit, die Pflicht zur Verantwortung fehlt gänzlich, ebenso die Notwendigkeit, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. Sie kann sich, so weit sie will oder muß, in sich selbst zurückziehen. Die Körperhaltung, die sie in letzter Zeit einnimmt und die Sie ja gesehen haben, ist die klassische Fötal stellung. Es ist für sie trostreich, diese Haltung einzunehmen; um ihrer körperlichen Gesundheit willen versuchen wir allerdings, sie nach Möglichkeit davon abzubringen.«
»Trostreich oder nicht«, sagte Alex, »das Wesentliche ist doch wohl, daß sich der Zustand meiner Frau nach vier Jahren der bestmöglichen Behandlung weiter verschlechtert hat.« Er sah Dr. McCartney gerade in die Augen. »Ist das richtig oder nicht?«
»Leider ist es so.«
»Besteht überhaupt eine reelle Chance für eine Heilung, so daß Celia wieder ein normales oder zumindest fast normales Leben führen kann?«
»In der Medizin gibt es immer Möglichkeiten...«
»Ich habe von einer reellen Chance gesprochen.«
Dr. McCartney seufzte und schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Danke für Ihre klare Antwort.« Alex schwieg eine Sekunde, dann fuhr er fort: »Wenn ich es recht verstehe, dann ist Celia jetzt - so nennt man es ja wohl - >institutionalisiert<. Sie hat sich von den Menschen zurückgezogen. Sie weiß nichts von Dingen, die sich außerhalb ihres eigenen Ich abspielen, und sie kümmert sich auch nicht darum.«
»Mit dem institutionalisiert haben Sie recht«, sagte der Psychiater, »mit dem anderen nicht. Ihre Frau hat sich nicht total zurückgezogen, jedenfalls bis jetzt noch nicht. Sie weiß immer noch ein wenig von dem, was draußen geschieht. Sie weiß auch, daß sie einen Mann hat, und wir haben über Sie gesprochen. Aber sie glaubt, daß Sie auch ohne ihre Hilfe durchaus in der Lage sind, mit allem fertig zu werden.«
»Sie macht sich also um mich keine Sorgen?«
»Im großen und ganzen, nein.«
»Was würde sie empfinden, wenn sie erführe, daß ihr Mann sich von ihr hat scheiden lassen und daß er wieder geheiratet hat?«
Dr. McCartney zögerte, dann sagte er: »Es würde den totalen Bruch mit dem geringen Kontakt nach außen bedeuten, den sie noch hat. Es könnte sie über die Schwelle treiben, die sie noch von der totalen geistigen Verwirrung trennt.«
In der entstandenen Stille beugte Alex sich vor und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Dann ließ er sie wieder sinken und hob den Kopf. Mit einer Spur von Ironie sagte er: »Wenn man offene Antworten verlangt, dann bekommt man sie wohl auch.«
Der Psychiater nickte; sein Gesichtsausdruck war ernst. »Alex, ich habe Ihnen das Kompliment gemacht, davon auszugehen, daß Sie wirklich meinen, was Sie sagen. Nicht jedem gegenüber wäre ich so offen gewesen. Außerdem, das muß ich hinzufügen, ist es durchaus möglich, daß ich mich irre.«
»Tim, zum Teufel noch mal, was soll man da tun!«.
»Ist das eine Frage oder nur rhetorisch gemeint?«
»Eine Frage. Sie können sie auf meine Rechnung setzen.«
»Heute abend gibt's keine Rechnung.« Der jüngere Mann lächelte kurz, dann dachte er nach. »Sie fragen mich: Was tut ein Mann, der sich in Ihrer Lage befindet? Nun, zunächst einmal informiert er sich so gut wie nur irgend möglich - wie Sie es ja getan haben. Dann trifft er Entscheidungen auf der Grundlage dessen, was er allen Beteiligten gegenüber, sich selbst eingeschlossen, für fair und gut hält. Aber während er seine Entscheidung vorbereitet, sollte er zweierlei bedenken. Erstens, wenn er ein anständiger Mensch ist, werden seine eigenen Schuldgefühle wahrscheinlich übertrieben groß sein, denn ein gut entwickeltes Gewissen hat die Angewohnheit, sich selbst über Gebühr hart zu strafen. Zweitens sollte er bedenken, daß sich nur wenige Menschen für das Leben eines Heiligen eignen; den meisten von uns fehlt dazu die Ausrüstung.«
Alex fragte: »Und weiter wollen Sie nicht gehen? Spezifischer wollen Sie sich nicht ausdrücken?«
Dr. McCartney schüttelte den Kopf. »Nur Sie allein können die Entscheidung treffen. Die letzten Schritte geht jeder von uns allein.«
Der Psychiater warf einen Blick auf die Uhr und stand auf. Wenig später gaben sie einander die Hand und sagten gute Nacht.
Draußen vor der Klinik warteten Limousine und Fahrer auf Alex - der Motor lief, im Wagen war es warm und behaglich.
»Ohne jeden Zweifel«, verkündete Margot Bracken, »ist das ein Sammelsurium von verflucht geschickten Lügen.«
Sie blickte auf die vor ihr liegenden Blätter, die Ellbogen aggressiv abgewinkelt, die Hände in ihre schlanke Taille gestützt, der kleine, aber resolute Kopf vorgeschoben. Sie war körperlich aufreizend, dachte Alex Vandervoort - ein Irrwisch von einem Mädchen, mit angenehm scharfen Gesichtszügen, einem aggressiven Kinn und eher dünnen Lippen, obwohl der Mund insgesamt sinnlich war. Am auffälligsten an Margot waren die Augen; sie waren groß, grün, mit goldenen Flecken und die Wimpern dicht und lang. In diesem Augenblick sprühten ihre Augen Feuer. Ihr kraftvoller Zorn weckte sein Begehren.
Margots vernichtendes Urteil galt der Auswahl von AnzeigenAbzügen für Keycharge-Kreditkarten, die Alex von der FMA mitgebracht hatte und die jetzt in seiner Wohnung auf dem Wohnzimmerteppich ausgebreitet lagen. Margots Gegenwart und Vitalität schufen außerdem ein dringend benötigtes Gegengewicht zu dem, was Alex vor mehreren Stunden durchgemacht hatte.
»Ich hab's mir gleich gedacht, Bracken, daß dir diese Werbethemen nicht zusagen würden«, sagte er.
»Nicht zusagen! Ich finde sie ekelhaft.«.
»Warum?«
Sie schob ihr langes kastanienbraunes Haar mit einer vertrauten, ihr aber nicht bewußten Bewegung zurück. Vor einer Stunde hatte Margot ihre Schuhe abgestreift und stand jetzt, zu ihrer ganzen Größe von 1,55 Meter aufgereckt, auf Strümpfen da.
»Bitte, sieh dir das an!« Sie zeigte auf die Anzeige, die mit den Worten begann:
WARUM WARTEN?
IHR ZUKUNFTSTRAUM WIRD WIRKLICHKEIT - SCHON HEUTE!
»Ich will dir sagen, was das ist. Das ist gefährlicher, verlogener Mist; da wird irgendwelchen einfältigen und gutgläubigen Schweinen vorgegaukelt und eingehämmert, wie herrlich es ist, Schulden zu machen! Zukunftsträume haben es an sich, daß sie teuer sind. Deshalb sind es ja auch Träume.
Und kein Mensch kann sich solche Träume leisten, es sei denn, er hat das Geld dazu oder wird es mit Sicherheit bald haben.«
»Sollte man es nicht jedem einzelnen überlassen, das zu beurteilen?«
»Nein! - Nicht den Menschen, die sich von der beschissenen Anzeige da beeinflussen lassen, nicht den Menschen, auf die ihr damit abzielt. Das sind die Unkomplizierten, die man leicht überreden kann, Menschen, die alles glauben, was sie schwarz auf weiß sehen. Ich kenne das. Viele von ihnen sind meine Klienten in meiner Anwaltspraxis. In meiner uneinträglichen Anwaltspraxis.«
»Vielleicht ist das nicht die Sorte Mensch, die unsere Keycharge-Karten besitzt.«
»Verdammt noch mal, Alex, du weißt doch selbst, daß das nicht stimmt! Die unwahrscheinlichsten Leute haben heute Kreditkarten, weil ihr so tüchtig seid mit eurer Werbung! Fehlt bloß noch, daß ihr eure Karten gratis an der Straßenecke verteilt, und es würde mich durchaus nicht wundern, wenn ihr demnächst damit anfangt.«
Alex grinste. Ihm machten solche Streitgespräche mit Margot Spaß, und er bemühte sich, sie in Gang zu halten. »Ich werde unseren Leuten sagen, daß sie es sich noch mal überlegen, Bracken.«
»Mir war's lieber, wenn andere Leute mal über die halsabschneiderischen achtzehn Prozent Zinsen nachdenken würden, die für alle Bankkreditkarten berechnet werden.«
»Das haben wir schon oft genug durchgekaut.«
»Ja, allerdings. Und bis heute habe ich keine zufriedenstellende Erklärung zu hören bekommen.«
Etwas scharf entgegnete er: »Vielleicht, weil du nicht richtig zuhörst.« Streitgespräche mit ihr mochten Spaß machen, aber Margot hatte eine Art, ihm unter die Haut zu gehen. Gelegentlich wuchsen sich ihre Debatten zu echtem Streit aus.
»Ich habe dir doch gesagt, daß Kreditkarten ein Angebotspaket darstellen, das aus einer ganzen Serie von Dienstleistungen besteht«, sagte Alex mit Nachdruck. »Siehst du diese Dienstleistungen als Summe, dann ist unser Zinssatz nicht unmäßig.«
»Er ist verflucht unmäßig, wenn du der bist, der berappen muß.«
»Niemand muß berappen. Weil niemand borgen muß.«
»Ich hör' dich sehr gut. Du brauchst nicht zu brüllen.«
»Na gut.«
Er holte tief Luft, entschlossen, die Diskussion diesmal nicht in Streit ausarten zu lassen. Außerdem fand er immer wieder, daß Margots Offenheit und die Schärfe ihres Juristenverstandes seinen eigenen Gedanken zugute kamen, wenn er einige ihrer Ansichten anfocht, die sich in Wirtschaft, Politik und allen anderen Gebieten links von der Mitte bewegten. Ihre Praxis verschaffte Margot auch Kontakte, die ihm fehlten - sie kam direkt in Berührung mit den Armen der Stadt und den Unterprivilegierten, deren Nöte den Löwenanteil ihrer Arbeit als Anwältin beanspruchten.
Er fragte: »Noch einen Cognac?«
»Bitte.«
Es ging auf Mitternacht. Ein Feuer aus mächtigen Holzscheiten, das anfangs lichterloh gebrannt hatte, flackerte jetzt nur noch mit kleiner Flamme im Kamin des behaglichen Zimmers in der kleinen, luxuriösen Junggesellenwohnung.
Vor anderthalb Stunden hatten sie sich vom ServiceRestaurant des Apartmenthauses ein Dinner heraufschicken lassen. Dazu einen ausgezeichneten Bordeaux - Alex hatte ihn gewählt, Chateau Gruaud Larose 1966.
Abgesehen von der Stelle, an der die Keycharge-Werbetexte ausgebreitet waren, herrschte Dämmerlicht.
Als er Cognac nachgeschenkt hatte, nahm Alex das Gespräch wieder auf. »Wenn die Menschen ihre Kreditkarten-Rechnungen bei Erhalt begleichen, werden überhaupt keine Zinsen berechnet.«
»Du meinst, wenn sie den vollen Rechnungsbetrag zahlen.«
»Allerdings.«
»Aber wie viele tun das schon? Zahlen die meisten Kreditkartenbenutzer nicht nur die bequeme >Mindestsumme<, die auf den Kontoauszügen angegeben wird?«
»Ziemlich viele zahlen das Minimum, ja.«
»Und tragen den Rest als Kredit auf neue Rechnung vor und genau das ist euch Bankern am liebsten. Stimmt's?«
Alex gab zu: »Ja, es stimmt. Aber die Banken müssen ja auch irgendwo ihren Gewinn machen.«
»Ich liege nachts wach«, sagte Margot, »und frage mich voller Bangen, ob die Banken auch genug Gewinn erzielen.«
Während er lachte, fuhr sie ernsthaft fort: »Schau, Alex, Tausende von Leuten, die es sich überhaupt nicht leisten können, türmen durch die Benutzung von Kreditkarten langfristige Schuldenberge auf. Oft genug, indem sie irgendwelchen Plunder kaufen - Kosmetika und Wundermittel, Schallplatten, Haushaltsnovitäten, neues Werkzeug, Bücher, ein Abendessen im Restaurant, andere Kleinigkeiten; sie tun es zum Teil, weil sie gar nicht darüber nachdenken, und zum Teil, weil Kleinkredite so lächerlich einfach zu bekommen sind. Und diese kleinen Beträge, die man besser bar bezahlen sollte, summieren sich zu lähmenden Schulden, die unbedachte Leute auf Jahre hinaus belasten.«
Alex nahm sein Cognacglas in beide Hände, um es zu wärmen, trank einen Schluck, stand dann auf und warf ein neues Scheit aufs Feuer. »Du grübelst zuviel, und außerdem ist das Problem so gewaltig nun auch wieder nicht«, protestierte er.
Und doch mußte er sich eingestehen, daß manches von dem, was Margot sagte, seine Richtigkeit hatte. Wo die Leute früher -wie hieß es doch in dem alten Bergarbeiterlied: »owed their souls to the company store« - ihre Seele beim Kramladen der Bergbaugesellschaft verpfändet hatten, da war jetzt eine neue Rasse chronisch Verschuldeter entstanden, die naiv ihre ganze Zukunft mitsamt ihren künftigen Einnahmen bei irgendeiner »freundlichen Bank nebenan« beliehen hatten. Das ging so leicht und mühelos, weil Kreditkarten in hohem Maße an die Stelle der Kleinkredite getreten waren. Während man den Leuten früher vom übermäßigen Borgen abriet, trafen sie jetzt ihre Kreditentscheidungen selber - und oft ließen sie dabei nicht viel Vernunft walten. Alex wußte, daß manche Beobachter der Szene die Ansicht vertraten, daß dieses System die Moral Amerikas unterminiere.
Natürlich war es für die Bank viel billiger, Kleinkredite nach dem Kreditkartensystem zu vergeben; außerdem zahlte der Kleinkreditkunde, der auf dem Weg über seine Karte Geld borgte, ganz wesentlich mehr Zinsen, als er für einen konventionellen Kredit hinblättern müßte. Die Gesamtzinsen, die die Bank einstrich, beliefen sich tatsächlich oft auf Sätze bis zu 24 Prozent, weil die Geschäftsleute, die Kreditkarten honorierten, auch noch ihre eigenen Bankgebühren entrichteten, die zwischen zwei bis sechs Prozent lagen.
Deshalb nutzten Banken wie die First Mercantile American das Kreditkartengeschäft zur Ausweitung ihrer Gewinne, und sie beabsichtigten, dieses Geschäft noch viel weiter auszubauen. Gewiß, alle Kreditkartensysteme brachten zu Anfang erhebliche Verluste; wie die Banker zu sagen pflegen, »zu Anfang gehen wir baden«. Aber dieselben Banker waren davon überzeugt, daß der warme Regen nicht lange auf sich warten lassen und dann eine Gewinnzone beginnen würde, die so günstig wäre wie in kaum einem anderen Zweig des Bankgeschäfts.
Außerdem wußten die Banker, daß die Kreditkarten eine notwendige Zwischenstation auf dem Wege zum EGS waren -zum Elektronischen Geldüberweisungs-System, das in anderthalb Jahrzehnten die heutigen Lawinen von Bankpapieren ersetzen und die jetzigen Scheck- und Sparbücher so veraltet erscheinen lassen würde wie das »Model T« des alten Ford.
»Schluß jetzt«, sagte Margot. »Wir beide hören uns ja an wie eine Aktionärs-Hauptversammlung.« Sie ging zu ihm und küßte ihn auf die Lippen.
Die Hitze ihres Streits hatte ihn schon vorher erregt, wie es Gefechte mit Margot oft bei ihm bewirkten. Ihre erste physische Begegnung hatte auf die gleiche Art begonnen. Je wütender beide wurden, so schien es manchmal, um so gewaltiger wuchs ihre körperliche Leidenschaft füreinander. Nach einer Weile murmelte er: »Ich erkläre die Hauptversammlung für geschlossen.«
»Hmmm...« Margot rückte von ihm weg und sah ihn herausfordernd an. »Es gibt aber noch unerledigte Punkte -diese Anzeigen, mein Schatz. Die willst du doch wohl nicht so, wie sie sind, auf die Öffentlichkeit loslassen?«
»Nein«, sagte er, »ich glaube nicht.«
Diese Keycharge-Anzeigen waren harte Verkaufstaktik - zu hart -, und er wollte seine Position nutzen, um am Morgen ein Veto einzulegen. Ihm wurde klar, daß er das ohnehin beabsichtigt hatte. Margot hatte nur seine eigene Ansicht vom Nachmittag bekräftigt.
Das frische Scheit, das er aufs Feuer gelegt hatte, brannte jetzt lichterloh und knisternd. Sie saßen auf dem Teppich vor dem Kamin, genossen die Wärme, beobachteten die emporzüngelnden Flammen.
Margot lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Für einen muffigen alten Banker bist du eigentlich gar nicht so übel«, murmelte sie.
Er legte seinen Arm um sie. »Ich liebe dich auch, Bracken.«
»Wirklich und wahrhaftig? Auf Bankers Ehre und Gewissen?«
»Ich schwöre bei der Prime Rate!«
»Dann liebe mich jetzt.« Sie begann sich auszuziehen.
Er flüsterte belustigt: »Was, hier?«
»Warum denn nicht?«
Alex seufzte zufrieden. »Warum eigentlich nicht.«
Wenig später verwandelten sich Qual und Sorgen des Tages in ein Gefühl der Befreiung und des Glücks.
Und noch später hielten sie einander in den Armen und spürten die Wärme, die vom Feuer und dem Körper des anderen kam. Endlich rührte Margot sich. »Ich hab's schon oft gesagt und werde es immer wieder sagen: Du bist ein wunderbarer Liebhaber.«
»Na, du bist auch okay, Bracken«, sagte er und lächelte. »Bleibst du heute nacht hier?«
Sie tat das oft, ebenso wie Alex häufig in Margots Wohnung blieb. Manchmal kam es ihnen töricht vor, weiter ihre getrennten Haushalte zu führen, aber er hatte das Zusammenziehen immer wieder hinausgeschoben, weil er Margot vorher lieber geheiratet hätte.
»Ich bleibe noch ein bißchen«, sagte sie, »aber nicht die ganze Nacht. Ich muß morgen sehr früh im Gericht sein.«
Margot hatte oft im Gericht zu tun; dadurch hatten sie sich auch vor anderthalb Jahren kennengelernt. Kurz vor jener ersten Begegnung hatte Margot ein halbes Dutzend Demonstranten verteidigt, die sich während eines Protestmarschs für totale Amnestierung der Vietnam-Deserteure mit der Polizei angelegt hatten. Ihre feurige Verteidigung, nicht nur der Demonstranten, sondern auch ihrer Sache, hatte allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Und noch mehr ihr Sieg am Ende des Prozesses -Einstellung des Verfahrens in allen Punkten der Anklage.
Wenige Tage danach war Margot auf einer Cocktailparty, zu der Edwina und Lewis D'Orsey eingeladen hatten, von Bewunderern und Kritikern umringt. Sie war allein zu der Party gekommen. Das galt auch für Alex, der von Margot gehört hatte, aber erst später entdeckte, daß sie Edwinas Kusine war. Während er den ausgezeichneten Schramsberg der D'Orseys trank, hatte er eine Weile zugehört und sich dann auf die Seite der Kritiker geschlagen. Es dauerte nicht lange, dann traten die anderen zurück und überließen Alex und Margot die Fortsetzung der Debatte. Sie standen einander gegenüber wie Gladiatoren in der Arena.
Irgendwann hatte Margot dann gefragt: »Und wer zum Teufel sind Sie eigentlich?«
»Ein ganz gewöhnlicher Amerikaner, der glaubt, daß es beim Militär nicht ohne Disziplin geht.«
»Sogar in einem unmoralischen Krieg wie in Vietnam?«
»Der Soldat kann nicht über die Moral der erteilten Befehle entscheiden. Er hat zu gehorchen. Die Alternative ist das Chaos.«
»Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie reden wie ein Nazi. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir Deutsche hingerichtet, die uns mit diesem Argument gekommen sind.«
»Die Situation war eine völlig andere.«
»Ganz und gar nicht. Im Nürnberger Prozeß haben die Alliierten auf ihrem Standpunkt beharrt, daß die Deutschen ihrem Gewissen hätten folgen und die Ausführung von Befehlen hätten verweigern müssen. Und genau das haben diejenigen getan, die den Kriegsdienst verweigerten, genau das haben die Vietnam-Deserteure getan.«
»Die amerikanische Armee hat keine Juden ausgerottet.«
»Nein, nur Dorfbewohner. Wie in My Lai und anderswo.«
»Kein Krieg ist sauber.«
»Aber der in Vietnam ist schmutziger als die meisten. Vom Oberbefehlshaber angefangen bis ganz nach unten. Und aus diesem Grunde sind so viele junge Amerikaner, ganz besonders mutige junge Amerikaner, ihrem Gewissen gefolgt und haben sich geweigert, daran teilzunehmen.«
»Sie werden keine bedingungslose Amnestie erhalten.«
»Das sollten sie aber. Eines Tages, wenn der Anstand die Oberhand gewinnt, wird es soweit kommen.«
Sie debattierten immer noch leidenschaftlich, als Edwina sie trennte und sie erst einmal miteinander bekannt machte. Später nahmen sie den Streit wieder auf, und sie setzten ihn fort, während Alex sie nach Hause fuhr. Dort wären sie an einem Punkt ihrer Auseinandersetzung beinahe mit den Fäusten aufeinander losgegangen, aber statt dessen merkten sie, daß physisches Verlangen alles andere überwog, und aufgeregt, hitzig liebten sie einander, bis sie erschöpft waren, und schon in dem Augenblick wußten sie, daß etwas Neues, unendlich Wichtiges in ihr Leben getreten war.
Übrigens revidierte Alex später seine einst so entschieden vertretene Meinung, als er zusammen mit anderen desillusionierten Gemäßigten erkennen mußte, wie hohl Nixons Phrase vom »ehrenvollen Frieden« war. Und noch später, als Watergate und die damit verbundenen Infamien sichtbar wurden, begann es überdeutlich zu werden, daß diejenigen in höchsten Regierungsstellungen, die da verfügt hatten: Keine Amnestie! - daß diese Männer sich weitaus schlimmerer Schurkereien schuldig gemacht hatten als irgendein VietnamDeserteur.
Es blieb nicht das einzige Beispiel dafür, daß Margots Argumente ihn zu einer Änderung oder Erweiterung seines Denkens bewogen.
Jetzt, im Schlafzimmer seiner Wohnung, wählte sie aus einem Schubfach, das Alex ihr eingeräumt hatte, ein Nachthemd aus. Als sie es übergestreift hatte, löschte Margot das Licht.
Schweigend lagen sie in der tröstlichen Gemeinsamkeit des dunklen Zimmers nebeneinander. Dann sagte Margot: »Du hast heute Celia besucht, nicht wahr?«
Überrascht drehte er sich zu ihr um. »Woher weißt du das?«
»Man merkt es jedesmal. Es ist nicht leicht für dich.« Sie fragte: »Möchtest du darüber sprechen?«
»Ja«, sagte er, »ich glaube schon.«
»Du machst dir noch immer Vorwürfe, nicht wahr?«
»Ja.« Er erzählte ihr von seiner Begegnung mit Celia, von dem anschließenden Gespräch mit Dr. McCartney und der Meinung des Psychiaters darüber, wie sich eine Scheidung und seine Wiederverheiratung wahrscheinlich auf Celia auswirken würden.
Margot sagte mit Entschiedenheit: »Dann darfst du dich nicht von ihr scheiden lassen.«
»Wenn ich es nicht tue«, erwiderte Alex, »dann kann es für dich und für mich nichts Beständiges geben.«
»Wieso denn nicht? Ich habe dir von Anfang an gesagt, es wird zwischen uns genauso beständig sein, wie wir beide es wollen. Die Ehe ist keine Garantie für Beständigkeit mehr. Wer glaubt denn heute wirklich noch an die Ehe, abgesehen von ein paar alten Bischöfen?«
»Ich glaube dran«, sagte Alex. »Und zwar stark genug, um sie für uns zu wollen.«
»Na gut, dann führen wir eben eine Ehe - auf unsere Art. Liebling, ich brauche absolut kein amtliches Papier, auf dem mir bescheinigt wird, daß ich verheiratet bin, denn amtliche Papiere sehe ich jeden Tag genug, und sie imponieren mir nicht mehr sehr. Ich habe dir gesagt, daß ich bereit bin, mein Leben mit dir zu teilen - von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Aber das, was von Celias geistiger Gesundheit noch vorhanden ist, in eine Grube ohne Boden zu stoßen, das will ich nicht auf mein Gewissen laden, und ich will auch nicht, daß du dir so etwas auflädst.«
»Ich weiß, ich weiß. Es stimmt ja alles, was du sagst.« Seine Antwort klang nicht überzeugend.
Mit leiser Stimme versuchte sie ihn zu trösten: »Mit dem, was wir haben, bin ich so glücklich wie noch nie in meinem ganzen Leben. Du bist es, der mehr will; ich nicht.«
Alex seufzte, und wenig später schlief er ein.
Als sie ganz sicher war, daß er fest und tief schlief, zog Margot sich an, küßte ihn ganz zart und verließ die Wohnung.
Während Alex Vandervoort einen Teil jener Nacht allein schlief, sollte Roscoe Heyward die ganze Nacht in Einsamkeit verbringen.
Noch aber schlief er nicht.
Heyward war zu Hause, in seinem geräumigen zweistöckigen Haus in dem Vorort Shaker Heights. Er saß an einem lederbezogenen Schreibtisch in dem etwas steif möblierten kleinen Zimmer, das ihm als Arbeitszimmer diente. Vor ihm waren Papiere ausgebreitet.
Seine Frau Beatrice war vor fast zwei Stunden nach oben und zu Bett gegangen. Die Schlafzimmertür hatte sie hinter sich verschlossen, wie sie es nun schon seit zwölf Jahren tat, seit dem Tag, an dem sie - in gegenseitiger Übereinstimmung - getrennte Schlafquartiere bezogen hatten.
Daß Beatrice ihre Tür zu verschließen pflegte, und zwar in einer für sie typischen herrischen Art, hatte Heyward nie als Kränkung empfunden. Schon lange vor ihrem Auszug aus dem gemeinsamen Schlafzimmer waren ihre sexuellen Begegnungen immer seltener geworden und hatten sich schließlich im Nichts verloren.
Im wesentlichen, meinte Heyward, wenn er gelegentlich darüber nachdachte, war es Beatrices Entscheidung gewesen, mit dem Sexuellen endgültig Schluß zu machen. Schon in den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie zu verstehen gegeben, daß sie im Prinzip eine Abneigung gegen dieses Tasten und Keuchen empfand, wenn auch ihr Körper zuzeiten danach verlangte. Früher oder später, ließ sie durchblicken, werde ihr Wille dieses ziemlich widerwärtige Verlangen überwinden, und so war es auch gekommen.
In einem seiner seltenen selbstironischen Momente war Heyward die Erkenntnis gekommen, daß Elmer, ihr einziger Sohn, eigentlich genau das widerspiegelte, was Beatrice zum Thema seiner Empfängnis und Geburt empfand - nämlich Abneigung gegen ein ziemlich kränkendes, durch nichts zu rechtfertigendes Eindringen in ihre körperliche Privatsphäre. Elmer, nun bald dreißig Jahre alt und ein staatlich examinierter Wirtschaftsprüfer, verbreitete eine Aura der absoluten Mißbilligung um sich und stolzierte durchs Leben, als hielte er sich die Nase mit Zeigefinger und Daumen zu, um sich vor dem Gestank zu schützen. Sogar Roscoe Heyward konnte Elmer bisweilen nur schwer ertragen.
Heyward selbst hatte die sexuelle Zwangsabstinenz klaglos hingenommen, teils, weil er vor zwölf Jahren einen Punkt erreicht hatte, an dem er diese Dinge tun, sie aber auch sehr gut lassen konnte; teils, weil sein Ehrgeiz in der Bank inzwischen zu seiner zentralen Antriebskraft geworden war. Wie eine Maschine, die nicht mehr gebraucht wird, war deshalb sein sexuelles Verlangen geschrumpft und geschwunden. Jetzt regte es sich nur noch äußerst selten - und nur in mildester Form; und dann stimmte es ihn ein bißchen traurig in Erinnerung an einen Teil seines Lebens, über dem sich der Vorhang allzufrüh gesenkt hatte.
In anderer Hinsicht aber, gestand sich Heyward ein, war Beatrice gut für ihn gewesen. Sie entstammte einer tadellosen Bostoner Familie, und in ihrer Jugend war sie, wie es sich gehörte, als »Debütantin« in die Gesellschaft eingeführt worden. Auf ihrem Debütantinnenball war Roscoe, steif wie ein Ladestock, in Frack und weißen Handschuhen, ihr in aller Form vorgestellt worden. Später kam es zur einen oder anderen Verabredung, natürlich immer im Beisein von Anstandspersonen; darauf folgte eine Verlobungszeit von angemessener Dauer, und zwei Jahre nach ihrem ersten Tanz waren sie verheiratet. Die gesamte gute Gesellschaft von Boston hatte an der Hochzeit teilgenommen; Heyward erinnerte sich noch heute mit Stolz daran.
Damals wie jetzt teilte Beatrice Roscoes Vorstellungen über den Wert von gesellschaftlicher Stellung und gesellschaftlichem Ansehen. Beides hatte sie weiter gefestigt durch langen Dienst an der Sache der >Töchter der amerikanischen Revolutionc, zu deren General-Schriftführerin sie inzwischen aufgestiegen war. Roscoe war stolz darauf und entzückt über die hervorragenden gesellschaftlichen Kontakte, die dieses Amt mit sich brachte. Beatrice und ihrer glanzvollen Familie hatte eigentlich nur eines gefehlt - nämlich Geld. In diesem Augenblick wünschte Roscoe Heyward sich, wie schon so oft, mit Inbrunst, daß seine Frau eine reiche Erbin wäre.
Die größte Sorge, die Roscoe und Beatrice im Augenblick belastete, war dieselbe, die sie schon immer begleitet hatte: Es war die Sorge, wie sie ihr Leben mit Roscoes Gehalt bestreiten sollten.
Die Zahlen, mit denen er sich an diesem Abend befaßte, bewiesen Roscoe Heyward, daß ihre Ausgaben in diesem Jahr ihre Einnahmen erheblich übersteigen würden. Im April nächsten Jahres würde er Geld aufnehmen müssen, um seine Einkommensteuer bezahlen zu können. Das war bereits im laufenden Jahr nötig gewesen, wie auch im Jahr zuvor. Es hätte noch mehr solche r Jahre gegeben, wenn er nicht bisweilen Glück bei einigen Investitionen gehabt hätte.
Bestimmt hätten viele mit sehr viel geringerem Einkommen nur gelacht bei dem Gedanken, daß ein Vizepräsidentengehalt von 65000 Dollar im Jahr nicht für ein gutes Leben und womöglich noch für schöne Rücklagen reichen sollte. Tatsächlich aber reichte es für die Heywards nicht.
Zunächst einmal ging mehr als ein Drittel der Bruttosumme für die Einkommensteuer drauf. Danach verlangten die erste und die zweite Hypothek, die auf dem Hause lagen, jährliche Zahlungen von weiteren 16000 Dollar, während die Gemeindesteuern 2500 Dollar verschlangen. Blieben 23000 Dollar übrig - oder rund 450 Dollar pro Woche - für sämtliche anderen Ausgaben wie Reparaturen, Versicherungen, Lebensmittel, Kleidung, Auto für Beatrice (die Bank stellte Roscoe bei Bedarf einen Wagen mit Fahrer aus dem Fuhrpark zur Verfügung), Lohn für die Haushälterin, die gleichzeitig Köchin war, Spenden für wohltätige Organisationen und dazu eine schier unglaubliche Zahl kleinerer Posten, die sich zu einer deprimierenden Summe addierten.
Wieder einmal, wie immer in solchen Augenblicken, wurde Heyward sich der Tatsache bewußt, daß das Haus eine schwerwiegende Extravaganz darstellte. Von Anfang an hatte es sich gezeigt, daß es größer war als nötig, selbst damals schon, als Elmer noch bei seinen Eltern wohnte, was jetzt nicht mehr der Fall war. Vandervoort, der das gleiche Gehalt bezog, hatte es viel klüger gemacht, indem er in einem Apartment zur Miete wohnte, aber Beatrice liebte das Haus gerade wegen seiner Größe und Ansehnlichkeit und wollte nie etwas davon hören, zur Miete zu wohnen; auch Roscoe hielt nichts davon.
Also mußten sie sich in anderen Dingen einschränken, eine Notwendigkeit, die Beatrice bisweilen nicht zur Kenntnis nehmen mochte. Ihrer Ansicht nach war es ihr angemessen, Geld zu haben; von ihr zu erwarten, selbst über Geldfragen nachzudenken, erschien ihr als eine Art Majestätsbeleidigung. Diese Einstellung drückte sich auf tausenderlei Weise überall im Haus aus. Sie dachte nicht daran, eine Leinenserviette zweimal zu benutzen; ob sie schmutzig war oder nicht, nach einmaliger Benutzung hatte sie in die Wäsche zu wandern. Das gleiche galt für Handtücher, so daß die Wäscherechnungen enorm waren. Ferngespräche führte sie mit nachlässiger Selbstverständlichkeit, und selten ließ sie sich dazu herab, mit eigener Hand Lampen und Geräte wieder auszuschalten. Vor einem Augenblick erst war Heyward in die Küche gegangen, um sich ein Glas Milch zu holen, und hatte dabei feststellen müssen, daß sämtliche Lampen im Erdgeschoß brannten, obwohl Beatrice schon vor zwei Stunden zu Bett gegangen war. Gereizt hatte er die Lichter ausgeschaltet.
Aber wie Beatrice auch eingestellt sein mochte, es gab Tatsachen, an denen nicht zu rütteln war, und es gab Dinge, die sie sich einfach nicht leisten konnten. Ein Beispiel waren Ferien - die Heywards hatten in den beiden letzten Jahren keine Ferien gemacht. Im Sommer hatte Roscoe beiläufig zu Kollegen in der Bank gesagt: »Wir hatten an eine Mittelmeer-Kreuzfahrt gedacht, aber dann fanden wir beide, daß wir lieber zu Hause bleiben wollten.«
Eine weitere höchst unbehagliche Tatsache bestand darin, daß sie beide praktisch keine Rücklagen hatten - nur ein paar FMA-Aktien, die vielleicht bald verkauft werden mußten, auch wenn der Erlös nicht einmal ausreichen würde, um das Defizit dieses Jahres auszugleichen.
An diesem Abend war Heyward zu dem einzigen Schluß gekommen, daß sie ihre Ausgaben nach der Kreditaufnahme, so gut es ging, einschränken müßten, immer in der Hoffnung, daß es in nicht allzu ferner Zukunft finanziell aufwärts ging.
Das wäre - in durchaus befriedigendem Umfang - der Fall, wenn er zum Präsidenten der FMA gewählt wurde.
Wie in den meisten anderen Banken gab es auch bei der First Mercantile American einen beträchtlichen Gehaltsunterschied zwischen dem Präsidenten und dem nächstniedrigeren Rang. Als Präsident bezog Ben Rosselli 130000 Dollar pro Jahr. Es war so gut wie sicher, daß sein Nachfolger mit der gleichen Summe rechnen konnte.
Für Roscoe Heyward würde es die sofortige Verdoppelung seines jetzigen Gehalts bedeuten. Trotz der Steuereskalation würde der Rest sämtliche jetzt vorhandenen Probleme aus der Welt schaffen.
Er packte seine Papiere weg und begann davon zu träumen, ein Traum, der die ganze Nacht währte.
In ihrer Penthouse-Wohnung auf dem luxuriösen Cayman Manor, einem knapp zwei Kilometer außerhalb der Stadt gelegenen Wohnhochhaus, saßen Edwina und Lewis D'Orsey beim Frühstück.
Drei Tage waren seit der dramatischen Versammlung im Sitzungszimmer vergangen, auf der Ben Rosselli seine Freunde und Mitarbeiter von seinem nahe bevorstehenden Tod unterrichtet hatte, und zwei Tage seit der Entdeckung des erheblichen Bargeldverlustes in der Cityfiliale der First Mercantile American. Von diesen beiden Ereignissen war es der Geldverlust, der Edwina - jedenfalls in diesem Augenblick schwerer bedrückte.
Seit Mittwoch nachmittag war man keinen Schritt weitergekommen. Gestern hatten zwei Spezialagenten vom FBI den ganzen Tag lang mit unauffälliger Gründlichkeit die Angestellten der Cityfiliale befragt, aber ein greifbares Ergebnis hatten sie nicht erzielt. Die unmittelbar beteiligte Kassiererin, Juanita Nunez, blieb die Hauptverdächtige, aber sie weigerte sich, irgend etwas zazugeben, sie beteuerte nach wie vor ihre Unschuld und lehnte es ab, sich einem Lügendetektor-Test zu unterziehen.
Obwohl ihre Weigerung den allgemeinen Verdacht gegen sie noch verstärkte, war es doch so, wie einer der FBI-Männer zu Edwina gesagt hatte: »Wir können sie noch so sehr verdächtigen, und das tun wir auch, aber an Beweisen gibt es nicht das Schwarze unterm Fingernagel. Und wenn das Geld in ihrer Wohnung versteckt sein sollte, so brauchen wir erst einmal einen soliden Hinweis, bevor wir einen Haussuchungsbefehl beantragen können. Und wir haben eben nichts. Natürlich behalten wir sie im Auge. Sie rund um die Uhr beschatten zu lassen, dazu sind wir nicht ermächtigt.«
Die FBI-Agenten hatten sich auch für diesen Tag wieder in der Filiale angesagt, aber niemand sah so recht, was sie da eigentlich noch erreichen könnten.
Eines aber konnte und würde die Bank tun: Sie würde das Arbeitsverhältnis mit Juanita Nünez beenden. Edwina wußte, daß sie die junge Frau heute entlassen mußte.
Ein befriedigendes Ende der Affäre war das nicht.
Sie wandte sich wieder ihrem Frühstück zu, das das Hausmädchen gerade serviert hatte - Rührei und getoastete englische Muffins.
Ihr gegenüber saß Lewis hinter dem »Wall Street Journal« verborgen und schimpfte wie üblich leise vor sich hin über den neuesten Washingtoner Schwachsinn. Dort hatte ein Staatssekretär des Finanzministeriums vor einem Senatsausschuß erklärt, daß die Vereinigten Staaten niemals wieder zum Goldstandard zurückkehren würden. Der Staatssekretär hatte Keynes zitiert und Gold als »dieses barbarische gelbe Relikt« bezeichnet. Gold, behauptete er, habe als internationales Zahlungsmittel ausgedient.
»Mein Gott! So ein Vollidiot!« Lewis warf einen wütenden Blick über die stahlgefaßten Halbmondgläser seiner Brille, dann schleuderte er die Zeitung auf den Fußboden, wo schon die »New York Times«, der »Chicago Tribune« und die Londoner »Financial Times« vom Vortag lagen. Alle diese Blätter hatte er überflogen. Er schimpfte weiter über den Beamten vom Finanzministerium: »In fünf Jahrhunderten, wenn dieser Trottel längst zu Staub zerfallen ist, wird das Gold immer noch die einzige solide Basis für alle Zahlungsmittel der Welt sein. Aber bei diesen Ignoranten, die bei uns an der Macht sind, gibt es für uns keine Hoffnung mehr, nicht einen Schimmer!«
Lewis packte eine Tasse Kaffee, hob sie an sein hageres, ergrimmtes Gesicht und schluckte. Dann wischte er sich die Lippen mit einer Leinenserviette.
Edwina hatte den »Christian Science Monitor« durchgeblättert. Sie sah auf. »Wirklich ein Jammer, daß du in fünf Jahrhunderten nicht mehr hier sein wirst, um zu denen sagen zu können: >Seht ihr, ich hab's euch doch gleich gesagt.««
Lewis war ein kleiner Mann mit einem so hageren Körper, daß er zerbrechlich und halbverhungert wirkte; was aber keineswegs der Fall war, weder das eine noch das andere. Sein Gesicht paßte zu seinem Körper, es schien nur aus Knochen zu bestehen. Er hatte flinke Bewegungen, und seine Stimme klang meistens ungeduldig. Gelegentlich witzelte Lewis über seine wenig imposante Statur. Dann tippte er sich an die Stirn und versicherte: »Was die Natur an der Karosserie versäumt hat, das hat sie hier oben wiedergutgemacht.«
Und das stimmte, das gaben selbst diejenigen zu, die ihn nicht ausstehen konnten; er hatte ein bemerkenswert schnell und gut arbeitendes Gehirn, vor allem, wenn es um Geld und Finanzen ging.
Seine morgendlichen Wutausbrüche beeindruckten Edwina kaum. Zum einen hatte sie in ihrer vierzehnjährigen Ehe gelernt, daß sein Zorn sich höchst selten gegen sie richtete; zum anderen wußte sie, daß er sich schon für seine Morgensitzung an der Schreibmaschine in Form brachte, wo er dann zu brüllen anheben würde im gerechten Zorn eines Jeremias, wie es die Leser seines zweimal im Monat erscheinenden FinanzInformationsbriefes von ihm erwarteten.
Der sehr teure private Informationsbrief, der Lewis D'Orseys Investitionsratschläge unter einer exklusiven Gruppe internationaler Abonnenten verbreitete, diente ihm einerseits als enorme Einkommensquelle und andererseits als sein persönlicher Speer, mit dem er Regierung, Präsidenten, Ministerpräsidenten und assortierte Politiker aufspießte, wenn ihm eine ihrer fiskalischen Entscheidungen mißfiel. Die meisten mißfielen ihm.
Viele der auf moderne Theorien eingeschworenen Finanzleute, einschließlich einiger Angehöriger der First Mercantile American Bank, sahen rot, wenn sie nur an den unabhängigen, bissigen, ultrakonservativen Informationsbrief von Lewis D'Orsey dachten. Ganz anders urteilte die Mehrheit von Lewis' begeisterten Abonnenten, die in ihm eine Mischung von Moses und Midas inmitten einer Generation finanzieller Hohlköpfe erblickten.
Und das mit gutem Grund, fand Edwina. Hatte man das Lebensziel, Geld zu machen, dann war es schon vernünftig, auf Lewis zu hören. Das hatte er viele Male auf geradezu unheimliche Weise mit Ratschlägen bewiesen, die denen, die sie beachteten, hübsche Summen eingetragen hatten.
Ein Beispiel dafür war das Gold. Während andere ihn mitleidig belächelten, hatte Lewis schon lange im voraus einen geradezu dramatischen Anstieg im freien Marktpreis prophezeit. Er empfahl auch dringend den Ankauf südafrikanischer Goldminen-Aktien, die damals billig zu haben waren. Seither hatten mehrere seiner Abonnenten geschrieben und mitgeteilt, daß sie es inzwischen zum Millionär gebracht hätten, und zwar allein deshalb, weil sie seinem Rat gefolgt waren.
Mit ähnlich guter prophetischer Gabe hatte er die Serie von Dollarabwertungen vorausgesehen und seinen Lesern empfohlen, jeden Cent, den sie flüssigmachen könnten, in anderen Währungen anzulegen, vor allem in Schweizer Franken und D-Mark, was viele auch taten - und sehr zu ihrem Vorteil.
In der letzten Nummer von »The D'Orsey Newsletter« hatte er geschrieben:
»Der US-Dollar, einst eine stolze und ehrliche Währung, ist todgeweiht wie die Nation, die er repräsentiert. In finanzieller Hinsicht hat Amerika den Punkt ohne Wiederkehr hinter sich gelassen. Dank einer verrückten Fiskalpolitik, fehlkonzipiert von unfähigen und korrupten Politikern, die ausschließlich an sich selbst und ihrer Wiederwahl interessiert sind, leben wir in einem finanziellen Desaster, das sich nur noch verschlimmern kann.
Weil wir nun einmal von Schurken und Schwachsinnigen regiert werden und weil die Öffentlichkeit treu und bieder und ahnungslos zuschaut, ohne einen Finger zu rühren, ist es höchste Zeit, in die finanziellen Rettungsboote zu gehen! Rette sich, wer kann!
Wenn Sie Dollars haben, behalten Sie nur so viele davon, wie Sie für das Taxi, Ihre Mahlzeiten und für Briefmarken brauchen. Und natürlich eine Summe, die für ein Flugticket in ein glücklicheres Land ausreicht.
Der kluge Investor verläßt die Vereinigten Staaten, lebt im Ausland und verzichtet auf seine amerikanische Staatsbürgerschaft. Amtlich heißt es im Internal Revenue Code, Paragraph 877, daß ein Bürger der USA, der seine Staatsbürgerschaft ablegt, um seine Einkommensteuerpflicht zu umgehen, steuerpflichtig bleibt, falls die Steuerbehörde den Sachverhalt beweisen kann. Aber wer sich auskennt, kann der Steuerbehörde auf legale Weise ein Schnippchen schlagen. (Siehe »The D'Orsey Newsletter« vom Juli vorigen Jahres zu dem Thema: »Wie werde ich ein ehemaliger US-Staatsbürger.« Einzelexemplare sind noch lieferbar zum Preise von 16 US-Dollar oder 40 sfr.)
Der Grund für den Wechsel in Landschaft und Loyalität: Der Wert des US-Dollars wird weiter schwinden, zusammen mit Amerikas fiskalischer Freiheit.
Und wenn Sie dieses Land aus irgendwelchen Gründen nicht verlassen können, dann schicken Sie wenigstens Ihr Geld ins Ausland. Konvertieren Sie Ihre US-Dollars, solange es noch geht (das wird vielleicht nicht mehr lange dauern!), in D-Mark, Schweizer Franken, holländische Gulden, in österreichische Schilling, in Krüger-Rands.
Und dann packen Sie sie, dem Zugriff der US-Bürokraten entzogen, auf ein europäisches Bankkonto, am besten wohl in der Schweiz... «
Lewis D'Orsey hatte dieses Thema in den letzten Jahren schon in vielen Varianten hinaustrompetet. Sein neuester Informationsbrief enthielt noch mehr davon und schloß mit detaillierten Ratschlägen über empfehlenswerte Investitionen. Natürlich empfahl er nur Anlagen in nichtamerikanischen Währungen.
Ein anderer Vorgang, der Lewis in Rage versetzt hatte, waren die staatlichen Goldverkäufe gewesen. »In der nächsten Generation«, hatte er geschrieben, »wenn die Amerikaner endlich aufwachen und erkennen, daß ihr nationales Erbe zu Schleuderpreisen verkauft wurde, um dem kindischen Ehrgeiz von gewissen Leuten in Washington zu schmeicheln, werden die dafür Verantwortlichen als Verräter gebrandmarkt und für alle Zeiten verdammt werden.«
Lewis' Bemerkungen hatten in ganz Europa starke Beachtung gefunden, waren jedoch in Washington und in der amerikanischen Presse totgeschwiegen worden.
Nun, am Frühstückstisch, setzte Edwina ihre Lektüre des »Monitor« fort. Ein Artikel behandelte eine Gesetzesvorlage im Repräsentantenhaus, die eine Änderung der Steuergesetze mit dem Ziel einer verringerten Abschreibung bei Haus- und Grundbesitz anstrebte. Ein solches Gesetz könnte sich auf die Hypothekengeschäfte der Bank auswirken, und sie fragte Lewis um seine Meinung, ob diese Vorlage Chancen habe, zum Gesetz erhoben zu werden.
»Nie und nimmer«, antwortete er entschieden. »Selbst wenn das Haus zustimmt, kommt die Vorlage nicht durch den Senat. Ich habe gestern ein paar Senatoren angerufen. Die nehmen die Sache nicht ernst.«
Lewis hatte eine staunenswerte Zahl von Freunden und Informanten - und das war einer der Gründe für seinen Erfolg. Er hielt sich auch stets in Steuerfragen auf dem laufenden, so daß er seinen Lesern raten konnte, wie sich bestimmte Situationen zu ihrem Vorteil nutzen ließen.
Lewis selbst zahlte im Jahr nur eine quasi symbolische Einkommensteuer - niemals mehr als ein paar hundert Dollar, und damit brüstete er sich auch. Dabei hatte er tatsächlich ein siebenstelliges Einkommen. Er schaffte das, indem er alle gesetzlichen Steuervorteile, alle Vergünstigungen geschickt ausnutzte und dort anlegte, wo es Steuerschutzwälle gab - Öl, Land, Holz Wirtschaft, Landwirtschaft, steuerfreie Staatspapiere, steuerbegünstigte Teilhaberschaften. Ein kompliziertes Gebäude aus ineinander verzahnten Vorteilen dieser Art ermöglichte es ihm, mit vollen Händen Geld auszugeben, ein großartiges Leben zu führen und dennoch - auf dem Papier - in jedem Jahr immer Verlust zu machen.
Diese Steuerinstrumente waren, wie gesagt, samt und sonders legal. »Nur Dummköpfe verheimlichen Einnahmen oder hinterziehen Steuern auf andere Weise«, hatte Edwina ihn oft sagen hören. »Warum denn ein Risiko eingehen, wenn das Steuergesetz mehr legale Notausgänge hat als ein Schweizer Käse Löcher? Man braucht dazu nichts weiter als Fleiß, um sich mit dem Thema vertraut zu machen, und Unternehmungsgeist, um die gewonnenen Erkenntnisse zu nutzen.«
Bislang hatte Lewis seinen eigenen Ratschlag, im Ausland zu leben und auf die amerikanische Staatsbürgerschaft zu verzichten, nicht befolgt. Aber er verabscheute New York, wo er einst gelebt und gearbeitet hatte, und nannte es jetzt »ein verkommenes, eitles, bankrottes Banditennest, das von Solipsismus lebt und einen schlechten Atem hat«. Außerdem sei es eine »von arroganten New Yorkern propagierte Illusion, daß man die besten Gehirne in dieser Stadt versammelt findet. Das ist nicht der Fall.« Ihm war der Mittlere Westen lieber, wohin er dann übergesiedelt war und wo er vor anderthalb Jahrzehnten Edwina kennengelernt hatte.
Obwohl ihr Mann ihr vorexerzierte, wie man Steuern vermeiden konnte, ging Edwina hier ihre eigenen Wege, füllte ihre eigenen Steuererklärungen aus und zahlte höhere Steuern als Lewis, obwohl sie weit weniger verdiente als er. Aber die gemeinsamen Rechnungen bezahlte Lewis - er zahlte für das Penthouse, für die Angestellten, für die beiden Mercedeswagen und andere Luxusdinge.
Edwina gestand sich selbst gegenüber ehrlich ein, daß der großartige Lebensstil, den sie aus Herzenslust genoß, bei ihrer Entscheidung, Lewis zu heiraten und sich auf diese Ehe einzustellen, eine Rolle gespielt hatte. Doch sie hatten sich beide arrangiert, es funktionierte gut, sie behielten ihre Unabhängigkeit und ihre getrennten Karrieren.
»Im Augenblick wünschte ich«, sagte sie, »deine tiefe Einsicht reichte so weit, daß du mir sagen könntest, wohin am Mittwoch all das viele Geld bei uns verschwunden ist.«
Lewis blickte von seinem Frühstück auf, das er ingrimmig attackiert hatte, so als seien die Eier seine persönlichen Feinde. »Das Geld ist noch immer verschwunden? Dann hat das wackere FBI mal wieder nichts rausgekriegt?«
»So könnte man es auch nennen.« Sie erzählte ihm von der Sackgasse, in der die Ermittlungen jetzt steckten, und von ihrer Absicht, die Kassiererin noch heute zu entlassen.
»Und danach wird wohl keiner sie je wieder einstellen.«
»Eine andere Bank ganz bestimmt nicht.«
»Sagtest du nicht, daß sie ein Kind hat?«
»Ja, leider.«
»Zwei neue Anwärter für die langen Listen der Fürsorge«, bemerkte Lewis düster.
»Ach, nun mach mal 'n Punkt und spar dir die Birch-Klagen für deine Leser auf.«
Ein zerklüftetes Lächeln erschien - was äußerst selten geschah - auf dem Gesicht ihres Mannes. »Verzeih. Aber ich bin es nicht gewöhnt, daß du Rat brauchst. Kommt nicht sehr oft vor.«
Das war ein Kompliment, wie Edwina wohl wußte. Zu den Vorzügen ihrer Ehe gehörte es, daß Lewis sie immer als intellektuell gleichberechtigt behandelt hatte. Er hatte es zwar nie ausgesprochen, aber sie wußte, daß er auf ihren hohen Rang in der FMA-Hierarchie sehr stolz war - schließlich gab es in jenen Höhen auch heute noch nicht viele Frauen in der männerchauvinistischen Welt des Bankgewerbes.
»Natürlich kann ich dir auch nicht verraten, wo das Geld ist«, sagte Lewis; er schien nachgedacht zu haben. »Aber ich gebe dir einen Rat, der mir in ähnlich vertrackten Situationen schon geholfen hat.«
»Ja? Ich höre.«
»Er lautet: Mißtraue dem Offensichtlichen.«
Edwina war enttäuscht. Vielleicht hatte sie unlogischerweise so etwas wie eine Wunderlösung erwartet. Statt dessen hatte Lewis eine lendenlahme alte Bauernweisheit verkündet.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war beinahe acht. »Danke«, sagte sie. »Ich muß gehen.«
»Ach, ich fliege übrigens heute abend nach Europa«, sagte er. »Ich bin Mittwoch wieder da.«
»Gute Reise.« Im Gehen gab Edwina ihm einen Kuß. Die beiläufige Mitteilung hatte sie nicht überrascht. Lewis hatte Büros auch in Zürich und London, und sein Kommen und Gehen war das Selbstverständlichste von der Welt.
Sie fuhr in dem Privat-Lift, der das Penthouse mit der Kellergarage verband, nach unten.
Obwohl sie den Ratschlag, den Lewis ihr gegeben hatte, nicht für besonders wertvoll hielt, wollten ihr während der Fahrt zur Bank seine Worte: Mißtraue dem Offensichtlichen nicht aus dem Sinn gehen.
Ein Gespräch mit den beiden FBI-Agenten am Vormittag war kurz und unergiebig.
Es fand im Konferenzraum im hinteren Teil der Bank statt. Hier hatten die FBI-Männer während der vorangegangenen beiden Tage Angestellte vernommen. Am heutigen Gespräch nahmen Edwina und Nolan Wainwright teil.
Der Ranghöhere der beiden Beamten, der Innes hieß und mit dem typischen Akzent der Leute aus New England sprach, gestand Edwina und dem Sicherheitschef der Bank: »Unsere Untersuchung hat sich festgefahren. Der Fall bleibt offen, und Sie hören von uns, wenn neue Tatsachen ans Licht kommen«, setzte er hinzu. »Falls sich hier etwas ergibt, benachrichtigen Sie sofort das Federal Bureau of Investigation.«
»Natürlich«, sagte Edwina.
»Ach, etwas wäre da doch noch, allerdings etwas Negatives.« Der FBI-Mann schlug sein Notizbuch auf. »Der Mann dieser Mrs. Nünez - Carlos. Einer von Ihren Leuten glaubte, ihn an dem Tag, an dem das Geld verschwunden ist, in der Bank gesehen zu haben.«
Wainwright sagte: »Miles Eastin. Er hat es mir gemeldet. Ich habe die Information weitergegeben.«
»Ja, wir haben Eastin danach gefragt; er gab zu, daß er sich geirrt haben könnte. Wir haben Carlos Nünez ausfindig gemacht. Er lebt jetzt in Phoenix, Arizona; hat da einen Job als Autoschlosser. Unsere Agenten in Phoenix haben ihn befragt. Nach ihren Feststellungen war er am Mittwoch an seinem Arbeitsplatz, wie jeden Tag in dieser Woche. Damit scheidet er als Komplice aus.«
Nolan Wainwright begleitete die FBI-Agenten hinaus. Edwina kehrte zu ihrem Schreibtisch auf der Plattform zurück. Wie die Vorschrift es verlangte, hatte sie den Verlust des Geldes ihrem unmittelbaren Vorgesetzten in der Hauptverwaltung gemeldet, und die Sache schien weiter nach oben bis zu Alex Vandervoort gedrungen zu sein. Alex hatte gegen Abend angerufen und gefragt, ob er ihr in irgendeiner Weise behilflich sein könne. Sie hatte es dankend abgelehnt, da sie schließlich die Verantwortliche war und was zu tun war selber erledigen mußte.
An diesem Morgen hatte sich an der ganzen Sache nichts geändert.
Kurz vor Mittag wies Edwina Tottenhoe an, die Gehaltsabteilung davon in Kenntnis zu setzen, daß das Angestelltenverhältnis von Juanita Nünez mit diesem Tage enden würde. Die Abteilung möge die letzte Gehaltsabrechnung fertigmachen und herüberschicken. Der Scheck, von einem Boten gebracht, lag auf Edwinas Schreibtisch, als sie vom Essen zurückkam.
Zögernd und mit einem unguten Gefühl wendete Edwina den Scheck hin und her.
In diesem Augenblick arbeitete Juanita Nünez noch. Das hatte Edwina gestern entschieden, sehr zum Verdruß Tottenhoes, der brummig eingewandt hatte: »Je eher wir sie los sind, desto sicherer sind wir vor Wiederholungen.« Sogar Miles Eastin, der nun wieder an seinem Schreibtisch saß und seine Arbeit als stellvertretender Innenleiter fortsetzte, hatte die Augenbrauen verwundert hochgezogen. Trotzdem war Edwina bei ihrer Entscheidung geblieben.
Sie wunderte sich über sich selbst. Warum machte sie sich solche Gedanken, wo doch offensichtlich die Zeit gekommen war, einen Schlußstrich zu ziehen und die ganze Sache zu vergessen.
Offensichtlich die Zeit gekommen war... Die offensichtliche Lösung. Wieder fiel ihr ein, was Lewis gesagt hatte - mißtraue dem Offensichtlichen.
Aber wie? Wo sollte sie anfangen mit dem Mißtrauen?
Edwina befahl sich selbst: Durchdenke alles noch einmal. Fange ganz von vorn an.
Welches waren die offensichtlichen Aspekte des Zwischenfalles? Das erste Offensichtliche war die Tatsache, daß Geld verschwunden war. Hier gab es nichts zu deuteln. Das zweite Offensichtliche war die Summe von sechstausend Dollar. Das hatten vier Personen übereinstimmend festgestellt: Juanita Nünez selbst, Tottenhoe, Miles Eastin, schließlich noch der Tresorraum-Kassierer. Nicht strittig.
Das dritte offensichtlich gewordene Moment bezog sich auf die Angabe der Mrs. Nünez, daß sie um 13.50 Uhr die genaue Summe des Geldes kannte, das aus ihrem Fach verschwunden war; sie hatte diese Angabe nach fast fünfstündiger lebhafter Schaltertätigkeit gemacht und bevor sie ihren Bestand durchgezählt und nachgerechnet hatte. Alle anderen in der Filiale, die von dem Verlust wußten, Edwina selbst inbegriffen, erklärten das übereinstimmend für offensichtlich unmöglich; das war von Anfang an ein wichtiges Belastungsmoment gegen Juanita Nünez gewesen.
Belastung... offensichtliche Belastung... offensichtlich unmöglich.
Aber war es wirklich so unmöglich?... Edwina hatte plötzlich eine Idee.
Die Uhr an der Wand zeigte 14.10 Uhr. Sie bemerkte, daß der Innenleiter an seinem Schreibtisch saß. Edwina stand auf. »Mr. Tottenhoe, würden Sie bitte mal mitkommen?«
Verdrossen trottete Tottenhoe hinter ihr her, als sie den großen Schalterraum durchquerte, hier und da kurz einen Kunden begrüßend. Es herrschte reger Betrieb, es waren viele Menschen in dem Raum, wie üblich während der letzten Schalterstunden vor einem Wochenende. Juanita Nünez nahm gerade eine Einzahlung entgegen.
Edwina sagte mit ruhiger Stimme: »Mrs. Nünez, wenn Sie diesen Kunden bedient haben, stellen Sie bitte das Schild >Schalter geschlossen auf und verschließen Sie dann Ihr Geldfach.«
Juanita reagierte nicht, sie sagte auch nichts, als sie die Transaktion beendet und das kleine Metallschild in ihr Schalterfenster gestellt hatte. Als sie sich zur Seite wandte, um das Geldfach abzuschließen, sah Edwina, warum sie nichts sagte. Juanita weinte lautlos, Tränen liefen ihr über die Wangen.
Der Grund war nicht schwer zu erraten. Sie hatte an diesem Tag mit ihrer Entlassung gerechnet, und Edwinas plötzliches Auftauchen hatte ihr die Gewißheit gebracht.
Edwina ignorierte die Tränen. »Mr. Tottenhoe«, sagte sie, »stimmt es, daß Mrs. Nünez seit Beginn der Schalterstunden heute früh Bargeld eingenommen und ausgezahlt hat?«
Er nickte. »Ja.«
Die Zeitspanne war ungefähr die gleiche wie am Mittwoch, dachte Edwina; allerdings hatte heute mehr Betrieb in der Filiale geherrscht.
Sie zeigte auf das Geldfach. »Mrs. Nünez, Sie haben behauptet, daß Sie jederzeit genau wissen, wieviel Bargeld sie haben. Wissen Sie, wieviel Geld jetzt in dem Fach ist?«
Die junge Frau zögerte. Dann nickte sie; sprechen konnte sie wegen der Tränen noch immer nicht.
Edwina nahm einen Zettel vom Schaltertisch und hielt ihn ihr hin. »Schreiben Sie die Summe darauf.«
Wieder sichtliches Zögern. Dann nahm Juanita Nunez einen Bleistift und kritzelte 23765 Dollar.
Edwina gab Tottenhoe den Zettel. »Bitte begleiten Sie Mrs. Nunez und bleiben Sie bei ihr, während sie ihren heutigen Bargeldbestand durchrechnet. Kontrollieren Sie das Ergebnis. Vergleichen Sie es mit dieser Zahl.«
Skeptisch betrachtete Tottenhoe den Zettel. »Ich hab' zu tun, und wenn ich bei jedem einzelnen Kassierer bleiben wollte... «
»Bleiben Sie bei dieser Kassiererin«, sagte Edwina und ging durch die Schalterhalle zu ihrem Platz zurück.
Drei Viertelstunden später erschien Tottenhoe neben ihrem Schreibtisch.
Er machte einen nervösen Eindruck. Edwina bemerkte, daß die Hand zitterte, mit der er ihr den Zettel hinlegte. Die Zahl, die Juanita Nunez darauf geschrieben hatte, war mit einem Bleistift abgehakt.
»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte«, sagte der Innenleiter, »dann hätte ich es wahrscheinlich nicht geglaubt.« Zum ersten Mal seit langer Zeit verriet seine Miene nicht die gewohnte Niedergeschlagenheit, sondern Erstaunen.
»Die Zahl hat gestimmt?«
»Sie hat genau gestimmt.«
Edwina saß angespannt da und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Mit einem Schlage, das wußte sie, hatte sich fast der gesamte Stand der Untersuchung verändert. Bis zu diesem Augenblick war man fast immer von der Annahme ausgegangen, daß Mrs. Nunez unmöglich habe fertigbringen können, was sie soeben überzeugend und schlüssig vorgeführt hatte.
»Mir ist etwas eingefallen, als ich eben auf dem Weg zu Ihnen war«, sagte Tottenhoe. »Ich habe mal jemanden gekannt, das war in einer kleinen Filiale auf dem Lande im Norden - muß zwanzig Jahre her sein oder länger -, der konnte beim Schalterdienst den ganzen Tag lang im Kopf mitrechnen. Und jetzt erinnere ich mich, von anderen Leuten gehört zu haben, die das auch können. Das ist, als ob die eine Rechenmaschine im Kopf hätten.«
Edwina sagte scharf: »Mir wäre es lieber gewesen, wenn Ihre Erinnerung schon am Mittwoch so gut funktioniert hätte.«
Tottenhoe kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, Edwina zog einen Schreibblock heraus und kritzelte Zusammenfassungen von dem, was ihr jetzt durch den Kopf ging.
Nünez noch nicht entlastet, aber glaubwürdiger. Vielleicht schuldlos verdächtigt?
Wenn Nünez nicht, wer dann?
Jemand, der den Arbeitsablauf kennt, der nach günstiger Gelegenheit Ausschau halten kann.
Angestellter? Jemand aus dieser Filiale?
Aber wie?
» Wie« später. Erst Motiv finden, dann Person.
Motiv? Jemand, der dringend Geld braucht?
Sie wiederholte in Blockbuchstaben: BRAUCHT GELD. Und sie fügte hinzu: Persönliche Giro-/Sparkonten kontrollieren, gesamtes Personal der Filiale - HEUTE ABEND!
Freitagnachmittag blieben alle Filialen der First Mercantile American drei Stunden länger als gewöhnlich geöffnet.
So schloß an diesem Freitag ein bewaffneter Sicherheitsbeamter das Straßenportal der Hauptfiliale um 18.00 Uhr zu. Ein paar Kunden, die sich im Augenblick des Schalterschlusses noch in der Bank befunden hatten, wurden von demselben Wächter einzeln durch eine Panzerglastür hinausgelassen.
Genau um 18.05 Uhr klopfte es ein paar Mal nacheinander scharf von außen an diese Glastür. Als sich der Wächter verwundert umdrehte, sah er die Gestalt eines jung wirkenden Mannes, der einen schwarzen Mantel und einen dunklen Anzug darunter trug. In der Hand hatte er eine Aktentasche. Um gleich gehört zu werden, hatte er ein in ein Taschentuch gewickeltes 50-Cent-Stück als Klopfer benutzt.
Als der Wächter näher kam, drückte der Mann mit der Aktentasche einen Ausweis flach an die Scheibe. Der Wächter prüfte den Ausweis, schloß dann die Tür auf, und der junge Mann betrat die Filiale.
Bevor der Wächter die Tür wieder schließen konnte, geschah etwas, das so verblüffend und erstaunlich war wie ein glänzend einstudierter Zaubertrick. Wo ein Mann mit Aktentasche gestanden und seinen Ausweis präsentiert hatte, da standen plötzlich sechs, und hinter ihnen weitere sechs, wiederum gefolgt von einer anderen Phalanx. Geschwind wie eine Flutwelle strömten sie in die Bank.
Ein Mann, älter als die meisten anderen und Autorität ausstrahlend, sagte kurz: »Revisionsstab der Hauptverwaltung.«
»Yessir«, sagte der bewaffnete Wächter; er war ein alter Bankhase, der das alles schon einmal mitgemacht hatte, und er ließ die anderen Ausweisinhaber Mann für Mann herein. Zwanzig waren es insgesamt, meistens Männer, aber auch vier Frauen waren dabei. Alle begaben sich unverzüglich zu bestimmten Punkten innerhalb der Bank.
Der ältere Mann, der an der Tür gesprochen hatte, steuerte auf Edwinas Schreibtisch zu. Als sie sich erhob, um ihn zu begrüßen, betrachtete sie den Strom der Hereinkommenden mit unverhohlener Überraschung.
»Mr. Burnside, soll das eine Groß-Revision werden?«
»Allerdings, Mrs. D'Orsey.« Der Chef der Revision zog seinen Mantel aus und hängte ihn in der Nähe der Plattform an einen Haken.
Die Angestellten in den verschiedenen Abteilungen der Bank zogen ein saures Gesicht; resignierte Bemerkungen wurden hörbar. »Ausgerechnet Freitag abend!« ... »Verdammt, ich bin zum Essen verabredet!« ... »Wer sagt, daß Revisoren auch Menschen sind?«
Die meisten wußten, was der Besuch einer Revisorengruppe bedeutete. Kassierer wußten, daß ihr Bargeld, ebenso wie die Bar-Reserve im Tresorraum, noch ein weiteres Mal nachgezählt werden würde, bevor sie endlich gehen konnten. Buchhalter würden bleiben müssen, bis ihre sämtlichen Eintragungen abgehakt waren, und die leitenden Angestellten der Filiale würden sich glücklich preisen können, wenn sie bis Mitternacht mit allem fertig waren.
Die Neuankömmlinge hatten bereits flink und höflich sämtliche Hauptbücher an sich genommen. Von diesem Augenblick an konnte jede Eintragung, jede Änderung nur noch unter Aufsicht vorgenommen werden.
»Damit habe ich nicht gerechnet, als ich um eine Prüfung der Angestellten-Konten bat«, sagte Edwina. Normalerweise fand alle anderthalb Jahre eine Bankrevision statt, manchmal auch nur alle zwei Jahre, und die jetzige Revision war doppelt unerwartet, da die Filiale erst vor acht Monaten eine große Revision erlebt hatte.
»Wir entscheiden über das Wie, Wo und Wann einer Revision, Mrs. D'Orsey.« Wie stets wahrte Hal Burnside kühle Distanz, wie es sich für einen Bankprüfer gehörte. Die Revisionsabteilung ist innerhalb jeder großen Bank eine selbständige Einheit mit den Aufgaben eines vorzüglich dressierten Wachhundes, ausgestattet mit Autorität und etwa den gleichen Vorrechten, wie sie der Generalinspekteur eines modernen Heeres besitzt. Kein Revisor ließ sich je durch Rang und Namen einschüchtern, und selbst leitende Manager mußten Mängelrügen einstecken, wenn die gründliche Inspektion einer Filiale irgendwelche Unregelmäßigkeiten aufdeckte - und ein paar davon gab es immer.
»Das ist mir bekannt«, sagte Edwina. »Ich staune nur, wie Sie das alles so schnell organisieren konnten.«
Der Chefrevisor lächelte eine Spur selbstgefällig. »Wir haben unsere Methoden und Möglichkeiten.«
Für sich behielt er die Tatsache, daß an diesem Abend die überraschende Revision einer anderen FMA-Filiale geplant gewesen war. Nach Edwinas Anruf vor drei Stunden hatte man den Plan fallenlassen, die getroffenen Vorbereitungen rasch umgepolt und zusätzliche Leute für den neuen Einsatzort mobilisiert.
Solche Nacht-und-Nebel-Aktionen waren keineswegs ungewöhnlich. Ein wesentliches Element jeder Revision bestand darin, unangekündigt die zu prüfende Filiale zu besetzen. Die kompliziertesten Geheimhaltungsmaßnahmen wurden jedesmal getroffen, und ein Revisor, der gegen die absolute Schweigepflicht verstieß, mußte mit ernsten Folgen für sich rechnen. Was darum, und sei es auch nur aus Fahrlässigkeit, höchst selten vorkam.
Zu dem derzeitigen Unternehmen hatten sich die zwanzig Revisoren im Salon eines Hotels versammelt; selbst dieser Treffpunkt war ihnen erst im letztmöglichen Augenblick bekanntgegeben worden. Dort gab es eine rasche Einsatzbesprechung, jeder erhielt seine Spezialaufgabe zugewiesen, und dann begaben sie sich unauffällig zu zweit oder zu dritt zur FMA-Cityfiliale. Bis zur allerletzten, entscheidenden Minute hatten sie sich in den Foyers benachbarter Geschäftshäuser aufgehalten, waren scheinbar harmlos herumspaziert oder hatten Schaufenster betrachtet. Nach alter Tradition hatte dann das jüngste Mitglied der Gruppe herrisch an die Tür der Bank geklopft und Einlaß gefordert. Kaum war der Weg in die Bank frei, waren die anderen ihm, wie auf ein Signal, in die Schalterhalle gefolgt.
Jetzt waren sämtliche Schlüsselpositionen der Bank von je einem Mann des Revisorenteams besetzt.
Ein wegen Bankunterschlagung in den siebziger Jahren verurteilter Mann, der seine gewaltigen Betrügereien mehr als zwanzig Jahre lang immer wieder hatte tarnen können, sagte, als er sich endlich doch auf der Fahrt ins Gefängnis befand: »Wenn die Bankprüfer zu uns kamen, haben sie in den ersten vierzig Minuten nichts anderes getan als rumzuquatschen. In der Hälfte der Zeit hatte ich alles kaschiert, was es zu kaschieren gab.«
Die Revisionsabteilungen der First Mercantile American und anderer großer Banken in Nordamerika ließen es nicht darauf ankommen. Es vergingen keine fünf Minuten zwischen der überraschenden Ankunft des Revisoren-Teams und dem Beziehen der ihnen zugewiesenen Positionen, von denen aus sie alles beobachten konnten.
Resigniert fuhren die Angestellten der Bankfiliale fort, ihre Tagesarbeit abzuschließen, um sich dann, falls nötig, den Revisoren helfend zur Verfügung zu stellen.
Hatte die Prüfung erst einmal begonnen, ging es die ganze folgende Woche damit weiter und noch einige Tage der übernächsten. Der eigentlich kritische Teil jedoch fand innerhalb der ersten Stunden statt.
»Ich schlage vor, daß Sie und ich jetzt an die Arbeit gehen, Mrs. D'Orsey«, sagte Burnside. »Wir fangen bei den Sparkonten an, bei den längerfristigen ebenso wie bei den sofort kündbaren.« Er stellte seine Aktentasche auf Edwinas Schreibtisch und klappte sie auf.
Gegen 20.00 Uhr hatte sich die Überraschung über die so unerwartet anberaumte Revision gelegt, ein bemerkenswertes Arbeitspensum war geschafft, und die Reihen der noch anwesenden Angestellten hatten sich gelichtet. Alle Kassierer waren gegangen, auch etliche Buchhalter. Das gesamte Bargeld war gezählt, die Inspektion der verschiedenen Bücher, Karten und Akten hatte gute Fortschritte gemacht. Die Gäste waren höflich aufgetreten und in einigen Fällen sogar hilfsbereit, indem sie auf den einen oder anderen kleinen Fehler hingewiesen hatten; das alles gehörte zu ihren Aufgaben.
Von den leitenden Angestellten waren Edwina, Tottenhoe und Miles Eastin in der Bank zurückgeblieben. Die beiden Männer waren vollauf damit beschäftigt gewesen, gewünschte Informationen zu beschaffen und Anfragen zu beantworten. Bei Tottenhoe machten sich inzwischen Anzeichen von Ermüdung bemerkbar. Der junge Eastin aber, der gut gelaunt und beflissen auf jede Bitte der Revisoren eingegangen war, wirkte so frisch und energisch wie zu Anfang des Abends. Miles Eastin organisierte auch Sandwiches und Kaffee für die Revisoren und die noch anwesenden Angestellten.
Von den verschiedenen Arbeitsgruppen der Revisoren konzentrierte sich ein kleines Team auf Spar- und Girokonten; ein Teamangehöriger erschien von Zeit zu Zeit beim Chefrevisor an Edwinas Schreibtisch und übergab ihm eine Aktennotiz. Jedesmal warf er einen Blick auf die Notiz, nickte und tat das Blatt zu anderen Papieren in seiner Aktentasche.
Um 20.50 Uhr übergab man ihm eine offenbar längere Notiz mit mehreren beigehefteten Schriftstücken. Dieses Mal las Burnside alles sehr aufmerksam durch und verkündete: »Ich glaube, Mrs. D'Orsey und ich legen jetzt eine Pause ein. Wir gehen irgendwohin und essen Abendbrot.«
Minuten später begleitete er Edwina durch dieselbe Glastür, durch die er und seine Revisoren vor fast drei Stunden das Haus betreten hatten.
Draußen auf der Straße sagte der Chefrevisor entschuldigend: »Tut mir leid, das war eben nur Theater! Ich fürchte, unser Abendbrot muß warten - wenn wir überhaupt dazu kommen.« Als Edwina ihn fragend ansah, fügte er hinzu: »Sie und ich werden jetzt an einer Sitzung teilnehmen, das brauchte aber niemand zu erfahren.«
Burnside wies den Weg. Sie wandten sich nach rechts, gingen die Straße einen halben Block weit hinunter, nahmen dann eine Fußgängerstraße zurück zur Rosselli Plaza und der Zentrale der FMA. Es war eine kalte Nacht, und Edwina wickelte sich fest in ihren Mantel ein. Durch den Tunnel, dachte sie, wäre es kürzer und wärmer gewesen. Warum diese Geheimniskrämerei?
Im Hauptverwaltungsgebäude angelangt, trug Hal Burnside sich in das Nacht-Gästebuch ein, dann geleitete ein Wächter sie zum Fahrstuhl und brachte sie in den elften Stock. Schild und Pfeil wiesen den Weg zur Sicherheitsabteilung. Dort warteten Nolan Wainwright und die beiden FBI-Männer, die den Bargeldverlust bearbeiteten, auf sie.
Fast im selben Augenblick gesellte sich ein Mitglied des Revisoren-Teams zu ihnen, das Edwina und Burnside vermutlich von der Bank hierher gefolgt war.
Rasch machten sich alle miteinander bekannt. Der zuletzt Eingetroffene war ein noch recht junger Mann namens Gayne, dessen kühle und wache Augen hinter einer dickrandigen Brille ihm ein strenges Aussehen verliehen. Gayne hatte auch die verschiedenen Aktennotizen und Dokumente zu Burnside gebracht, als der Chefrevisor an Edwinas Schreibtisch arbeitete.
Jetzt gingen sie auf Nolan Wainwrights Vorschlag in ein Konferenzzimmer und nahmen an einem runden Tisch Platz.
Hal Burnside wandte sich an die FBI-Agenten. »Ich hoffe, meine Herren, daß unsere Entdeckung es rechtfertigt, Sie zu dieser nächtlichen Stunde hergebeten zu haben.«
Dieses Treffen war offenbar schon vor etlichen Stunden geplant worden, schoß es Edwina durch den Kopf. »Sie haben also etwas entdeckt?« Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
»Leider sogar mehr als erwartet, Mrs. D'Orsey.«
Auf ein Kopfnicken von Burnside begann Revisionsassistent Gayne, Papiere auf dem Tisch auszubreiten.
»Auf Ihre Anregung hin«, begann Burnside im Tone eines Dozierenden, »wurden die persönlichen Bankkonten aller Angestellten der Cityfiliale überprüft, und zwar die Sparkonten sowie die Girokonten. Zweck unserer Suche war es, Hinweise auf etwaige individuelle finanzielle Schwierigkeiten zu finden. Wir haben schlüssige Hinweise dieser Art gefunden.«
Er redet wie ein Schulmeister, dachte Edwina. Aber sie hörte weiter gespannt zu.
»Ich sollte vielleicht erläuternd hinzufügen«, fuhr der Chefrevisor zu den beiden FBI-Männern gewandt fort, »daß die meisten Bankangestellten ihre persönlichen Konten bei der Filiale einrichten, in der sie arbeiten. Hauptsächlich, weil solche Konten gratis sind, das heißt, es werden keine Kontoführungsund Buchungsgebühren erhoben. Ein weiterer - und wichtigerer - Grund besteht darin, daß Angestellten bei Inanspruchnahme von Krediten ein besonders niedriger Zinssatz berechnet wird, der gewöhnlich um ein Prozent unter der Prime Rate liegt.«
Innes, der Ranghöhere der beiden FBI-Agenten, nickte. »Das ist uns bekannt.«
»Sie werden also auch verstehen, daß ein Angestellter, der seinen speziellen Bankkredit ausgenutzt hat - ja, ihn bis zur höchstmöglichen Grenze ausgeschöpft hat - und der darüber hinaus weitere Summen an anderer Stelle, etwa bei einer Finanzierungsgesellschaft, zu notorisch hohen Zinssätzen aufnimmt, sich in eine prekäre finanzielle Lage bringt.«
Innes sagte mit einem Hauch von Ungeduld: »Natürlich.«
»Allem Anschein nach sind wir auf einen Bankangestellten gestoßen, auf den das eben Gesagte genau zutrifft.« Er gab Gayne einen Wink, und der drehte jetzt mehrere entwertete Schecks um, die bisher mit der Oberseite nach unten auf dem Tisch gelegen hatten.
»Wie Sie bemerken, sind diese Schecks auf drei verschiedene Finanzierungsgesellschaften ausgestellt. Wir haben uns übrigens schon mit zwei dieser Gesellschaften telefonisch in Verbindung gesetzt und erfahren, daß beide Darlehenskonten, ungeachtet der Zahlungen, die, wie Sie sehen, erfolgt sind, erheblich mit ihren Raten im Rückstand sind. Es ist anzunehmen, daß uns die dritte Gesellschaft morgen früh eine ähnliche Geschichte erzählen wird.«
Gayne warf ein: »Und diese Schecks beziehen sich nur auf die Raten des laufenden Monats. Morgen werden wir uns die Mikrofilme über die erfolgten Kontoumsätze der zurückliegenden Monate ansehen.«
»Etwas Weiteres kommt noch hinzu«, fuhr der Chefrevisor fort. »Die betreffende Person hätte diese Zahlungen« - er zeigte auf die entwerteten Schecks - »auf keinen Fall auf der Grundlage eines Bankangestellten-Gehalts vornehmen können, dessen Höhe uns bekannt ist. Deshalb haben wir in den letzten Stunden nach Hinweisen auf einen Diebstahl innerhalb der Bank gesucht, und die haben wir jetzt gefunden.«
Wieder begann Gayne, der Assistent, neue Papiere auf den Konferenztisch zu legen.
... Hinweise auf einen Diebstahl innerhalb der Bank... jetzt gefunden. Edwina, die kaum noch zuhörte, starrte wie gebannt auf die Unterschrift auf den Scheckformularen - es war eine Unterschrift, die sie jeden Tag sah, die ihr vertraut war, kühn und klar in den Schriftzügen. Daß sie diese Unterschrift hier und jetzt sehen mußte, war ein Schock für sie.
Es war Eastins Unterschrift, die Unterschrift des jungen Miles, den sie so gern hatte, der sich als Assistent des Innenleiters so gut gemacht hatte, der so hilfsbereit und so unermüdlich fleißig war, auch heute abend noch, und den sie zu Tottenhoes Nachfolger hatte bestimmen wollen, sobald dieser in den Ruhestand trat.
Der Chefrevisor führte inzwischen weiter aus: »Unser Dieb hat heimlich in aller Stille ruhende Konten gemolken. Als wir heute abend erst einmal in einem Fall darauf gestoßen sind, waren andere nicht mehr schwer zu finden.«
Noch immer in der Art eines Vortragsredners begann er jetzt, zur Information der FBI-Männer ein ruhendes Konto zu definieren. Es handelte sich dabei um ein Spar- oder Girokonto, erklärte Burnside, auf dem selten oder nie eine Bewegung stattfand. Alle Banken hatten Kunden, die ihre Konten aus den verschiedensten Gründen über lange Zeit hinweg nicht anrührten, manchmal über viele Jahre hin, und oft waren die Beträge auf diesen Konten überraschend hoch. Auf den Sparkonten sammelten sich natürlich bescheidene Zinserträge an, und manche Leute mochten das als ausreichend betrachten, aber andere - so unwahrscheinlich es klingen mochte - nahmen von ihren Konten praktisch keine Notiz.
Wurde festgestellt, daß ein Girokonto inaktiv wurde - das heißt, es wurden weder Ein- noch Auszahlungen verbucht -, dann schickten die Banken keine monatlichen Kontenauszüge mehr, sondern nur noch jährliche. Selbst die kamen manchmal zurück mit dem postalischen Vermerk: Empfänger unbekannt verzogen.
Es gab routinemäßige Sicherheitsmaßnahmen, um den Mißbrauch von ruhenden Konten zu verhindern, fuhr der Chefrevisor fort. Die Kontenblätter wurden getrennt verwahrt; fand dann plötzlich eine Transaktion statt, wurde sie von einem Innenleiter geprüft, um sicherzustellen, daß es sich um eine legitime Geldbewegung handelte. Normalerweise hatten sich diese Sicherheitsmaßnahmen bewährt. Als stellvertretender Innenleiter war Miles Eastin berechtigt, Transaktionen auf ruhenden Konten zu prüfen und zu genehmigen. Er hatte diese Vollmacht genutzt, um sich selber an diesen Konten zu bereichern.
»Eastin ist recht geschickt vorgegangen; er hat Konten ausgewählt, die aller Wahrscheinlichkeit nach nie Schwierigkeiten machen würden. Hier haben wir eine Reihe gefälschter Lastschriftzettel, sie sind allerdings nicht sehr geschickt gefälscht, denn es sind deutliche Spuren seiner Handschrift zu erkennen. Die Beträge scheinen auf ein Tarnkonto übertragen worden zu sein, das er unter einem falschen Namen eröffnet hat. Es besteht sogar eine auf den ersten Blick erkennbare Ähnlichkeit der Handschrift, doch hier wird man natürlich das Gutachten eines Sachverständigen einholen müssen.«
Stück um Stück betrachteten sie die Lastschriftzettel und verglichen die Handschrift mit derjenigen auf den Schecks, die sie vorhin geprüft hatten. Eine gewisse Verstellung war versucht worden, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar.
Der zweite FBI-Agent, Dalrymple, hatte sich aufmerksam Notizen gemacht. Jetzt blickte er auf und sagte: »Ist schon die Gesamtsumme der Beträge ermittelt, um die es geht?«
Gayne antwortete: »Bisher haben wir nahezu achttausend Dollar festgestellt. Morgen prüfen wir ältere Buchungen per Mikrofilm und Computer; möglicherweise wird sich die Summe dann erhöhen.«
Burnside fügte hinzu: »Wenn wir Eastin mit dem konfrontieren, was wir jetzt schon wissen, wird er sich vielleicht entschließen, uns die Arbeit zu erleichtern, indem er den Rest gesteht. Das haben wir in ähnlichen Fällen von Untersuchungen schon oft erlebt.«
Er scheint das zu genießen, dachte Edwina, wirklich zu genießen! Gegen jede Vernunft hätte sie Miles Eastin am liebsten verteidigt, doch dann fragte sie: »Haben Sie eine Vorstellung, wie lange das schon im Gange ist?«
»Soweit wir das bis jetzt beurteilen können, sieht es nach mindestens einem Jahr aus, möglicherweise auch länger«, antwortete Gayne.
Edwina wandte sich Hal Burnside zu. »Sie haben also bei der letzten Revision überhaupt nichts gemerkt. Gehört die Prüfung von ruhenden Konten nicht auch zu Ihren Aufgaben?«
Es war, als hätte sie mit einer Nadel in einen aufgeblasenen Luftballon gestochen. Der Chefrevisor lief dunkelrot an, als er zugab: »Doch, das gehört dazu. Aber selbst uns entgeht gelegentlich etwas, wenn einer seine Spuren gut tarnt.«
»Offensichtlich. Allerdings haben Sie eben erst gesagt, daß die Handschrift verräterisch sei.«
Mit saurer Miene sagte Burnside: »Na gut, dann haben wir's jetzt eben entdeckt.«
Sie erinnerte ihn: »Nachdem ich Sie gerufen hatte.«
FBI-Agent Innes durchbrach die entstandene Stille. »Das führt uns aber alles keinen Schritt weiter, was das am Mittwoch verschwundene Bargeld betrifft.«
»Nur, daß Eastin jetzt der Hauptverdächtige ist«, sagte Burnside, erleichtert, daß er dem Gespräch eine neue Richtung
geben konnte. »Vielleicht gesteht er die Sache ja ein.«
»Kaum«, sagte Nolan Wainwright unwirsch. »Der Typ ist viel zu schlau. Warum sollte er auch? Wir wissen noch immer nicht, wie er das eigentlich geschafft hat.«
Bis jetzt hatte der Sicherheitschef der Bank wenig gesagt. Allerdings hatte seine Miene Überraschung verraten, und dann war sie erstarrt, als die Revisoren nacheinander ihre Dokumente und die Schuldbeweise vorlegten. Edwina fragte sich, ob er jetzt wohl auch daran dachte, wie sie beide zusammen die Kassiererin, Juanita Nunez, unter Druck gesetzt hatten, weil sie den Unschuldsbeteuerungen der jungen Frau nicht glaubten. Natürlich bestand auch jetzt immer noch die Möglichkeit, sagte Edwina, daß Mrs. Nunez und Eastin gemeinsame Sache gemacht hatten, wenn es auch wenig wahrscheinlich war.
Hal Burnside schloß seine Aktentasche und stand auf, um zu gehen. »Damit wäre die Aufgabe der Revisionsabteilung erledigt, und der Arm des Gesetzes kann in Aktion treten.«
»Wir brauchen diese Papiere und ein unterschriebenes Protokoll«, sagte Innes.
»Mr. Gayne bleibt hier und steht Ihnen zur Verfügung.«
»Noch eine Frage. Hat Eastin Ihrer Meinung nach bemerkt, daß man ihm auf die Schliche gekommen ist?«
»Das bezweifle ich.« Burnside sah seinen Assistenten an, der den Kopf schüttelte.
»Ich bin sicher, daß er keine Ahnung hat. Wir achten immer sorgsam darauf, daß niemand merkt, wonach wir eigentlich suchen; zur Tarnung haben wir uns vieles zeigen lassen, was uns gar nicht interessierte.«
»Ich glaube es auch nicht«, sagte Edwina. Bedrückt dachte sie daran, wie eifrig und gut gelaunt Miles Eastin noch gewesen war, als sie die Filiale zusammen mit Burnside verließ. Warum hatte er das nur getan? Warum?
Innes nickte zufrieden. »Dann wollen wir es weiter so halten. Wir holen Eastin zur Vernehmung ab, sobald wir hier fertig sind, aber er darf nicht vorgewarnt werden. Er ist noch in der Bank?«
»Ja«, sagte Edwina. »Er bleibt mindestens so lange, bis wir wieder da sind, und normalerweise gehört er zu den letzten, die nach Hause gehen.«
Nolan Wainwright griff mit ungewöhnlich rauher und harter Stimme ein. »Ich bin dagegen. Behalten Sie ihn so lange wie möglich dort. Lassen Sie ihn dann nach Hause gehen in der Annahme, daß er mit einem blauen Auge davongekommen ist.«
Die anderen sahen den Sicherheitschef der Bank verblüfft an. Vor allem die beiden FBI-Männer warfen Wainwright einen forschenden Blick zu. Etwas Unausgesprochenes schien zwischen ihnen hin- und herzugehen.
Innes zögerte, dann gab er nach. »Also gut. Machen Sie es so.«
Wenige Minuten später fuhren Edwina und Burnside mit dem Fahrstuhl nach unten.
Höflich sagte Innes zu dem Revisor, der bei ihnen geblieben war: »Bevor wir das Protokoll aufnehmen, sind Sie vielleicht so freundlich und lassen uns einen Augenblick allein.«
»Gewiß.«
Gayne verließ den Konferenzraum.
Der zweite FBI-Agent klappte sein Notizbuch zu und legte den Bleistift aus der Hand.
Innes sah Nolan Wainwright an. »Sie haben etwas Bestimmtes vor?«
»Ja.« Wainwright zögerte, wog verschiedene Möglichkeiten ab, rang mit seinem Gewissen. Seine Erfahrung sagte ihm, daß die gegen Eastin vorliegenden Beweise lückenhaft waren und daß diese Lücken ausgefüllt werden mußten. Um sie jedoch auszufüllen, mußte das Gesetz in einer Weise gehandhabt werden, die seinen eigenen Überzeugungen zuwiderlief. Er fragte den FBI-Mann: »Wollen Sie es wirklich wissen?«
Die beiden sahen einander in die Augen. Sie kannten sich seit Jahren und respektierten einander.
»Heutzutage Beweise zu beschaffen, ist eine knifflige Sache«, sagte Innes. »Früher hat man sich schon mal gewisse Freiheiten erlaubt, tut man das aber heute, kann man sich dabei verdammt in die Finger schneiden.«
Alle schwiegen, schließlich sagte der zweite FBI-Mann: »Sagen Sie zumindest so viel, wie wir Ihrer Meinung nach wissen sollten.«
Wainwright verhakte seine Finger ineinander und betrachtete sie. Die innere Anspannung, die sich vorhin aus seiner Stimme mitgeteilt hatte, schien jetzt seinen ganzen Körper erfaßt zu haben. »Okay, wir haben genug Beweise, um Eastin auf Diebstahl festzunageln. Sagen wir, bei der gestohlenen Summe handelt es sich um achttausend Dollar, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Was wird er dafür vom Richter bekommen?«
»Wenn er nicht vorbestraft ist, kommt er mit Bewährung davon«, sagte Innes. »Um das Geld wird sich das Gericht wenig Gedanken machen. Die sind ganz bestimmt der Meinung, Banken hätten doch genug davon, und außerdem seien sie versichert.«
»Stimmt.« Wainwrights Finger spannten sich weiter an und knackten leise. »Aber wenn wir beweisen können, daß er auch das andere Geld genommen hat - die sechstausend vom Mittwoch, wenn wir nachweisen können, daß er den Verdacht auf das Mädchen lenken wollte und ihm das auch um ein Haar gelungen... «
Innes brummte zustimmend. »Wenn Sie das nachweisen könnten, würde jeder vernünftige Richter ihn prompt ins Gefängnis stecken. Aber können Sie es beweisen?«
»Ich habe es vor. Weil ich das Schwein hinter Gittern sehen möchte.«
»Ich verstehe«, sagte der FBI-Mann nachdenklich. »Mir geht es ebenso.«
»Dann lassen Sie mir freie Hand. Holen Sie Eastin heute nicht ab. Geben Sie mir bis morgen Zeit.«
»Ich weiß nicht«, sagte Innes. »Ich weiß nicht, ob das möglich ist.«
Keiner der drei sagte ein Wort; jeder war sich der Fakten, seiner Pflicht und seines Gewissenskonflikts bewußt. Die FBI-Männer ahnten ungefähr, was Wainwright im Sinne hatte. Aber wann und bis zu welchem Ausmaß durfte der Zweck die Mittel heiligen? Anders ausgedrückt: Welche Freiheiten durfte sich heute ein Fahndungsbeamter herausnehmen, um gerade noch damit durchzukommen?
Doch die FBI-Männer hatten lange genug in dem Fall ermittelt, um sich engagiert zu haben, und sie teilten Wainwrights Zielvorstellungen.
»Wenn wir wirklich bis morgen früh warten«, sagte der zweite Agent mit einem warnenden Unterton, »dann möchten wir auf keinen Fall erleben, daß Eastin getürmt ist. Das könnte für alle Beteiligten erheblichen Ärger bedeuten.«
»Und Tomaten mit Druckstellen mag ich auch nicht«, sagte Innes bedeutungsvoll.
»Er wird nicht türmen. Er wird auch keine Druckstellen haben. Das garantiere ich Ihnen.«
Innes sah seinen Kollegen an; der zuckte die Achseln.
»Also gut«, sagte Innes. »Dann bis morgen früh. Aber merken Sie sich eins, Nolan - dieses Gespräch hat nie stattgefunden.« Er ging zur Tür des Konferenzraumes hinüber und öffnete sie. »Sie können hereinkommen, Mr. Gayne. Mr. Wainwright verläßt uns, und wir können jetzt Ihre Aussage zu Protokoll nehmen.«
Aus einer Angestelltenliste sämtlicher Bankfilialen, die für Notfälle in der Sicherheitsabteilung aufbewahrt wurde, ging Miles Eastins Privatadresse und Telefonnummer hervor. Nolan Wainwright notierte sich beides.
Er kannte die Gegend. Ein Wohnviertel für Leute mittleren Einkommens, ungefähr drei Kilometer vom Zentrum entfernt. Eastin bewohnte das »Apartment 2G«.
Der Sicherheitschef verließ das Gebäude der Bankzentrale und wählte von einer Telefonzelle auf der Rosselli Plaza aus die Nummer. Am anderen Ende läutete es, aber niemand nahm ab. Er wußte inzwischen, daß Miles Eastin Junggeselle war. Wainwright hoffte nur, daß er das Apartment auch allein bewohnte.
Hätte sich jemand gemeldet, dann hätte Wainwright irgend etwas von einer falschen Nummer gemurmelt und seine Pläne revidiert. So aber ging er zu seinem Wagen, der in der Kellergarage der Zentrale geparkt war.
Bevor er die Garage verließ, holte er ein flaches Wildlederetui aus dem Kofferraum des Wagens und steckte es in eine Innentasche seines Jacketts. Dann machte er sich auf die Fahrt durch die Innenstadt.
Gemächlich schlenderte er auf das Apartmenthaus zu und prägte sich dabei alle Einzelheiten ein. Es war ein zweistöckiger Bau, wahrscheinlich vor vierzig Jahren gebaut, und seither schien nicht viel daran gemacht worden zu sein. Er mochte zwei Dutzend Wohnungen enthalten. Ein Portier war nirgends zu sehen. Im Hausflur konnte Nolan eine entsprechende Anzahl von Hausbriefkästen und Klingelknöpfen erkennen. Doppelte Glastüren führten von der Straße in den Hausflur; dahinter befand sich eine massivere Tür, die wahrscheinlich verschlossen war.
Es war 22.30 Uhr. Auf der Straße herrschte kaum Verkehr. Fußgänger waren nicht zu sehen. Er ging hinein.
Neben den in Dreierreihen angebrachten Briefkästen befanden sich die dazugehörigen Summer und eine Sprechanlage. Wainwright fand den Namen »Eastin« und drückte den Knopf. Wie erwartet, passierte gar nichts.
Das Apartment 2G befand sich wahrscheinlich im ersten Stock. Wainwright suchte irgendeinen Klingelknopf mit der Vorzahl 3 und drückte ihn. Eine blecherne Männerstimme kam aus dem Lautsprecher. »Ja, wer ist da?«
Der Name neben dem Knopf lautete Appleby.
»Western Union«, sagte Wainwright. »Telegramm für Appleby.«
»Okay, kommen Sie rauf.«
Hinter der schweren Innentür summte es, ein Schloß schnappte auf. Wainwright stieß die Tür auf und ging rasch hinein.
Unmittelbar vor sich sah er einen Fahrstuhl, den er ignorierte. Er wendete sich rechts zur Treppe, und zwei Stufen auf einmal nehmend, erreichte er den ersten Stock.
Unterwegs dachte Wainwright über die erstaunliche Harmlosigkeit der Leute im allgemeinen nach. Er hoffte, daß Mr. Appleby, wer immer das sein mochte, nicht allzu lange auf sein Telegramm wartete. In dieser Nacht würde Mr. Appleby nichts weiter passieren, als daß er sich wunderte, vielleicht auch ärgerte. Es hätte ihm viel übler mitgespielt werden können. Aber überall verhielten sich Mieter so wie er, trotz wiederholter Warnungen. Es war natürlich nicht auszuschließen, daß Appleby Verdacht schöpfte und die Polizei anrief, aber Wainwright bezweifelte es. Außerdem brauchte er nur noch ein paar Minuten, dann konnte es ihm egal sein.
Das Apartment 2G befand sich fast am Ende des Korridors im ersten Stock, und das Schloß erwies sich als unkompliziert. Wainwright probierte eine Reihe dünner Klingen aus dem mitgebrachten Lederetui aus, und beim vierten Versuch drehte sich der Zylinder des Schlosses. Die Tür sprang auf, er trat ein und machte die Tür hinter sich wieder zu.
Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann ging er zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Er fand einen Lichtschalter und knipste ihn an.
Die Wohnung war klein, auf eine Person zugeschnitten; sie bestand nur aus einem Zimmer: Der Wohn- und Eßteil war mit einem Sofa, einem Sessel, einem tragbaren Fernsehgerät und einem Eßtisch möbliert. Hinter einer Art Zwischenwand stand ein Bett; die Küchenecke war durch eine durchbrochene Falttür von dem übrigen Raum abgetrennt. Zwei andere Türen, die Wainwright entdeckte, führten in ein Bad und eine Abstellkammer. Die Wohnung war ordentlich und sauber. Mehrere Bücherregale und ein paar gerahmte Drucke gaben ihr die persönliche Note.
Ohne Zeit zu verlieren, begann Wainwright mit einer systematischen, gründlichen Suche.
Während er arbeitete, versuchte er den peinigenden Gedanken beiseite zu schieben, daß er an diesem Abend mehr als einmal gegen die Gesetze verstoßen hatte. Ganz gelang ihm das nicht. Nolan Wainwright war sich der Tatsache bewußt, daß alles, was er bisher getan hatte, seinen sonstigen moralischen Grundsätzen zuwiderlief und seinen Glauben an Recht und Ordnung negierte. Doch der Zorn trieb ihn voran. Zorn und die Erinnerung daran, daß er vor drei Tagen versagt hatte.
Selbst jetzt erinnerte er sich immer noch mit quälender Klarheit des stummen Appells in den Augen der jungen Puertorikanerin, als er Juanita Nunez am Mittwoch zum ersten Mal erblickt und mit seiner Befragung begonnen hatte. Es war ein Appell, der ganz eindeutig und klar besagte: Du und ich... du bist schwarz, ich bin braun. Deshalb solltest gerade du begreifen, daß ich hier allein bin, daß ich im Nachteil bin, daß ich verzweifelt Hilfe brauche und Fairneß. Er hatte diesen Appell wahrgenommen, aber er hatte ihn barsch beiseite gefegt, so daß später etwas anderes aus den Augen der jungen Frau gesprochen hatte - und auch daran erinnerte er sich genau. Dieses andere war Verachtung.
Diese Erinnerung, verbunden mit der Wut darüber, daß Miles Eastin ihn getäuscht hatte, festigte Wainwrights Entschlossenheit, Eastin zu überführen - und wenn er dabei selber das Recht beugen mußte.
Deshalb setzte Wainwright methodisch, wie er es bei der Polizei gelernt hatte, seine Suche fort, entschlossen, Beweise zu finden, wenn es Beweise gab.
Eine halbe Stunde später wußte er, daß es nur noch wenige Stellen gab, an denen etwas versteckt sein konnte. Er hatte Schränke untersucht, Schubfächer und deren Inhalt, er hatte Möbel abgeklopft, Koffer geöffnet, Bilder an den Wänden inspiziert und die Rückwand des Fernsehgeräts abgeschraubt. Er hatte auc h Bücher durchgeblättert und zur Kenntnis genommen, daß es stimmte, was irgend jemand ihm über Eastins Hobby erzählt hatte - ein ganzes Regal war voll mit Büchern zum Thema »Geld im Lauf der Geschichte«. Außer diesen Büchern gab es noch eine Mappe, die Skizzen und Fotos alter Münzen und Banknoten enthielt. Nirgendwo aber fand sich das geringste Belastungsmaterial. Am Ende stapelte er Möbel in einer Ecke des Zimmers auf und rollte den Teppich zusammen. Mit einer Taschenlampe suchte er den Fußboden Zentimeter um Zentimeter ab.
Ohne die Taschenlampe hätte er das sorgsam zersägte Brett übersehen, aber zwei Linien, heller in der Farbe als das übrige Holz, verrieten, wo saubere Schnitte gemacht worden waren. Behutsam löste er das ungefähr dreißig Zentimeter lange Brettstück zwischen den beiden Linien heraus. In dem Hohlraum darunter lagen ein kleines schwarzes Kontobuch und Bargeld in Zwanzig-Dollar-Scheinen.
Schnell arbeitend, brachte er Brettstück, Teppich und Möbel wieder an ihren ursprünglichen Platz.
Er zählte das Geld; es waren insgesamt sechstausend Dollar. Dann befaßte er sich kurz mit dem kleinen schwarzen Kontobuch, begriff, daß es sich um Wett-Aufzeichnungen handelte, und pfiff leise durch die Zähne, als er sah, wie viele und wie hohe Beträge es waren.
Er legte das Buch - er würde es später genauer studieren -und das Geld auf ein Tischchen vor dem Sofa.
Daß er das Geld gefunden hatte, war eine Überraschung. Er hegte keinen Zweifel, daß es sich um die sechstausend Dollar handelte, die am Mittwoch aus der Bank verschwunden waren, aber er hätte eigentlich erwartet, daß Eastin es inzwischen umgetauscht oder woanders untergebracht hätte. Seine Polizeierfahrung hatte ihn gelehrt, daß Verbrecher gelegentlich Törichtes und Unvermutetes tun, und das hier war ein Beispiel dafür.
Jetzt blieb noch in Erfahrung zu bringen, wie Eastin das Geld an sich genommen und wie er es hierher gebracht hatte.
Wainwright sah sich noch einmal in der Wohnung um, dann knipste er alle Lampen aus. Er zog die Vorhänge wieder zurück, ließ sich bequem auf dem Sofa nieder und wartete.
In dem Halbdunkel, das nur gelegentlich vom Widerschein der Straße aufgehellt wurde, begannen seine Gedanken zu wandern. Er dachte wieder an Juanita Nünez und wünschte, er könnte sein Verhalten irgendwie wiedergutmachen. Dann fiel ihm der FBI-Bericht über ihren verschwundenen Mann, diesen Carlos, ein, den man in Phoenix, Arizona, aufgespürt hatte, und Wainwright kam der Gedanke, daß man die Information vielleicht nützen könnte, um dem Mädchen zu helfen.
Natürlich war Miles Eastins Geschichte, er habe Carlos Nünez am Tag, an dem das Geld verschwunden war, in der Bank gesehen, eine Erfindung, um den Verdacht noch stärker auf Juanita zu lenken.
Was für ein gemeiner Schuft! Was war das für ein Mann, erst den Verdacht auf das Mädchen zu lenken und später ihn dann noch zu verstärken? Der Sicherheitschef merkte, daß seine Fäuste sich fester zusammenballten, dann rief er sich selbst zur Ordnung; er durfte seine Gefühle nicht mit sich durchgehen lassen.
Dieser Ordnungsruf war erforderlich, und er wußte auch, warum: wegen eines Zwischenfalls, der tief in seinem Gedächtnis vergraben war und den er selten wieder in sein Bewußtsein kommen ließ. Ohne es eigentlich zu wollen, mußte er jetzt wieder daran denken.
Nolan Wainwright, jetzt fast fünfzig Jahre alt, war in den Slums der Stadt gezeugt, und von Geburt an hatte er feststellen müssen, daß sich alles im Leben gegen ihn verschworen zu haben schien. Er wuchs heran in einer Welt, in der das nackte Überleben täglich neu errungen werden wollte und in der das Verbrechen - das geringfügige, aber auch das gar nicht so geringfügige - zum Alltäglichen gehörte. Als junger Bursche hatte er sich einer Gettobande angeschlossen, in der es als Männlichkeitsbeweis galt, sich kleine Gefechte mit der Polizei zu liefern.
Wie andere aus der gleichen Welt der Slums vor ihm und nach ihm fühlte er sich von dem Verlangen getrieben, jemand zu sein, aufzufallen, ganz gleich wie, um sich ein Ventil für die verzehrende innere Wut auf die eigene Anonymität zu verschaffen. Er kannte nichts anderes und wurde auch von keiner Moral angetrieben, eventuell Alternativen abzuwägen, deshalb erschien ihm die Teilnahme am Straßenverbrechen als einziger Weg. Jede Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß er es wie viele seines Alters im Laufe der Zeit zu Eintragungen im Polizeiregister bringen würde.
Daß es nicht dazu kam, lag zu einem Teil am Zufall, zu einem anderen Teil an Büffelkopf Kelly.
Büffelkopf war ein nicht allzu aufgeweckter, träger, freundlicher, schon ältlicher Polizist aus der Nachbarschaft, der begriffen hatte, daß sich die Überlebenschancen eines Polizeibeamten im Getto wesentlich verbesserten, wenn es ihm gelang, in kritischen Augenblicken woanders zu sein und nur einzuschreiten, wenn sich ein Problem ausgerechnet direkt unter seiner Nase auftat. Seine Vorgesetzten klagten darüber, daß er die wenigsten Verhaftungen von allen Beamten des Reviers aufzuweisen hatte, aber Büffelkopf tröstete sich in solchen Augenblicken mit dem Gedanken, daß seine Pensionierung von Jahr zu Jahr ein erfreuliches Stück näher rückte.
Aber der Teenager Nolan Wainwright war nun einmal in jener Nacht genau unter Büffelkopfs Nase aufgetaucht, als die Bande versuchte, ein Lagerhaus aufzubrechen. Ahnungslos war der Streifenbeamte hinzugekommen, und alles rannte weg, bis auf Wainwright, der gestolpert war und Büffelkopf genau vor die Füße stürzte.
»Du dämlicher Bengel«, beklagte Büffelkopf sich. »Kannst du nicht ein bißchen aufpassen? Jetzt muß ich mich die ganze Nacht mit Papierkram herumschlagen.«
Kelly haßte es, Formulare auszufüllen, Protokolle aufzunehmen, Berichte zu schreiben und als Zeuge vor Gericht zu erscheinen, was jedesmal einen klaren und ärgerlichen Verlust an Freizeit bedeutete.
Am Ende ließ er sich auf einen Kompromiß ein. Anstatt Wainwright festzunehmen und die Strafanzeige auszuarbeiten, nahm er ihn noch in derselben Nacht mit in die Polizeiturnhalle, und da prügelte er ihm, wie Büffelkopf es selber ausdrückte, im Boxring »die gottverdammten Flausen aus dem Kopf«.
Nolan Wainwright, geschwollen, wund, das eine Auge fast geschlossen - wenn auch noch ohne Vorstrafe -, reagierte mit Haß. Bei der nächstbesten Gelegenheit wollte er Büffelkopf Kelly zu Mus schlagen, eine Absicht, die ihn wieder in die Turnhalle - und zu Büffelkopf - zurückführte, von dem er lernen wollte, wie man so etwas macht. Viel später begriff Wainwright, daß er hier das Ventil für seine unheilige Wut gefunden hatte. Er lernte schnell. Als die Zeit reif war, um den nicht übermäßig intelligenten, trägen Bullen wie einen Punchingball zusammenzuschlagen, merkte er plötzlich, daß er gar kein Verlangen mehr danach hatte. Statt dessen mochte er den alten Mann plötzlich gern, ein Gefühl, das den Jungen selbst erstaunte.
Es verging ein ganzes Jahr, in dem Wainwright weiter Boxunterricht nahm, regelmäßig zur Schule ging und es fertigbrachte, nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Eines späten Abends geschah es dann, daß Büffelkopf auf einer seiner Runden zufällig einen Raubüberfall in einem Kramladen störte. Zweifellos war der Polizist selbst erschrockener als die beiden kleinen Ganoven, und er hätte ihnen auch nichts getan, denn beide waren bewaffnet. Wie die spätere Rekonstruktion ergab, hatte Büffelkopf nicht einmal versucht, seine Dienstwaffe zu ziehen.
Aber einer der beiden Räuber geriet in Panik, und bevor er weglief, feuerte er eine Schrotflinte, deren Lauf abgesägt war, auf Büffelkopfs Bauch ab.
Die Kunde von der Schießerei verbreitete sich blitzartig, und bald hatte sich eine neugierige Menge versammelt. Einer in der Menge war Nolan Wainwright.
Nie mehr konnte er das Bild vergessen, das ihm auch jetzt wieder vor Augen trat - wie der harmlose, träge Büffelkopf da bei vollem Bewußtsein auf dem Pflaster lag, sich krümmte und sich wand, wie er weinte und wie er vor wahnsinniger Qual aufschrie, während Blut und Gedärm aus der riesigen tödlichen Wunde quollen.
Der Krankenwagen ließ lange auf sich warten. Sekunden bevor er hielt, starb Büffelkopf, immer noch schreiend.
Das Ereignis zeichnete Nolan Wainwright für immer, wenn es auch nicht Büffelkopfs Tod selbst war, der ihn am tiefsten traf. Auch schienen ihm die Verhaftung und die spätere Hinrichtung des kleinen Diebs, der den Schuß abgefeuert hatte, und seines Komplicen nicht mehr zu sein als ein ziemlich flaues Nachspiel.
Was ihn am meisten berührte und ihn hauptsächlich beeinflußte, das war die sinnlose, fürchterliche Verschwendung. Das ursprüngliche Verbrechen war böse gewesen, dumm und zum Scheitern verurteilt; doch im Scheitern hatte es eine empörende, ungeheure Verwüstung bewirkt. Dieser Gedanke blieb fest im Geist des jungen Wainwright haften. Das war seine Katharsis, die ihm half, das Verbrechen überhaupt als negativ, als destruktiv zu erkennen - und später als ein Übel, das es zu bekämpfen galt. Vielleicht hatte es von Anfang an tief in ihm einen tüchtigen Schuß Puritanismus gegeben. War das der Fall, dann drang er jetzt an die Oberfläche.
Er wuchs zum Manne heran und wurde zu einem Menschen, der sich kompromißlose Maßstäbe setzte, und deswegen wurde er zu einem Einzelgänger, erst unter seinen Freunden, später dann auch als Polizist. Aber er wurde ein tüchtiger Polizist. Er lernte viel, begriff schnell und stieg auf, und er war nicht zu bestechen, wie Ben Rosselli und seine Helfer einst erfahren mußten.
Auch später noch, als er schon für die First Mercantile American Bank arbeitete, bewahrte sich Wainwright seine starken Empfindungen und Überzeugungen.
Vielleicht war der Sicherheitschef eingeschlummert. Aber ein Schlüssel, der in das Türschloß der Wohnung gesteckt wurde, machte ihn wieder hellwach. Behutsam richtete er sich auf. Die Leuchtziffern seiner Armbanduhr zeigten ihm, daß es kurz nach Mitternacht war.
Eine Schattengestalt kam herein. Im Schein des von draußen einfallenden Lichts wurde Eastin erkennbar. Dann fiel die Tür wieder ins Schloß, und Wainwright hörte, wie Eastin nach dem Lichtschalter tastete. Das Licht ging an.
Eastin sah Wainwright sofort - er erstarrte. Sein Mund klappte auf, das Blut wich aus seinem Gesicht. Er versuchte, etwas zu sagen, brachte aber kein Wort hervor und schluckte nur.
Wainwright stand auf und funkelte ihn an. Seine Stimme klang messerscharf. »Wieviel haben Sie heute gestohlen?«
Bevor Eastin antworten oder sich fassen konnte, packte Wainwright ihn an den Mantelaufschlägen, drehte ihn um und gab ihm einen Stoß, daß er der Länge nach auf das Sofa fiel.
Als seine Überraschung sich legte und der Empörung wich, brach es aus dem jungen Mann hervor: »Wer - wer hat Sie hier reingelassen? Was zum Teufel haben Sie... « Sein Blick wanderte zu dem Geld und dem kleinen schwarzen Kontobuch, und er verstummte.
»Jawohl«, sagte Wainwright barsch. »Ich bin gekommen, um das Geld der Bank zu holen oder wenigstens das, was davon noch übriggeblieben ist.« Er zeigte auf die Banknoten, die auf dem Tisch aufgestapelt waren. »Das da, das haben Sie am Mittwoch genommen, das wissen wir. Und falls Sie sich fragen, ob wir auch über die gemolkenen Konten Bescheid wissen, kann ich Sie beruhigen: Wir wissen auch das.«
Miles Eastin starrte ihn an, sprachlos. Ein krampfhaftes Zittern durchlief seinen Körper. Unter dem neuen Schock ließ er den Kopf auf die Brust sinken und schlug die Hände vors Gesicht.
»Lassen Sie das!« Wainwright packte ihn, zog ihm die Arme herunter und versetzte ihm einen Stoß unters Kinn, aber nicht zu hart, eingedenk des Versprechens, das er dem FBI-Mann gegeben hatte. Keine Druckstellen an den Tomaten.
»So und jetzt werden Sie mir einiges erzählen. Los, fangen Sie an«, sagte er hart.
»Keine Pause?« sagte Eastin bittend. »Geben Sie mir eine Minute Zeit zum Überlegen.«
»Nichts da!« Zeit zum Nachdenken wäre das letzte gewesen, was Wainwright dem jungen Mann zugebilligt hätte. Das war ein heller Kopf, der nur zu leicht auf die richtige Idee kommen könnte, jetzt kein Wort zu sagen. Der Sicherheitschef wußte, daß er im Augenblick zwei Vorteile auf seiner Seite hatte. Er hatte Miles Eastin aus dem Gleichgewicht gebracht, und keine Regeln und Vorschriften engten ihn ein.
Wären die FBI-Agenten hier, müßten sie Eastin über seine Rechte belehren - das Recht, auf Fragen nicht zu antworten, und das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen. Wainwright war nicht mehr bei der Polizei und brauchte ihn auf nichts hinzuweisen.
Dem Sicherheitschef ging es nur um eins. Er brauchte hiebund stichfeste Beweise dafür, daß Miles Eastin und niemand anders die sechstausend Dollar gestohlen hatte. Ein von ihm unterschriebenes Geständnis würde ausreichen.
Er setzte sich Eastin gegenüber, und seine Augen durchbohrten den jüngeren Mann. »Wir können den langen und harten Weg wählen oder es schnell hinter uns bringen.«
Als eine Antwort ausblieb, nahm Wainwright das kleine schwarze Buch in die Hand und schlug es auf. »Fangen wir damit an.« Er legte den Finger auf die Liste von Summen und Daten; neben jeder Eintragung standen andere Zahlen, offenbar chiffriert. »Das sind Wetten. Stimmt's?«
Eastin, noch immer verwirrt und wie betäubt, nickte.
»Erklären Sie mir das da.«
Es handelte sich um eine Wette über zweihundertfünfzig Dollar, murmelte Miles Eastin verdrossen. Es ging um ein Football-Spiel zwischen Texas und Notre Dame. Er erläuterte die Quoten. Er hatte auf Notre Dame gesetzt. Texas hatte gewonnen.
»Und das da?«
Wieder kam eine gemurmelte Antwort. Ein anderes FootballSpiel. Eine andere verlorene Wette.
»Weiter.« Wainwright ließ nicht locker, sein Finger blieb auf der Seite, und er preßte ihn fest auf das Papier.
Die Antworten kamen langsam. Bei manchen Eintragungen ging es auch um Korbball. Ein paar Wetten standen auf der Haben-Seite, aber die Verluste überwogen. Der Mindesteinsatz waren hundert Dollar, der höchste dreihundert.
»Haben Sie allein gewettet oder in einer Gruppe?«
»In einer Gruppe.«
»Wer war dabei?«
»Vier andere Jungs. Arbeiten auch. Wie ich.«
»Arbeiten sie in der Bank?«
Eastin schüttelte den Kopf. »Woanders.«
»Haben die auch verloren?«
»Etwas. Aber sie lagen im Durchschnitt besser als ich.«
»Die Namen der vier anderen.«
Keine Antwort. Wainwright überging es.
»Keine Pferdewetten dabei. Warum nicht?«
»Wir haben uns geeinigt. Weiß doch jeder, daß Pferderennen frisiert werden. Football und Korbball sind sauber. Wir haben ein System ausgearbeitet. Bei sauberen Spielen, dachten wir, können wir mit Gewinnen rechnen.«
Die Summe der Verluste zeigte, wie katastrophal falsch diese Hoffnung gewesen war.
»Haben Sie immer beim selben Buchmacher gesetzt?«
»Ja.«
»Sein Name?«
Eastin blieb stumm.
»Das übrige Geld, das Sie der Bank gestohlen haben - wo ist es?«
Der junge Mann zog die Mundwinkel herab. »Futsch«, antwortete er kläglich.
»Anderes auch?«
Ein zustimmendes, verzweifeltes Kopfnicken.
»Damit befassen wir uns später. Jetzt reden wir über das Geld.« Wainwright berührte die sechstausend Dollar, die zwischen ihnen lagen. »Wir wissen, daß Sie es am Mittwoch genommen haben. Wie?«
Eastin zögerte, dann zuckte er die Achseln. »Jetzt kann ich's Ihnen ja wohl sagen.«
Mit Schärfe sagte Wainwright: »Sie liegen absolut richtig, aber Sie vertrödeln unsere Zeit.«
»Am Mittwoch«, sagte Eastin, »fehlten Leute mit Grippe. Ich bin als Kassierer eingesprungen.«
»Weiß ich. Sagen Sie endlich, was dann passiert ist.«
»Vor Beginn der Schalterstunden bin ich in den Tresorraum gegangen, um mir einen Bargeldwagen zu holen - einen von den Reservewagen. Juanita Nünez war auch da. Sie schloß ihren Wagen auf. Ich habe genau neben ihr gestanden. Ohne daß Juanita was merkte, habe ich sie beobachtet, als sie ihre Kombination einstellte.«
»Und?«
»Ich habe mir die Zahlen gemerkt. Sobald ich konnte, habe ich sie aufgeschrieben.«
Wainwright gab die Stichworte, und das Bild begann sich zu runden.
Die Cityfiliale hatte einen sehr großen, gepanzerten Tresorraum. Tagsüber arbeitete ein Tresorraum-Kassierer in einer Art Käfig unmittelbar hinter der schweren, mit einem Zeitschloß versehenen Panzertür. Dieser Kassierer hatte fast ununterbrochen zu tun, er zählte Banknoten, gab Bündel davon aus oder nahm andere Bündel entgegen, er registrierte Kassierer und ihre Geldwagen, die hereinkamen oder die Stahlkammer verließen. Niemand konnte den Tresorraum-Kassierer passieren, ohne daß er ihn sah, aber war man erst einmal in der Tresoranlage, kümmerte er sich kaum noch um einen.
An dem Morgen gab Miles Eastin sich gut gelaunt und fröhlich wie immer, aber er war in verzweifelter Geldnot. Er hatte in der Vorwoche schwere Wettverluste hingenommen, und man drängte ihn, endlich die Schulden zu bezahlen.
Wainwright unterbrach: »Sie hatten schon einen Angestelltenkredit bekommen. Sie hatten Schulden bei Finanzierungsgesellschaften. Auch beim Buchmacher. Stimmt's?«
»Stimmt.«
»Hatten Sie noch andere Schulden?«
Eastin nickte.
»Bei einem Geldverleiher? Einem Kredithai?«
Der jüngere Mann zögerte, dann gab er zu: »Ja.«
»Hat der Kerl Ihnen gedroht?«
Miles Eastin feuchtete die Lippen an. »Ja. Der Buchmacher auch. Beide drohen mir auch jetzt noch.« Seine Augen wanderten zu den sechstausend Dollar.
Das Puzzle hatte sich zum erkennbaren Bild zusammengefügt. Wainwright zeigte auf die Banknoten. »Sie haben dem Kredithai und dem Buchmacher versprochen, ihnen das da zu geben?«
»Ja.«
»Wieviel jedem?«
»Dreitausend.«
»Wann?«
»Morgen.« Eastin warf einen nervösen Blick auf die Uhr an der Wand und korrigierte sich. »Heute.«
Wainwright sagte: »Kommen wir zum Mittwoch zurück. Sie kannten also die Kombination vom Geldwagen Ihrer Kollegin Nunez. Was haben Sie damit angefangen?«
Miles Eastin schilderte die Einzelheiten, und es war alles ganz unglaublich einfach. Nach der Arbeit des Vormittags nahm er seine Mittagspause zur gleichen Zeit wie Juanita Nunez. Bevor sie zum Essen gingen, schoben sie beide ihren Geldwagen in den Tresorraum. Die beiden Bargeldwagen blieben nebeneinander stehen, beide vorschriftsmäßig verschlossen.
Eastin kehrte früher als üblich vom Essen zurück und ging in den Tresorraum. Der Kassierer dort registrierte ihn und setzte dann seine Arbeit fort. Niemand sonst befand sich im Tresorraum.
Miles Eastin trat sofort an Juanita Nunez' Geldwagen und öffnete das Fach mit der Kombination, die er sich notiert hatte. Es dauerte nur Sekunden, um drei Päckchen Banknoten im Gesamtwert von sechstausend Dollar herauszunehmen, das Fach zuzumachen und wieder zu verschließen. Er ließ die Banknotenbündel in die Innentaschen seines Jacketts gleiten; es zeigte sich kaum eine Ausbuchtung. Er schob dann seinen eigenen Kassenwagen hinaus, ließ sich an der Panzertür ordnungsgemäß registrieren und kehrte an die Arbeit zurück.
Es trat Stille ein. Dann sagte Wainwright: »Während also am Nachmittag die Vernehmung im Gange war - zum Teil von Ihnen selbst geführt - und während Sie und ich dann später, am Mittwoch abend, miteinander sprachen - da hatten Sie die ganze Zeit das Geld bei sich?«
»Ja«, sagte Miles Eastin. Als er daran dachte, wie einfach das alles gewesen war, spielte ein leichtes Lächeln um seinen Mund.
Wainwright bemerkte das Lächeln. Ohne zu zögern, beugte er sich vor, und in einer einzigen ausholenden Bewegung schlug er Eastin rechts und links ins Gesicht. Den ersten Schlag führte er mit der offenen Handfläche aus, den zweiten mit dem Handrücken - mit solcher Gewalt, daß ihn die Hand schmerzte. Auf Miles Eastins Gesicht entstanden zwei hellrote Striemen. Er zuckte auf dem Sofa zurück und blinzelte, während ihm Tränen in die Augen schossen.
Ingrimmig sagte der Sicherheitschef: »Damit Sie wissen, daß ich es nicht komisch finde, was Sie der Bank und Mrs. Nünez angetan haben. Nicht die Spur komisch.« Etwas anderes hatte er soeben entdeckt. Er hatte entdeckt, daß Miles Eastin sich vor physischer Gewaltanwendung fürchtete.
Er bemerkte, daß es 1.00 Uhr war.
»Der nächste Punkt der Tagesordnung«, verkündete Nolan Wainwright, »ist eine schriftliche Erklärung. In Ihrer eigenen Handschrift und mit allen Einzelheiten, die Sie mir eben mitgeteilt haben.«
»Nein! Das mache ich nicht!« Eastin begann, vorsichtig zu werden.
Wainwright zuckte die Achseln. »In diesem Falle hat es keinen Sinn, daß ich noch länger hierbleibe.« Er griff nach den sechstausend Dollar und begann, sie sich in die Taschen zu stopfen.
»Das können Sie nicht machen!«
»Ach nein? Dann versuchen Sie, mich daran zu hindern. Ich bringe das Geld wieder zur Bank - in das Nachtschließfach.«
»Hören Sie! - Sie können nicht beweisen...« Der jüngere Mann zögerte. Er dachte jetzt nach, ihm fiel ein, daß die Seriennummern der Geldscheine nie irgendwo verzeichnet worden waren.
»Vielleicht kann ich beweisen, daß es sich um dasselbe Geld handelt, das am Mittwoch gestohlen worden ist; vielleicht auch nicht. Wenn nicht, können Sie ja jederzeit die Bank auf Herausgabe des Geldes verklagen.«
Eastin sagte flehentlich: »Ich brauche es jetzt! Heute!«
»Aber ja doch, etwas für den Buchmacher und etwas für den Herrn Geldverleiher. Oder vielmehr für die Gorillas, die sie zum Kassieren zu Ihnen schicken werden. Aber da können Sie denen doch ganz einfach erklären, wie Ihnen das Geld abhanden gekommen ist, und ich bin sicher, man wird Mitgefühl haben.« Zum ersten Mal betrachtete der Sicherheitschef Eastin mit einer gewissen sarkastischen Belustigung. »Sie sitzen wirklich in der Tinte. Vielleicht kommen die zur selben Zeit. Dann wird Ihnen jeder einen Arm und ein Bein brechen. Die neigen zu solchen Scherzen. Oder wußten Sie das nicht?«
Angst, richtige Angst trat in Eastins Augen. »Ja. Ich weiß. Sie müssen mir helfen! Bitte!«
Von der Wohnungstür her sagte Wainwright kalt: »Ich werd's mir überlegen. Nachdem Sie Ihre Erklärung geschrieben haben.«
Der Sicherheitschef der Bank diktierte, während Eastin gehorsam die Worte niederschrieb.
Ich, Miles Broderick Eastin, gebe diese Erklärung aus eigenem freien Willen ab. Gegen mich ist keine Gewalt angewendet worden, mir ist auch nicht mit Gewaltanwendung gedroht worden ...
Ich gestehe, die Summe von sechstausend Dollar von der First Mercantile American Bank gestohlen zu haben, und zwar am Mittwoch, den ... Oktober, gegen 13.30 Uhr ...
Ich habe das Geld auf folgende Weise an mich gebracht und dann verborgen:...
Eine Viertelstunde zuvor war Miles Eastin nach Wainwrights Drohung, ihn jetzt zu verlassen, endgültig und vollständig zusammengebrochen. Er wehrte sich nicht mehr, geduckt saß er da und tat, was ihm befohlen wurde.
Während Eastin jetzt weiter damit beschäftigt war, sein Geständnis niederzuschreiben, rief Wainwright den FBI-Mann Innes zu Hause an.
In der ersten Novemberwoche verschlechterte sich Ben Rossellis Zustand. Seit der Bankpräsident vor vier Wochen bekanntgegeben hatte, daß er an einer unheilbaren Krankheit leide, war seine Kraft rasch geschwunden, und sein Leib wurde aufgezehrt, während die wuchernden Krebszellen ihren Würgegriff festigten.
Wer den alten Ben zu Hause besuchte - unter ihnen Roscoe Heyward, Alex Vandervoort, Edwina D'Orsey, Nolan Wainwright und verschiedene Direktoren der Bank -, sah mit Bestürzung Ausmaß und Geschwindigkeit seines Niedergangs. Auch ein Laie konnte sehen, daß ihm nur noch eine sehr kurze Spanne Lebens geblieben war.
Während Mitte November ein wilder Sturm mit Orkanböen über die Stadt herfiel, brachte ein Krankenwagen Ben Rosselli in den Privatpavillon des Mount Adams Hospital. Es war eine kurze Reise, und es sollte die letzte sein, die er in seinem Leben unternahm. Er stand jetzt fast ununterbrochen unter schmerzstillenden Drogen, so daß die Augenblicke klaren Bewußtseins von Tag zu Tag seltener wurden.
Die letzte Spur einer Kontrolle über die First Mercantile American Bank war ihm entglitten, und eine Gruppe ranghoher Direktoren wurde sich in einer vertraulichen Sitzung rasch einig, daß das Gesamtdirektorium einberufen und ein Nachfolger des Präsidenten benannt werden müsse.
Die entscheidende Direktoriumssitzung wurde für den 4. Dezember anberaumt.
Die ersten Direktoren trafen kurz vor 10.00 Uhr ein. Sie begrüßten einander herzlich, alle traten mit zwanglosem Selbstbewußtsein auf - jener Patina des erfolgreichen Geschäftsmannes in Gesellschaft von seinesgleichen.
Die allgemeine Herzlichkeit war nur wenig gedämpfter als üblich, aus Respekt vor dem sterbenden Ben Rosselli, der sich, knapp zwei Kilometer von hier entfernt, noch immer schwach an das Leben klammerte. Aber die sich versammelnden Direktoren waren Admirale und Feldmarschälle des Handels, wie Ben selbst einer gewesen war, und sie wußten, daß, was auch kommen mochte, Handel und Wandel weitergehen mußten, denn sie waren das unerläßliche Schmiermittel einer funktionierenden Zivilisation. Die Stimmung, in der sie zusammenkamen, schien auszudrücken: Der Grund für die Entscheidungen, die wir heute treffen müssen, ist beklagenswert, aber wir müssen unsere ernste und feierliche Pflicht gegenüber dem System erfüllen.
So begaben sie sich entschlossen in das nußbaumgetäfelte Sitzungszimmer, in dem Porträts und Fotos bekannter Vorgänger hingen, die, einst selbst von Bedeutung, längst dahingeschieden waren.
Das Direktorium jeder größeren Gesellschaft hat Ähnlichkeit mit einem exklusiven Club. Dem amerikanischen Direktorium, dem »Board«, gehören, abgesehen von drei oder vier hauptberuflichen Direktoren des Spitzenmanagements, rund zwanzig hervorragende Geschäftsleute aus anderen Branchen an, die oft genug selbst Direktoriumsvorsitzende oder Präsidenten eigener Gesellschaften sind.
Diese Direktoriumsmitglieder werden gewöhnlich aus einem oder mehreren Gründen ernannt - wegen ihrer Leistungen in anderen Häusern, wegen des Prestiges der Institution, die sie vertreten, oder auch wegen einer starken - meist finanziellen -Verbindung mit der Gesellschaft, deren Direktoriumsmitglieder sie sind.
Unter Geschäftsleuten gilt es als hohe Ehre, einem Direktorium anzugehören, und der Ruhm wächst entsprechend dem Prestige der Gesellschaft. Deshalb gibt es Geschäftsleute, die Direktorentitel sammeln, wie die Indianer einst Skalps sammelten. Auch werden Direktoren mit höchst schmeichelhafter Ehrerbietung behandelt und großzügig entschädigt - größere Gesellschaften zahlen jedem Direktor für die Teilnahme an einer Sitzung ein- bis zweitausend Dollar bei normalerweise zehn Sitzungen im Jahr.
Besonders hohen Prestigewert hat es, Mitglied im Direktorium einer führenden Bank zu werden; das ist für den amerikanischen Geschäftsmann ungefähr das gleiche wie ein Ritterschlag durch die Königin von England. Die First Mercantile American leistete sich, wie es einer der zwanzig größten Banken des Landes geziemte, ein imposantes Direktorium.
Jedenfalls empfand man es als imposant.
Alex Vandervoort betrachtete die anderen Direktoren, als sie ihre Plätze an der langen, ovalen Sitzungstafel einnahmen, und fand, daß der Prozentsatz an totem Holz groß sei. Auch Interessenkonflikte waren vertreten, denn einige Direktoren, oder ihre Gesellschaften, waren gewichtige Kreditnehmer der Bank. Sollte er Präsident werden, so wollte er das FMA-Direktorium härter der Wirklichkeit anpassen und es weniger als gemütlichen Club sehen.
Wer aber würde Präsident? Er oder Heyward?
Sie kandidierten beide. Beide würden bald, wie jeder, der sich um ein Amt bemüht, ihre Ansichten im einzelnen darlegen. Jerome Patterton, der Stellvertretende Direktoriumsvorsitzende, der heute den Vorsitz führte, hatte sich vor zwei Tagen an Alex gewandt. »Sie wissen so gut wie jeder von uns, daß wir uns zwischen Ihnen und Roscoe zu entscheiden haben. Sie sind beide gute Männer; hier eine Wahl zu treffen ist nicht leicht. Deshalb helfen Sie uns bitte. Sagen Sie uns, wie Sie zur FMA stehen, in irgendeiner Form, die Sie für richtig halten. Das Was Roscoe Heyward, das wußte Alex, hatte eine ähnliche Einladung erhalten.
Heyward, der Alex genau gegenüber saß, hatte sich bezeichnenderweise mit einem sorgsam ausgearbeiteten Text bewaffnet und studierte ihn jetzt. Sein Adlergesicht drückte inneren Ernst aus, die grauen Augen hinter den randlosen Brillengläsern waren ruhig und fest auf die Maschinenschrift gerichtet. Zu Heywards Qualitäten gehörten ein seziermesserscharfer Verstand und intensive Konzentrationsfähigkeit, besonders wenn es um Zahlen ging. Ein Kollege hatte einmal gesagt: »Roscoe kann eine Gewinn-und Verlustrechnung so lesen wie ein Dirigent die Partitur einer Symphonie - er wittert die Nuancen, erkennt schwierige Noten, unvollständige Passagen, Crescendi und Möglichkeiten, die andere übersehen.« Ohne Zweifel würden Zahlen in dem, was Heyward zu sagen hatte, eine Rolle spielen.
Alex war sich nicht schlüssig, ob er in seinen eigenen Ausführungen Zahlen erwähnen sollte oder nicht. Entschied er sich für Zahlen, so mußte er sie aus dem Gedächtnis zitieren, denn er hatte keine Unterlagen mitgebracht. Er hatte bis weit in die Nacht hinein überlegt und dann beschlossen zu warten, bis der Augenblick gekommen war. Dann wollte er sich von der Atmosphäre leiten und Worte und Gedanken sich ihren eigenen Weg suchen lassen.
Er rief sich in die Erinnerung zurück, daß Ben in diesem Raum vor kurzer Zeit erst erklärt hatte: »Ich werde bald sterben. Die Ärzte geben mir nicht mehr viel Zeit.« Die Worte waren und blieben eine Mahnung, daß alles im Leben einmal ein Ende hat. Sie enthüllten die Eitelkeit des ehrgeizigen Strebens - seines eigenen, Roscoe Heywards, aller anderen.
Aber mochte Ehrgeiz am Ende auch eitel sein, es verlangte ihn dennoch sehr danach, Präsident dieser Bank zu werden. Er sehnte sich nach der Möglichkeit - wie Ben sie zu seiner Zeit gehabt hatte -, Richtungen vorzugeben, Grundsätze zu formulieren, Prioritäten zu setzen und, als Summe aller Entscheidungen, einen eigenen Beitrag zum Ganzen zu hinterlassen, der alle Mühen wert war. Und ob nun das, was vollbracht wurde, über eine größere Spanne von Jahren hinweg betrachtet, viel oder wenig bedeuten mochte, so trug doch die Schaffensfreude ihren eigenen Lohn in sich - das Tun, das Führen, das Streben, der täglich neue Wettstreit.
Auf der anderen Seite des Direktoriumstisches, zur Rechten, glitt The Hon. Harold Austin auf seinen angestammten Platz. Er war in einem großgemusterten Cerruti-Anzug erschienen, dazu ein konservatives Hemd und eine Krawatte im Hahnentrittmuster, was ihn alles zusammen wie einen ältlichen Dressman aus einem Herrenmagazin aussehen ließ. In den Fingern hielt er eine dicke Zigarre. Alex nickte Austin zu. Das Kopfnicken wurde erwidert, wenn auch merklich kühl.
Vor einer Woche war The Hon. Harold vorbeigekommen, um gegen das Veto zu protestieren, das Alex gegen die von der Agentur Austin erarbeiteten Anzeigen für KeychargeKreditkarten eingelegt hatte. »Die Erweiterung im Marketing der Keycharge-Karten ist vom Direktorium genehmigt worden«, hatte The Ho n. Harold eingewandt. »Außerdem hatten die Abteilungsleiter bei Keycharge diese Anzeigenkampagne schon genehmigt, bevor die Abzüge überhaupt zu Ihnen gelangt sind. Ich bin mir noch nicht schlüssig, ob ich das Direktorium auf Ihre eigenmächtige Handlungsweise aufmerksam machen soll oder nicht.«
Alex hatte auf einen groben Klotz einen groben Keil gesetzt. »Zunächst einmal weiß ich genau, was die Direktoren in bezug auf Keycharge beschlossen haben, weil ich bei der Besprechung dabei war. Sie haben keineswegs zugestimmt, daß das erweiterte Marketing auch eine Anzeigenkampagne einschließen soll, die unseriös, irreführend, halbwahr und dieser Bank nicht würdig ist. Ihre Leute können Besseres leisten, Harold. Das haben sie übrigens auch schon getan - ich habe die revidierten Fassungen gesehen und gebilligt. Was die Eigenmächtigkeit betrifft, so habe ich eine Entscheidung getroffen, die innerhalb meiner Vollmachten liegt, und wenn nötig, werde ich wieder so handeln. Wenn Sie die Sache vor das Direktorium bringen wollen, so steht es Ihnen frei. Falls Sie Wert auf meine Meinung legen, würde ich sagen, daß man es Ihnen nicht danken wird -wahrscheinlich eher mir.«
Harold Austin hatte ein beleidigtes Gesicht gemacht, es dann aber doch vorgezogen, das Thema fallenzulassen. Schließlich würde sich die revidierte Werbekampagne für die AustinAgentur ebenso gut auszahlen. Doch Alex wußte, daß er sich einen Feind geschaffen hatte. Am Ausgang des heutigen Tages würde das allerdings nichts ändern, denn The Hon. Harold zog offensichtlich Roscoe Heyward vor und würde ohnehin für ihn stimmen.
Einer seiner stärksten Anhänger war, wie Alex genau wußte, Leonard L. Kingswood, der energische Vorsitzende von Northam Steel, der nie ein Blatt vor den Mund nahm. Er saß ganz vorn am Kopf des Tisches und unterhielt sich gerade angeregt mit seinem Nachbarn. Len Kingswood hatte Alex vor mehreren Wochen angerufen und ihn darauf aufmerksam gemacht, daß Roscoe Heyward aktiv um die Stimmen von Direktoren warb und sie geradezu aufrief, ihn als Kandidaten für das Amt des Bankpräsidenten zu unterstützen. »Ich sage ja nicht, daß Sie es ebenso machen sollten, Alex. Das müssen Sie selber wissen. Aber ich will Sie darauf hinweisen, daß Roscoe mit seiner Taktik möglicherweise etwas erreicht. Mir macht er nichts vor. Er ist kein Führer, und ich habe ihm das auch gesagt. Aber er versteht etwas von Überredungskunst, und vielleicht geht mancher ihm auf den Leim.«
Alex hatte Len Kingswood für die Information gedankt, aber nicht versucht, Heywards Taktik nachzuahmen. Das Werben um Stimmen konnte in manchen Fällen nützlich sein, in anderen Fällen aber, bei Leuten, die sich in solchen Dingen nicht gern unter Druck setzen ließen, das genaue Gegenteil bewirken. Außerdem widerstrebte es Alex, sich aktiv um Bens Position zu bewerben, während der alte Mann noch am Leben war.
Alex erkannte aber die Notwendigkeit der heutigen Sitzung an; es mußten jetzt Entscheidungen getroffen werden.
Das Stimmengewirr der Gespräche im Sitzungszimmer wurde leiser. Zwei, die erst jetzt eingetroffen waren, setzten sich auf ihren Plätzen zurecht. Jerome Patterton schlug einmal leicht mit dem Holzhammer auf den Tisch und verkündete: »Meine Herren, ich eröffne die Direktoriumssitzung.«
Patterton, heute von den Umständen auf den prominentesten Platz gesetzt, war normalerweise zurückhaltend und galt in der Führungsspitze der Bank eher als jemand, der nur noch seine Jahre absitzen will. Er war in den Sechzigern, und die Zeit seiner Pensionierung rückte näher. Vor einigen Jahren war er anläßlich des Zusammenschlusses mit einer anderen, kleineren Bank ins Direktorium gerutscht; seither war sein Pflichtenkreis in aller Stille und in gegenseitigem Einvernehmen immer weiter eingeengt worden. Zur Zeit befaßte er sich fast ausschließlich mit Treuhandangelegenheiten sowie damit, Golf mit Kunden zu spielen. Vorrang hatte dabei das Golfspiel, und zwar in so starkem Maße, daß Jerome Patterton an einem normalen Arbeitstag selten nach 14.30 Uhr noch in seinem Büro anzutreffen war. Sein Titel als Stellvertretender Direktoriumsvorsitzender war im wesentlichen ein Ehrentitel.
Er wirkte wie ein Großfarmer, der gelegentlich seine Ländereien inspiziert, im übrigen aber das Leben eines wohlbetuchten Gentleman führt. Er war fast kahl, abgesehen von einem schlohweißen, heiligenscheinähnlichen Haarkranz, und sein spitz zulaufender rosa Schädel hatte eine fatale Ähnlichkeit mit dem dünnen Ende eines Eies. Paradoxerweise hatte er wild wuchernde, buschige und verfilzte Augenbrauen;
die Augen darunter waren grau, wässerig und etwas hervorquellend. Es paßte zum Eindruck des Ländlichen, daß er am liebsten Tweed trug. Alex Vandervoorts Einschätzung nach verfügte der Stellvertretende Direktoriumsvorsitzende über ein ausgezeichnetes Gehirn, das er aber in den letzten Jahren kaum noch benutzt hatte; es arbeitete eher wie ein Hochleistungsmotor im Leerlauf.
Wie allgemein erwartet, begann Patterton mit einer Ehrung Ben Rossellis und seiner Verdienste. Danach verlas er das neueste Bulletin; die Ärzte sprachen von »schwindenden Kräften und vermindertem Bewußtsein«. Die zuhörenden Direktoren schoben die Lippen vor und schüttelten ergeben die Köpfe. »Aber das Leben unserer Gemeinschaft geht weiter.« Der Stellvertretende Vorsitzende zählte die Gründe für die Einberufung der Sitzung auf und nannte an erster Stelle die Notwendigkeit, schnell einen neuen Präsidenten und Generaldirektor für die First Mercantile American Bank zu benennen.
»Die meisten von Ihnen, meine Herren, sind mit den Verfahrensregeln vertraut, auf die wir uns geeinigt haben.« Er gab dann bekannt, was jeder schon wußte - daß Roscoe Heyward und Alex Vandervoort das Wort an das Direktorium richten würden. Danach würden beide die Sitzung verlassen, während ihre Kandidaturen erörtert wurden.
»Was die Reihenfolge der Redner betrifft, so werden wir uns dem alten Gesetz des Zufalls beugen, unter dem wir alle geboren sind - dem Gesetz der alphabetischen Reihenfolge.« Jerome Patterton blinzelte Alex zu. »Ich habe manchmal darunter leiden müssen, daß ich ein >P< bin. Ich hoffe, Ihr >V< hat sich nicht nachteilig für Sie ausgewirkt.«
»Nur ganz selten, Herr Vorsitzender«, sagte Alex. »Gelegentlich verschafft es mir das letzte Wort.«
Ein Gelächter, das erste an diesem Tag, ging um den Tisch.
Roscoe Heyward lachte auch, allerdings wirkte es ein bißchen gezwungen.
»Roscoe«, entschied Jerome Patterton, »wenn es Ihnen recht ist, fangen Sie bitte an.«
»Ich danke Ihnen, Herr Vorsitzender.« Heyward erhob sich, schob seinen Stuhl weit zurück und musterte mit ruhigem Blick die neunzehn anderen Männer an diesem Tisch. Er trank einen Schluck Wasser aus dem vor ihm stehenden Glas, räusperte sich flüchtig und begann mit präziser und gleichmäßiger Stimme zu sprechen.
»Meine Herren vom Direktorium, da es sich hier um eine geschlossene und vertrauliche Sitzung handelt, über deren Verlauf weder die Presse noch die anderen Aktionäre etwas erfahren werden, kann ich heute und hier in aller Offenheit hervorheben, was ich für den wichtigsten Punkt in meinem Verantwortungsbereich und in demjenigen dieses Direktoriums halte - nämlich die Ertragssteigerung der First Mercantile American Bank.« Er wiederholte mit Nachdruck: »Ertragssteigerung, meine Herren - unsere Priorität Nummer eins.«
Heyward warf einen kurzen Blick auf seinen Text. »Gestatten Sie mir, das weiter auszuführen.
Im Bankwesen wie auch im allgemeinen Geschäftsleben wird meiner Meinung nach heutzutage, wenn es um große Entscheidungen geht, viel zuviel Rücksicht auf soziale Fragen und andere Kontroversen unserer Zeit genommen. Ich halte das in meiner Eigenschaft als Bankier für falsch. Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, ich will in keiner Weise die Bedeutung des sozialen Gewissens des einzelnen herabsetzen; mein eigenes, so hoffe ich wenigstens, ist gut entwickelt. Ich meine auch, daß jeder von uns von Zeit zu Zeit gehalten ist, seine persönlichen Werte zu überprüfen, Justierungen im Lichte neuer Gedanken vorzunehmen und, wenn möglich, private Verbesserungsvorschläge einzubringen. Etwas anderes aber ist die Unternehmenspolitik. Sie darf nicht jedem umschlagenden sozialen Wind, jeder neuen Laune ausgesetzt sein. Wäre das der Fall, ließen wir zu, daß unsere geschäftlichen Entscheidungen von einer derartigen Denkweise beherrscht würden, dann wäre das gefährlich für die Freiheit des amerikanischen Unternehmertums und katastrophal für diese Bank, weil damit nämlich unsere Kraft vermindert, unser Wachstum gehemmt und die Gewinne geschmälert würden. Mit anderen Worten: Wir sollten uns wieder, wie andere Institutionen es auch tun, von der soziopolitischen Szene fernhalten, die uns nichts angeht, es sei denn insofern, als sie die finanziellen Angelegenheiten unserer Kunden berührt.«
Der Redner gestattete sich bei allem Ernst seiner Ausführungen ein dünnes Lächeln. »Ich gestehe, daß diese Worte, in der Öffentlichkeit gesprochen, undiplomatisch und unpopulär wären. Ich will noch einen Schritt weitergehen und erklären, daß ich derartige Äußerungen nie und nimmer in der Öffentlichkeit machen würde. Aber wir sind hier unter uns, hier werden reale Entscheidungen getroffen, hier wird Geschäftspolitik gemacht, und hier halte ich sie für ganz und gar realistisch.«
Mehrere Direktoren nickten zustimmend. Einer schlug begeistert mit der geballten Faust auf den Tisch. Andere, unter ihnen der Stahlmann Leonard Kingswood, verzogen keine Miene.
Alex Vandervoort überlegte: Roscoe Heyward hatte sich also für die direkte Konfrontation entschieden, für den frontalen Zusammenstoß der Meinungen. Heyward mußte wissen, daß alles, was er gerade gesagt hatte, sämtlichen Überzeugungen Alex Vandervoorts zuwiderlief, aber auch Ben Rossellis, wie die zunehmende Liberalisierung der Bank zeigte, die Ben in den letzten Jahren in die Wege geleitet hatte. Ben selbst hatte für die Beteiligung der FMA an kommunalpolitischen Entwicklungen gesorgt, und zwar nicht nur in der Stadt, sondern überall im ganzen Bundesstaat. Ein Beispiel war das Projekt Forum East. Aber Alex gab sich keinen Selbsttäuschungen hin. Eine nicht unerhebliche Anzahl der Direktoriumsmitglieder hatte Bens Politik mit Unbehagen, ja, gelegentlich mit Bestürzung beobachtet und würde Heywards harte Linie des klaren Geschäftsinteresses begrüßen. Die Frage war nur - wie stark war diese Gruppe der harten Linie?
Mit einer Äußerung Roscoe Heywards stimmte Alex allerdings völlig überein. Heyward hatte gesagt: Dies ist eine geschlossene und vertrauliche Sitzung... wo reale Entscheidungen getroffen und Geschäftspolitik gemacht wird.
Der Akzent lag auf dem Wort »real«.
Während man den Aktionären und der Öffentlichkeit später eine beruhigende, verzuckerte Darstellung der Bankpolitik in Gestalt umständlicher gedruckter Jahresberichte auftischen mochte, wurde hier, hinter den geschlossenen Türen des Sitzungszimmers, über die wirklichen Ziele entschieden, und zwar in kompromißlos harter Sprache. Deshalb gehörten Diskretion und eine gewisse Verschwiegenheit zu den wichtigen Eigenschaften jedes Direktors.
»Es gibt quasi bei uns vor der Haustür eine Parallele«, erläuterte Heyward, »zwischen dem, was ich gesagt habe, und Ereignissen innerhalb der Kirche, der ich angehöre und die mir Gelegenheit gibt, einen gewissen eigenen sozialen Beitrag zu leisten.
In den sechziger Jahren verwendete unsere Kirche Geld, Zeit und Arbeitskraft für bestimmte soziale Ziele, vor allem für die Förderung der Schwarzen. Das geschah zum Teil als Reaktion auf Druck von außen; aber einige unserer Gemeindemitglieder empfanden es auch als richtig und notwendig. Unsere Kirche wurde zu einer Art Sozialbehörde. In jüngerer Zeit jedoch haben einige von uns die Kontrolle wieder in die Hand genommen und erklärt, daß ein derartiger Aktivismus nicht Sache der Kirche sei und wir uns wieder auf die Grundlagen des eigentlichen Gottesdienstes besinnen sollten. Wir haben uns deshalb wieder verstärkt den religiösen Feierlichkeiten zugewandt - was unserer Meinung nach die Hauptaufgabe unserer Kirche ist - und überlassen die aktive Sozialarbeit der Regierung und den Behörden.«
Alex fragte sich unwillkürlich, ob die anderen Direktoren die Rolle der Kirche ebenso sahen wie Roscoe.
»Ich habe Gewinnstreben als unser erstes Ziel genannt«, fuhr Roscoe fort, »und ich bin mir wohl bewußt, daß einige dagegen Einwände erheben werden. Sie werden mir entgegenhalten, daß alleiniges Zielen auf Gewinn kurzsichtig, unsozial und verächtlich sei.« Der Redner gestattete sich ein nachsichtiges Lächeln. »Ihnen, meine Herren, sind all diese Argumente bekannt.
Aber als Banker muß ich da widersprechen. Streben nach Gewinn ist keineswegs kurzsichtig, und wenn diese Bank, und auch andere Banken, die Rentabilität steigern wollen, so ist das von großer sozialer Wichtigkeit.
Lassen Sie mich das näher erläutern.
Alle Banken messen den Gewinn an der Höhe des Ertrags pro Aktie. Dieser Ertrag - der öffentlich ausgewiesen wird unterliegt der genauen Beobachtung durch Aktionäre, Einleger, Investoren und der nationalen sowie internationalen Geschäftswelt. Ein Steigen oder Fallen des Bank-Ertrags wird als Zeichen ihrer Stärke oder Schwäche gewertet.
Ist der Ertrag hoch, so bleibt das Vertrauen zum Bankgeschäft stark. Lassen Sie aber einmal ein paar Großbanken einen sinkenden Ertrag pro Aktie ausweisen, meine Herren, was hätte das zur Folge? Allgemeine Unruhe, die sich rasch bis zur Alarmstimmung steigert - eine Situation, in der die Einleger ihre Einlagen und die Aktionäre ihre Anlagen auflösen würden, so daß die Kurse weiter fallen und die Banken selbst in Gefahr geraten. Kurz, eine öffentliche Krise ernstester Art.«
Roscoe Heyward nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit einem weißleinenen Taschentuch.
»Und komme mir niemand und sage: Das kann gar nicht passieren. Es ist schon einmal passiert in der Depression, die im Jahre 1929 ihren Anfang nahm; sollte es sich heute wiederholen, wo die Banken sehr viel größer sind, wären die Folgen, verglichen mit damals, geradezu katastrophal.
Deshalb muß eine Bank wie die unsere wachsam bleiben in ihrer Pflicht, für sich selbst und für ihre Aktionäre Geld zu machen.«
Wieder lief zustimmendes Gemurmel rund um den Direktoriumstisch. Heyward schlug eine neue Seite seines Textes auf.
»Nun aber - wie erzielen wir als Bank ein Maximum an Profit? Ich werde Ihnen erst einmal darlegen, wie wir dieses Ziel nicht erreichen.
Wir erreichen es nicht, indem wir uns auf Projekte einlassen, die vielleicht bewundernswert in ihrer Absicht sein mögen, aber entweder finanziell unsolide sind oder die Gelder der Bank bei geringen Ertragsraten auf viele Jahre hinaus festlegen. Ich denke hier, wie Sie wohl erraten haben, an die Finanzierung des Wohnungsbaus für untere Einkommensschichten. Wir sollten auf keinen Fall mehr als einen minimalen Teil von Bankmitteln in Hypotheken anlegen, die ja notorisch geringe Gewinne abwerfen.
Eine andere Möglichkeit, keine Rentabilität zu erzielen, besteht darin, Konzessionen zu machen und die Darlehenszinssätze zu senken, wie es zum Beispiel bei den sogenannten Aufbaukrediten für Minderheiten verlangt wird. Auf diesem Gebiet sind die Banken heutzutage enormem Druck ausgesetzt, und wir müssen hier energischen Widerstand leisten, nicht aus rassischen Gründen, sondern aus Gründen der Geschäftsvernunft. Bitte, auch ich bin dafür, Minderheiten nach Möglichkeit Kredite zu gewähren, aber dann zu den gleichen Bedingungen, wie sie für jeden anderen Kreditnehmer gelten.
Auch sollten wir uns als Bank nicht über Gebühr mit Dingen befassen, die etwas verschwommen als
>Umweltangelegenheiten< bezeichnet werden. Es kann nicht unsere Sache sein, ein Urteil über die Art und Weise zu fällen, in der unsere Kunden ihr Geschäft in bezug auf ökologische Erwägungen betreiben; uns interessiert einzig und allein, wie gesund sie in finanzieller Hinsicht sind.
Kurz und gut, wir erzielen Profit nicht, indem wir uns als unseres Bruders Hüter aufspielen - oder als sein Richter oder Kerkermeister.
O ja, wir dürfen diese öffentlichen Ziele durchaus gelegentlich mit unserer Stimme unterstützen - Billigwohnungen, städtebauliche Sanierung, Umweltverbesserung, Energie, Naturschutz und andere Forderungen, die von Zeit zu Zeit in den Vordergrund treten. Schließlich besitzt diese Bank Einfluß und Prestige, die wir in die Waagschale werfen können, ohne daß wir dadurch finanziell Schaden nehmen. Wir können sogar Minimalbeträge einsetzen, und unsere Public-Relations-Abteilung kann dafür sorgen, daß unser Beitrag auch bekannt wird - ja«, er kicherte in sich hinein, »ihn gelegentlich wohl auch ein wenig übertreiben. Wollen wir aber reellen Profit, dann müssen wir unsere Stoßkraft in andere Richtungen lenken.«
Alex Vandervoort dachte: Welche Kritik man später auch an Heyward üben mochte, niemand konnte ihm vorwerfen, er habe seine Ansichten nicht deutlich genug dargelegt. Auf seine Weise war seine Rede eine offene und ehrliche Deklaration. Doch sie war auch klug, ja, sogar zynisch berechnet.
Viele führende Geschäftsleute und Finanziers - einschließlich eines nicht geringen Teils der hier in diesem Raum versammelten Direktoren - stöhnten über Einschränkungen ihrer Freiheit beim Geldmachen. Es gefiel ihnen auch nicht, in der Öffentlichkeit jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen, um nicht in die Schußlinie von Verbrauchergruppen oder anderen Kritikern zu geraten. So war es geradezu befreiend für sie, hier einmal ihre innersten Überzeugungen laut und eindeutig ausgesprochen zu hören.
Diese Reaktion hatte Roscoe Heyward ganz sicher einkalkuliert. Er hatte sicherlich auch, meinte Alex, die Häupter am Direktoriumstisch gezählt und berechnet, wer seine Stimme für wen abgeben würde, bevor er sich festlegte.
Aber Alex hatte seine eigenen Berechnungen angestellt. Er glaubte auch jetzt noch, daß es eine gewisse Gruppe von Direktoren gab, die stark genug war, um das Pendel dieser Sitzung wieder von Heyward weg und in seine Richtung hin ausschlagen zu lassen. Aber es würde einiger Überredungskunst bedürfen.
»Vor allem«, erklärte Heyward, »muß diese Bank sich auf ihre Zusammenarbeit mit der amerikanischen Industrie stützen, wie sie es traditionsgemäß immer getan hat. Damit meine ich jene Art von Industrie, die auf eine Geschichte hoher Gewinne zurückblicken kann, die ihrerseits geeignet sind, unsere eigene Ertragslage günstig zu beeinflussen.
Anders ausgedrückt, ich bin überzeugt, daß die First Mercantile American Bank gegenwärtig zu wenig flüssige Geldmittel für große Industriekredite zur Verfügung hat und wir umgehend ein Programm zur Steigerung derartiger Kredite ausarbeiten sollten... «
Es war ein vertrautes Thema, über das Roscoe Heyward, Alex Vandervoort und Ben Rosselli in der Vergangenheit oft debattiert hatten. Die Argumente, die Hey ward jetzt vortrug, waren nicht neu, auch wenn er sie überzeugend präsentierte und mit Zahlen und Diagrammen illustrierte. Alex spürte, daß die Direktoren beeindruckt waren.
Heyward sprach noch weitere dreißig Minuten über die Notwendigkeit, Industriekredite auszuweiten und Verpflichtungen auf sozialpolitischem Gebiet zu drosseln. Er schloß mit einem - wie er es nannte - »Appell an die Vernunft«.
»Am dringendsten brauchen wir heute im Bankgeschäft die pragmatische Führung. Eine Führung, die sich weder durch Emotionen noch durch Druck von irgendwelcher Seite oder Rücksicht auf die Öffentlichkeit dazu verleiten läßt, unser Geld >weich< anzulegen. Als Banker müssen wir uns ganz nüchtern fragen: Lohnt sich ein Geschäft in finanzieller Hinsicht, oder lohnt es sich nicht. Nie dürfen wir uns billige Popularität zu Lasten unserer Aktionäre erkaufen. Statt dessen müssen wir unser eigenes Geld und das unserer Einleger einzig und allein auf der Grundlage des besten Ertrages verleihen, und wenn wir infolge einer solchen Politik als >kaltschnäuzige Banker< verschrien werden, nun denn, so sei es. Ich habe nichts dagegen, mich in diese Schar einreihen zu lassen.«
Heyward setzte sich unter Beifall.
»Herr Vorsitzender!« Der Stahlmann, Leonard Kingswood, beugte sich mit erhobener Hand vor. »Ich habe mehrere Fragen und muß einige Meinungsverschiedenheiten anmelden.«
Weiter unten vom Tisch konterte The Hon. Harold Austin. »Für das Protokoll, Herr Vorsitzender, ich habe keine Fragen und befinde mich in völliger Übereinstimmung mit dem eben Gesagten.«
Gelächter erhob sich, und eine frische Stimme - die von Philip Johannsen, Präsident der MidContinent Rubber - fügte hinzu: »Ich bin ganz Ihrer Meinung, Harold. Ich finde ebenfalls, daß es höchste Zeit ist, einen härteren Kurs zu steuern.«
»Ich auch«, warf ein anderer ein.
»Meine Herren, aber meine Herren!« Jerome Patterton pochte leicht mit seinem Holzhammer auf den Tisch. »Wir haben erst einen Teil unserer Tagesordnung abgeschlossen. Sie werden später Gelegenheit haben, Ihre Fragen anzubringen; was die Meinungsverschiedenheiten betrifft, so schlage ich vor, daß wir uns diesen Punkt für unsere Diskussion aufheben, wenn Roscoe und Alex sich zurückgezogen haben. Zunächst aber wollen wir Alex hören.«
»Die meisten von Ihnen kennen mich gut, als Menschen und als Banker«, begann Alex. Er hatte sich erhoben und stand in seiner üblichen lässigen Haltung da; er beugte sich nur einen Moment vor, um außer dem Blick der ihm gegenüber sitzenden Direktoren auch den derjenigen aufzufangen, die rechts und links von ihm saßen. Er redete im ganz normalen Gesprächston.
»Sie wissen auch, oder Sie sollten wissen, daß ich als Banker der zähen Sorte gelte - als kaltschnäuzig, falls Ihnen dies Wort lieber sein sollte. Beweis dafür sind die Finanzierungsgeschäfte, die ich für die FMA getätigt habe; sie haben sämtlich Gewinn erbracht, kein einziges endete mit Verlust. Für das Bankgeschäft wie auch für jedes andere gilt die Regel: Je profitbringender ein Unternehmen, desto stärker seine Position. Wenn man den Satz etwas abwandelt - je profitbringender ein Bankier arbeitet... -, trifft er auch für die Menschen im Bankgeschäft zu.
Ich freue mich, daß Roscoe dieses Thema angeschnitten hat, denn es gibt mir Gelegenheit, mich ausdrücklich hier zum Prinzip der Ertragssteigerung zu bekennen. Dito zu Freiheit, Demokratie, Liebe und Mutterschaft.«
Irgend jemand kicherte. Alex lächelte ungezwungen. Er schob den Stuhl etwas weiter zurück, um sich einen oder zwei Schritte Bewegungsfreiheit zu verschaffen.
»Noch etwas zur Ertragssteigerung in der FMA: Ich meine, hier müßten drastische Maßnahmen ergriffen werden. Doch später darüber mehr.
Im Augenblick möchte ich über gewisse prinzipielle Dinge sprechen, zu denen ich mich bekenne: Die Zivilisation hat sich in diesem Jahrzehnt bedeutungsvoller und rascher verändert als zu irgendeiner anderen Zeit seit der industriellen Revolution. Wir erleben zur Zeit eine neue Revolution, eine soziale Revolution des Gewissens und des Verhaltens.
Ich bin im Gegensatz zu anderen froh darüber. Doch ob sie einem zusagt oder nicht, sie ist da; sie existiert; sie wird sich weder zurückentwickeln, noch wird sie sich aufhalten lassen.
Denn die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung ist die Entschlossenheit einer Mehrheit der Menschen, die Qualität des Lebens zu verbessern, der Ausbeutung unserer Umwelt Einhalt zu gebieten und zu bewahren, was von den Schätzen aller Art noch vorhanden ist. Aus diesem Grunde werden von Industrie und Gewerbe neue Maßstäbe gefordert, und der Name des neuen Spiels lautet >korporative soziale Verantwortung« Mehr noch, die Menschen sind dabei, höhere Maßstäbe der Verantwortung zu setzen, ohne daß es zu einer erheblichen Gewinneinbuße kommt.«
Alex bewegte sich rastlos in dem begrenzten Raum hinter dem Direktoriumstisch. Er fragte sich, ob er direkt auf eine weitere Herausforderung von Heyward eingehen sollte, dann entschied er sich: Ja.
»Zu dem Thema Verantwortung und Anteilnahme griff Roscoe das Beispiel seiner Kirche auf. Er sagte uns, daß diejenigen, die - wie er sich ausdrückte - >die Kontrolle wieder in die Hand genommen habenc, sich zurückziehen und eine Politik der Nichtbeteiligung propagieren. Nun, meiner Meinung nach marschieren Roscoe und seine Kirchenmänner entschlossen rückwärts. Ihre Einstellung hilft weder dem Christentum noch dem Bankgeschäft.«
Heyward richtete sich kerzengerade auf. Er protestierte: »Wir wollen hier doch nicht persönlich werden, außerdem ist das eine falsche Interpretation.«
Alex sagte ruhig: »Das bezweifle ich - beides.«
Harold Austin klopfte scharf mit den Knöcheln auf den Tisch. »Herr Vorsitzender, ich protestiere dagegen, daß Alex sich auf die Ebene des Persönlichen begibt.«
»Roscoe hat seine Kirche hier hereingeschleppt«, sagte Alex. »Ich kommentiere nur.«
»Das sollten Sie lieber bleiben lassen.« Die Stimme Philip Johannsens, des Präsidenten der MidContinent Rubber, fuhr schneidend dazwischen. »Sonst könnten wir auf den Gedanken kommen, Sie beide nach der Gesellschaft zu beurteilen, in der Sie sich bewegen; da lägen dann Roscoe und seine Kirche sehr weit vorn.«
Alex lief rot an. »Darf ich fragen, was Sie damit sagen wollen?«
Johannsen zuckte die Achseln. »Nach allem, was ich höre, haben Sie sich, in Abwesenheit Ihrer Frau, an eine Linksaktivistin angeschlossen. Vielleicht ist das der Grund, warum Sie diese Vorliebe fürs Engagement haben.«
Jerome Patterton hämmerte auf den Tisch, dieses Mal mit Macht. »Das genügt, meine Herren. Als Vorsitzender untersage ich alle weiteren Anspielungen dieser Art, von beiden Seiten.«
Johannsen lächelte zufrieden. Trotz der Zurechtweisung hatte er seine Pointe angebracht.
Alex Vandervoort kochte. Er überlegte, ob er in aller Entschiedenheit erklären sollte, daß sein Privatleben seine eigene Angelegenheit sei, besann sich dann aber anders. Das mochte sich später einmal als erforderlich erweisen. Nicht jetzt. Er erkannte, daß es ein Fehler gewesen war, auf Heywards Kirchenbeispiel einzugehen.
»Ich möchte auf meine ursprüngliche Frage zurückkommen«, fuhr er fort, »wie können wir als Banker es uns leisten, diesen Wandel der Szene einfach zu ignorieren? Wir wären nicht anders als ein Mann, der in einem schweren Sturm steht und einfach so tut, als existiere der Wind nicht.
Allein aus pragmatischen, finanziellen Gründen dürfen wir uns nicht abseits stellen. Wir alle, die wir hier an diesem Tisch versammelt sind, wissen aus persönlicher Erfahrung, daß man geschäftlichen Erfolg niemals dadurch erzielt, daß man den Wandel nicht zur Kenntnis nimmt, sondern einzig und allein dadurch, daß man ihn rechtzeitig kommen sieht und sich darauf einstellt. Als Hüter des Geldes, mit einem Gespür für die Wetterumschläge des Investitionsklimas ausgerüstet, werden wir deshalb am meisten profitieren, wenn wir jetzt zuhören, aufmerken und uns auf neue Gegebenheiten einstellen.«
Er spürte, daß seine Eröffnungssätze, abgesehen von dem Ausrutscher, der ihm gerade unterlaufen war, durch ihren Akzent auf dem Praktischen die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer erregt hatten. Fast alle Mitglieder des Direktoriums, die der Bank selbst nicht angehörten, hatten schon ihre Erfahrungen mit Gesetzen zum Umweltschutz, zum Verbraucherschutz, über wahrheitsgemäße Werbung, über die Förderung der Beschäftigung von Minderheiten und über die Gleichberechtigung der Frau gesammelt. Oft waren derartige Gesetze gegen den heftigen Widerstand von Gesellschaften verabschiedet worden, an deren Spitze hier anwesende Direktoren standen. Waren diese Gesetze aber erst einmal in Kraft, dann hatten dieselben Gesellschaften es gelernt, mit den neuen Maßstäben zu leben, und stolz posaunten sie dann ihren Beitrag zum Gemeinwohl in die Welt hinaus. Einige, wie Leonard Kingswood zum Beispiel, hatten daraus den Schluß gezogen, daß korporative Verantwortung gut für das Geschäft ist, und sie hatten sich deshalb mit Nachdruck dazu bekannt.
»Es gibt vierzehntausend Banken in den Vereinigten Staaten«, rief Alex den FMA-Direktoren ins Bewußtsein zurück, »und sie üben durch die Vergabe von Krediten eine enorme wirtschaftliche Macht aus. Ich meine, diese Macht sollte bei der
Gewährung von Krediten an Industrie und Handel auch mit Verantwortung unsererseits gekoppelt sein. Ich meine, zu den Kriterien der Kreditwürdigkeit sollte auch das Niveau des öffentlichen Verhaltens unserer Geldnehmer gehören! Wenn eine Fabrik finanziert werden soll - wird sie die Umwelt verschmutzen? Wenn ein neues Produkt entwickelt werden soll - wird es den Sicherheitsanforderungen genügen? Wie hält es die Firma mit der Wahrheit in der Werbung? Haben wir zu entscheiden, ob wir der Gesellschaft A oder der Gesellschaft B einen Kredit gewähren - welche der beiden ist freier von Rassendiskriminierung?«
Er beugte sich vor, um nacheinander jedem Direktoriumsmitglied an dem großen ovalen Tisch in die Augen zu sehen.
»Es stimmt, diese Fragen werden jetzt nicht immer gestellt, und wenn sie gestellt werden, wird nicht immer der Antwort entsprechend gehandelt. Aber Großbanken fangen an, und sie beweisen damit ihren guten Gemeinsinn, diese Fragen zu stellen
- ein Beispiel, das die FMA nachahmen sollte, wenn sie gut beraten ist. Denn genauso, wie es hohe Dividenden abwerfen kann, wenn ein Unternehmen die Führungsposition in seiner Branche innehat, genauso wird es sich für eine Großbank auszahlen, wenn sie sich wegweisend an die Spitze stellt.
Nicht weniger wichtig ist die Einsicht: Es ist besser, diese Dinge jetzt freiwillig zu tun, als sie sich später durch Gesetz und Vorschrift aufzwingen zu lassen.«
Alex machte eine Pause, entfernte sich einen Schritt vom Tisch, um gleich darauf herumzufahren und zu fragen: »Auf welchem anderen Gebiet sollte unsere Bank korporative Verantwortung übernehmen?
Ich bin mit Ben Rosselli der Meinung, daß wir an der Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Stadt und dieses Bundesstaates Anteil nehmen sollten. Ein unmittelbar wirksamer Beitrag ist die Finanzierung der Billigwohnungen, eine Verpflichtung, die dieses Direktorium schon in den ersten Stadien von Forum East übernommen hat. Ich bin sogar der Meinung, daß unser Beitrag im Laufe der Zeit vergrößert werden sollte.«
Er warf einen Blick zu Roscoe Heyward hinüber. »Natürlich weiß ich, daß Hypothekengeschäfte keine sonderlich hohen Erträge abwerfen. Doch es gibt Wege, auch dieses Engagement mit ausgezeichneten Profiten zu verknüpfen.«
Einer dieser Wege, erklärte er den lauschenden Direktoren, führe über eine entschlossene Expansion der Sparkontenabteilung der Bank.
»Traditionsgemäß werden die Mittel für Bau- und Wohnungsdarlehen aus den Spareinlagen genommen, weil Hypotheken langfristige Anlagen sind und Spareinlagen ihrem Wesen nach ebenfalls stabil und langfristig sind. Die Rentabilität werden wir durch schieres Volumen erzielen - das viel größer sein wird als unser jetziges Sparvolumen. Dergestalt werden wir ein dreifaches Ziel erreichen - Profit, finanzielle Stabilität und einen bedeutenden sozialen Beitrag.
Es sind noch nicht viele Jahre vergangen, seit große Geschäftsbanken wie wir selbst das Verbrauchergeschäft einschließlich kleiner Spareinlagen als unwichtig verschmähten. Und während wir schliefen, haben Spar- und Darlehenskassen mit klarem Blick die von uns ignorierte Chance genutzt und sind an uns vorbei nach vorn geprescht und unser Hauptkonkurrent geworden. Trotzdem liegen noch gigantische Möglichkeiten auf dem Gebiet der persönlichen Sparkonten. Ich rechne sogar damit, daß das Verbrauchergeschäft im Verlauf des nächsten Jahrzehnts die kommerziellen Einlagen übertreffen und damit zur gewaltigsten überhaupt bestehenden Geldmacht wird.«
Das Spargeschäft, führte Alex weiter aus, sei nur eins von mehreren Gebieten, auf denen die Interessen der FMA in geradezu dramatischer Weise ausgebaut werden könnten.
Unverändert lebhaft in Gestik und Bewegung, behandelte er andere Abteilungen der Bank und beschrieb Änderungen, die er für ratsam hielt. Das meiste davon hatte schon in einem Bericht gestanden, den Alex Vandervoort auf Bens Veranlassung wenige Wochen vor jenem Tag erarbeitet hatte, da der Bankpräsident von seinem bevorstehenden Tod sprach. Im Drang der Ereignisse war dieser Bericht, soweit es Alex bekannt war, ungelesen geblieben.
Eine der Empfehlungen betraf die Eröffnung von neun weiteren Filialen in Wohnvororten in allen Teilen des Bundesstaates. Eine andere riet zu einer drastischen Überprüfung der gesamten FMA-Organisation. Alex schlug vor, eine Spezial-Beratungsfirma mit der Ausarbeitung von Änderungsempfehlungen zu beauftragen, »da unsere Leistungsfähigkeit geringer ist, als sie sein könnte. Bei uns ist Sand im Getriebe«, wie er dem Direktorium erklärte.
Gegen Ende kehrte er zu seinem ursprünglichen Thema zurück. »Natürlich müssen wir weiterhin an unserer Beziehung zur Industrie festhalten. Industriekredite und das kommerzielle Geschäft werden Stützpfeiler unserer Arbeit bleiben. Nicht aber die einzigen Pfeiler. Auch sollten sie nicht die bei weitem mächtigsten sein. Und wir sollten unseren Blick nicht so ausschließlich an der Größe orientieren, daß die Bedeutung kleiner Konten, auch privater Sparkonten, uns weitgehend verschlossen bleibt.
Der Gründer unserer Bank hat sie geschaffen, um dem Kleinverdiener zu helfen, dem die Einrichtungen der Großbanken verschlossen waren. Es konnte nicht ausbleiben, daß sich Zweck und Arbeitsweise im Laufe eines Jahrhunderts erweitert haben, doch weder der Sohn noch der Enkel des Gründers haben jene Ursprünge aus den Augen verloren, und sie haben nie die Erkenntnis ignoriert, daß das Vielfache einer kleinen Menge die allergrößte Macht darstellen kann.
Ein massives und sofortiges Wachstum der kleinen Spareinlagen, das ich dem Direktorium nicht eindringlich genug als Zielvorstellung empfehlen kann, hieße, unseren Ursprüngen gerecht zu werden, unsere finanzielle Kraft auszubauen und -gemäß dem Klima unserer Zeit - das öffentliche Wohl zu fördern und damit auch unser eigenes Wohl.«
So wie es Heyward Beifall gespendet hatte, so applaudierte das Direktorium auch Alex, als er sich wieder setzte. Zu einem Teil war es nur Höflichkeitsapplaus, wie Alex wohl wußte; aber etwa die Hälfte der Direktoren schien mit mehr Enthusiasmus zu klatschen. Er hatte den Eindruck, daß er und Heyward noch immer gleich im Rennen lagen.
»Ich danke Ihnen, Alex.« Jerome Patterton warf einen Blick in die Runde. »Fragen, meine Herren?«
Eine weitere halbe Stunde verging mit Fragen und Antworten, dann verließen Roscoe Heyward und Alex Vandervoort gemeinsam das Sitzungszimmer. Sie kehrten beide in ihre Büros zurück, um die Entscheidung des Direktoriums abzuwarten.
Die Direktoren debattierten bis zum Mittag, ohne eine Einigung zu erzielen. Sie zogen sich dann in einen für andere Gäste gesperrten Raum des Kasinos zum Mittagessen zurück; sie setzten während des Essens die Diskussion fort. Der Ausgang des Treffens war noch immer offen, als ein Kasinokellner leise zu Jerome Patterton trat. Er trug ein silbernes Tablett. Auf dem Tablett lag ein gefaltetes Blatt Papier.
Der Stellvertretende Vorsitzende nahm das Papier entgegen, schlug es auf und las es. Nach einer Pause erhob er sich und wartete, bis die Gespräche am Tisch verstummten.
»Meine Herren.« Pattertons Stimme zitterte. »Von Trauer erfüllt, muß ich Ihnen mitteilen, daß unser geliebter Präsident, Ben Rosselli, vor wenigen Minuten verstorben ist.«.
Wenig später wurde die Direktoriumssitzung in gegenseitigem Einvernehmen und ohne weitere Diskussion geschlossen.
Die internationale Presse berichtete über den Tod Ben Rossellis, und einige Journalisten griffen nach dem naheliegenden Klischee und schrieben vom »Ende einer Ära«.
Ob richtig oder unrichtig, so signalisierte sein Ableben doch die Tatsache, daß die letzte amerikanische Großbank, die noch mit einem einzigen Unternehmer identifiziert war, sich jetzt den Organisationsformen der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts anglich und sich anschickte, von Komitees und angestelltem Management regiert zu werden. Die Entscheidung darüber, wer an der Spitze des angestellten Managements stehen würde, war bis nach der Beerdigung Rossellis vertagt worden. Das Direktorengremium der Bank wollte dann neu zusammentreten.
Das Begräbnis fand am Mittwoch der zweiten Dezemberwoche statt.
Begräbnis und vorangegangene Aufbahrung waren mit dem ganzen Pomp der katholischen Kirche vorgenommen worden, wie es einem Ritter vom Heiligen Stuhl und einem großzügigen Wohltäter der Kirche, wie Ben Rosselli es gewesen war, zustand.
Zwei Tage war er in der St. Matthews Cathedral aufgebahrt; Matthäus - vormals Levi, der Steuereintreiber - gilt als Schutzheiliger der Bankiers. Rund zweitausend Menschen, unter ihnen ein Vertreter des Präsidenten, der Gouverneur des Bundesstaates, Gesandte, prominente Bürger der Stadt, Bankangestellte und viele einfache Leute, defilierten am offenen Sarg vorbei.
Am Morgen des Begräbnisses konzelebrierten - um auch das geringste Risiko auszuschließen - ein Erzbischof, ein Bischof und ein Monsignore eine Auferstehungsmesse. Ein großer Chor respondierte im Gebet mit überzeugender Stimmgewalt. In der Kathedrale, die bis auf den letzten Platz gefüllt war, hatte man in der Nähe des Altars Stühle für Verwandte und Freunde Rossellis reserviert. Unmittelbar hinter ihnen saßen Direktoren und leitende Angestellte der First Mercantile American Bank.
Roscoe Heyward, ganz in Schwarz, saß in der ersten Reihe der Leidtragenden der Bank. Begleitet wurde er von seiner Frau Beatrice, einer gebieterischen, starken Erscheinung, und seinem Sohn Elmer. Heyward, Mitglied der Episkopalkirche, hatte sich vorher über korrektes katholisches Verhalten informiert und beugte elegant das Knie, sowohl vor dem Platznehmen als auch später beim Hinausgehen - letzteres eine Übung, die viele Katholiken sich schenkten. Die Heywards kannten sich auch im Respondieren während der Messe aus, so daß ihre Stimmen fest und klar diejenigen ihrer uninformierten Nachbarn übertönten.
Alex Vandervoort, der Anthrazit trug und zwei Reihen hinter den Heywards saß, gehörte zu denjenigen, die nicht respondierten. Als Agnostiker fühlte er sich in dieser Umgebung deplaciert. Er fragte sich, was wohl Ben, seiner ganzen Anlage nach ein eher schlichter Mensch, von der prunkvollen Zeremonie gehalten hätte.
Neben Alex saß Margot Bracken, die sich voller Neugier umschaute. Ursprünglich hatte Margot zusammen mit einer Gruppe aus Forum East an der Beerdigung teilnehmen wollen, aber sie war die Nacht in Alex' Wohnung geblieben, und er hatte sie überredet, ihn heute zu begleiten. Die Delegation aus Forum East - stattlich an Zahl - befand sich irgendwo hinter ihnen in der Kirche.
Neben Margot saßen Edwina und Lewis D'Orsey, dieser wie üblich hager und verhungert aussehend und unverhohlen gelangweilt. Wahrscheinlich entwarf er im Geiste schon die nächste Ausgabe seines Informationsbriefes für Investoren, mußte Alex unwillkürlich denken. Die D'Orseys waren mit Margot und Alex in einem Wagen gekommen - die vier waren oft zusammen, nicht nur wegen der Verwandtschaft der beiden Frauen, sondern weil sie sich aufrichtig schätzten. Nach dem feierlichen Hochamt wollten sie auch gemeinsam zu dem Gottesdienst am Grabe gehen.
In der Reihe vor Alex saßen Jerome Patterton, der Stellvertretende Vorsitzende, und seine Frau.
Obwohl die Liturgie ihm innerlich fremd war, spürte Alex, daß ihm die Tränen in die Augen traten, als der Sarg an ihm vorüberkam und aus der Kirche hinausgetragen wurde. Das, was er für Ben empfand, kam, wie er in den letzten Tagen begriffen hatte, dem Gefühl der Liebe sehr nahe. In mancher Hinsicht war der alte Mann für ihn eine Vatergestalt gewesen; sein Tod hinterließ in seinem Leben eine Lücke, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte.
Margot nahm sanft seine Hand.
Als die Trauergemeinde die Kirche zu verlassen begann, sah er, wie Roscoe und Beatrice Heyward zu ihnen herüberschauten. Alex nickte, und der Gruß wurde erwidert. Heywards Miene entspannte sich im Zeichen der Trauer, die sie beide empfanden; in der Erkenntnis ihrer eigenen wie der Sterblichkeit Bens war ihre Fehde für diesen kurzen Augenblick vergessen.
Draußen, vor der Kathedrale, war der normale Alltagsverkehr umgeleitet. Der Sarg befand sich schon in dem blumenüberladenen Leichenwagen. Die Verwandten und die leitenden Angestellten der Bank stiegen jetzt in die Limousinen, die von Polizisten eingewiesen wurden. An der Spitze des sich formierenden Trauerzuges befand sich eine Motorrad-Eskorte der Polizei, deren Motoren geräuschvoll warmliefen.
Der Tag war grau und kalt, und plötzliche Windstöße wirbelten den Staub der Straße auf. Hoch reckten sich die Türme der Kathedrale empor, deren ganze gewaltige Fassade vom Ruß und Schmutz der Jahre geschwärzt war. Es war Schnee vorausgesagt worden, aber noch war keine Flocke gefallen.
Während Alex seinem Fahrer ein Zeichen gab, lugte Lewis D'Orsey über die Halbmondgläser seiner Brille in die Kameras von Fernsehen und Presse, die auf die herauskommenden Trauergäste gerichtet waren. »Wenn ich dies als bedrückend empfinde, was der Fall ist, so werden sich die Berichte darüber morgen auf die FMA-Aktien noch drückender auswirken«, bemerkte er düster.
Alex murmelte etwas widerstrebend Zustimmendes. Ebenso wie Lewis wußte er nur zu gut, daß die an der New Yorker Börse notierten Aktien der First Mercantile American seit der Nachricht von Bens Krankheit um fünfeinhalb Punkte gefallen waren. Der Tod des letzten Rosselli - Träger eines Namens, der seit Generationen synonym war mit der Bank - hatte, im Verein mit der Ungewißheit über den Kurs des künftigen Managements, das letzte Absacken der Kurse bewirkt. So unlogisch es auch war, konnte die Berichterstattung über das Begräbnis die Aktien noch weiter rutschen lassen.
»Unsere Aktien werden sich wieder erholen«, sagte Alex. »Die Ertragslage ist gut, und es hat sich im Grunde gar nichts geändert.«
»Das weiß ich«, stimmte Lewis zu. »Deshalb werde ich morgen nachmittag verkaufen.«
Edwina sah schockiert aus. »Was? Du stößt FMA ab?«
»Aber gewiß. Habe auch ein paar Kunden geraten, das gleiche zu tun. Im Moment ist da ein hübscher Profit rauszuholen.«
Aufgebracht sagte sie: »Du weißt ganz genau, daß ich nie mit dir über etwas Vertrauliches spreche, Lewis. Die andern aber wissen das nicht. Wenn du jetzt verkaufst, kann es heißen, du hättest irgendwelche Informationen von mir bekommen.«
Alex schüttelte den Kopf. »In diesem Falle nicht, Edwina. Bens Krankheit war ja allgemein bekannt.«
»Wenn wir später das kapitalistische System überwunden haben«, prophezeite Margot, »dann werden BaisseSpekulationen an der Börse als erstes verschwinden.«
Lewis hob die Augenbrauen in die Höhe. »Warum?«
»Weil sie total negativ sind. Sie sind eine zerstörerische Spekulation, die darauf basiert, daß ein anderer Verluste erleidet. Es ist reine Leichenfledderei und das genaue Gegenteil eines konstruktiven Beitrags. Solche Verkäufe schaffen nichts, sie zerstören«
»Sie schaffen einen blitzblanken Kapitalgewinn.« Lewis grinste breit; er hatte sich mit Margot schon oft und gern gestritten. »Und den heimst man heute nicht mehr so leicht ein, am wenigsten mit amerikanischen Papieren.«
»Trotzdem will es mir nicht gefallen, daß du es ausgerechnet mit FMA-Aktien machst«, sagte Edwina. »Dafür steht mir die Sache doch zu nahe.«
Lewis D'Orsey sah seine Frau mit großem Ernst an. »Wenn dem so ist, meine Liebe, dann werde ich nach meinen Verkäufen von morgen keine FMA-Aktien mehr anrühren.«
Margot warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Du weißt doch, daß er es ernst meint«, sagte Alex.
Alex dachte manchmal darüber nach, wie Edwina und ihr Mann wohl miteinander standen. Rein äußerlich schienen sie schlecht zueinander zu passen - Edwina, elegant, attraktiv und selbstbewußt; Lewis, hager, unansehnlich, introvertiert gegenüber allen, die er nicht sehr gut kannte, wenn auch niemand diese persönliche Zurückhaltung unter dem Löwengebrüll seines Finanz-Informationsbriefes vermutete. Aber ihre Ehe schien gut zu funktionieren, und jeder respektierte den anderen und empfand deutliche Zuneigung zu ihm, wie es sich eben wieder bei Lewis gezeigt hatte. Vielleicht, dachte Alex, ziehen Gegensätze sich nicht nur an; sie bleiben wohl auch miteinander verheiratet.
Alex' Cadillac aus dem Fuhrpark der Bank reihte sich in die lange Wagenschlange vor der Kathedrale ein, und die vier gingen dem Wagen entgegen.
»Es wäre schon ein zivilisierteres Versprechen gewesen«, bemerkte Margot, »wenn Lewis sich bereit erklärt hätte, nun überhaupt nicht mehr auf Baisse zu spekulieren.«
»Alex«, sagte Lewis, »zum Teufel noch mal, was finden Sie eigentlich an dieser roten Zicke?«
»Wir sind fabelhaft im Bett«, sagte Margot zu ihm. »Reicht das nicht?«
»Und ich würde sie gern bald heiraten«, setzte Alex hinzu.
Edwina sagte mit Wärme in der Stimme: »Dann hoffe ich, daß ihr es bald tut.« Seit ihrer Kindheit war sie eng mit Margot befreundet, trotz gelegentlicher Differenzen in Temperament und Einstellung. Gemeinsam war ihnen, daß es in beider Familien immer Frauen gegeben hatte, die starke Persönlichkeiten waren und traditionell Aufgaben im öffentlichen Leben übernommen hatten. Edwina fragte Alex leise: »Irgend etwas Neues über Celia?«
Er schüttelte den Kopf. »Es hat sich nichts geändert. Es ist eher noch schlimmer geworden mit ihr.«
Sie waren jetzt bei dem Wagen angelangt. Alex bedeutete dem Chauffeur, er solle am Steuer sitzen bleiben, dann öffnete er die hintere Tür für die anderen und folgte ihnen in den Wagen. Drinnen war die Glasscheibe geschlossen, die den Fahrer von den Mitfahrern trennte. Sie setzten sich zurecht, während der sich noch immer formierende Trauerzug schrittweise vorrückte.
Für Alex hatte die Erwähnung Celias die Traurigkeit des Augenblicks noch vertieft; außerdem empfand er sie schuldbewußt als Mahnung, daß er sie bald wieder besuchen sollte. Seit dem deprimierenden Gespräch im Pflegeheim Anfang Oktober war er noch einmal dort gewesen, aber Celia hatte sich noch weiter in sich selbst zurückgezogen; sie hatte nicht durch das leiseste Zeichen zu erkennen gegeben, daß sie ihn wahrnahm, und hatte die ganze Zeit lautlos vor sich hin geweint. Noch Tage später war er niedergeschlagen, und es graute ihm vor einer Wiederholung dieses Erlebnisses.
Ihm kam der Gedanke, daß Ben Rosselli da vorn in seinem Sarg besser daran war als Celia, denn sein Leben hatte ein schlüssiges Ende gefunden. Wenn Celia doch sterben würde... Voller Scham erstickte Alex den Gedanken in sich.
Auch zwischen ihm und Margot hatte sich nichts Neues ereignet. Sie blieb eisern gegen eine Scheidung eingestellt, jedenfalls so lange, bis eindeutig feststand, daß Celia nicht mehr davon berührt werden würde. Margot schien bereit, ihr Arrangement unbegrenzt fortzusetzen. Alex hatte sich noch nicht damit abgefunden.
Zu Edwina gewandt sagte Lewis: »Ich wollte dich schon längst fragen, was aus eurem jungen Assistenten geworden ist. Du weißt doch, der bei euch in die Kasse gelangt hat. Wie hieß er doch noch?«
»Miles Eastin«, antwortete Edwina. »Er muß nächste Woche vor Gericht erscheinen, und ich soll als Zeugin aussagen. Schön ist das nicht.«
»Wenigstens hat's den Richtigen erwischt«, sagte Alex. Er hatte den Bericht des Chefrevisors über die Unterschlagung und den Bargeldverlust gelesen; auch den Bericht von Nolan Wainwright kannte er. »Was ist eigentlich aus der Kassiererin geworden - Mrs. Nunez? Ist mit ihr alles in Ordnung?«
»Es scheint so. Ich fürchte, wir haben ihr ganz schön zugesetzt, und zu Unrecht, wie sich gezeigt hat.«
Margot, die nur halb zugehört hatte, merkte auf. »Ich kenne eine Juanita Nunez. Nette junge Frau, wohnt in Forum East. Ich glaube, ihr Mann hat sie sitzenlassen. Sie hat ein Kind.«
»Das scheint unsere Mrs. Nunez zu sein«, sagte Edwina. »Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie wohnt in Forum East.«
Obwohl Margots Neugier erwacht war, spürte sie, daß jetzt nicht der rechte Augenblick für weitere Fragen war.
Während sie schweigend dasaßen, hing Edwina ihren Gedanken nach. Die beiden Ereignisse der letzten Zeit - Ben Rossellis Tod und Miles Eastins törichte Zerstörung seines eigenen Lebens - waren zu dicht aufeinander gefolgt. Betroffen waren in beiden Fällen Menschen, die sie gern mochte, und es erfüllte sie mit Trauer.
Bens Tod, meinte sie, sollte sie wohl näher berühren; ihm verdankte sie viel. Ihren raschen Aufstieg in der Bank verdankte sie zwar ihrer eigenen Tüchtigkeit, aber Ben hatte nie - wie viele andere Arbeitgeber - gezögert, einer Frau die gleichen Chancen einzuräumen wie einem Mann. Heutzutage war Edwina das ewige Geschrei der Women's Lib zuwider. Ihrer Meinung nach wurden Frauen im Geschäftsleben wegen ihres Geschlechts bevorzugt, was ihnen im Konkurrenzkampf Vorteile verlieh, die Edwina weder gesucht noch gebraucht hatte. Aber dennoch war Ben in all den Jahren, die sie ihn gekannt hatte, die lebende Garantie für gleichberechtigte Behandlung.
Ebenso wie Alex waren auch Edwina in der Kathedrale die Tränen in die Augen gestiegen, als Bens sterbliche Reste auf ihrem letzten Weg vorübergetragen wurden.
Ihre Gedanken schweiften zu Miles zurück. Er war wohl noch jung genug, dachte sie, um sich ein neues Leben aufzubauen, aber leicht würde das nicht sein. Keine Bank würde ihn je anstellen; und nie würde ihm jemand wieder eine Vertrauensstelle geben. Trotz seiner Tat hoffte sie, daß man ihn nicht ins Gefängnis stecken würde.
Laut sagte Edwina: »Ich fühle mich immer irgendwie schuldbewußt, wenn ich bei einer Beerdigung von anderen Dingen rede.«
»Völlig unnötig«, sagte Lewis. »Ich jedenfalls wünsche mir, daß bei meiner Beerdigung einmal etwas Vernünftiges geredet
wird und nicht nur dummes Geschwätz.«
»Dafür kannst du ja selber rechtzeitig sorgen«, schlug Margot vor, »indem du eine Abschiedsnummer von The D'Orsey Newsletter herausgibst. Die Leichenträger könnten die Briefe an die Trauergäste verteilen.«
Lewis strahlte. »Vielleicht tue ich das.«
Der Trauerzug begann sich jetzt zielbewußter zu bewegen. Die Motorradeskorte an der Spitze hatte ihre Motoren auf Touren gebracht und fuhr an; zwei Beamte schossen voraus, um den Verkehr an Kreuzungen anzuhalten. Die anderen Fahrzeuge gewannen an Tempo, und Augenblicke später ließ der Zug die Kathedrale hinter sich und rollte durch die Straßen der Stadt.
Der angekündigte Schnee setzte jetzt leicht ein.
»Mir gefällt Margots Idee«, sann Lewis. »Ein >Bon Voyage Bulletin« Und eine Schlagzeile habe ich auch schon. >Beerdigt den US-Dollar zusammen mit mir! Es ist auch höchste Zeit - er ist tot und erledigt« In dem Artikel, der dann folgt, werde ich für die Schaffung einer neuen Währungseinheit plädieren, die den Dollar ersetzt - den >US-D'Orsey<. Der basiert natürlich auf Gold. Und wenn er erst einmal eingeführt ist, wird der Rest der Welt hoffentlich Vernunft annehmen und es ebenso machen.«
»Dann wirst du zum Denkmal für den Rückschritt werden«, sagte Margot, »und auf allen Abbildungen darfst du nur mit rückwärts gewandtem Blick gezeigt werden. Beim Goldstandard würde eine noch kleinere Clique als jetzt den Hauptteil des Reichtums der Welt unter sich aufteilen, und die ganze übrige Menschheit säße mit nackten Ärschen da.«
Lewis zog eine Grimasse. »Gräßliche Aussichten - jedenfalls letztere. Aber für ein stabiles Geldsystem wäre vielleicht selbst dieser Preis nicht zu hoch.«
»Und warum das?«
»Weil immer dann, wenn Währungssysteme zusammenbrechen, wie es im Augenblick geschieht«, erklärte Lewis, »es stets die Armen sind, die am meisten darunter zu leiden haben.«
Alex, der auf einem Klappsitz vor den anderen drei saß, drehte sich halb um, um an der Unterhaltung teilzunehmen. »Lewis, ich versuche objektiv zu sein, und manchmal ist Ihre Schwarzseherei, was den Dollar und das Geldsystem betrifft, tatsächlich angebracht. Aber Ihren totalen Pessimismus kann ich nicht teilen. Der Dollar wird sich eines Tages wieder erholen. Ich kann nicht glauben, daß alles Monetäre einfach auseinanderfällt.«
»Das kommt, weil Sie es nicht glauben wollen«, erwiderte Lewis. »Sie sind ein Banker. Bricht das Geldsystem zusammen, sind Sie mitsamt Ihrer Bank aus dem Geschäft. Sie könnten das wertlose Papiergeld dann nur noch als Tapetenersatz oder als Toilettenpapier verkaufen.«
Margot sagte: »Ach, nun mach aber mal Schluß!«
Edwina seufzte. »Du weißt doch, daß es immer passiert, wenn du ihn provozierst, warum tust du's also?«
»Das stimmt nicht!« sagte ihr Mann eigensinnig. »Bei allem Respekt, meine Liebe, möchte ich darauf bestehen, ernstgenommen zu werden. Ich brauche keine Toleranz, und ich will auch keine.«
»Was willst du dann?« erkundigte sich Margot.
»Ich will, daß man der Wahrheit ins Auge sieht und anerkennt, daß Amerika sein eigenes Geldsystem und das der ganzen Welt durch Politik, Gier und Verschuldung ruiniert hat. Ich will die klare Erkenntnis, daß Nationen ebenso Bankrott machen können wie einzelne Menschen und Gesellschaften. Ich will die Einsicht, daß die Vereinigten Staaten kurz vor dem Bankrott stehen, weil es - weiß Gott! - genügend Beispiele in der Geschichte gibt, die uns zeigen, wie und warum so etwas passiert. Seht euch doch nur New York an! Die Stadt ist bereits bankrott, erledigt, wird nur noch mühsam zusammengehalten, und hinter den Kulissen lauert die Anarchie. Und das ist nur der Anfang. Was heute in New York passiert, wird sich schon bald im ganzen Land ausbreiten.
Der Zusammenbruch von Währungen«, fuhr Lewis fort, »ist nichts Neues. In unserem eigenen Jahrhundert wimmelt es von Beispielen, und in jedem einzelnen Fall kann man es auf ein und dieselbe Ursache zurückführen - auf eine Regierung, die mit der Syphilis der Inflation angefangen hat, indem sie per Dekret Geld druckt, das weder durch Gold noch irgendeinen anderen Wert gedeckt ist. Und genau das haben die Vereinigten Staaten in den letzten fünfzehn Jahren getan.«
»Es sind mehr Dollars im Umlauf, als eigentlich sein dürften«, gab Alex zu. »Daran ist leider nicht zu zweifeln.«
Lewis nickte ingrimmig. »Und wir haben mehr Schulden, als jemals zurückgezahlt werden können; Schulden, die sich ausweiten wie ein ungeheurer Luftballon. Die amerikanischen Regierungen haben wie wild die Milliarden ausgegeben, sie haben wie verrückt geborgt, sie haben einen unvorstellbaren Schuldenberg aufgehäuft, und dann haben sie die Druckerpressen angeworfen und mehr Geld und immer mehr Inflation produziert. Und die Menschen, jeder einzelne, sind diesem Beispiel gefolgt.« Lewis zeigte in Richtung des Leichenwagens, der ihnen jetzt voranfuhr. »Banker wie Ben Rosselli haben nach Kräften mitgeholfen und neue, verrückte Schulden auf schon vorhandene Schulden getürmt. Und auch Sie, Alex, mit Ihren inflationären Kreditkarten und Ihren leicht gewährten Darlehen. Wann werden die Leute endlich wieder lernen, daß man nicht mühelos und ungestraft auf Pump lebt? Ich sage euch, als Volk und als Individuen haben die Amerikaner verloren, was sie früher einmal besaßen - nämlich die finanzielle Einsicht.«
»Falls du dich fragst, Margot«, sagte Edwina, »Lewis und ich spreche n sonst nicht oft über das Bankgeschäft. Es ist friedlicher so zu Hause.«
Margot lächelte. »Lewis, du hörst dich genauso an wie dein Informationsbrief.«
»Oder«, sagte er, »wie ein Flügelschlag in einem leeren Raum, den kein Mensch hört.«
Edwina sagte unvermittelt: »Es wird ein weißes Begräbnis.« Sie beugte sich vor und betrachtete durch die beschlagenen Fenster des Wagens den Schnee, der jetzt in schweren, dicken Flocken fiel. Die Vorstadtstraßen, die sie nun erreicht hatten, waren glatt und rutschig von dem frisch gefallenen Schnee, und der Trauerzug kam nur noch langsam voran, da die Motorradeskorte an der Spitze aus Sicherheitsgründen das Tempo verringerte.
Alex sah, daß es jetzt nicht einmal mehr einen Kilometer bis zum Friedhof war.
Lewis D'Orsey fügte noch ein Postskriptum an. »Für die meisten Menschen ist deshalb alle Hoffnung dahin, das Spiel mit dem Geld ist aus. Ersparnisse, Renten und festverzinsliche Papiere werden wertlos; die Uhr ist fünf nach Mitternacht. Jetzt heißt es, rette sich, wer kann, es geht ums Überleben, es wird Zeit, sich um die finanziellen Schwimmwesten zu balgen. Und es gibt tatsächlich Möglichkeiten, vom allgemeinen Unglück zu profitieren. Falls du interessiert bist, Margot, du findest die genaue Beschreibung in meinem neuesten Buch, >Depressionen und Katastrophen, und wie man mit ihnen Geld macht«. Es verkauft sich übrigens sehr gut.«
»Wenn's dir nichts ausmacht, passe ich«, sagte Margot. »Ich käme mir dabei vor wie jemand, der während einer BeulenpestEpidemie die Weltvorräte an Impfstoff aufkauft.« Alex hatte den anderen den Rücken zugewandt und starrte durch die Windschutzscheibe nach vorn. Manchmal, dachte er, wurde Lewis theatralisch und ging dann zu weit. Meistens allerdings basierte das, was er sagte, auf einem soliden Fundament von Vernunft und logischem Denken. Das war auch heute wieder der Fall. Und Lewis konnte durchaus recht haben mit seiner Prophezeiung, daß ein finanzieller Zusammenbruch bevorstand. Kam es dazu, dann mußte es der katastrophalste der Geschichte werden.
Und Lewis D'Orsey stand nicht etwa allein da. Es gab etliche Finanzpropheten, die seine Meinung teilten, wenn sie auch wenig populär waren und oft verspottet wurden, zum Teil wohl deshalb, weil kein Mensch gern an die Apokalypse glaubt -schon gar nicht die Banker.
Aber es fügte sich so, daß Alex neuerdings in zweifacher Hinsicht ähnlich dachte wie Lewis. Einmal war er überzeugt davon, daß Sparsamkeit und maßvolles Wirtschaften dringend nötig seien - aus diesem Grunde hatte Alex vor einer Woche in seiner Rede vor dem Direktorium die Bedeutung von Spareinlagen so stark herausgestrichen. Zum anderen empfand er Unbehagen angesichts der Aufblähung der individuellen Schuldenlast infolge der sich rasch vermehrenden Kreditnahme, insbesondere und vor allem auf dem Wege über jene kleinen Karten aus Plastik.
Er drehte sich wieder um und sah Lewis ins Gesicht. »Nehmen wir einmal an, Sie seien ein kleiner Sparer, der sein bißchen Geld in US-Dollar angelegt hat, und nehmen wir weiter an, Sie glauben fest an den bevorstehenden Zusammenbruch. Bei was für einer Bank hätten Sie dann Ihr Geld am liebsten?«
Ohne zu zögern, sagte Lewis: »Bei einer großen. Kommt der Krach, dann brechen die kleinen Banken zuerst zusammen. So war es in den zwanziger Jahren, als die Kleinbanken wie die Kegel purzelten, und so wird es wieder sein, denn die kleinen Banken haben nicht genug Bargeld, um eine Panik und einen Run auf die Schalter überleben zu können. Übrigens können Sie die Bundes-Einlagenversicherung ruhig vergessen. Das Geld macht weniger als ein Prozent aller Bankeinlagen aus, nicht annähernd genug, um eine Kettenreaktion von Bankkrächen im ganzen Land abzufangen.«
Lewis dachte einen Augenblick lang nach und fuhr dann fort: »Aber nächstes Mal werden nicht nur die kleinen Banken kaputtgehen. Es wird auch ein paar von den großen treffen - und zwar diejenigen, die zu viele Millionen in großen Industriekrediten stecken haben; die einen zu hohen Prozentsatz an internationalen Einlagen haben - heißes Geld, das über Nacht verschwinden kann; die nicht liquide genug sind, wenn verängstigte Sparer Bargeld sehen wollen. Wäre ich also der Sparer, von dem Sie reden, Alex, dann würde ich die Bilanzen der Großbanken studieren und mir eine aussuchen, bei der das Verhältnis Kredite zu Einlagen niedrig ist und die über eine breite Basis an einheimischen Sparern verfügt.«
»Na, das ist ja fein«, sagte Edwina. »Es fügt sich so, daß FMA alle diese Voraussetzungen erfüllt.«
Alex nickte. »Im Augenblick.« Aber dieses Bild könnte sich ändern, dachte er, wenn das Direktorium Roscoe Heywards Plänen für neue und massive Industriekredite zustimmte.
Dieser Gedanke erinnerte ihn daran, daß sich die Direktoren der Bank in zwei Tagen versammeln würden, um ihre vor einer Woche unterbrochene Sitzung wiederaufzunehmen.
Jetzt verlangsamte der Wagen seine Fahrt, stoppte, fuhr wieder ein kleines Stück und hielt dann erneut. Sie hatten den Friedhof erreicht.
Türen der anderen Wagen öffneten sich, Menschen stiegen aus. Sie trugen Schirme oder hielten Mantelkragen vorn zusammen, vorgebeugt gegen Kälte und dicht fallenden Schnee. Der Sarg wurde vom Leichenwagen gehoben. Bald war auch er von Schnee bedeckt.
Margot nahm Alex' Arm und schloß sich mit den D'Orseys der stillen Prozession an, die Ben Rosselli zu seinem Grabe folgte.
Einer vorherigen Absprache gemäß, nahmen Roscoe Heyward und Alex Vandervoort an der wiederaufgenommenen Sitzung des Direktoriums nicht teil. Jeder wartete in seinem Büro darauf, daß man ihn rief.
Der Ruf kam kurz vor Mittag, zwei Stunden, nachdem das Direktorium die Diskussion eröffnet hatte. Ebenfalls gerufen wurde der Vizepräsident für die Öffentlichkeitsarbeit der Bank, Dick French, der eine Presseerklärung über den neuen FMA-Präsidenten herauszugeben haben würde.
Der Public-Relations-Chef hatte schon zwei Presseerklärungen, komplett mit Porträtfotos, vorbereiten lassen.
Die Schlagzeilen der beiden Erklärungen lauteten:
ROSCOE D. HEYWARD
NEUER PRÄSIDENT DER FIRST
MERCANTILE AMERICAN BANK
ALEXANDER VANDERVOORT
NEUER PRÄSIDENT DER FIRST MERCANTILE
AMERICAN BANK
Die Briefumschläge waren fertig adressiert. Die Boten standen bereit. Vorrangexemplare der einen oder der anderen Erklärung sollten noch an diesem Nachmittag den Nachrichtenagenturen, den Wirtschaftsredaktionen der Zeitungen sowie den Fernseh- und Rundfunkstationen zugestellt werden. Mehrere hundert andere Exemplare würden mit der Abendpost per Eilboten hinausgehen.
Heyward und Alex trafen gleichzeitig im Sitzungszimmer ein.
Sie glitten auf ihre angestammten Plätze.
Der PR-Chef stand abwartend hinter dem Vorsitzenden Jerome Patterton.
The Hon. Harold Austin, der diesem Gremium am längsten angehörte, gab die Entscheidung des Direktoriums bekannt, Jerome Patterton, erklärte er, bislang Stellvertretender Vorsitzender des Direktoriums, werde mit sofortiger Wirkung die Präsidentschaft der First Mercantile American Bank übernehmen.
Während diese Erklärung abgegeben wurde, schien der soeben Ernannte selbst wie betäubt zu sein.
Der PR-Chef formte mit den Lippen unhörbar die Worte: »Oh, Scheiße!«
Später an diesem Tag führte Jerome Patterton getrennte Gespräche mit Heyward und Vandervoort.
»Ich bin ein Interimspapst«, sagte er zu beiden. »Ich habe mich, wie Sie wissen, nicht um diesen Posten bemüht. Sie wissen ferner - ebenso wie die Direktoren -, daß mich nur noch dreizehn Monate von der Pensionierung trennen.
Aber das Direktorium konnte sich nicht auf einen von Ihnen einigen; durch meine Ernennung gewinnt es die Zeit, um sich endgültig zu entscheiden.
Was dann geschieht, weiß ich ebensowenig wie Sie. Inzwischen aber will ich mein Bestes geben, und dazu brauche ich Ihre Hilfe. Ich weiß, daß ich sie von Ihnen bekommen werde, da es ja auch zu Ihrem eigenen Vorteil ist.
Davon abgesehen, kann ich nur eins versprechen, und das ist ein interessantes Jahr.«
Schon vor Beginn der Ausschachtungsarbeiten hatte sich Margot Bracken aktiv bei Forum East engagiert. Zu Anfang als Rechtsberaterin einer Bürgergruppe, die darum kämpfte, das Projekt aus der Taufe zu heben, und später übernahm sie die gleiche Funktion für einen Mieterverband. Darüber hinaus erteilte sie Familien im Entwicklungsgebiet Rechtsauskünfte -für geringes oder gar kein Entgelt. Margot ging oft nach Forum East, und dabei lernte sie viele der in diesem Viertel lebenden Menschen kennen; unter anderen Juanita Nünez.
Drei Tage nach Ben Rossellis Beerdigung - an einem Samstagmorgen - traf Margot die junge Frau in einem Feinkostgeschäft, das sich in einer der Ladenstraßen von Forum East befand.
Der Komplex Forum East war als homogene Wohngemeinschaft mit Billigmieten geplant - attraktiven Apartments, Einzelhäusern und renovierten Altbauten. Es gab Sportanlagen, ein Kino, einen Konzert-, Vortrags- und Theatersaal sowie Ladengeschäfte und Cafés. Die bisher fertiggestellten neuen Gebäude waren durch baumbestandene Alleen und Fußgängerbrücken verbunden - man hatte viele Ideen vom Golden Gateway in San Francisco entlehnt und vom Barbican-Projekt in London. Andere Abschnitte des Projekts waren im Bau, wieder andere befanden sich noch im Planungsstadium und warteten auf die Finanzierung.
»Hallo, Mrs. Nünez«, sagte Margot. »Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir?«
Auf einer Terrasse neben dem Feinkostgeschäft tranken sie ihren Espresso und plauderten - über Juanita, ihre Tochter Estela, die an diesem Vormittag an dem von der Gemeinschaft eingerichteten Ballettunterricht teilnahm, und über die Fortschritte in Forum East. Juanita und Carlos, ihr Mann, hatten zu den ersten Mietern des Entwicklungsprojekts gehört. Sie hatten eine winzige Wohnung in einem der renovierten Altbauten bezogen; aber kurz danach war Carlos mit unbekanntem Ziel verschwunden. Bisher war es Juanita gelungen, die Wohnung zu halten.
Aber es war nicht leicht, gestand sie. »Jeder hier hat die gleichen Sorgen. Von Monat zu Monat verliert unser Geld an Kaufkraft. Diese Inflation! Wie soll das enden?«
Wenn Lewis D'Orsey recht behielt, dachte Margot, dann würde es in Katastrophe und Anarchie enden. Sie behielt den Gedanken für sich, aber ihr fiel die Unterhaltung wieder ein, die vor drei Tagen zwischen Lewis, Edwina und Alex stattgefunden hatte.
»Ich hab' von den Schwierigkeiten gehört«, sagte sie, »die Sie kürzlich in Ihrer Bank gehabt haben.«
Juanitas Miene verdüsterte sich. Einen Augenblick lang schien sie den Tränen nahe zu sein, und Margot sagte eilig: »Es tut mir leid. Ich hätte den Mund halten sollen.«
»Nein, nein! Mir ist nur plötzlich wieder eingefallen... Ach was, es ist ja jetzt vorbei. Aber wenn Sie wollen, erzähle ich es Ihnen.«
»Eines sollten Sie über uns Rechtsanwälte wissen - wir sind immer neugierig«, bemerkte Margot.
Juanita lächelte, dann wurde sie ernst, als sie von den verschwundenen sechstausend Dollar in bar berichtete und von dem achtundvierzigstündigen Alptraum des Verdachts und der Vernehmungen. Beim Zuhören kam Margot der Zorn hoch, der bei ihr nie tief unter der Oberfläche wartete.
»Die Bank hatte kein Recht, Sie immer weiter unter Druck zu setzen, ohne daß Sie einen Anwalt zur Seite hatten. Warum haben Sie mich nicht gerufen?«
»Daran hab' ich überhaupt nicht gedacht«, gestand Juanita.
»Das ist es ja gerade. Unschuldige denken meistens gar nicht an so was.« Margot überlegte einen Augenblick, dann fügte sie hinzu: »Edwina D'Orsey ist meine Kusine. Ich werde mal mit ihr darüber sprechen.«
Juanita sah sie erschrocken an. »Das wußte ich nicht. Bitte tun Sie's nicht! Schließlich war es ja Mrs. D'Orsey selbst, die der Wahrheit auf die Spur gekommen ist.«
»Na schön«, sagte Margot, »wenn es Ihnen lieber ist, halte ich den Mund. Aber ich werde mit jemand anderem reden, den Sie nicht kennen. Und merken Sie sich eins: Wenn Sie mal wieder in Schwierigkeiten geraten, ganz gleich, wie und wodurch, dann rufen Sie mich. Ich werde Ihnen helfen.«
»Danke«, sagte Juanita. »Das will ich tun, wenn es dazu kommen sollte. Bestimmt.«
»Wenn Juanita Nunez tatsächlich entlassen worden wäre«, sagte Margot am Abend jenes Tages zu Alex Vandervoort, »dann hätte ich ihr geraten, euch zu verklagen, und wir hätten kassiert - und das nicht schlecht.«
»Das mag schon sein«, gab Alex zu. Sie waren auf dem Weg zu einer Party, und er steuerte Margots Volkswagen. »Vor allem dann, wenn die Wahrheit über unseren Langfinger herausgekommen wäre - und sie wäre todsicher herausgekommen. Zum Glück hat Edwinas fraulicher Instinkt funktioniert - und uns vor deinem gerettet.«
»Das ist kein bißchen komisch!«
Er schlug einen anderen Ton an. »Du hast recht, es ist wirklich nicht komisch. Wir haben uns der jungen Frau gegenüber schäbig benommen, das wissen alle Beteiligten. Ich, weil ich sämtliche Akten über den Fall gelesen habe; Edwina weiß es, und auch Nolan Wainwright weiß es. Zum Glück ist die Sache ja am Ende noch gutgegangen. Mrs. Nunez hat ihren Job behalten, und unsere Bank hat einiges dazugelernt. Es wird in Zukunft so leicht nicht wieder passieren.«
»Das hört sich schon besser an«, sagte Margot.
Damit beendeten sie das Thema, was angesichts ihrer Vorliebe für Streitgespräche eine nicht unbeträchtliche Leistung war.
In der Woche vor Weihnachten erschien Miles Eastin vor dem zuständigen Bundesgericht unter der Anklage der Unterschlagung in fünf Fällen. Vier Anklagepunkte bezogen sich auf betrügerische Transaktionen in der Bank zur eigenen Bereicherung in Höhe einer Gesamtsumme von dreizehntausend Dollar. Der fünfte Anklagepunkt bezog sich auf den Diebstahl von sechstausend Dollar Bargeld.
Den Vorsitz führte Richter Winslow Underwood; zwölf Geschworene verfolgten das Verfahren und sollten am Ende ihren Spruch über Schuld oder Unschuld fällen.
Auf den Rat des Verteidigers, eines eifrigen, aber wenig erfahrenen jungen Mannes, den das Gericht zum Pflichtverteidiger bestellt hatte, da Eastin über keine persönlichen Mittel verfügte, bekannte sich der Angeklagte als »nicht schuldig« in allen Punkten der Anklage. Wie sich dann herausstellte, war es ein schlechter Rat. Ein Anwalt von größerer Erfahrung hätte in Anbetracht des vorliegenden Beweismaterials dringend empfohlen, sich schuldig zu bekennen und so vielleicht zu einem das ganze Verfahren überflüssig machenden Arrangement mit der Anklagevertretung zu gelangen, anstatt gewisse Einzelheiten - in erster Linie Eastins Versuch, Juanita Nünez fälschlich zu belasten - vor Gericht und Geschworenen zur Sprache kommen zu lassen.
So aber kam alles ans Licht.
Edwina D'Orsey machte ihre Aussage, ebenso Tottenhoe, Gayne von der Revisionszentrale und ein anderer Revisor. FBI-Spezialagent Innes legte als Beweismittel das von Miles Eastin unterzeichnete schriftliche Geständnis des Diebstahls vor; das Dokument war im städtischen FBI-Hauptquartier aufgesetzt worden, nachdem Nolan Wainwright in Eastins Wohnung das vorläufige Schuldgeständnis aufgenommen hatte.
Zwei Wochen vor Prozeßbeginn hatte der Anwalt des Angeklagten während eines Untersuchungstermins gegen das FBI-Dokument protestiert und beantragt, es nicht als Beweismaterial zuzulassen. Der Antrag war abgelehnt worden. Richter Underwood wies darauf hin, daß Eastin in Gegenwart von Zeugen auf seine gesetzlichen Rechte hingewiesen worden war, bevor er dieses schriftliche Geständnis ablegte.
Das frühere Geständnis, das Nolan Wainwright ihm in seiner Wohnung abgerungen hatte und dessen Rechtmäßigkeit wirksamer hätte angefochten werden können, wurde nicht mehr benötigt und war deshalb gar nicht erst als Beweis eingebracht worden.
Der Anblick Miles Eastins vor Gericht war für Edwina sehr deprimierend. Er sah blaß und eingefallen aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Von seiner gewohnten guten Laune war nichts übriggeblieben, und er, der sonst immer äußerst gepflegt gewesen war, erschien mit unordentlichen Haaren und einem zerknitterten Anzug vor Gericht. Er schien gealtert seit der Nacht der Revision.
Edwinas eigene Aussage war kurz. Sie bezog sich auf den Ablauf der Ereignisse, und sie sprach ohne Umschweife. Während sie vom Anwalt der Verteidigung in ein sanftes Kreuzverhör genommen wurde, sah sie mehrfach zu Miles Eastin hinüber, aber er hielt den Kopf gesenkt und vermied es, ihrem Blick zu begegnen.
Juanita Nunez war ebenfalls als Zeugin der Anklage aufgerufen worden, obwohl es ihr sehr zuwider war. Sie war nervös und machte ihre Aussage mit so leiser Stimme, daß der Richter sie zweimal ermahnen mußte, lauter zu sprechen, aber in aller Freundlichkeit, da mittlerweile bekanntgeworden war, was sie schuldlos hatte mitmachen müssen.
Juanitas Aussage verriet weder Haß noch Feindseligkeit gegen Eastin. Sie antwortete in ganz kurzen Sätzen, so daß der Staatsanwalt sie immer wieder bitten mußte, sich ausführlicher zu äußern. Sie war sichtlich nur von dem einen Wunsch erfüllt, den Saal möglichst bald wieder verlassen zu dürfen.
Der Anwalt der Verteidigung traf endlich eine kluge Entscheidung und verzichtete auf sein Recht, sie ins Kreuzverhör zu nehmen.
Unmittelbar nach Juanitas Aussage und nach einer im Flüsterton geführten kurzen Besprechung mit seinem Mandanten bat der Verteidiger um die Erlaubnis, sich mit dem Gericht beraten zu dürfen. Die Erlaubnis wurde erteilt. Staatsanwalt, Richter und Verteidiger hielten daraufhin mit leiser Stimme ein Kolloquium, in dessen Verlauf der Anwalt Miles Eastins Wunsch vortrug, seine ursprüngliche Erklärung, »nicht schuldig«, in ein »schuldig« umwandeln zu dürfen.
Richter Underwood, ein Patriarch mit ruhiger Stimme, aber einer gewissen inneren Härte, musterte den Verteidiger und dann den Staatsanwalt. Ebenso leise sprechend wie sie, so daß die Geschworenen seine Worte nicht verstehen konnten, sagte er: »Nun gut, das Gericht läßt die Änderung der Erklärung zu, wenn der Angeklagte es wünscht. Aber ich weise den Herrn Verteidiger darauf hin, daß es in diesem Stadium wenig oder gar nichts mehr bewirkt.«
Der Richter schickte die Geschworenen aus dem Saal und befragte Eastin, ob er sich tatsächlich jetzt als »schuldig« bekennen wolle und ihm die Folgen einer solchen Erklärung bekannt seien. Auf alle Fragen antwortete der Untersuchungsgefangene mit einem dumpfen: »Ja, Euer Ehren.«
Der Richter rief die Geschworenen wieder in den Saal zurück und teilte ihnen mit, daß sie entlassen seien.
Der Verteidiger beschwor das Gericht, Milde walten zu lassen, zumal sein Mandant nicht vorbestraft sei. Der Richter entschied, daß Miles Eastin bis zur Verkündung des Urteils in der nächsten Woche in Untersuchungshaft zu bleiben habe.
Nolan Wainwright war nicht als Zeuge vernommen worden, hatte aber das ganze Verfahren im Gerichtssaal verfolgt. Als der Gerichtsdiener jetzt den nächsten Fall aufrief und die kleine Gruppe der Bankangehörigen den Saal verließ, nahm der Sicherheitschef der Bank kurz neben Juanita Platz.
»Mrs. Nunez, darf ich Sie einen Augenblick sprechen?«
Sie sah ihn mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Abneigung an, dann schüttelte sie den Kopf. »Es ist alles vorbei. Außerdem muß ich jetzt wieder an meine Arbeit.«
Als sie draußen vor dem Bundesgerichtsgebäude waren, nur wenige Straßenblocks von der Zentrale der FMA und der Cityfiliale entfernt, blieb er hartnäckig an ihrer Seite. »Sie gehen zur Bank zurück? Jetzt?«
Sie nickte.
»Bitte. Ich möchte gern mit Ihnen gehen.«
Juanita zuckte die Achseln. »Wenn es sein muß.«
Wainwright sah, wie Edwina D'Orsey, Tottenhoe und die beiden Revisoren, ebenfalls auf ihrem Weg zur Bank, eine Kreuzung überquerten. Er ging absichtlich langsam, so daß die Fußgängerampel wieder auf Rot sprang und er und Mrs. Nunez zurückbleiben mußten.
»Mrs. Nunez«, begann Wainwright, »mir ist es noch nie besonders leicht gefallen, mich zu entschuldigen.«
Juanita sagte spitz: »Warum machen Sie sich dann die Mühe? Es sind ja nur Worte, die nicht viel bedeuten.«
»Weil ich es sagen will. Deshalb sage ich es - zu Ihnen. Es tut mir leid. Daß ich Ihnen solchen Kummer gemacht habe. Daß ich nicht geglaubt habe, daß Sie die Wahrheit sagten, obwohl es doch die Wahrheit war und Sie jemand brauchten, der Ihnen half.«
»So, fühlen Sie sich jetzt erleichtert? Sie haben Ihr Sprüchlein aufgesagt, und nun ist alles wieder gut?«
»Sie machen es einem nicht leicht.«
Sie blieb stehen. »Haben Sie es mir leichtgemacht?« Das kleine Gesicht schaute nach oben, ihre dunklen Augen hielten seinen Blick fest, und zum ersten Mal spürte er die Kraft und die Unabhängigkeit ihres Wesens. Zu seiner eigenen Überraschung wurde er sich auch ihrer starken körperlichen Anziehungskraft bewußt.
»Nein, das habe ich nicht, und deshalb möchte ich Ihnen jetzt gern helfen, wenn ich kann.«
»Wobei?«
»Dabei, daß Ihr Mann seinen Verpflichtungen nachkommt und Ihnen und dem Kind Unterhaltszahlungen leistet.« Er erzählte ihr von den Erkundigungen, die das FBI über ihren verschwundenen Mann eingezogen und daß man ihn schließlich in Phoenix, Arizona, aufgespürt hatte. »Er hat dort einen Job als Autoschlosser und verdient offenbar Geld.«
»Das freut mich für Carlos.«
»Ich dachte an folgendes«, sagte Wainwright. »Sie sollten einen der Anwälte unserer Bank konsultieren. Ich könnte das arrangieren. Er würde Sie beraten, welche gerichtlichen Schritte Sie gegen Ihren Mann einleiten können, und wenn alles geregelt ist, werde ich dafür sorgen, daß Ihnen keine Anwaltsgebühren berechnet werden.«
»Warum sollten Sie das wohl tun?«
»Wir schulden es Ihnen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Er fragte sich, ob sie ihn auch richtig verstanden habe.
»Es würde bedeuten«, erklärte Wainwright, »daß Ihr Mann eine gerichtliche Auflage erhält und daß er Ihnen Geld schicken muß als seinen Anteil an den Unterhaltskosten für Ihr kleines Mädchen.«
»Und wird das einen Mann aus Carlos machen?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Es spielt eine Rolle, ob er gezwungen wird oder nicht. Er weiß, daß ich hier bin und daß Estela bei mir ist. Wenn Carlos wollte, daß wir sein Geld bekommen, dann würde er es schicken. iSi no, para que?« fügte sie leise hinzu.
Das Ganze glich einem Schattenboxen. Ungeduldig und ein bißchen verärgert sagte er: »Ich werde Sie nie verstehen.«
Ganz unerwartet lächelte Juanita. »Das ist auch gar nicht nötig.«
Schweigend gingen sie den kurzen Rest des Weges bis zur Bank, und Wainwright versuchte, sein Gefühl der Hilflosigkeit zu überwinden. Hätte sie ihm doch für sein Angebot gedankt; das hätte wenigstens bedeutet, daß sie es ernst nahm. Er versuchte, sich ihre Logik und ihre Wertvorstellungen klarzumachen. Ganz offensichtlich maß sie der Unabhängigkeit einen hohen Wert bei. Und alles, was danach kam, dachte er, das nahm sie wohl so hin, Glück oder Unglück, aufkeimende Hoffnungen oder zerschlagene Sehnsüchte. In gewisser Weise beneidete er sie; aus diesem Grunde und auch wegen der sexuellen Anziehung, die ihm vorhin bewußt geworden war, wünschte er sich, mehr über sie zu wissen.
»Mrs. Nunez«, nahm Nolan Wainwright das Gespräch wieder auf, »ich möchte Sie um etwas bitten.«
»Ja?«
»Wenn Sie ein Problem haben, ein wirkliches Problem, eine Sache, in der ich Ihnen helfen könnte, würden Sie mich dann rufen?«
Es war das zweite derartige Angebot, das ihr in diesen Tagen gemacht worden war. »Vielleicht.«
Das blieb - bis sehr viel später - die letzte Unterhaltung zwischen Wainwright und Juanita. Er fand, er habe alles getan, was in seinen Kräften stand, und er hatte auch noch andere Dinge im Kopf. Da war zum Beispiel das Thema, das er vor zwei Monaten in seinem Gespräch mit Alex Vandervoort angeschnitten hatte - einen Agenten einzusetzen, der versuchen sollte, den Ursprung der gefälschten Kreditkarten aufzuspüren, die dem Keycharge-System noch immer schwere finanzielle Verluste einbrachten.
Wainwright hatte einen entlassenen Strafgefangenen aufgespürt, den er nur unter dem Namen »Vic« kannte und der bereit war, das beträchtliche Risiko für Geld auf sich zu nehmen. Unter umständlichen Sicherheitsmaßnahmen hatten sie sich heimlich getroffen; ein zweites Treffen war vorgesehen.
Wainwright hoffte inbrünstig, die Kreditkarten-Betrüger vor Gericht bringen zu können, so, wie er Miles Eastin vor Gericht gebracht hatte.
Als Eastin in der folgenden Woche wieder vor Richter Underwood erschien - dieses Mal zur Urteilsverkündung -, war Nolan Wainwright der einzige Vertreter der First Mercantile American Bank im Gerichtssaal.
Stehend, den Blick auf die Richterbank gewandt, wartete der Untersuchungsgefangene. Der Richter suchte in aller Ruhe seine Papiere zusammen, dann breitete er sie vor sich aus und betrachtete Eastin mit kaltem Blick.
»Haben Sie noch etwas zu sagen?«
»Nein, Euer Ehren.« Eastins Stimme war kaum zu vernehmen.
»Mir liegt ein Bericht des zuständigen Bewährungshelfers vor« - Richter Underwood machte eine Pause und überflog eines der Papiere, das er vorhin herausgesucht hatte -, »den Sie anscheinend davon überzeugt haben, daß Sie die kriminellen Handlungen, zu denen Sie sich bekannt haben, ehrlich bereuen« Der Richter betonte die letzten Worte, als halte er sie angewidert zwischen Daumen und Zeigefinger, und er ließ keinen Zweifel daran, daß er selbst nicht naiv genug sei, um diese Meinung zu teilen.
Er fuhr fort: »Die Reue, sei sie nun aufrichtig oder nicht, kommt jedoch sehr spät; sie kann auch Ihren bösartigen, überaus verächtlichen Versuch nicht abmildern, die Schuld für Ihre eigene Missetat einer unschuldigen und arglosen Person aufzuladen, einer jungen Frau, für die Sie außerdem noch als gehobener Mitarbeiter der Bank verantwortlich waren und die Ihnen, als ihrem Vorgesetzten, Vertrauen schenkte.
Auf der Grundlage des vorgelegten Beweismaterials ist kein Zweifel möglich, daß Sie diese Absicht weiter verfolgt hätten, ja, daß Sie es sogar zugelassen hätten, daß Ihr unschuldiges Opfer an Ihrer Stelle angeklagt, schuldig gesprochen und verurteilt worden wäre. Glücklicherweise ist es dank der Wachsamkeit anderer nicht dazu gekommen. Aber Ihrer Einkehr oder Ihrer >Reue< verdanken wir das keineswegs.«
Von seinem Platz mitten im Gerichtssaal aus konnte Nolan Wainwright Eastins Gesicht, das dunkelrot angelaufen war, zu einem Teil sehen.
Richter Underwood blätterte erneut in seinen Papieren, dann sah er auf. Wieder durchbohrte er den Untersuchungsgefangenen mit seinen Blicken.
»Damit hätte ich mich zu dem Teil geäußert, den ich für den verächtlichsten Ihrer Handlungsweise halte. Es gibt dann noch die eigentliche Tat selbst - Ihr Vertrauensbruch als verantwortlicher Bankmann, nicht nur in einem Einzelfall, sondern in fünf, zeitlich weit auseinanderliegenden Fällen. Bei einem einzigen derartigen Fall hätte man vielleicht noch von einer unbedachten impulsiven Handlung sprechen können. Für fünf sorgfältig geplante und mit kriminellem Geschick ausgeführte Diebstähle kann diese Entschuldigung jedoch nicht geltend gemacht werden.
Eine Bank hat als kommerzielles Unternehmen das Recht, von Angestellten, die - wie es bei Ihnen der Fall war - für eine besondere Vertrauensstellung ausgewählt werden, absolute Redlichkeit zu erwarten. Aber eine Bank ist mehr als nur ein kommerzielles Unternehmen. Sie ist ein Institut des öffentlichen Vertrauens, und deshalb hat die Öffentlichkeit ein Recht darauf, vor denjenigen geschützt zu werden, die dieses Vertrauen mißbrauchen - vor Individuen also, wie Sie eines sind.«
Der Blick des Richters wanderte zu dem jungen Verteidiger hinüber, der pflichtgemäß neben seinem Mandanten ausharrte. Jetzt wurde der Ton des Richters schärfer und formeller.
»Wäre dies ein gewöhnlicher Fall, und auch angesichts der Tatsache, daß Sie nicht vorbestraft sind, hätte ich auf Bewährung erkannt, wofür Ihr Verteidiger in der vorigen Woche so beredt plädiert hat. Aber dies ist kein gewöhnlicher Fall. Es ist aus den von mir genannten Gründen ein exzeptioneller Fall. Deshalb, Eastin, werden Sie ins Gefängnis gehen, wo Sie Zeit haben werden, über Ihre eigene Handlungsweise nachzudenken, die Sie dorthin gebracht hat.
Das Urteil des Gerichts lautet, daß Sie dem Gewahrsam des Justizministers für eine Dauer von zwei Jahren überstellt werden.«
Auf ein Kopfnicken des Gerichtsbeamten hin trat ein Strafvollzugsbeamter vor.
Wenige Minuten nach dem Urteilsspruch fand in einem der kleinen, verschlossenen und bewachten Zimmer hinter dem Gerichtssaal, die für Gefangene und deren Anwälte bereitstanden, eine kurze Besprechung statt.
»Als Wichtigstes müssen Sie sich vor Augen halten«, sagte der junge Anwalt zu Miles Eastin, »daß eine Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis keine zweijährige Gefängnishaft bedeutet. Nach Verbüßung eines Drittels der Strafe kommen Sie für eine Begnadigung in Frage. Das heißt also, schon nach weniger als einem Dreivierteljahr.«
Miles Eastin, versunken in Elend und Unwirklichkeit, nickte stumpf.
»Sie können natürlich Berufung gegen das Urteil einlegen, und Sie brauchen sich jetzt noch nicht zu entscheiden. Aber offen gesagt, ich würde Ihnen nicht dazu raten. Einmal glaube ich nicht, daß man Sie bis zur Berufungsverhandlung auf freien Fuß setzen würde. Zweitens haben Sie sich schuldig bekannt, was die Möglichkeiten einengt, den Berufungsantrag zu begründen. Außerdem haben Sie Ihre Strafe wahrscheinlich schon verbüßt, ehe es zur Berufungsverhandlung kommt.«
»Nein, nein. Keine Berufung.«
»Ich bleibe in Kontakt mit Ihnen für den Fall, daß Sie es sich anders überlegen. Und weil wir gerade davon sprechen es tut mir leid, daß die Sache so gelaufen ist.«
Eastin sagte mit einem blassen Lächeln: »Mir auch.«
»Hereingerissen hat uns natürlich Ihr Geständnis. Ohne dieses Geständnis, meine ich, hätte die Staatsanwaltschaft Ihnen nichts beweisen können - jedenfalls nichts, was den Diebstahl der sechstausend Dollar angeht, und der ist beim Richter am schwersten ins Gewicht gefallen. Natürlich ist mir klar, warum Sie die zweite Erklärung unterschrieben haben die beim FBI; Sie glaubten, die erste sei gültig, deshalb würde es auf die zweite nun auch nicht mehr ankommen. Aber es ist auf dieses zweite Geständnis entscheidend angekommen. Ich glaube, der Sicherheitsboß, dieser Wainwright, hat Sie ganz schlicht reingelegt.«
Der Gefangene nickte. »Ja, jetzt weiß ich das auch.«
Der Anwalt warf einen Blick auf die Uhr. »Tja, ich muß jetzt gehen. Ich habe heute abend eine anstrengende Verabredung. Sie wissen ja, wie das ist.«
Ein Vollzugsbeamter ließ ihn hinaus.
Am nächsten Tag wurde Miles Eastin in das Bundesgefängnis eines anderen Bundesstaates verlegt.
Als die Nachricht von Miles Eastins Verurteilung in der First Mercantile American Bank eintraf, empfanden einige, die ihn gekannt hatten, Bedauern; andere waren der Auffassung, daß er nur bekommen habe, was er verdient hatte. Einhelligkeit herrschte darüber: Nie wieder würde man in der Bank etwas von Eastin zu hören bekommen.
Die Zeit sollte zeigen, wie irrig diese letzte Annahme war.