ZWEITER TEIL

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Wie eine Luftblase, die an die Oberfläche steigt, machte sich Mitte Januar die erste Andeutung nahenden Unheils bemerkbar. In der Sonntagsausgabe einer Zeitung war folgende Notiz erschienen:

...In der Stadt wird gemunkelt, daß Forum East bald ganz erheblich gedrosselt werden soll. Es heißt, dieses gigantische Sanierungsprojekt habe Sorgen mit der Bankseite. Nun ja, wer hat die heute nicht?...

Alex Vandervoort erfuhr von dieser Notiz erst am Montag vormittag; seine Sekretärin hatte die Notiz rot umrandet und ihm die Zeitung zusammen mit anderen Papieren auf den Schreibtisch gelegt.

Am Montag nachmittag rief Edwina D'Orsey an und fragte Alex, ob er schon von dem Gerücht gehört habe und ob er wisse, was oder wer dahinterstecken könnte. Daß Edwina sich dafür interessierte, war nicht verwunderlich. Ihre Filiale war von Anfang an für die gesamten Baudarlehen, einen großen Teil der Hypotheken und den damit verbundenen Schriftverkehr verantwortlich gewesen. Mittlerweile beanspruchte das Projekt Forum East einen erheblichen Teil des Gesamtarbeitsvolumens ihrer Filiale.

»Wenn da etwas in der Luft liegt«, sagte Edwina energisch, »dann möchte ich informiert werden.«

»Soviel ich weiß«, sagte Alex beruhigend, »hat sich nichts verändert.«

Sekunden später hatte er schon begonnen, Jerome Pattertons Nummer zu wählen, doch dann legte er den Hörer wieder auf. Falschinformationen über Forum East waren nichts Neues. Das Projekt hatte starke Beachtung in der Öffentlichkeit gefunden; unweigerlich mußte manches, was darüber geschrieben wurde, falsch oder bösartig sein.

Es hatte keinen Zweck, fand Alex, den neuen Bankpräsidenten mit Bagatellen zu belästigen, vor allem, da er Patterton für eine sehr bedeutende Angelegenheit gewinnen wollte - eine erhebliche Ausweitung der FMA-Sparabteilung, die jetzt geplant wurde und dem Direktorium bald zur Prüfung vorgetragen werden sollte.

Doch der längere Artikel, der einige Tage später erschien, und dieses Mal in den normalen Nachrichtenspalten der Tageszeitung »Times-Register«, war schon etwas besorgniserregender, fand Alex.

Der Text lautete:

Die Sorge über die Zukunft von Forum East hält an; Gerüchte verstärken sich, daß die Finanzierung in Kürze drastisch eingeschränkt oder ganz zurückgezogen wird. Das Projekt Forum East, dessen langfristiges Ziel die Sanierung des gesamten Stadtkerns, der Geschäfts-ebenso wie der Wohnviertel, ist, wird von einem Konsortium finanziert, an dessen Spitze die First Mercantile American Bank steht.

Ein Sprecher der First Mercantile American gab heute zu, Kenntnis von den Gerüchten zu haben, lehnte aber jede Stellungnahme ab. Er sagte lediglich: »Zu angemessener Zeit werden wir eine Erklärung abgeben.« Als Teil des geplanten Forum East-Projekts sind einige Wohngebiete im Stadtkern bereits modernisiert oder neu erbaut worden. Ein Hochhaus-Komplex mit Billigwohnungen ist fertiggestellt, ein zweiter befindet sich im Bau.

Der auf zehn Jahre projizierte Generalplan sieht Programme für Ausbau und Verbesserung der Schulen, Unterstützung für Geschäfte und Unternehmen im Besitz von Minderheiten, berufliche Fortbildungsstätten, ein Programm für die Arbeitsplatzbeschaffung sowie die Errichtung von Kultur- und Freizeitstätten vor. Sämtliche Großbauarbeiten, die vor zweieinhalb Jahren begonnen wurden, sind bisher pünktlich nach Terminplan ausgeführt worden.

Alex las die Meldung beim Frühstück in seinem Apartment. Er war allein; Margot war seit einer Woche in Rechtsangelegenheiten verreist.

In der Zentrale eingetroffen, bat er sofort Dick French zu sich. French, Vizepräsident für Public Relations, verstand als ehemaliger Wirtschafts-Ressortchef einer Tageszeitung eine Menge von seinem Job; der stämmige, untersetzte Mann nahm nie gern ein Blatt vor den Mund.

»Erstens«, sagte Alex, »wer war dieser Sprecher der Bank?«

»Das war ich«, sagte French. »Und ich will Ihnen gleich von vornherein sigen, daß mir diese >Erklärung zu angemessener Zeit< verdammt gegen den Strich gegangen ist. Aber Mr. Patterton hat diese Formulierung wörtlich verlangt. Ich durfte auch kein Wort mehr dazu sagen.«

»Was gibt's denn noch mehr zu sagen?«

»Das würde ich gern von Ihnen wissen, Alex. Offensichtlich ist da was im Busch, und ganz gleich, ob's gut oder schlecht ist, würde ich dringend empfehlen, die Katze aus dem Sack zu lassen, je früher, desto besser.«

Alex unterdrückte seinen aufsteigenden Zorn. »Und warum bin ich in der ganzen Angelegenheit überhaupt nicht gefragt worden?«

Der PR-Chef schien überrascht zu sein. »Ja, wußten Sie denn nichts davon? Als ich gestern mit Mr. Patterton telephonierte, warRoscoe bei ihm; ich konnte seine Stimme hören. Ich dachte, Sie wären auch dabei.«

»Nächstes Mal«, sagte Alex, »denken Sie lieber gar nichts.«

Er entließ French und wies seine Sekretärin an nachzufragen, ob Jerome Patterton Zeit für ihn habe. Er erfuhr, daß der Präsident noch nicht in der Bank eingetroffen, aber auf dem Wege dorthin sei, und Alex könne ihn um 11.00 Uhr sprechen. Er grunzte ungeduldig und machte sich wieder an die Arbeit mit seinem Spar-Expansionsprogramm.

Um 11.00 Uhr ging Alex die paar Schritte zur Präsidentensuite - zwei Eckräume, und jeder mit einem Blick über die Stadt. Seit der neue Präsident sein Amt übernommen hatte, blieb die Tür zum zweiten Raum gewöhnlich geschlossen, und Besucher wurden nicht hineingebeten. Über die Sekretärinnen war nach außen gedrungen, daß Patterton in diesem Raum Golfschläge zu üben pflegte.

An diesem Tag strahlte heller Sonnenschein von einem wolkenlosen Himmel durch die wandbreiten Fenster auf Jerome Pattertons rosigen, nahezu haarlosen Kopf. Er saß am Schreibtisch, ausnahmsweise in einem leicht gemusterten Anzug statt in dem gewohnten Tweed. Eine vor ihm liegende Zeitung war so gefaltet, daß der Artikel sichtbar wurde, der Alex hergeführt hatte.

Auf einem Sofa, im Schatten, saß Roscoe Heyward.

Die drei begrüßten sich.

»Ich habe Roscoe gebeten, noch zu bleiben, weil ich ahne, was Sie zu mir führt.« Patterton legte eine Hand auf die Zeitung. »Sie haben das da natürlich gelesen.«

»Das habe ich«, sagte Alex. »Ich habe mir auch schon Dick French kommen lassen. Er sagte, daß Sie und Roscoe gestern über die Presse-Anfragen gesprochen haben. Meine erste Frage lautet deshalb, warum bin ich nicht informiert worden? Ich habe mit Forum East mehr zu tun als jeder andere.«

»Sie hätten informiert werden sollen, Alex.« Jerome Patterton schien die Sache peinlich zu sein. »Es war wohl so, glaube ich, daß wir ein bißchen nervös geworden sind, als wir aus den Anfragen der Presse schließen mußten, daß etwas durchgesickert ist.«

»Durchgesickert - worüber?«

Jetzt antwortete Heyward. »Es gibt einen Vorschlag, den ich dem finanzpolitischen Ausschuß am Montag vortragen werde -daß wir unsere Beteiligung an der Forum East-Finanzierung um annähernd fünfzig Prozent kürzen sollten.«

Eingedenk der Gerüchte, die in den letzten Tagen umgegangen waren, konnte ihn die Bestätigung eigentlich nicht mehr überraschen. Erstaunt war Alex nur über das Ausmaß der vorgeschlagenen Kürzung.

Er wandte sich an Patterton. »Jerome, verstehe ich recht, daß Sie diesen unglaublich törichten Vorschlag unterstützen?«

Röte breitete sich über das Gesicht des Präsidenten und seinen eiförmigen Schädel aus. »Bisher habe ich mich weder positiv noch negativ geäußert. Ich behalte mir meine Entscheidung bis Montag vor. Roscoe hat hier - gestern und heute - nichts anderes getan, als im voraus um Stimmen zu werben.«

»Stimmt«, sagte Roscoe Heyward und fügte ungerührt hinzu: »Eine durchaus legitime Taktik, Alex. Falls Sie was dagegen einzuwenden haben, darf ich Sie daran erinnern, daß Sie sehr oft mit Ihren eigenen Ideen zu Ben gezogen sind, bevor wir eine finanzpolitische Sitzung abhielten.«

»Mag sein«, sagte Alex, »aber dann waren meine Ideen auch verdammt viel vernünftiger als diese.«

»Das ist Ihre Privatmeinung.«

»Nicht ganz. Sie wird auch von anderen geteilt.«

Heyward blieb ganz unbewegt. »Meiner Meinung nach können wir die Gelder der Bank sehr viel besser nutzen.« Er wandte sich Patterton zu. »Was ich noch sagen wollte, Jerome, die Gerüchte, die da jetzt im Umlauf sind, könnten uns sogar nützlich sein, wenn der Vorschlag für eine Verringerung gebilligt wird. Dann kommt die Entscheidung doch wenigstens nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«

»Wenn Sie es so sehen«, sagte Alex, »dann haben Sie die Sache vielleicht selbst nach außen durchsickern lassen.«

»Ich versichere Ihnen, daß das nicht der Fall ist.«

»Wie erklären Sie es sich dann?«

Heyward zuckte die Achseln. »Reiner Zufall, vielleicht.«

Konnte das wirklich Zufall sein, überlegte Alex, oder hatte jemand aus Roscoe Heywards Umgebung einen Versuchsballon an seine, Alex', Adresse losgelassen? Harold Austin, der als Inhaber einer Werbeagentur schließlich die besten Verbindungen zur Presse hatte, wäre das durchaus zuzutrauen. Aber die Wahrheit würde man wohl nie erfahren.

Jerome Patterton hob die Hände. »Heben Sie doch beide Ihre Argumente bitte bis Montag auf. Wir werden sie dann Stück für Stück besprechen.«

»Wir wollen uns doch nichts vormachen«, sagte Alex Vandervoort mit Nachdruck. »Was heute zur Entscheidung ansteht, ist die Frage, wieviel Profit vernünftig, wieviel Profit exzessiv ist.«

Roscoe Heyward lächelte. »Offen gesagt, Alex, ich habe noch keinen Profit je für exzessiv gehalten.«

»Ich auch nicht«, warf Tom Straughan ein. »Ich gebe aber zu, daß es zu Schwierigkeiten Anlaß geben kann, wenn man einen exzeptionell hohen Gewinn einstreicht. So etwas gibt den Leuten Grund zur Kritik. Am Ende des Finanzjahres müssen wir es schließlich veröffentlichen.«

»Was ein weiterer Grund für uns sein sollte«, sagte Alex, »ein Gleichgewicht zwischen Gewinnsucht und Bereitschaft zum Dienst an der Allgemeinheit anzustreben.«

»Gewinn erzielen heißt, unseren Aktionären einen Dienst erweisen«, sagte Heyward. »Das ist der Dienst, dem ich den Vorrang gebe.«

Der finanzpolitische Ausschuß der Bank tagte in einem Direktions-Konferenzzimmer. Der aus vier Personen bestehende Ausschuß versammelte sich jeden zweiten Montag unter Roscoe Heywards Vorsitz. Die anderen Mitglieder waren Alex und zwei leitende Vizepräsidenten - Straughan und Orville Young.

Aufgabe des Ausschusses war es zu entscheiden, wie die Geldmittel der Bank genutzt werden sollten. Größere Entscheidungen wurden dem Direktorium zur Genehmigung vorgelegt, das sich allerdings meistens den Empfehlungen des Ausschusses anschloß.

Einzelbeträge, die hier zur Diskussion standen, waren selten geringer als zweistellige Millionensummen.

Der Präsident der Bank nahm kraft seines Amtes an den wichtigeren Sitzungen des Ausschusses teil, gab seine Stimme jedoch nur ab, wenn es andernfalls zu einem Unentschieden kommen würde. Jerome Patterton war auch an diesem Tag anwesend, hatte bisher aber noch nichts zur Diskussion beigetragen.

Zur Debatte stand jetzt Roscoe Heywards Vorschlag, die Finanzierung des Projekts Forum East drastisch einzuschränken.

Sollte das Projekt programmgemäß weitergeführt werden, dann bedurfte es innerhalb der nächsten Monate neuer Baukredite und neuer Hypothekendarlehen. Für die First Mercantile American wurde mit einem Finanzierungsanteil von fünfzig Millionen Dollar gerechnet. Heyward hatte eine Reduzierung dieses Betrages um die Hälfte vorgeschlagen.

Er hatte schon erklärt: »Wir werden allen Beteiligten gegenüber klarstellen, daß wir uns keinesfalls, weder jetzt noch in Zukunft, aus Forum East zurückzuziehen beabsichtigen. Wir werden unseren Schritt ganz einfach damit begründen, daß wir die Vergabe unserer Mittel im Lichte anderer Verpflichtungen neu orientiert haben. Das Projekt wird damit nicht zum Stillstand kommen. Es wird lediglich langsamer voranschreiten, als ursprünglich geplant war.«

»Wenn Sie es einmal an dem vorhandenen Bedarf messen«, hatte Alex eingewandt, »dann kommt es schon jetzt viel zu langsam voran. Es noch weiter zu bremsen, wäre in jeder Beziehung das Schlimmste, was wir tun könnten.«

»Ich messe es am vorhandenen Bedarf«, sagte Heyward. »Am Bedarf unserer Bank.«

Eine für Roscoe ungewöhnlich schnippische Entgegnung, dachte Alex; wahrscheinlich fühlte er sich seiner Sache diesmal absolut sicher. Alex vertraute darauf, daß Tom Straughan sich mit ihm gegen Heyward verbünden würde. Straughan war der Chef-Volkswirtschaftler der Bank - jung und eifrig, dabei vielseitig interessiert und aufgeschlossen. Alex selbst hatte ihn über andere Köpfe hinweg befördert.

Orville Young jedoch, der Finanzchef der First Mercantile American, war Heywards Mann und würde ihm zweifellos auch seine Stimme geben.

Wie in jeder anderen Großbank waren auch in der FMA die wahren Machtbefugnisse nicht immer an den OrganisationsDiagrammen abzulesen. Die wirkliche Autorität verlief manchmal seitlich oder auf Umwegen, je nach den derzeitigen Loyalitätsverhältnissen, so daß diejenigen, die sich an Machtkämpfen nicht beteiligen mochten, links liegengelassen wurden.

Der Machtkampf zwischen Alex Vandervoort und Roscoe Heyward war längst überall bekannt. Etliche FMA-Manager hatten auch schon ganz klar Partei ergriffen, ihre eigenen Hoffnungen auf den Sieg des einen oder anderen der beiden Gegner gesetzt. Diese Spaltung wurde auch an der Frontenbildung innerhalb des finanzpolitischen Ausschusses sichtbar.

Alex argumentierte: »Unser Gewinn betrug im letzten Jahr dreizehn Prozent. Das ist verdammt gut für ein Unternehmen, wie wir alle wissen. Dieses Jahr sind die Aussichten noch besser - ein Investitionsertrag von fünfzehn, vielleicht sogar sechzehn Prozent. Sollen wir den Ertrag immer weiter in die Höhe zu schrauben versuchen?«

»Warum nicht«, warf Finanzchef Orville Young ein.

»Die Frage habe ich schon beantwortet«, schoß Straughan zurück. »Weil es kurzsichtig wäre.«

»Wir müssen uns eines immer wieder klar vor Augen führen«, sagte Alex beschwörend. »Im Bankgeschäft ist es nicht schwer, große Profite zu erzielen, und eine Bank, die das nicht schafft, wird von Einfaltspinseln geleitet. Momentan sind Banken in vielerlei Hinsicht begünstigt. Wir haben eine Fülle von Möglichkeiten, wir haben Erfahrung, und wir stützen uns auf recht vernünftige Bankgesetze. Letzteres ist wahrscheinlich das wichtigste von allem. Aber die Gesetze werden nicht immer so bleiben - jedenfalls nicht, wenn wir die Situation weiterhin mißbrauchen und unsere Pflichten gegenüber der Gemeinschaft vernachlässigen.«

»Ich kann nicht einsehen, was es mit Vernachlässigung zu tun haben soll, wenn wir uns weiter an Forum East beteiligen«, bemerkte Roscoe Heyward. »Selbst nach der von mir vorgeschlagenen Reduzierung werden wir das Projekt noch immer mit einer ganz beträchtlichen Summe unterstützen.«

»Beträchtlich nennen Sie das? Daß ich nicht lache! Es wäre minimal, so minimal, wie der soziale Beitrag amerikanischer Banken schon immer gewesen ist. Allein auf dem Gebiet der Finanzierung von Billigwohnungen hat diese Bank, wie alle anderen auch, verflucht wenig getan. Machen wir uns doch nichts vor, meine Herren! Seit Generationen haben die Banken öffentliche Probleme einfach ignoriert. Auch heute versuchen wir doch immer noch, mit dem absoluten Minimum davonzukommen.«

Der Chef-Volkswirtschaftler Straughan wühlte in seinen Papieren und zog einige handschriftliche Notizen zu Rate. »Ich wollte das Thema Hypotheken sowieso anschneiden, Roscoe. Jetzt hat Alex es schon getan, aber ich möchte noch darauf hinweisen, daß zur Zeit nur fünfundzwanzig Prozent unserer Spareinlagen für Hypotheken verwendet werden. Das ist wenig. Wir könnten den Satz glatt auf fünfzig Prozent der Einlagen heraufsetzen, ohne unsere Liquidität zu gefährden. Ich finde, wir sollten das auch tun.«

»Ich schließe mich dem an«, sagte Alex. »Unsere Filialleiter beschwören uns, mehr Hypotheken zu geben. Der Investitionsertrag ist gut. Wir wissen aus Erfahrung, daß es bei Hypotheken praktisch kein Risiko gibt.«

»Aber wir legen unser Geld dadurch langfristig fest, Geld, mit dem wir auf andere Weise wesentlich höhere Erträge erzielen können«, wandte Orville Young ein.

Alex hieb ungeduldig mit der flachen Hand auf den Konferenztisch. »Es gibt gelegentlich so etwas wie eine Verpflichtung der Öffentlichkeit gegenüber, sich mit einem geringeren Ertrag zufriedenzugeben. Das ist es ja gerade, was ich hier deutlich zu machen versuche. Deshalb protestiere ich ja dagegen, daß wir uns um Forum East herumdrücken.«

»Es gibt noch einen weiteren Grund«, sagte Tom Straughan. »Alex hat ihn schon kurz erwähnt - die Gesetzgebung. Im Kongreß rumort es bereits. Es gibt nicht wenige Senatoren und Abgeordnete, die sich ein ähnliches Gesetz wie das mexikanische wünschen - jenes Gesetz, das den Banken vorschreibt, einen festen Prozentsatz der Bankeinlagen für die Finanzierung von Billigwohnungen zu verwenden.«

Heyward schnaubte verächtlich. »Das würden wir nie und nimmer zulassen. Die Banklobby ist die stärkste in Washington.«

Der Volkswirtschaftler schüttelte den Kopf. »Darauf würde ich mich nicht unbedingt verlassen.«

»Tom«, sagte Roscoe Heyward, »ich gebe Ihnen ein Versprechen. Heute in einem Jahr reden wir noch einmal über das Thema; vielleicht tun wir dann, was Sie empfehlen; vielleicht drehen wir Forum East wieder auf. Nicht aber in diesem Jahr. Ich möchte in diesem Jahr Rekordgewinne erzielen.« Er warf dem Bankpräsidenten, der sich noch immer nicht an der Diskussion beteiligt hatte, einen Blick zu. »Jerome möchte das auch.«

Jetzt erst ging Alex auf, welche Strategie Heyward da verfolgte. Ein außergewöhnlich fettes Gewinnjahr würde Jerome Patterton als Präsidenten zum Helden der Aktionäre und Direktoren machen. Am Ende einer recht mäßigen Karriere hatte Patterton nur dies eine Jahr, in dem er regieren konnte: danach aber würde er, umgeben von Trompetenschall und einer Gloriole des Ruhms, in die Pensionierung gehen. Und Patterton war kein Übermensch. Begreiflich, daß ihm der Gedanke zusagte.

Ähnlich leicht zu erraten war das, was danach folgen würde. Jerome Patterton, von Dankbarkeit gegenüber Roscoe Heyward erfüllt, würde Heyward als seinen Nachfolger propagieren. Und mit einem profitablen Jahr im Hintergrund würde Pattertons Wort Gewicht haben.

Es war ein gut ausgedachter Plan, dem Alex nur schwer etwas entgegenzusetzen haben würde.

»Etwas habe ich noch nicht erwähnt«, sagte Heyward. »Nicht einmal Ihnen gegenüber, Jerome. Es könnte von Bedeutung sein für die Entscheidung, die wir heute zu treffen haben.«

Die anderen sahen ihn mit neu erwachtem Interesse an.

»Ich hoffe, ja, die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß wir in Kürze substantiell mit Supranational Corporation ins Geschäft kommen. Das ist ein weiterer Grund, warum ich zögere, Gelder anderswo festzulegen.«

»Das ist ja eine phantastische Nachricht«, sagte Orville Young.

Selbst Tom Straughan reagierte überrascht und beifällig.

Die Supranational - oder SuNatCo, wie die weltweit bekannte Kurzform lautete - war ein multinationaler Riese, ein General Motors der globalen Kommunikation. Außerdem besaß oder kontrollierte SuNatCo Dutzende anderer Gesellschaften, die etwas mit ihrer ursprünglichen Aufgabe zu tun haben mochten oder auch nicht; ihr vielfältiger Einfluß auf Regierungen aller Schattierungen, von Demokratien bis hin zu Diktaturen, war angeblich größer als der irgendeines anderen Unternehmens in der Geschichte. Gelegentlich wurde behauptet, daß die SuNatCo mehr reale Macht besäße als die meisten souveränen Staaten, in denen sie operierte.

Bis jetzt hatte die SuNatCo sich in ihren amerikanischen Bankgeschäften auf die großen Drei beschränkt - die Bank of America, die First National City und die Chase Manhattan. Sich diesem exklusiven Trio zugesellen zu dürfen, das würde den Status der First Mercantile American unermeßlich steigern.

»Das sind aufregende Aussichten, Roscoe«, sagte Patterton.

»Weitere Einzelheiten hoffe ich auf unserer nächsten finanzpolitischen Sitzung bekanntgeben zu können«, fügte Heyward hinzu. »Allem Anschein nach wünscht die Supranational, daß wir eine bedeutende Kreditlinie eröffnen.«

Tom Straughan erinnerte sie: »Wir brauchen noch eine Abstimmung über Forum East.«

»Richtig«, bestätigte Heyward. Er lächelte zuversichtlich. Nach dieser Eröffnung bestand für ihn kein Zweifel mehr, wie die Forum East-Entscheidung ausfallen würde.

Erwartungsgemäß sprachen sich Alex Vandervoort und Tom Straughan gegen die Verringerung der Mittel aus, Roscoe Heyward und Orville Young dafür.

Alle Köpfe wandten sich Jerome Patterton zu, dessen Votum den Ausschlag geben mußte.

Der Bankpräsident zögerte nur ganz kurz, dann sagte er: »Alex, in dieser Sache gehe ich mit Roscoe.«

2

»Hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen, nützt überhaupt nichts«, erklärte Margot. »Wir müssen uns von unseren versammelten Hintern erheben und zur Tat schreiten.«

»Zum Beispiel die gottverdammte Bank in die Luft sprengen?« fragte einer.

»Nix da! Ich habe Freunde in dem Bau. Außerdem ist das Sprengen von Banken absolut ungesetzlich.«

»Wer sagt denn, daß wir nichts Ungesetzliches tun dürfen?«

»Ich zum Beispiel«, erklärte Margot mit Schärfe. »Und wenn irgendein neunmalkluger Kläffer hier was anderes meint, dann kann er sich einen anderen Sprecher suchen und eine andere Bude.«

Margot Brackens Anwaltskanzlei war an diesem Donnerstagabend der Schauplatz einer Sitzung des Exekutivausschusses des Mieterverbandes von Forum East. Der Verband war einer von vielen Gruppen der Innenstadt, denen Margot als Rechtsberaterin zur Seite stand und die ihre Kanzlei als Versammlungslokal benutzten, wofür sie manchmal Geld bekam, meistens aber nicht.

Glücklicherweise war ihre Kanzlei bescheiden - zwei Räume, die einmal einen Kramladen beherbergt hatten. Ein paar übernommene alte Regale waren jetzt mit ihren juristischen Büchern gefüllt. Im übrigen bestand das Mobiliar, das nicht recht zueinander paßte, aus allerlei Gerümpel, das sie irgendwo billig erstanden hatte.

Es war typisch für die Gegend, daß zwei andere ehemalige Läden zu beiden Seiten ihrer Kanzlei verlassen und mit Brettern vernagelt waren. Mit Glück und einiger Initiative der Anwohner würde die Sanierungsflut von Forum East auch diesen Winkel erreichen. Bisher war das noch nicht der Fall.

Aber die Neuigkeiten über Forum East hatten sie hier zusammengeführt.

Vor zwei Tagen hatte die First Mercantile American in einer öffentlichen Erklärung bestätigt, was bisher nur ein Gerücht gewesen war. Die Finanzierungsmittel künftiger Forum East-Projekte sollten mit sofortiger Wirkung auf die Hälfte reduziert werden.

Die Erklärung der Bank war in offiziellem Jargon abgefaßt und strotzte von euphemistischen Phrasen - es herrsche eine »befristete Knappheit von langfristig verfügbarem Kapital«, und man werde das Thema »periodisch überprüfen und gegebenenfalls die Summen variieren«. Jeder, ob Angestellter der Bank oder nicht, wußte genau, was die Sache bedeutete -man zog sich langsam aus den Verpflichtungen zurück.

Zweck der jetzigen Versammlung war es zu untersuchen, ob man etwas dagegen tun könne, und wenn ja, was.

Das Wort »Mieter« im Namen des Verbandes war mehr allgemein zu verstehen. Ein großer Teil der Verbandsmitglieder war tatsächlich Mieter in Forum East; viele andere waren es nicht, hofften aber, es möglichst bald zu werden. Deacon Euphrates, ein baumlanger Stahlarbeiter, hatte es vorhin so formuliert: »'ne Masse Leute wollen da rein, aber da können sie lange drauf warten, wenn die da oben die Piepen nicht lockermachen.«

Margot wußte, daß Deacon mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in einer Bruchbude von Mietskaserne, in der es von Ratten wimmelte und die vor Jahren hätte abgerissen werden müssen, eine winzige und hoffnungslos überfüllte Wohnung hatte; ein paar Mal hatte sie versucht, ihm bei der Suche nach einer anderen Bleibe zu helfen, aber ohne Erfolg. Deacon Euphrates lebte von der Hoffnung, eines Tages mit seiner Familie in eine der neuen Forum East-Wohnungen einziehen zu können, aber der Name der Euphrates stand in der Mitte einer sehr langen Warteliste, und eine Verzögerung der Bauarbeiten mußte bedeuten, daß er da auch noch sehr lange bleiben würde.

Die FMA-Bekanntmachung war auch für Margot ein Schock gewesen. Alex, das wußte sie, hatte gewiß gegen jeden Vorschlag einer Reduzierung gekämpft, war aber offensichtlich überstimmt worden. Aus diesem Grunde hatte sie noch nicht mit ihm darüber gesprochen. Außerdem - je weniger Alex von einigen noch nicht ganz ausgereiften Plänen Margots wußte, um so besser war es für sie beide.

»Ich sehe das so«, sagte Seth Orinda, ebenfalls Mitglied des Komitees. »Was wir aufstellen, ob legal oder nicht, es gibt keine Möglichkeit, auch nicht die geringste, den Banken das Geld aus der Nase zu ziehen. Nicht, wenn die es sich erst mal in den Kopf gesetzt haben, das Portemonnaie zuzumachen.«

Seth Orinda war ein schwarzer Oberschullehrer, der schon in Forum East wohnte. Er verfügte über einen stark ausgeprägten Gemeinschaftssinn, und die Tausende, die draußen voller Hoffnung darauf warteten, endlich auch einziehen zu können, waren ihm nicht gleichgültig. Seine Verläßlichkeit und Hilfsbereitschaft waren Margot schon oft eine große Stütze gewesen.

»Da würde ich nicht so sicher sein, Seth«, erwiderte sie. »Auch Banken haben ihre empfindlichen Stellen. Eine Harpune in so eine Stelle gepiekt - und es können die überraschendsten Dinge passieren.«

»Was für 'ne Harpune denn?« fragte Orinda. »Ein Umzug? Ein Sit-in? Eine Demonstration?«

»Nein«, sagte Margot. »Schlagen Sie sich das alles aus dem Kopf. Das ist alter Schnee. Konventionelle Demonstrationen locken keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Man empfindet sie höchstens noch als Belästigung. Damit erreicht man nichts.«

Ihr Blick schweifte über die Gruppe, die vor ihr in dem unordentlichen, verqualmten Büro hockte. Es waren ungefähr ein Dutzend Leute, schwarz und weiß gemischt, alle Formen, Größen und Physiognomien waren vertreten. Einige hockten unbequem auf wackligen Stühlen und auf Kisten, andere hatten sich auf dem Fußboden niedergelassen. »Hört mal gut zu, alle. Ich sagte, wir brauchen Taten. Ich glaube, es gibt da was, das könnte funktionieren.«

»Miss Bracken.« Eine zierliche junge Frau ganz hinten im Raum hatte sich erhoben. Es war Juanita Nunez, die Margot begrüßt hatte, als sie hereinkam. »Ja, Mrs. Nünez?«:

»Ich möchte mithelfen. Aber Sie wissen ja, daß ich bei der FMA arbeite. Vielleicht sollte ich nicht dabeisein, wenn Sie es den anderen erklären... «

Margot sagte anerkennend: »Das stimmt, und ich hätte selber daran denken können, anstatt Sie hier in Verlegenheit zu bringen.«

Es gab ein allgemeines verständnisvolles Gemurmel. Juanita schob sich zur Tür.

»Das, was Sie bis jetzt schon mitgekriegt haben«, sagte Deacon Euphrates, »das bleibt 'n Geheimnis, klar?«

Während Juanita nickte, sagte Margot rasch: »Wir alle hier können uns auf Mrs. Nünez verlassen. Ich hoffe nur, daß ihre Arbeitgeber ebensoviel Anstand besitzen wie sie.«

Als wieder Ruhe in die Versammlung eingekehrt war, baute Margot sich vor den Verbandsmitgliedern auf. Ihre Haltung war charakteristisch für sie: Hände auf der schmalen Taille, die Ellbogen aggressiv nach vorn geschoben. Kurz vorher hatte sie ihr langes kastanienbraunes Haar zurückgeworfen - es war eine Gewohnheit von ihr, wenn sie zu Taten schritt, wie das Hochziehen eines Vorhangs. Während sie sprach, wuchs das Interesse ihres Publikums spürbar. Hier und da verzog sich ein Mund zum Lächeln. An einer Stelle kicherte Seth Orinda tief in sich hinein. Gegen Ende grinsten Deacon Euphrates und andere breit und begeistert.

»Mann«, sagte Deacon. »Mann, o Mann!«

»Das ist verdammt gerissen«, warf ein anderer ein.

Margot erinnerte sie: »Wenn der Plan funktionieren soll, dann brauchen wir eine Menge Leute - für den Anfang mindestens tausend, und mehr im Laufe der Zeit.«

Eine frische Stimme fragte: »Wie lange brauchen wir die denn?«

»Wir planen für eine Woche. Das heißt, für eine Bankwoche -also fünf Tage. Wenn das nicht hinhaut, müssen wir die Operation vielleicht ausdehnen. Ich glaube aber, ehrlich gesagt, nicht, daß es nötig sein wird. Noch eins: Jeder, der mitmacht, muß ganz genau eingewiesen werden.«

»Da bin ich dabei«, sagte Seth Orinda.

»Ich auch«, stimmte sofort ein ganzer Chor ein.

Die Stimme von Deacon Euphrates übertönte die anderen. »Ich hab' noch 'n paar Tage Urlaub. Verdammt, ich nehm' 'ne Woche frei, und ich weiß andere, die auch bestimmt mitmachen.«

»Gut!« sagte Margot. Entschlossen fuhr sie fort: »Wir brauchen einen genau ausgearbeiteten Plan. Den werde ich morgen abend fertig haben. Und ihr andern, ihr könnt gleich anfangen mit dem Anwerben. Und vergeßt nicht: Unbedingte Geheimhaltung!«

Eine halbe Stunde später löste sich die Versammlung auf. Die Mitglieder des Komitees waren weitaus froher und optimistischer als zu Beginn des Treffens.

Auf Margots Bitte blieb Seth Orinda noch zurück. »Seth, Ihre Hilfe brauche ich ganz speziell.«

»Wenn ich helfen kann - immer, Miss Bracken.«

»Wenn es losgeht«, sagte Margot. »bin ich gewöhnlich in der ersten Reihe. Das wissen Sie.«

»Allerdings.« Der Oberschullehrer strahlte über das ganze Gesicht.

»Diesmal möchte ich unsichtbar bleiben. Mein Name darf weder in Zeitungen, im Fernsehen noch im Rundfunk genannt werden. Das könnte nämlich zwei besondere Freunde von mir in peinlichste Verlegenheit bringen - Freunde in der Bank, ich habe sie ja vorhin erwähnt. Das will ich verhindern.«

Orinda nickte verständnisvoll. »Das dürfte kein Problem sein.«

»Worum ich bitten wollte«, sagte Margot, »ist, daß Sie und die anderen dieses Mal die Leitung der Aktion übernehmen. Ich werde natürlich hinter den Kulissen mitmachen. Und wenn es unbedingt nötig wird, dann können Sie mich auch rufen, aber ich hoffe, daß es dazu nicht kommt.«

»Aber das ist doch albern«, sagte Seth Orinda. »Wie können wir Sie rufen, wenn keiner von uns je Ihren Namen gehört hat?«

Am Samstag abend, zwei Tage nach dem Treffen des Mieterverbandes von Forum East, waren Margot und Alex zu Gast bei Freunden, die ein kleines Abendessen gaben, und später fuhren sie gemeinsam zu Margot. Ihre Wohnung befand sich in einem weniger teuren Teil der Stadt als Alex' elegantes Apartment, und kleiner war sie auch, aber Margot hatte sie freundlich eingerichtet mit allerlei Antiquitäten, die sie im Laufe der Zeit zu günstigen Preisen zusammengekauft hatte. Alex fühlte sich wohl bei ihr.

Die Wohnung bildete einen starken Kontrast zu Margots Anwaltskanzlei.

»Du hast mir gefehlt, Bracken«, sagte Alex. Er saß bequem in Pyjama und Hausmantel, die er in Margots Wohnung aufbewahrte, in einem Queen Anne-Ohrensessel. Margot hatte sich auf den Teppich vor ihn hingekuschelt, den Kopf an seine Knie zurückgelehnt, während er sanft ihr langes Haar streichelte. Gelegentlich verirrten seine Finger sich - behutsam und erfahren begann er sie zu wecken, wie er es immer tat, und auf eine Weise, die sie liebte. Margot seufzte zufrieden. Bald würden sie ins Bett gehen. In beiden wurde das Verlangen größer, doch es lag ein exquisites Vergnügen darin, sich selbst das Warten aufzuerlegen.

Anderthalb Wochen hatten sie sich aufgrund ihrer Terminpläne nicht mehr gesehen.

»Wir holen die verlorenen Tage nach«, sagte Margot.

Alex schwieg. Dann sagte er: »Ich war den ganzen Abend darauf vorbereitet, daß du mich auf einem glühenden Rost grillst wegen Forum East. Aber du hast kein Wort davon erwähnt.«

Margot beugte ihren Kopf noch weiter zurück und betrachtete ihn jetzt verkehrt herum. Voller Unschuld fragte sie: »Warum sollte ich dich auf einem glühenden Rost grillen, Liebling? Die Geldbremse war doch wohl nicht deine Idee.« Ihre kleine Stirn legte sich in Falten. »Oder?«

»Du weißt verdammt gut, daß es nicht meine Idee gewesen ist.«

»Natürlich. Ebenso fest war ich davon überzeugt, daß du dich dagegen ausgesprochen hast.«

»Ja, allerdings.« Und resigniert fügte er hinzu: »Was dann ja auch sehr viel genützt hat.«

»Du hast getan, was du konntest. Mehr kann man von keinem verlangen.«

Alex betrachtete sie argwöhnisch. »Das alles paßt überhaupt nicht zu dir.«

»Inwiefern denn nicht?«

»Du bist eine Kämpfernatur. Das mag ich ja gerade so an dir. Du gibst nicht auf. Du nimmst eine Niederlage nicht so gelassen hin.«

»Vielleicht sind manche Niederlagen unvermeidlich. In dem Alex richtete sich kerzengerade auf. »Du führst etwas im Schilde, Bracken! Ich weiß es. Jetzt raus mit der Sprache: Was ist es?«

Margot überlegte, dann sagte sie langsam: »Ich gebe nichts zu. Aber selbst wenn du recht hättest mit deiner Vermutung, könnte es doch sein, daß du von manchen Dingen lieber nichts wissen solltest. Ich habe nicht die geringste Lust, Alex, dich in Verlegenheit zu bringen.«

Er lächelte, und seine ganze Zuneigung zu ihr sprach aus diesem Lächeln. »Du hast mir ja schon was gesagt. Gut, wenn du nicht magst, daß ich weiter bohre, dann lasse ich es. Eine Zusicherung von dir brauche ich aber: daß das, was du da vorhast, legal ist.«

Einen Augenblick lang schäumte Margots Temperament auf. »Der Anwalt hier bin ich. Was legal ist und was nicht, entscheide ich.«

»Selbst kluge weibliche Anwälte machen gelegentlich Fehler.«

»Dieses Mal nicht.« Sie schien den Streit fortsetzen zu wollen, dann gab sie nach. Ihre Stimme wurde sanft. »Du weißt doch, daß ich nichts unternehme, was gegen das Gesetz ist. Und du weißt auch, warum.«

»Ja, ich weiß es«, sagte Alex. Wieder ganz entspannt, strich er ihr weiter über das Haar.

Sie hatte ihm einmal, als sie sich schon gut kannten, anvertraut, wie sie zu ihrer Eins tellung gelangt war, Jahre zuvor und als Folge von Tragik und Tod.

Während ihres juristischen Studiums, das Margot im übrigen mit allen Ehren und Auszeichnungen absolvierte, hatte sie sich, wie es damals üblich war, an Aktivismus und Protest beteiligt. Es war die Zeit der zunehmenden amerikanischen Verstrickung in Vietnam und der erbitterten, tiefen Spaltung der Nation. Es war auch der Anfang von Unruhe und Wandel innerhalb der juristischen Berufe, eines Rebellierens der Jugend gegen die alteingesessenen Vertreter der Rechtsgelehrsamkeit und des Establishment. Es war die Zeit, die den Typ des kämpferischen Anwalts hervorbrachte, für den Ralph Nader als berühmtes und vielgelobtes Symbol stand.

Schon im College und später an der juristischen Fakultät hatte Margot ihre avantgardistischen Ansichten, ihren Aktivismus und sich selbst mit einem Kommilitonen geteilt - der einzige Name, den Alex je zu hören bekam, war Gregory -, und Gregory und Margot schliefen miteinander, wie es ebenfalls üblich war.

Schon seit mehreren Monaten war es immer wieder zu Konfrontationen zwischen Studenten und Fakultät gekommen, und eine der schlimmsten entzündete sich am offiziellen Auftauchen von Rekrutenwerbern der amerikanischen Marine und des Heeres auf dem Campus. Eine Mehrheit der Studenten, unter ihr Gregory und Margot, forderten die Verweisung der Werber vom Universitätsgelände. Die Universität lehnte das entschieden ab.

Militante Studenten besetzten daraufhin das Verwaltungsgebäude, verbarrikadierten sich dort und sperrten alle anderen aus. Gregory und Margot, angesteckt von den allgemeinen Leidenschaften, gehörten zu den Besetzern.

Verhandlungen wurden eingeleitet, scheiterten aber, nicht zuletzt deshalb, weil die Studenten »unrealistische Forderungen« stellten. Nach zwei Tagen rief die Verwaltung die Polizei des Bundesstaates, die später unklugerweise durch die Nationalgarde verstärkt wurde. Ein Sturmangriff wurde gegen das jetzt belagerte Gebäude vorgetragen. Während der Kämpfe wurden Schüsse abgefeuert und Köpfe blutig geschlagen. Es schien ein Wunder, daß die Schüsse niemanden trafen. Aber ein tragisches Mißgeschick wollte es, daß einer der blutig geschlagenen Köpfe - es war Gregorys - eine Gehirnblutung erlitt, die binnen Stunden zum Tode führte.

Am Ende wurde dann wegen der öffentlichen Empörung ein unerfahrener, junger und verängstigter Polizist, der den tödlich wirkenden Schlag geführt hatte, vor Gericht gestellt. Sämtliche Anklagepunkte gegen ihn wurden fallengelassen.

Trotz ihrer Trauer und des Schocks, unter dem sie stand, war Margot als Juristin objektiv genug, um zu begreifen, warum das Verfahren eingestellt wurde. Später, als sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, half ihre juristische Ausbildung ihr außerdem, die eigenen Überzeugungen zu beurteilen und zu kodifizieren. Der Druck der Aufregungen und der Emotionen hatte bewirkt, daß dieser längst überfällige Prozeß erst jetzt in Gang kam.

Von keiner ihrer politischen und sozialen Überzeugungen machte Margot damals oder jetzt Abstriche. Aber ihr Blick war klar und scharf genug, um zu erkennen, daß die militanten Studenten anderen genau die Freiheiten vorenthalten hatten, die zu verteidigen sie vorgaben. Sie hatten in ihrem Eifer auch das Gesetz gebrochen, jenes System, dessen Erkenntnis doch ihr Studium und mutmaßlich ihr ganzes späteres Leben geweiht waren.

Dann war es für Margot nur noch ein gedanklicher Schritt bis zu der Einsicht, daß man nicht weniger, sondern sehr wahrscheinlich viel mehr erreicht hätte, wäre man innerhalb der Grenzen des Gesetzes geblieben.

Wie sie Alex später während des einzigen Gesprächs, das sie je über diesen Abschnitt ihrer Vergangenheit führten, anvertraute, war das seither zu ihrem Leitprinzip bei jeglichem Aktivismus geworden.

Immer noch eng an ihn gekuschelt, fragte sie ihn: »Wie steht's denn in der Bank?«

»An manchen Tagen komme ich mir wie Sisyphus vor. Wie es ihm ergangen ist, weißt du ja.«

»War das nicht der alte Grieche, der einen schweren Felsblock bergauf rollte? Und jedesmal, wenn er den Gipfel nahezu erreicht hatte, rollte der Felsblock wieder ins Tal.«

»Richtig. Er hätte Bankmanager werden sollen, der Veränderungen einführen will. Kennst du das Geheimnis der Banker, Bracken?«

»Sag's mir.«

»Wir haben Erfolg trotz unseres Mangels an Weitblick und Phantasie.«

»Darf ich dich zitieren?«

»Wenn du das wagst, werde ich es ganz energisch bestreiten.« Nachdenklich fuhr er fort: »Aber ganz unter uns, Banken reagieren immer nur auf sozialen Wandel, anstatt sich schon vorher darauf einzustellen. Sämtliche Probleme, die uns jetzt direkt berühren - Umwelt, Ökologie, Energie, die Minderheiten -, gibt es schon seit langem. Was auf diesen Gebieten geschehen ist und sich direkt auf uns ausgewirkt hat, das hätte man im voraus erkennen können. Wir Banker könnten richtungsweisend sein. Statt dessen hinken wir hinterher und rühren uns nur, wenn wir gestoßen werden.«

»Warum bleibst du dann Banker?«

»Weil es wichtig ist. Was wir tun, ist der Mühe wert, und ob wir nun freiwillig mit der Zeit gehen oder nicht, wir sind Profis und werden gebraucht. Das Geldsystem ist so gewaltig angewachsen, so kompliziert und vielschichtig geworden, daß nur Banken damit umgehen können.«

»Was ihr also am dringendsten braucht, ist gelegentlich ein tüchtiger Knuff. Ist das richtig?«

Er sah sie gespannt an, und seine Neugier regte sich wieder. »Irgend etwas brütest du in deinem vertrackten kleinen Hexenverstand aus.«

»Ich gebe nichts zu.«

»Was es auch sein mag, ich hoffe nur, es hat nichts mit Zahlschloß-Toiletten zu tun.«

»O Gott, nein!«

Beide mußten laut lachen, als sie sich daran erinnerten, was vor einem Jahr passiert war. Es war einer der siegreichen Kämpfe gewesen, die Margot ausgefochten hatte, und dieser Kampf hatte größtes Aufsehen erregt.

Dir Gegner war damals der Flughafen-Ausschuß der Stadt gewesen, der seinen mehreren hundert Hausmeistern, Pförtnern und Putzfrauen sehr viel geringeren Lohn zahlte, als ortsüblich war. Die Gewerkschaft der betroffenen Arbeiter war korrupt, hatte sich unter der Hand und nicht zu ihrem Schaden mit dem Ausschuß geeinigt und dachte nicht daran, den Mitgliedern bei ihrem Lohnkampf zu helfen. Verzweifelt hatte sich eine Gruppe der Flughafen-Arbeiter an Margot gewandt, die gerade dabei war, sich einen Ruf in solchen Angelegenheiten zu schaffen.

Ein frontaler Vorstoß Margots beim Ausschuß trug ihr nur eine kalte Zurückweisung ein. Sie gelangte deshalb zu dem Schluß, daß die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt werden müsse und man das unter anderem dadurch erreichen könne, indem man den Flughafen und seine Herrscher lächerlich machte. Als Teil ihrer Vorbereitungen veranstaltete sie mit Hilfe mehrerer Sympathisanten, die sie schon bei früheren Anlässen unterstützt hatten, eine gründliche Betriebsstudie des großen, stark frequentierten Flughafens an einem besonders verkehrsreichen Abend.

Ein Faktor, der in der Studie vermerkt wurde, betraf die Beobachtung, daß die Passagiere von Abendmaschinen, denen während des Fluges Abendessen und Getränke serviert worden waren, beinahe geschlossen sofort nach der Landung die Toiletten des Flughafens zu stürmen pflegten, so daß mehrere Stunden lang ein Maximalbedarf an diesen Anstalten herrschte.

Am nächsten Freitagabend, zur Zeit des besonders starken Luftverkehrs, erschienen mehrere hundert Freiwillige, in erster Linie dienstfreie Pförtner und Putzfrauen, unter Margots Führung auf dem Flughafen. Von diesem Augenblick an bis zu dem sehr viel später liegenden Zeitpunkt, als sie abrückten, verhielten sie sich sämtlich ruhig, ordentlich und streng gesetzestreu.

Ihre Aufgabe war es, ohne Pause den ganzen Abend lang jede einzelne öffentliche Toilette des ganzen Flughafens zu besetzen. Und das taten sie. Margot und ihre Helfer hatten einen detaillierten Plan aufgestellt, und die Freiwilligen begaben sich zu den ihnen angewiesenen Örtlichkeiten, wo sie eine 10-Cent-Münze in den Schlitz steckten und sich niederließen, versorgt mit reichlicher Lektüre, Kofferradios und auch Proviant, den viele sich mitgebracht hatten. Einige Frauen hatten sogar Handarbeiten in Körbchen dabei. Es war die Ultima ratio auf dem Gebiete des legalen Sit-in.

In den Herrentoiletten bildeten andere Freiwillige lange Schlangen vor den Pissoirs, und jede der zu hinhaltender Taktik entschlossenen Schlangen rückte mit entsetzlicher Langsamkeit vor. Gesellte sich ein nicht zum Komplott Gehörender zu den Wartenden, so verging eine Stunde, bis er die Spitze der Schlange erreicht hatte. Nur wenige hielten so lange aus.

Ein ambulantes Aufklärungskommando informierte jeden, der zuhören wollte, über Natur und Ursache des Geschehens.

Im Nu herrschte auf dem Flughafen ein Chaos. Hunderte von ergrimmten und gepeinigten Passagieren beschwerten sich bitterlich und hitzig bei den Fluggesellschaften, die ihrerseits die Flughafenverwaltung bestürmten. Diese aber zeigte sich ratlos und außerstande, Abhilfe zu schaffen. Andere Beobachter, die weder beteiligt waren noch sich in Leibesnöten befanden, erklärten die ganze Sache für eine Mordsgaudi. Gleichgültig und innerlich unbeteiligt blieb keiner.

Die Reporter der Nachrichtenmedien, die von Margot im voraus einen Tip bekommen hatten, waren in Bataillonsstärke zur Stelle. Journalisten wetteiferten darin, Reportagen zu schreiben, die von den Nachrichtenagenturen über die gesamte Nation verbreitet, dann international aufgegriffen und von so gegensätzlichen Publikationsorganen wie der »Iswestija«, dem Johannesburger »Star« und der Londoner »The Times« gedruckt wurden. Am nächsten Tag lachte die ganze Welt.

In den meisten Berichten erschien der Name Margot Bracken an prominenter Stelle. Es gab Andeutungen, daß weitere »Sit-ins« folgen würden.

Margots Rechnung, daß die Lächerlichkeit eine der schärfsten Waffen in jedem Arsenal ist, ging auf. Am Wochenende erklärte sich der Flughafen-Ausschuß zu Verhandlungen über die Lohnzahlungen an Pförtner, Hausmeister und Putzfrauen bereit, und wenig später wurden die Löhne heraufgesetzt. Ein weiteres Ergebnis bestand darin, daß die korrupte Gewerkschaft abgewählt wurde und eine pflichtbewußtere an ihre Stelle trat.

Jetzt rekelte Margot sich, rückte näher an Alex heran und murmelte dann: »Was war das für ein Verstand, den ich deiner Meinung nach habe?«

»Ein vertrackter Hexenverstand.«

»Ist das was Schlimmes? Oder was Gutes?«

»Für mich ist es gut. Erfrischend. Und meistens gefallen mir auch die Ziele, für die du kämpfst.«

»Aber nicht immer?«

»Nein, nicht immer.«

»Manchmal bewirken die Dinge, die ich tue, Feindschaft und Widerspruch. Und nicht zu knapp. Nehmen wir mal an, ich habe mich wegen einer Sache mißliebig gemacht, von der du nichts hältst, die dir vielleicht sogar lebhaft gegen den Strich geht. Nehmen wir mal an, unsere Namen würden bei so einem Anlaß in einem Atemzug genannt, wenn du ganz und gar nicht meiner Meinung bist und mit mir auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden willst?«

»Na, ich werd's ertragen müssen. Außerdem habe ich das Recht auf ein Privatleben, ebenso wie du.«

»Und wie jede Frau«, stellte Margot fest. »Aber manchmal frage ich mich, ob du es wirklich ertragen könntest. Das heißt, wenn wir für immer zusammen wären. Ich werde mich nämlich nicht ändern; das mußt du von vornherein begreifen, Alex. Meine Unabhängigkeit könnte ich nicht aufgeben, und ich könnte auch nicht darauf verzichten, Initiativen zu ergreifen, wann immer ich will.«

Er dachte an Celia, die niemals irgendwelche Initiativen ergriffen hatte, wie sehr er es sich auch gewünscht hatte. Und er erinnerte sich, wie immer mit tiefem Bedauern, daran, was aus Celia geworden war. Aber er hatte etwas von ihr gelernt: Daß der Mann nie zu seinem Selbst findet, wenn die Frau, die er liebt, innerlich nicht frei ist, mit ihrer Freiheit nichts anzufangen weiß und sie nicht nutzt, um selbst Erfüllung zu finden.

Alex ließ die Hände auf Margots Schultern fallen. Durch das dünne seidene Nachthemd konnte er ihre duftende Wärme spüren, ihren weichen Leib fühlen. Sanft sagte er: »So, wie du bist, so liebe ich dich, und so will ich dich. Wenn du dich änderst, heuere ich sofort eine andere Anwältin an und verklage dich wegen Bruchs des Liebesversprechens.«

Seine Hände wanderten von ihren Schultern langsam und liebkosend tiefer herab. Er hörte, wie sie schneller atmete; einen Augenblick später wandte sie sich ihm drängend zu: »Zum Teufel noch mal, worauf warten wir noch?«

»Weiß Gott«, sagte er. »Komm ins Bett.«

3

Der Anblick war so ungewöhnlich, daß einer der Kreditbearbeiter der Filiale, Cliff Castleman, auf Edwinas Schreibtisch zusteuerte.

»Mrs. D'Orsey, haben Sie zufällig schon mal aus dem Fenster geschaut?«

»Nein«, sagte Edwina. Sie hatte sich auf die morgendliche Post konzentriert. »Warum denn?«

Es war Mittwoch, und die Uhr in der Cityfiliale der First Mercantile American zeigte fünf vor neun.

»Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren«, sagte Castleman. »Da draußen steht eine Menschenschlange, wie ich sie noch nie vor Beginn der Schalterstunden erlebt habe.«

Edwina sah hoch. Mehrere Angestellte reckten die Hälse, um einen Blick aus den Fenstern werfen zu können. Es herrschte im Raum ein stärkeres Stimmengewirr, als es sonst zu dieser frühen Stunde üblich war. Sie spürte Unruhe und Besorgnis mitschwingen.

Edwina stand von ihrem Schreibtisch auf und ging die paar Schritte zu einem der riesigen Fenster hinüber, die Teil der Straßenfront des Gebäudes waren. Was sie da sah, war verblüffend. Eine lange Menschenschlange, in Vierer- oder Fünferreihen, wand sich vom Hauptportal an der gesamten Länge des Gebäudes entlang; wo die Schlange endete, konnte sie von hier aus nicht sehen. Allem Anschein nach warteten alle diese Leute auf die Öffnung der Bank.

Sie starrte ungläubig hinaus. »Was soll denn das, um alles in der Welt...«

»Einer von uns ist vorhin rausgegangen«, berichtete Castleman. »Die Schlange reicht bis halb über die Rosselli Plaza, und immer neue Menschen stellen sich an.«

»Hat irgend jemand gefragt, was die alle wollen?«

»Einer der Sicherheitsbeamten soll gefragt haben. Die Antwort war, sie wollten ein Konto einrichten.«

»Das ist doch lächerlich! Die alle? Allein von hier aus kann ich an die dreihundert Menschen sehen. Wir haben noch nie so viele neue Kunden an einem einzigen Tag gehabt.«

Der Kreditbearbeiter zuckte die Achseln. »Ich gebe nur wieder, was ich gehört habe.«

Tottenhoe, der Innenleiter, trat mit der üblichen brummigen Miene zu ihnen ans Fenster. »Ich habe die Sicherheitszentrale benachrichtigt«, sagte er zu Edwina. »Sie schicken mehr Wächter, und Mr. Wainwright ist auf dem Weg hierher. Sie haben auch die städtische Polizei benachrichtigt.«

Edwina konstatierte: »Nichts deutet auf Krawall hin. Die Leute machen einen friedlichen Eindruck.«

Es war eine gemischte Schar, wie sie erkennen konnte; etwa zwei Drittel waren Frauen, wobei Schwarze in der Überzahl waren. Viele von ihnen hatten Kinder dabei. Einige der Männer trugen einen Overall und sahen aus, als hätten sie gerade ihren Arbeitsplatz verlassen oder als seien sie auf dem Weg dahin. Andere trugen, was sie gerade vom Haken gegriffen hatten; einige wenige waren ausgesprochen gut gekleidet.

Die Menschen in der Schlange unterhielten sich miteinander, zum Teil lebhaft, aber niemand schien in feindseliger Stimmung zu sein. Einige bemerkten, daß sie beobachtet wurden, lächelten und nickten den Bankangestellten zu.

»Sehen Sie sich das an!« Cliff Castleman zeigte auf die Straße. Ein Fernseh-Team mit Kamera war auf der Szene erschienen. Während Edwina und die anderen zusahen, begannen die Männer zu filmen.

»Friedlich oder nicht«, sagte der Kreditmann, »es muß was dahinterstecken, daß alle diese Leute auf einmal herkommen.«

Wie ein Blitz kam Edwina die Erkenntnis. »Das ist Forum East«, sagte sie. »Ich gehe jede Wette ein, daß es mit Forum East zu tun hat.«

Mehrere andere, die ihren Schreibtisch in der Nähe hatten, waren herübergekommen und hörten zu.

Tottenhoe sagte: »Wir sollten erst öffnen, wenn die zusätzlichen Wächter hier sind.«

Alle Augen richteten sich auf die Wanduhr. Sie zeigte eine Minute vor neun.

»Nein«, entschied Edwina. Sie sprach lauter, so daß die anderen sie hören konnten. »Wir öffnen wie üblich, um Punkt neun. Bitte gehen Sie alle an Ihre Arbeit.«

Tottenhoe verschwand eilig, Edwina kehrte an ihren Schreibtisch zurück.

Von ihrem Beobachtungsposten aus sah sie, wie die Haupteingangstür geöffnet wurde und die ersten Menschen hereinströmten. Die an der Spitze der Schlange gestanden hatten, hielten nach Betreten der Schalterhalle einen Augenblick lang Umschau, dann gingen sie rasch weiter, und andere hinter ihnen drängten herein. Augenblicklich war die ganze große Schalterhalle der Filiale mit einer schnatternden und lauten Menschenmenge gefüllt. Das Gebäude, vor weniger als einer Minute noch relativ ruhig, war zu einem lärmenden Babel geworden. Edwina sah, wie ein riesiger, schwerer schwarzer Mann ein paar Dollarnoten schwenkte und mit lauter Stimme verkündete: »Ich will mein Geld hier auf die Bank bringen.«

Ein Sicherheitsbeamter zeigte ihm den Weg: »Da drüben werden neue Konten eingerichtet.« Der Beamte zeigte auf einen Schreibtisch, an dem eine Angestellte - ein junges Mädchen -wartete. Sie wirkte nervös. Der große Mann marschierte zu ihr hinüber, lächelte beruhigend und setzte sich. Sofort drängte eine Traube von anderen nach und stellte sich in ungeordneter Reihe hinter ihm auf, geduldig wartend, bis auch sie an die Reihe kämen.

Tatsächlich schien es so, als seien sie alle gekommen, um ein Konto zu eröffnen.

Edwina sah, wie der große Mann sich behaglich zurücklehnte, die Dollarscheine noch immer in der Hand. Seine Stimme erhob sich über das Gewirr der anderen Gespräche, und sie hörte, wie er erklärte: »Ich hab's nicht eilig, ganz und gar nicht. Da ist so einiges, was ich Sie fragen wollte. Vielleicht können Sie mir das erklären.«

Weitere zwei Schreibtische wurden rasch von anderen Angestellten besetzt. Ebenso rasch bildeten sich breite und lange Menschenschlangen auch vor diesen Tischen.

Gewöhnlich reichten drei Angestellte völlig aus, um neue Konten zu eröffnen, aber diesen Massenandrang konnten sie sichtlich nicht bewältigen. Edwina erblickte Tottenhoe auf der anderen Seite der Halle und rief ihn über die Sprechanlage an. Sie gab Anweisung: »Mehr Schreibtische für Kontoeröffnungen, besetzen Sie die Tische mit allen Angestellten, die Sie überhaupt entbehren können.«

Selbst wenn man sich dicht über den Lautsprecher der Anlage beugte, war es schwer, in dem allgemeinen Lärm die Worte zu verstehen.

Ingrimmig erwiderte Tottenhoe: »Es ist Ihnen natürlich klar, daß wir diese Leute heute nicht alle abfertigen können, und die, die wir schaffen, blockieren alle Arbeitskräfte, die wir haben.«

»Und genau das will irgend jemand auch erreichen«, meinte Edwina. »Sorgen Sie dafür, daß so schnell wie irgend möglich abgefertigt wird.«

Aber sie wußte genau, daß die Einrichtung eines neuen Kontos etwa zehn bis fünfzehn Minuten erforderte, ganz gleich, wie schnell man arbeitete. Schreibarbeit dauerte nun mal ihre Zeit.

Zunächst mußte ein Antrag ausgefüllt werden mit Adresse, Arbeitgeber, Sozialversicherung, anderen Angaben zur Person und zur Familie. Eine Unterschriftenprobe mußte gegeben werden. Dann mußte ein Identitätsnachweis erbracht werden. Danach mußte sich der Angestellte mit allen Unterlagen zu einem höheren Angestellten der Bank begeben, damit er die Neueröffnung genehmigte und das Formular a^zeichnete. Am Ende wurde das Sparbuch ausgestellt oder ein provisorisches Scheckbuch ausgegeben.

Deshalb schaffte kein Bearbeiter mehr als fünf Kontoeinrichtungen pro Stunde. Die drei jetzt damit beschäftigten Angestellten würden also zusammen maximal neunzig Konten eröffnen, wenn sie ununterbrochen mit Höchstgeschwindigkeit arbeiteten, was nicht anzunehmen war.

Selbst eine Verdreifachung der Angestellten würde nur wenig mehr als zweihundertfünfzig Neueinrichtungen pro Tag bedeuten, aber schon jetzt, in den allerersten Minuten dieses Geschäftstages, drängten sich mindestens vierhundert Personen in der Bank, und immer neue strömten herein. Edwina stand auf, um sich die draußen wartende Schlange anzusehen; sie schien überhaupt nicht kürzer geworden zu sein.

Der Lärm in der Bank schwoll an. Er war zu einem Brausen geworden.

Ein weiteres Problem bestand darin, daß die anderen Kunden der Bank durch die immer noch anwachsende Menschenmenge in der Hauptschalterhalle daran gehindert wurden, zu den Schaltern vorzudringen. Edwina sah einige von ihnen draußen stehen und konsterniert die turbulente Szene betrachten. Und sie sah auch, daß etliche von ihnen aufgaben und weggingen.

Drinnen in der Bank hatten einige der Neuankömmlinge Gespräche mit Kassierern begonnen, und die Kassierer, die wegen des Gedränges arbeitslos waren, gingen darauf ein.

Zwei leitende Angestellte hatten sich in die Halle begeben und versuchten, den Verkehr einigermaßen zu regeln, um den Zugang wenigstens zu einigen Schaltern freizumachen. Aber ohne viel Erfolg.

Noch immer machte sich keinerlei Feindseligkeit bemerkbar. Jeder, der jetzt in der nun überfüllten Halle von Angestellten angesprochen wurde, antwortete höflich und mit einem freundlichen Lächeln. Edwina konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß alle, die sich da drängten, strenge Anweisung erhalten hatten, sich tadellos zu benehmen.

Doch jetzt fand sie es an der Zeit, selbst einzugreifen.

Edwina verließ die Plattform und den nur für Angestellte vorgesehenen Teil der Halle und bahnte sich mit Mühe einen Weg bis an die Haupteingangstür. Sie gab zwei Sicherheitsbeamten ein Zeichen, die sich mit kräftigen Ellbogen zu ihr vorkämpften, und wies sie an: »Es sind jetzt genug Leute in der Bank. Lassen Sie von nun an nur jeweils so viele hinein wie herauskommen. Das betrifft natürlich nicht unsere Stammkunden, die müssen sich auch nicht an die Schlange anstellen.«

Der ältere der beiden Wächter schob seinen Kopf weit vor, damit Edwina ihn verstehen konnte. »Das wird nicht leicht sein, Mrs. D'Orsey. Einige Kunden kennen wir ja, aber nicht alle. Man kann sich schließlich nicht alle Gesichter merken.«

»Außerdem, wenn jemand ankommt, rufen die andern da draußen: >Hinten anstellen! Vordrängen gibt's nicht!< Wenn wir einige vorlassen und andere nicht, kann das Ärger geben«, warf der andere Wächter ein.

Edwina versicherte ihm: »Es wird keinen Krawall geben. Tun Sie, was Sie können.«

Sie wandte sich wieder um und sprach mehrere der Wartenden an. Der Lärm machte eine Verständigung fast unmöglich, und sie sprach, so laut sie konnte: »Ich bin die Filialleiterin. Kann mir bitte jemand von Ihnen sagen, warum Sie heute alle hergekommen sind?«

»Wir wollen ein Konto eröffnen«, antwortete eine Frau kichernd. »Das ist doch nicht verboten, oder?«

»Ihr annonciert doch dauernd«, warf eine andere Stimme ein. »Kein Betrag ist zu klein, heißt es da, ein paar Dollar reichen für ein neues Konto!«

»Stimmt«, sagte Edwina, »und das ist auch unser voller Ernst. Aber es muß doch einen Grund geben, warum Sie alle heute und alle auf einmal kommen.«

»Man könnte sagen«, bemerkte ein älterer Mann mit knochigem Schädel, »daß wir alle aus Forum East sind.«

Eine jüngere Stimme fügte hinzu: »Oder es gerne wären.«

»Das erklärt mir aber immer noch nicht...«, hob Edwina an.

»Vielleicht kann ich das erklären, Ma'am.« Ein seriös wirkender Neger mittleren Alters wurde durch das Gedränge der Leute nach vorne geschoben.

»Da wäre ich Ihnen dankbar.«

Zur gleichen Zeit bemerkte Edwina eine neue Gestalt neben sich. Sie wandte den Kopf und sah, daß es Nolan Wainwright war. Und am Haupteingang waren mehrere neue Sicherheitsbeamte eingetroffen und halfen den beiden, die von Anfang an dagewesen waren. Auf ihren fragenden Blick riet ihr der Sicherheitschef: »Machen Sie weiter. Es läuft ja alles reibungslos.«

Der Mann, den die Menge nach vorn geschoben hatte, sagte: »Nanu, ich wußte gar nicht, daß es auch weibliche Bankmanager gibt.«

»Die gibt es«, entgegnete Edwina. »Und es werden immer mehr. Ich hoffe doch, daß Sie auch für die Gleichberechtigung der Frau sind, Mr....?«

»Orinda. Seth Orinda, Ma'am. Ich bin sogar sehr dafür - und auch für eine ganze Menge anderer Dinge.«

»Eins von diesen anderen Dingen hat Sie heute wohl auch hierhergeführt?«

»In gewisser Hinsicht könnte man das sagen.«

»In welcher Hinsicht denn genau?«

»Ich denke, Sie wissen, daß wir alle aus Forum East sind.«

Sie nickte. »Das hat man mir gesagt.«

»Was sich hier abspielt, das könnte man vielleicht einen Akt der Hoffnung nennen.« Der korrekt und gut gekleidete Sprecher formulierte seine Sätze sorgfältig. Sie waren vorher schriftlich niedergelegt und geprobt worden. Immer mehr Menschen drängten sich heran, und ihre Gespräche versiegten, während sie aufmerksam zuhörten.

Orinda fuhr fort: »Diese Bank hat erklärt, daß sie nicht genug Geld hat, um den Bau von Forum East weiterhin zu unterstützen. Jedenfalls hat die Bank die Kredite um die Hälfte gekürzt, und einige von uns meinen, daß die restliche Hälfte auch noch gestrichen wird, wenn nicht jemand die Trommel rührt oder etwas unternimmt.«

Edwina sagte mit Schärfe: »Und etwas unternehmen, das heißt ja wohl, die Arbeit dieser ganzen Filiale zum Stillstand bringen.« Während sie sprach, nahm sie mehrere neue Gesichter in der Menge wahr; sie sah aufgeschlagene Notizbücher mit Bleistiften, die über das Papier flogen. Ihr wurde klar, daß die Reporter eingetroffen waren.

Offensichtlich hatte jemand die Presse im voraus benachrichtigt, was auch die Anwesenheit des FernsehKamerateams draußen vor der Tür erklärte. Edwina fragte sich, wer das wohl gewesen sein mochte.

Seth Orinda machte ein schmerzlich berührtes Gesicht. »Aber ganz im Gegenteil, Ma'am. Wir bringen alles Geld, das wir armen Leute zusammenkratzen können, um dieser Bank in ihrer finanziellen Notlage zu helfen.«

»Richtig«, ertönte eine andere Stimme. »Nachbarn sollen sich doch beistehen.«

Nolan Wainwright fuhr barsch dazwischen: »Das ist Unsinn! Diese Bank ist in keiner finanziellen Notlage.«

»Wenn das nicht der Fall ist«, fragte eine Frau, »warum hat sie dann Forum East das angetan?«

»Die Position der Bank ist in der herausgegebenen Erklärung in aller Deutlichkeit dargelegt worden«, antwortete Edwina. »Es geht hier um eine Frage der Priorität. Außerdem hat die Bank die Hoffnung ausgesprochen, die Finanzierung später in vollem Umfang wiederaufnehmen zu können.« Während sie das sagte, merkte sie selbst, wie hohl ihre Worte klangen. Andere hatten offenbar den gleichen Eindruck, denn es erhob sich ein Chor von Schmährufen.

Zum ersten Mal klang damit eine häßliche, eine feindselige Note auf. Der gutgekleidete Minn, Seth Orinda, drehte sich scharf um und hob warnend eine Hand. Die Rufe verstummten.

»Egal, was Sie vielleicht vermuten«, versicherte er Edwina, »wir sind tatsächlich nur aus dem Grund gekommen, um etwas Geld auf Ihre Bank zu bringen. Das habe ich gemeint, als ich von einem Akt der Hoffnung sprach. Wir haben gedacht, wenn Sie uns alle sehen, wenn Sie begreifen, wie uns zumute ist, daß Sie dann vielleicht Ihre Entscheidung revidieren.«

»Und wenn wir das nicht tun?«

»Dann, glaube ich, werden wir mehr Leute auftreiben müssen, die noch ein paar mehr Dollar einzahlen können. Und wir werden diese Leute finden. Wir haben schon viele weitere gute Freunde, die heute noch herkommen werden und morgen und übermorgen. Am Wochenende wird es sich dann herumgesprochen haben« - er drehte sich um und sprach jetzt zu den Reportern gewandt -, »und es werden andere Menschen kommen, nicht nur aus Forum East, die uns in der nächsten Woche helfen werden. Natürlich nur, indem auch sie ein Konto eröffnen. Um dieser armen Bank zu helfen. Aus keinem anderen Grund.«

Die Umstehenden stimmten vergnügt ein: »Ja, Mann, da kommen mehr, viel mehr...« - »Viel Moos haben wir nicht, Mann, aber Leute haben wir, viele, viele Leute...« - »Erzählt das euren Freunden, damit sie kommen und uns unterstützen.«

»Natürlich könnte es passieren«, fuhr Orinda mit unschuldsvoller Miene fort, »daß manche von denen, die heute Geld auf die Bank tragen, es vielleicht schon morgen oder übermorgen oder nächste Woche wieder abheben müssen. Die meisten haben nicht so viel, daß sie es lange auf dem Konto stehen lassen können. Aber ich verspreche Ihnen, sobald wir irgend können, sind wir wieder hier und zahlen es wieder ein.« Seine Augen blitzten vergnügt. »Leider werden wir Ihnen wohl eine ganze Menge Arbeit machen müssen.«

»Ja«, sagte Edwina, »ich verstehe Ihre Absicht.«

Eine Reporterin, ein blondes junges Mädchen, fragte: »Mr. Orinda, wieviel wollen Sie alle hier einzahlen?«

»Nicht viel«, erklärte er fröhlich. »Die meisten kommen nur mit fünf Dollar. Das ist die Mindestsumme, die die Bank annimmt. Oder irre ich mich?« Er sah Edwina an, und sie nickte.

Einige Banken verlangten, wie Edwina und denjenigen, die jetzt zuhörten, bekannt war, ein Minimum von fünfzig Dollar für die Eröffnung eines Sparkontos und von hundert Dollar für ein Girokonto. Es gab auch Banken, die überhaupt keine Mindestsumme festgesetzt hatten. Die First Mercantile American - die sich gerade um Kleinsparer bemühte - hatte sich auf fünf Dollar als Kompromiß geeinigt.

War das Konto einmal eingerichtet, durfte man das meiste von den ursprünglichen fünf Dollar wieder abheben; jeder Betrag auf der Habenseite, und sei er noch so gering, reichte aus, um das Konto aufrechtzuerhalten. Ganz offensichtlich waren Seth Orinda und die anderen darüber informiert, und sie beabsichtigten, die Cityfiliale mit Einzahlungen zu überschwemmen. Edwina dachte: Sie werden ihr Ziel erreichen.

Dennoch geschah hier nichts Ungesetzliches, und Behinderung mußte erst einmal nachgewiesen werden.

Trotz ihrer Verantwortung und des Ärgers, den sie eben noch empfunden hatte, hätte Edwina beinahe laut gelacht, was sie sich natürlich nicht anmerken lassen durfte. Sie warf wieder einen Blick zu Nolan Wainwright hinüber, der die Achseln zuckte, und sagte gelassen: »Solange hier kein Tumult ausbricht, können wir nichts tun als den Verkehr regeln.«

Der Sicherheitschef der Bank wandte sich mit energischem Ton an Orinda: »Wir erwarten von Ihnen, daß Sie uns bei der Aufrechterhaltung der Ordnung helfen, drinnen und draußen. Unsere Wächter werden bekanntgeben, wie viele Personen gleichzeitig eingelassen werden und wo sich die Wartenden anstellen sollen.«

Der andere nickte zustimmend. »Natürlich werden meine Freunde und ich alles tun, um Ihnen zu helfen, Sir. Auch wir wollen keinesfalls die Ordnung stören. Aber wir werden von Ihnen Fairneß erwarten.«

»Was soll das heißen?«

»Wir hier drinnen«, erklärte Orinda, »und unsere Freunde da draußen sind Kunden genau wie alle anderen, die diese Bank betreten. Wir sind bereit, geduldig zu warten, bis wir an der Reihe sind, aber wir erwarten, daß keine anderen Kunden bevorzugt behandelt und außer der Reihe abgefertigt werden. Mit anderen Worten, wer neu eintrifft, ganz egal, wer er ist, muß sich hinten anstellen, genau wie wir.«

»Das werden wir sehen.«

»Auch wir werden darauf achten, Sir. Denn wenn Sie es anders handhaben, werden wir das eindeutig als Diskriminierung auffassen. Und das lassen wir uns nicht gefallen.«

Die Reporter machten, wie Edwina bemerkte, emsig weiter Notizen.

Sie bahnte sich einen Weg durch das Gedränge zu den drei Schreibtischen für Kontoeröffnungen, die schon durch zwei weitere ergänzt waren; noch zwei neue wurden eingerichtet.

An einem der Aushilfstische arbeitete Mrs. Juanita Nunez, wie Edwina jetzt erst sah. Sie fing Edwinas Blick auf, und sie lächelten einander zu. Edwina fiel plötzlich ein, daß Mrs. Nunez auch in Forum East wohnte. Hatte sie von der geplanten Invasion gewußt? Dann sagte sie sich: Wie auch immer, ändern würde sich nichts daran.

Zwei der jüngeren gehobenen Angestellten der Bank überwachten die Einrichtung der neuen Konten, und es war vorauszusehen, daß an diesem Tag jede andere Arbeit der Filiale ernstlich in Rückstand geraten würde.

Der schwer gebaute schwarze Mann, der zu den ersten Neuankömmlingen gehört hatte, stand auf, als Edwina den Tisch erreichte. Das junge Mädchen, das ihn abgefertigt hatte, sagte, jetzt ohne Zeichen von Nervosität: »Das ist Mr. Euphrates. Er hat gerade ein Konto eröffnet.«

»Deacon Euphrates. So nennen mich die meisten jedenfalls.« Edwina wurde eine riesige Pranke dargeboten, die sie ergriff.

»Willkommen in der First Mercantile American, Mr. Euphrates.«

»Danke, das ist wirklich nett von Ihnen. So nett, finde ich, daß ich einfach noch 'n bißchen mehr Moos auf das Konto packen will.« Er betrachtete eine Handvoll Kleingeld, wählte ein 25-Cent-Stück und zwei 10-Cent-Münzen aus und schlenderte dann zu einem Kassierer hinüber.

Edwina fragte die Angestellte: »Wieviel hat er bei der Eröffnung eingezahlt?«

»Fünf Dollar.«

»Gut. Versuchen Sie bitte, so schnell wie möglich zu arbeiten.«

»Das will ich gern tun, Mrs. D'Orsey, aber der eben hat viel Zeit gekostet, weil er eine Menge Fragen gestellt hat, wie man abhebt und wie unsere Zinssätze sind. Er hatte die Fragen schriftlich bei sich.«

»Haben Sie den Zettel mit den Fragen?«

»Nein.«

»Wahrscheinlich werden auch andere so einen Zettel haben. Versuchen Sie, einen davon dazubehalten, und zeigen Sie ihn mir dann.«

Der Zettel könnte einen Hinweis geben, dachte Edwina, wer diese professionelle Invasion geplant und organisiert hatte. Sie hatte nicht den Eindruck, daß irgendeiner, mit dem sie bisher gesprochen hatte, der Organisator der Aktion sein konnte.

Etwas anderes wurde aber jetzt deutlich. Der Versuch, die Bank zu überschwemmen, würde sich nicht nur auf die Eröffnung neuer Konten beschränken. Diejenigen, die schon ein Konto eröffnet hatten, standen jetzt vor den Kassenschaltern an. Sie zahlten winzige Summen ein oder hoben ebenso winzige Summen ab. Das Ganze geschah mit dem Tempo eines vorrückenden Gletschers, denn sie stellten endlose Fragen oder verwickelten die Kassierer in freundliche Gespräche.

Die Stammkunden der Filiale wurden also nicht nur behindert, das Gebäude zu betreten; die Behinderungen gingen weiter, wenn sie erst einmal drinnen waren.

Sie berichtete Nolan Wainwright von der schriftlichen Fragenliste und von der Anweisung, die sie der jungen Angestellten gegeben hatte.

Der Sicherheitschef nickte zustimmend. »So einen Zettel würde ich mir auch gern mal ansehen.«

»Mr. Wainwright«, rief eine Sekretärin herüber, »Telefon.«

Er meldete sich, und Edwina hörte, wie er sagte: »Es ist eine Demonstration, wenn auch nicht im Sinne des Gesetzes. Aber es ist alles friedlich, und wir können uns in die Nesseln setzen, wenn wir übereilte Entscheidungen treffen. Eine Konfrontation wäre das letzte, was wir gebrauchen können.«

Es war ein Trost, dachte Edwina, sich auf Wainwrights Zuverlässigkeit und Vernunft stützen zu können. Als er den Hörer wieder auflegte, schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf, »Irgend jemand hat davon geredet, die Polizei zu rufen«, sagte sie.

»Die waren schon da, als ich kam, und ich habe sie wieder weggeschickt. Die sind im Nu wieder zur Stelle, wenn wir sie brauchen. Ich hoffe nicht, daß es dazu kommt.« Er zeigte auf das Telefon und dann hinüber zum Tower der Zentrale. »Die Chefetage weiß schon Bescheid. Die drücken da auf sämtliche Alarmknöpfe.«

»Sie sollten lieber versuchen, die Mittel für Forum East wieder bereitzustellen.«

Zum erstenmal seit seiner Ankunft glitt ein kurzes Lächeln über Wainwrights Gesicht. »Das fände ich auch gut. Aber so erreicht man das nicht, und wo es um das Geld der Bank geht, wird Druck von außen nichts ändern.«

Edwina wollte gerade sagen: »Wer weiß«, aber dann besann sie sich anders und schwieg.

Sie betrachteten wieder die Szene und stellten fest, daß die Menschenmenge, die die Schalterhalle der Bank mit Beschlag belegt hatte, unvermindert groß war; der Lärm war eher noch ein wenig angeschwollen.

Draußen wurde die Schlange immer länger, sie wich und wankte nicht.

Es war jetzt 9.45 Uhr.

4

Ebenfalls um 9.45 Uhr und drei Straßenblocks von der Zentrale der First Mercantile American entfernt, betrieb Margot Bracken einen Befehlsstand von einem unauffällig geparkten Volkswagen aus.

Margot hatte sich von der Ausführung ihrer Strategie, die Bank unter Druck zu setzen, fernhalten wollen, aber das war dann doch nicht möglich gewesen. Wie ein Schlachtroß, das bei der Witterung von Pulverdampf ungeduldig den Boden scharrt, war sie in ihrem Entschluß wankend geworden und hatte ihn schließlich ganz aufgegeben.

Aber sie wollte nach wie vor vermeiden, Alex oder Edwina in Verlegenheit zu bringen, und deshalb hielt sie sich wenigstens von der vordersten Front des Geschehens auf der Rosselli Plaza fern.

Erschiene sie dort, würden die Reporter sie sofort erkennen, und daß die Presse zugegen war, wußte Margot nur zu genau, da sie selbst dafür gesorgt hatte, daß Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk benachrichtigt wurden.

Deshalb trugen ihr Kuriere diskret Meldungen über die Frontlage zu und brachten ebenso diskret Instruktionen zurück.

Seit Donnerstag abend war ein erhebliches Maß an Organisationsarbeit geleistet worden.

Während Margot am Freitag den Generalplan ausarbeitete, rekrutierten Seth, Deacon und mehrere Komitee-Mitglieder in Forum East und Umgebung Blockwarte. Sie erklärten nur in ungefähren Umrissen, was getan werden sollte, aber sie fanden ein geradezu überwältigendes Echo. Fast jeder, den sie ansprachen, wollte selbst ein Stück Arbeit übernehmen und kannte andere, auf die man sich verlassen konnte.

Als am Sonntag abend die Listen aufaddiert wurden, standen schon fünfzehnhundert Namen fest. Weitere kamen ununterbrochen hinzu. Nach Margots Plan würde es möglich sein, die Aktion mindestens eine Woche lang in Gang zu halten und womöglich noch länger, wenn es gelang, die Begeisterung immer wieder neu anzufachen.

Unter den Männern, die in einem festen Arbeitsverhältnis standen, gab es viele, denen noch Urlaubstage zustanden; sie waren bereit, diesen Urlaub dafür zu opfern. Andere sagten, sie würden notfalls unbezahlten Urlaub nehmen oder ganz einfach blaumachen. Viele Freiwillige waren bedauerlicherweise arbeitslos; saisonbedingte Arbeitslosigkeit hatte ihre Zahl anschwellen lassen.

Aber die Frauen herrschten an Zahl vor, teils, weil sie tagsüber eher Zeit erübrigen konnten, aber auch deshalb, weil Forum East ihnen - mehr noch als den Männern - zu einem Leuchtturm der Hoffnung in ihrem Leben geworden war.

Margot wußte das, sowohl von ihrer Organisationsarbeit her als auch aus den Berichten, die sie an diesem Morgen bekam.

Die bisher eingetroffenen Meldungen waren höchst zufriedenstellend.

Margot hatte darauf bestanden, daß jedes einzelne Mitglied des Forum East-Kontingents freundlich, höflich und betont hilfsbereit auftreten solle, insbesondere bei jedem direkten Kontakt mit Vertretern der Bank. Damit unterstrichen sie das Wort vom »Akt der Hoffnung«, das Margot geprägt hatte, und dokumentierten, daß hier eine Gruppe interessierter Bürger -wenn auch mit begrenzten Mitteln - der »in finanzielle Notlage« geratenen FMA zur »Hilfe« eilte.

Sie ging von der Vermutung aus, daß jeder Hinweis, die First Mercantile American könne sich so oder so in einer Notlage befinden, einen höchst empfindlichen Nerv treffen würde.

Der Zusammenhang mit Forum East sollte keineswegs vertuscht werden, doch durften direkte Drohungen nicht ausgesprochen werden - zum Beispiel, daß die Lähmung der großen Bank andauern werde, bis die Baufinanzierung im alten Umfang wiederaufgenommen würde. Margot hatte Seth Orinda und den anderen eingeschärft: »Diesen Schluß soll die Bank selber ziehen.«

In Einweisungsgesprächen hatte sie immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, daß jeder Anschein einer Drohung, Nötigung oder Einschüchterung vermieden werden müsse. Die Teilnehmer an diesen Gesprächen machten Notizen und gaben sie an andere weiter.

Ebenfalls weitergegeben wurden Listen mit Fragen, die gestellt werden sollten, während die Konten eröffnet wurden. Auch diese Listen hatte Margot ausgearbeitet. Es gab Hunderte von legitimen Fragen, die jeder, der mit einer Bank zu tun hatte, vernünftigerweise stellen konnte, auch wenn die meisten Bankkunden darauf verzichteten. Sie würden den nützlichen Nebeneffekt haben, daß die Bankgeschäfte praktisch zum Stillstand kamen.

Falls die Gelegenheit sich ergab, sollte Seth Orinda als Sprecher auftreten. Margots Drehbuch bedurfte nicht vieler Proben. Orinda begriff schnell.

Deacon Euphrates hatte den Auftrag, ganz vorn in der Schlange zu stehen und als erster ein neues Konto zu eröffnen.

Was übrigens den Namen Deacon anging, so wußte niemand, ob es sein Taufname war oder der von einer der religiösen Sekten, die es in dem Viertel reichlich gab, verliehene Titel »Diakon«. Deacon hatte es in der vorbereitenden Generalstabsarbeit übernommen, den Freiwilligen zu erklären, wann sie wohin gehen sollten. Er hatte mit einer ganzen Armee von Helfern gearbeitet, die in alle Richtungen ausgeschwärmt waren.

Für den Beginn, für Mittwoch morgen, war es wesentlich, daß ein Massenandrang einsetzte, um einen möglichst nachhaltigen Eindruck zu machen. Aber einige der Teilnehmer mußten von Zeit zu Zeit abgelöst werden. Andere, die noch nicht aufgetreten waren, hielten sich für die Mittags- und Nachmittagsstunden oder für die nächsten Tage bereit.

Um den reibungslosen Ablauf zu garantieren, war ein Nachrichtensystem improvisiert worden, das sich die Telefonzellen der Umgebung zunutze machte und das von anderen Helfern im Straßendienst betrieben wurde. Schon jetzt funktionierte die Kommunikation recht gut, von einigen Schwächen abgesehen, wie sie in einem kurzfristig angesetzten und improvisierten System unvermeidlich sind.

Berichte über alle diese Details fanden ihren Weg zu Margot, die sich auf dem Rücksitz ihres Volkswagens eingerichtet hatte. Sie wurde laufend über die Zahl der Wartenden in der Schlange informiert, über die Zeit, die die Bank für die Eröffnung jedes neuen Kontos benötigte, und über die Anzahl der Schreibtische, an denen die Anträge bearbeitet wurden. Sie hatte auch ein klares Bild von dem ungeheuren Gedränge in der Schalterhalle gewonnen und wußte über die Gespräche zwischen Seth Orinda und den Bankbeamten Bescheid.

Margot stellte Berechnungen an, dann wandte sie sich dem zuletzt eingetroffenen Kurier zu, einem schlaksigen Burschen, der jetzt auf dem vorderen Beifahrersitz des Wagens wartete: »Sagen Sie Deacon, daß er vorläufig keine neuen Freiwilligen mehr hinzuziehen soll; es sieht so aus, als reichten die Leute für heute. Lassen Sie einige von den noch Draußenstehenden vorübergehend ablösen, aber nicht mehr als höchstens fünfzig zur Zeit. Erinnern Sie sie aber daran, daß sie rechtzeitig zurück sein müssen, um sich ihren Lunch abzuholen. Und was das Essen betrifft: Daß mir niemand Papier oder Abfälle auf die Rosselli Plaza wirft und Speisen oder Getränke mit in die Bank nimmt!«

Das Thema Essen erinnerte Margot daran, daß die Geldfrage Anfang der Woche kein geringes Problem gewesen war.

Am Montag war aus den Berichten, die laufend von Deacon Euphrates eintrafen, deutlich geworden, daß viele Freiwillige keine fünf Dollar erübrigen konnten - die Mindestsumme, die man brauchte, um ein Konto bei der FMA zu eröffnen. Der Mieterverband von Forum East hatte praktisch kein Geld. Eine Zeitlang sah es so aus, als sollte das Projekt scheitern.

Dann führte Margot ein Telefongespräch. Sie führte es mit einer Gewerkschaft - dem Amerikanischen Verband der Angestellten, Kassierer und Kontoristen, der jetzt die Interessen der Hausmeister, Pförtner und Putzfrauen vom Flughafen vertrat, denen sie vor einem Jahr geholfen hatte.

Ob die Gewerkschaft mit einem Darlehen aushelfen könne -genug, um jedem Freiwilligen, der selbst nicht so viel flüssig hatte, fünf Dollar in bar zu geben? Die Gewerkschaftsführer beriefen eilig eine Sondersitzung ein. Die Gewerkschaft stimmte zu.

Am Dienstag halfen Angestellte der Gewerkschaftszentrale Deacon Euphrates und Seth Orinda bei der Verteilung des Geldes. Alle Beteiligten waren sich darüber im klaren, daß ein Teil nie zurückgezahlt werden würde, daß andere Fünf-DollarDarlehen schon am Dienstag abend ausgegeben, die ursprünglichen Zwecke und Ziele vergessen oder ignoriert sein würden. Aber sie glaubten, daß der größte Teil des Geldes doch für den beabsichtigten Zweck verwendet würde. Nach den Erfahrungen dieses Morgens zu urteilen, hatten sie sich nicht getäuscht.

Die Gewerkschaft hatte auch angeboten, den Lunch zu organisieren und zu finanzieren. Das Angebot wurde angenommen. Margot hatte den Eindruck, daß die Gewerkschaft dabei auch an ihre eigenen Interessen dachte, kam aber zu dem Schluß, daß diese Interessen nicht mit den Zielen von Forum East kollidierten und sie deshalb nichts angingen.

Sie fuhr mit ihren Instruktionen für den zuletzt eingetroffenen Kurier fort. »Die Schlange muß bleiben, bis die Bank um drei Uhr schließt.«

Es war durchaus möglich, dachte sie, daß die Nachrichtenmedien in der letzten Minute vor dem ersten Redaktionsschluß noch ein paar aktuelle Fotos machen wollten, deshalb war es wichtig, für den Rest dieses Tages anschaulich Stärke zu demonstrieren.

Die Pläne für morgen konnten heute am späten Abend aufeinander abgestimmt werden. Im wesentlichen würde es sich um eine Wiederholung der bisher geübten Taktik handeln.

Glücklicherweise war das Wetter günstig - ungewöhnlich milde Temperaturen bei vorwiegend klarem Himmel. Die Voraussagen für die nächsten Tage schienen gut zu sein.

»Und betonen Sie immer wieder«, schärfte Margot eine halbe Stunde später einem anderen Kurier ein, »daß jeder von uns freundlich, freundlich und noch einmal freundlich aufzutreten hat. Auch wenn die Leute von der Bank rüde werden oder ungeduldig - wir antworten mit einem Lächeln.«

Um 11.45 Uhr erschien Seth bei Margot und erstattete persönlich Bericht. Breit lächelnd hielt er ihr die Frühausgabe einer Nachmittagszeitung hin.

»Donnerwetter!« Margot breitete die erste Seite vor sich aus.

Die Ereignisse vor und in der Bank nahmen fast den gesamten vorhandenen Platz ein. Die Berichterstattung war viel ausführlicher, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Die Hauptschlagzeile lautete:

GROSSBANK LAHMGELEGT DURCH FORUM EAST-BEWOHNER

Und darunter hieß es:

Ist die First Merc American in Schwierigkeiten?

Viele wollen ihr »helfen« mit kleinen Spar-Einlagen

Es folgten Fotos und eine zweispaltige Reportage mit Autorenzeile.

»Meine Güte«, stöhnte Margot begeistert. »Das wird die FMA-Leute aber freuen!«

Sie freuten sich überhaupt nicht.

Am frühen Nachmittag fand in der Präsidenten-Suite im 36. Stock des Towers der Zentrale der First Mercantile American eine hastig einberufene Konferenz statt.

Jerome Patterton und Roscoe Heyward waren da, beide mit grimmigem Gesicht. Alex Vandervoort gesellte sich zu ihnen. Auch er war ernst, doch wirkte Alex, je weiter die Diskussion voranschritt, weniger engagiert als die anderen; er machte einen eher nachdenklichen Eindruck, und ein- oder zweimal schien er tatsächlich belustigt zu sein. Der vierte Teilnehmer war Tom Straughan, der junge und emsige Chef-Volkswirtschaftler der Bank; der fünfte war Dick French, Vizepräsident für Public Relations.

Mit vorgeschobener Kinnlade, auf einer nicht angesteckten Zigarre kauend, war der bullige French hereinmarschiert, mit einem Bündel der Nachmittagszeitungen unter dem Arm, die er jetzt vor den anderen auf den Tisch knallte.

Jerome Patterton, der an seinem Schreibtisch saß, breitete eine Zeitung aus. Als er die Worte las: »Ist die First Merc American in Schwierigkeiten?«, platzte es aus ihm heraus: »Das ist ja eine Unverschämtheit! Die Zeitung müssen wir verklagen!«

»Da gibt es nichts zu verklagen«, sagte French mit gewohnt barscher Deutlichkeit. »Die Zeitung hat es nicht als Tatsache behauptet. Sie stellt nur eine Frage, und diese Frage taucht an anderer Stelle im Text als wörtliches Zitat auf. Zitiert wird ein Dritter. Und die ursprüngliche Aussage ist nicht als geschäftsschädigend anzusehen.« Wie er da stand, die Hände auf dem Rücken, mit der Zigarre zwischen den Zähnen, daß sie ihm wie ein anklagender Torpedo aus dem Gesicht ragte, wirkte er ziemlich uninteressiert.

Patterton lief dunkelrot an.

»Natürlich ist es geschäftsschädigend«, fauchte Roscoe Heyward. Er hatte bisher am Fenster gestanden und sich jetzt mit einem Ruck den andern vier wieder zugewandt. »Das ganze Manöver ist Geschäftsschädigung reinsten Wassers. Das sieht der Dümmste.«

French seufzte. »Na gut, dann muß ich eben deutlicher werden. Ich weiß nicht, wer dahintersteckt, aber ich weiß, daß derjenige etwas vom Gesetz und von Public Relations versteht. Das Manöver, wie Sie es nennen, ist sehr geschickt als Akt freundlicher Hilfsbereitschaft gegenüber dieser Bank aufgezogen. Okay, wir hier wissen, daß es das nicht ist; aber das werden Sie nie und nimmer beweisen. Ich schlage deshalb vor, daß wir keine Zeit mehr damit verschwenden, darüber zu reden.«

Er nahm eine der Zeitungen in die Hand und breitete die erste Seite aus. »Ich beziehe hier mein fürstliches Gehalt, weil ich Experte für Nachrichten- und Medienangelegenheiten bin. In diesem Augenblick sagt mir meine Erfahrung, daß diese Story, die in fairem Ton gehalten ist, ob Ihnen das nun schmeckt oder nicht, von jeder Nachrichtenagentur im ganzen Land über Ticker ausgespuckt wird und daß die Zeitungen sie drucken werden. Warum? Weil es eine David-und-Goliath-Geschichte ist, die überall menschliche Anteilnahme erregen wird.«

Tom Straughan, der neben Vandervoort saß, sagte ruhig: »Das kann ich bestätigen. Die Geschichte ist über den Dow JonesNachrichtenticker gelaufen, und gleich danach ist unser Kurs um einen weiteren Punkt abgesackt.«

»Noch eins«, fuhr Dick French fort, als wäre er überhaupt nicht unterbrochen worden, »wir können uns innerlich schon auf die Fernsehnachrichten von heute abend gefaßt machen. Die Regionalsender werden sich auf die Sache stürzen, und mein Riecher sagt mir, daß wir auch in den drei großen überregionalen Fernsehprogrammen vorkommen werden. Und wenn ein Texter sich das Wort von der >Bank in Schwierigkeiten< verkneifen kann, dann freß' ich meine Bildröhre.«

Heyward fragte kalt: »Sind Sie jetzt fertig?«

»Nicht ganz. Ich möchte nur noch sagen, wenn ich meinen gesamten Jahresetat für Public Relations auf eine Sache verwendet hätte, nur eine einzige Sache, nämlich darauf, dieser Bank ein mieses Image zu geben, dann hätte ich auf keinen Fall mehr Schaden anrichten können als den, den ihr hier ganz ohne meine Hilfe angerichtet habt.«

Dick French hatte einen persönlichen Grundsatz, nämlich, daß ein guter PR-Mann jeden Tag mit der inneren Bereitschaft zur Arbeit gehen muß, sofort und auf der Stelle zu kündigen. Wenn Wissen und Erfahrung von ihm verlangten, daß er seinen Vorgesetzten unangenehme Tatsachen unter die Nase rieb, die sie nicht gerne hörten, und zwar mit brutalster Offenheit, dann wollte er es in Gottes Namen auch tun. Offenheit gehörte zum PR-Geschäft - sie war ein Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. Weniger als das zu tun oder sich durch Schweigen oder Leisetreterei Liebkind zu machen, das kam für ihn einer Pflichtverletzung gleich.

An einigen Tagen war mehr Grobheit erforderlich als an anderen. Heute schien ihm so ein Tag zu sein.

Grollend fragte Roscoe Heyward: »Wissen wir schon, wer das organisiert hat?«

»Nicht im einzelnen«, sagte French. »Ich habe mit Nolan gesprochen, und er sagt, er geht der Sache nach. Nicht, daß es an der Sachlage etwas ändert.«

»Falls Sie an den allerneuesten Nachrichten interessiert sind«, sagte Tom Straughan, »ich bin gerade erst durch den Tunnel von der Filiale hergekommen. Die Bude ist noch gerammelt voll von Demonstranten. Es kommt praktisch keiner rein, der da reguläre Geschäfte erledigen will.«

»Das sind keine Demonstranten«, korrigierte Dick French ihn. »Das wollen wir gleich klarstellen, wo wir schon mal dabei sind. Sie finden da kein Plakat, kein Spruchband, keine Parole -ausgenommen vielleicht >Akt der Hoffnung«! Das sind alles Kunden, und darin liegt das Problem.«

»Also gut«, sagte Jerome Patterton, »da Sie ja so gut Bescheid wissen - was schlagen Sie vor?«

Der PR-Vizepräsident zuckte die Achseln. »Sie hier haben den Teppich unter Forum East weggezogen. Sie können ihn also auch wieder hinlegen.«

Roscoe Heywards Miene erstarrte.

Patterton drehte sich zu Vandervoort um. »Alex?«

»Meine Haltung zu dem Thema kennen Sie ja«, sagte Alex; er nahm jetzt zum ersten Mal das Wort. »Ich war von Anfang an gegen die Kreditbeschränkung. Ich bin es noch.«

»Dann sind Sie wahrscheinlich ganz begeistert von dem, was da vor sich geht. Und wahrscheinlich würden Sie diesen Gangstern und ihrer Nötigungstaktik frohen Herzens nachgeben«, bemerkte Heyward sarkastisch.

»Ich bin ganz und gar nicht begeistert.« Alex' Augen funkelten zornig. »Im Gegenteil, ich bin verärgert und empört, daß die Bank in eine derartige Situation hineinmanövriert werden konnte. Dabei hätten wir im Grunde die Sache vorhersehen können, nicht, was jetzt passiert ist - aber wir hätten mit irgendeiner Reaktion, irgendeinem Widerstand rechnen müssen. Im Augenblick kommt es aber nur auf eines an: Wie bringen wir die Geschichte wieder ins Lot?«

Heyward schnaubte hämisch: »Sie würden also den Drohungen und der Nötigung weichen, Sie würden nachgeben. Ganz wie ich gesagt habe.«

»Nachgeben oder nicht, darum geht es hier doch gar nicht«, erwiderte Alex kalt. »Die Kernfrage lautet: War es richtig oder war es falsch, daß wir Forum East die Gelder beschnitten haben? War es falsch, dann sollten wir es uns noch mal durch den Kopf gehen lassen und vor allem auch den Mut aufbringen, unseren Fehler zuzugeben.«

Jerome Patterton bemerkte: »Noch mal durch den Kopf gehen lassen ist ja schön und gut. Aber wie stehen wir da, wenn wir jetzt klein beigeben!«

»Na und? Was macht das schon, Jerome?« sagte Alex.

Dick French warf ein: »Die finanzielle Seite der Sache geht mich nichts an. Ich weiß. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Wenn wir uns dazu entschließen könnten, unsere Bankpolitik gegenüber Forum East zu ändern, dann stünden wir ganz groß da.«

Roscoe Heyward wandte sich mit ätzender Schärfe an Alex: »Sie haben vorhin von Mut geredet; den muß ich Ihnen aber leider absprechen. Sie wollen vor dem Pöbel kapitulieren.«

Ungeduldig schüttelte Alex den Kopf. »Hören Sie doch auf, wie ein Kleinstadt-Sheriff zu reden, Roscoe. Eine falsche Entscheidung nicht zurückzunehmen, ist manchmal nichts als Starrköpfigkeit. Und die Leute in der Cityfiliale sind kein Pöbel. Das geht klar aus allen Berichten hervor, die bisher eingelaufen sind.«

»Sie scheinen denen ja eine gewisse Sympathie entgegenzubringen«, sagte Heyward argwöhnisch. »Wissen Sie mehr als wir?«

»Nein.«

»Trotz allem, Alex«, sagte Jerome zögernd, »der Gedanke, klein beizugeben, gefällt mir nicht.«

Tom Straughan war den Argumenten beider Seiten gefolgt.

Jetzt sagte er: »Ich war dagegen, die Gelder für Forum East zu drosseln, das ist bekannt. Aber mir gefällt es auch nicht, mich von außen unter Druck setzen zu lassen.«

Alex seufzte. »Wenn Sie alle einer Meinung sind, bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als eine Zeitlang auf unsere Cityfiliale zu verzichten.«

»Das Gesindel kann das doch unmöglich durchhalten«, erklärte Heyward. »Wenn wir uns nicht bluffen lassen, wenn wir uns nicht in die Enge treiben lassen, wird die ganze Sache morgen im Sand versickern, das prophezeie ich Ihnen.«

»Und ich prophezeie«, sagte Alex, »daß es die ganze nächste Woche so weitergehen wird.«

Am Ende erwiesen sich beide Voraussagen als falsch.

Da die Bank offensichtlich nicht zum Nachgeben bereit war, setzte sich die Überschwemmung der Hauptgeschäftsstelle der Bank durch Forum East-Parteigänger am Donnerstag und am Freitag fort, bis zum Schluß der Schalterstunden am späten Freitagnachmittag.

Die große Filiale war nahezu hilflos. Und wie Dick French prophezeit hatte, wurden die Auseinandersetzungen im ganzen Land mit Aufmerksamkeit verfolgt.

Im allgemeinen nahm man die Sache humorvoll. Weniger belustigt waren die Börsianer, und die Aktien der First Mercantile American Bank fielen bei New Yorker Börsenschluß am Freitag um weitere zweieinhalb Punkte.

Unterdessen setzten Margot Bracken, Seth Orinda, Deacon Euphrates und andere ihre Planung und die Anwerbung immer neuer Freiwilliger fort.

Am Montag morgen kapitulierte die Bank.

Auf einer hastig für 10.00 Uhr einberufenen Pressekonferenz gab Dick French bekannt, daß die Forum East-Finanzierung sofort in vollem Umfang wiederaufgenommen werde. Im Namen der Bank verlieh French gutgelaunt der Hoffnung Ausdruck, daß die vielen Bürger von Forum East und deren Freunde, die in den letzten Tagen ein Konto bei der FMA eröffnet hatten, Kunden der Bank bleiben möchten.

Die Kapitulation hatte mehrere zwingende Gründe. Einer dieser Gründe war die Tatsache, daß die Menschenschlange vor Öffnung der Schalter am Montag morgen vor der Filiale und auf der Rosselli Plaza noch länger war als an den vorangegangenen Tagen; es unterlag also keinem Zweifel, daß sich die Ereignisse der vergangenen Woche wiederholen würden.

Bestürzender aber war, daß eine zweite lange Menschenschlange sich vor einer anderen FMA-Bankfiliale bildete, die sich im vor städtischen Indian Hill befand. Unerwartet kam das nicht. Eine Ausweitung der Forum East-Aktion auf andere Filialen der First Mercantile American war von den Sonntagszeitungen vorausgesagt worden. Als sich die Schlange in Indian Hill zu formieren begann, rief der Geschäftsführer beunruhigt die FMA-Zentrale an und bat um Hilfe.

Entscheidend aber war ein letzter Faktor.

Am Wochenende gab die Gewerkschaft, die dem Mieterausschuß von Forum East Geld geliehen und den kostenlosen Lunch für die Schlangestehenden geliefert hatte -der Amerikanische Verband der Angestellten, Kassierer und Kontoristen -, öffentlich ihre Beteiligung bekannt. Sie sagte zusätzliche Unterstützung zu. Ein Sprecher der Gewerkschaft geißelte die FMA als »selbstsüchtige und gefräßige MammutProfitmaschine, einzig darauf eingestellt, die Reichen auf Kosten der Habenichtse noch reicher zu machen«. Er fügte hinzu, man werde in Kürze mit intensiver Mitgliederwerbung unter Bankangestellten beginnen.

Das war kein Strohhalm, den die Gewerkschaft da in die Waagschale geworfen hatte, sondern eine ganze Fuhre Ziegelsteine, und die gab den Ausschlag.

Banken - alle Banken - fürchteten, ja, haßten die Gewerkschaften. Die führenden Banker betrachteten die Gewerkschaften mit den gleichen Gefühlen, die eine Schlange beim Anblick eines Mungo bewegen mochten. Nisteten die Gewerkschaften sich ein, werde ihre wirtschaftliche Handlungsfreiheit gefährdet sein, meinten die Banker. Das waren manchmal irrationale Ängste, aber sie existierten.

Obwohl die Gewerkschaften oft genug einen Anlauf unternommen hatten, so waren sie doch bei den Bankangestellten in den seltensten Fällen vorangekommen. Immer wieder war es den Bankern geschickt gelungen, die Gewerkschafts-Organisatoren zu überlisten, und so wollten sie es unbedingt auch weiterhin halten. Gab die Situation in Forum East den Gewerkschaften einen wirksamen Hebel in die Hand, dann mußte der Hebel beseitigt werden. Jerome Patterton, der schon zu früher Stunde in seinem Büro war und der mit ungewohnter Eile handelte, traf die letzte Entscheidung und genehmigte die Wiederaufnahme der Forum East-Finanzierung. Gleichzeitig billigte er die Erklärung der Bank, die Dick French dann in aller Eile veröffentlichte.

Danach zog Patterton, um seine Nerven zu beruhigen, sich vollständig von der Außenwelt zurück und übte kurze, schnelle Golfschläge auf dem Teppich seines Arbeitszimmers.

Im Laufe des Vormittags wurde die Wiedereröffnung der Kredite auf einer vorwiegend informellen Sitzung des finanzpolitischen Ausschusses zu Protokoll genommen, wobei Roscoe Heyward grollend sagte: »Mit dieser Kapitulation haben wir einen Präzedenzfall geschaffen, den wir noch bitter bereuen werden.«

Alex Vandervoort schwieg.

Als die Erklärung der FMA den Forum East-Anhängern bei beiden Bankfilialen verlesen wurde, gab es lauten Beifall, wonach die versammelten Gruppen ruhig auseinandergingen. Binnen einer halben Stunde verliefen die Geschäfte in beiden Filialen wieder normal.

Damit hätte die Sache beendet sein können, wenn es nicht ein Informationsleck gegeben hätte, das, in der Rückschau betrachtet, vielleicht unweigerlich kommen mußte. Dieses Leck bot Stoff für einen Zeitungskommentar, der in der Spalte »Mit dem Ohr am Boden« erschien, in derselben Klatschspalte also, die ursprünglich die ganze Angelegenheit an die Öffentlichkeit gebracht hatte.

Haben Sie sich nicht auch schon gefragt, wer eigentlich in Wahrheit hinter den Leuten aus Forum East steckte, die in dieser Woche die stolze und mächtige First Mercantile American Bank in die Knie gezwungen haben? Wir können es Ihnen verraten. Es war die Bürgerrechts-Anwältin und Frauenrechtlerin Margot Bracken - berühmt geworden durch das Toiletten-Sit-in vom Flughafen und andere Schlachten, geschlagen für die Armen und Getretenen. Obwohl auch das »Bank-in« ihre Idee war und sie die Organisatorin des Ganzen war, zog es Miss Bracken diesmal vor, im Hintergrund zu bleiben. Sie schickte andere an die Front und ging der Presse, die sonst ihre Verbündete ist, strikt aus dem Weg. Finden Sie das nicht auch verwunderlich?

Aber Sie brauchen sich nicht länger zu wundern. Margots großer und guter Freund, mit dem sie oft und überall gesehen wird, ist kein Geringerer als Swinging Banker Alexander Vandervoort, Direktor und Vize der First Merc. Am. Angenommen, Sie steckten in Margots eleganten Stiefeln und hätten die Verbindung am Kochen, würden Sie sich dann nicht auch unsichtbar machen?

Aber eins würde uns doch interessieren: Wußte Alex von der Belagerung seines eigenen Ladens, und fand er die Idee gut?

5

»Verdammt, Alex«, sagte Margot, »es tut mir scheußlich leid.«

»Daß es so geschehen mußte, mir auch.«

»Diesem Stinktier von einem Kolumnisten könnte ich die Haut bei lebendigem Leibe abziehen. Der einzige Trost dabei ist, daß er meine Verwandtschaft mit Edwina nicht auch noch erwähnt hat.«

»Davon wissen die meisten Leute nichts«, sagte Alex, »nicht mal in der Bank. Außerdem sind Liebende spannender als Kusinen.«

Es war kurz vor Mitternacht. Sie waren in Alex' Apartment, und es war ihre erste Begegnung seit Beginn der Belagerung der FMA-Cityfiliale. Die Kolumne »Mit dem Ohr am Boden« war am Vortag erschienen.

Margot war erst vor ein paar Minuten gekommen, nachdem sie einen Mandanten in einer Nachtsitzung des Schnellgerichts vertreten hatte - ihr Schützling war ein wohlhabender Gewohnheitstrinker, dessen Angewohnheit, im Suff auf jeden loszugehen, ihn zu einer ihrer wenigen regelmäßigen Einnahmequellen machte.

»Der Kolumnist hat nur seinen Job getan«, sagte Alex. »Und dein Name wäre irgendwann doch ans Licht gekommen.«

Schuldbewußt sagte sie: »Ich habe alles versucht, um das zu verhindern. Nur ein paar Leute wußten, was ich vorhatte, und so sollte es bleiben.«

Er schüttelte den Kopf. »Die Chance war gleich Null. Heute morgen hat Nolan Wainwright zu mir gesagt - und zwar wörtlich: >Der Scherz trug Margot Brackens Handschrift.< Und Nolan hatte schon angefangen, Leute auszufragen. Er war früher bei der Kriminalpolizei, weißt du. Irgend jemand hätte bestimmt aus der Schule geplaudert, wenn die Zeitung nicht damit herausgekommen wäre.«

»Aber sie hätten deinen Namen nicht mit hineinzuziehen brauchen.«

»Wenn ich ehrlich sein will« - Alex lächelte -, »mir hat das mit dem >Swinging Banker« ganz gut gefallen.«

Aber es war ein gequältes Lächeln, und er spürte, daß Margot es wußte. Die Zeitungsnotiz hatte ihn in Wirklichkeit tief getroffen. Auch jetzt, in der Nacht, war er immer noch deprimiert, obwohl er sich sehr gefreut hatte, als Margot vorhin angerufen und gesagt hatte, daß sie auf dem Weg zu ihm sei.

»Hast du heute mit Edwina gesprochen?« erkundigte er sich.

»Ich hab' sie angerufen. Sie wirkte keineswegs sonderlich erregt. Ich glaube, wir haben uns längst aneinander gewöhnt. Außerdem ist sie froh, daß Forum East wieder auf die Schienen gestellt ist - und zwar ganz. Das muß dich doch auch freuen.«

»Was ich von dem Thema halte, weißt du ja. Aber das heißt noch längst nicht, daß ich deine zwielichtigen Methoden gutheiße, Bracken.«

Das war im Ton schärfer ausgefallen, als er beabsichtigt hatte. Margot reagierte prompt. »Was ich oder meine Leute getan haben, daran war gar nichts zwielichtig - was man von deiner gottverdammten Bank nicht gerade behaupten kann.«

Er hob abwehrend die Hand. »Komm, wir wollen uns nicht streiten. Nicht heute abend.«

»Dann sag so was auch nicht.«

»Ich tu's nicht wieder.«

In beiden war der momentane Zorn verraucht.

Nachdenklich sagte Margot: »Mal ehrlich, als die Sache losging, ist dir da nie der Gedanke gekommen, daß ich was damit zu tun haben könnte?«

»Ja. Einmal, weil ich dich kenne, und dann fiel mir ein, wie merkwürdig zurückhaltend du zum Thema Forum East gewesen bist, als ich darauf gefaßt war, daß du mich - und die FMA - in Stücke reißen würdest.«

»Hat das für dich die Sache erschwert - ich meine, während das Bank-in im Gange war?«

Er nickte. »Doch, ja. Ich war mir nicht sicher, ob ich den anderen etwas von meiner Vermutung sagen sollte oder nicht. Aber da es auch nichts an den Dingen geändert hätte, habe ich den Mund gehalten. Jetzt zeigt sich, daß es falsch war.«

»Weil man vermutet, du hättest von Anfang an Bescheid gewußt?«

»Roscoe ist davon überzeugt. Vielleicht auch Jerome. Bei den anderen bin ich mir nicht sicher.«

Nach einer zögernden Pause fragte Margot: »Macht es dir etwas aus? Macht es dir sehr viel aus?« Zum ersten Mal in der langen Zeit ihrer Verbindung schwang Angst in ihrer Stimme mit, die sich auch auf ihrem Gesicht abzeichnete.

Alex zuckte die Achseln. Dann fand er, er müsse sie beruhigen. »Ich glaube, im Grunde nicht. Mach dir keine Gedanken. Ich werd's überleben.«

Aber es machte etwas aus. Es machte in der FMA sehr viel aus, trotz allem, was er gerade gesagt hatte, und gerade wegen des Zeitpunkts war die Sache doppelt bedauerlich.

Alex war überzeugt, daß die meisten Direktoren der Bank die Zeitungsnotiz mit seinem Namen und der absolut logischen Frage gesehen hatten: Wußte Alex von der Belagerung seines eigenen Ladens, und fand er die Idee gut? Und wenn es wirklich einige gab, die den Artikel nicht gelesen hatten, dann würde Roscoe Heyward schon dafür sorgen, daß sie es taten.

Heyward hatte an seiner Einstellung keinen Zweifel gelassen.

Am Vormittag war Alex direkt zu Jerome Patterton gegangen, als der Bankpräsident um 10.00 Uhr eintraf. Aber Heyward, dessen Büro näher war, war ihm zuvorgekommen.

»Treten Sie näher, Alex«, hatte Patterton gesagt. »Wir können ja ebensogut zu dritt reden, anstatt zweimal unter vier Augen.«

»Bevor wir anfangen, Jerome«, sagte Alex zu ihm, »möchte ich als erster ein bestimmtes Thema anschneiden. Sie haben das hier gesehen?« Er legte einen Ausschnitt aus der Klatschkolumne vom Vortag auf den Schreibtisch.

Ehe Patterton antworten konnte, kam Heyward ihm zuvor. »Glauben Sie etwa, es gäbe auch nur einen einzigen Menschen in der Bank, der das nicht gesehen hat?« sagte er beißend.

Patterton seufzte. »Ja, Alex, ich hab' den Artikel gelesen. Es hat mich schon mindestens ein Dutzend Leute darauf aufmerksam gemacht, und es werden sich wohl noch mehr melden.«

Alex sagte mit fester Stimme: »Dann möchte ich Ihnen in aller Bestimmtheit versichern, daß es sich da um eine böswillige Unterstellung handelt und um nichts anderes. Sie haben mein Wort, daß ich nichts, absolut nichts von der ganzen Sache gewußt habe, weder was die Planung noch was die spätere Durchführung betrifft.«

»Es mag eine Menge Leute geben«, sagte Roscoe Heyward, »die angesichts Ihrer Verbindungen« - das letzte Wort wurde mit sarkastischer Betonung ausgesprochen - »eine derartige Ahnungslosigkeit für unwahrscheinlich halten würden.«

»Erklärungen, die ich hier abgebe«, sagte Alex mit schneidender Stimme, »sind an Jerome gerichtet.«

Heyward ließ sich nicht bremsen. »Wenn dem Ansehen der Bank in der Öffentlichkeit Schaden zugefügt wird, sind wir alle betroffen. Was Ihre sogenannte Erklärung angeht, so wollen Sie uns doch wohl nicht im Ernst weismachen, daß Sie von Mittwoch, Donnerstag, Freitag, über ein ganzes Wochenende bis in den Montag hinein keine Ahnung, nicht die leiseste Ahnung hatten, daß Ihre Freundin an der Sache beteiligt war?«

»Wirklich, Alex, das ist ein bißchen schwer vorstellbar«, sagte Patterton.

Alex fühlte, wie sein Gesicht rot anlief. Wieder stieg der Groll in ihm hoch, daß Margot ihn in diese absurde Lage gebracht hatte.

So ruhig er konnte, berichtete er Patterton, wie er in der vergangenen Woche die Vermutung gehegt habe, daß Margot beteiligt sein könnte, daß er aber dann zu dem Schluß gelangt sei, nichts davon zu erwähnen, da es nichts zur Lösung des Problems beigetragen hätte. Alex fügte hinzu, daß er Margot seit mehr als einer Woche nicht mehr gesehen habe.

»Wie Nolan Wainwright mir heute morgen gesagt hat, ist ihm dieselbe Idee gekommen«, fügte Alex hinzu. »Aber auch Nolan hat nichts davon erwähnt, weil es auch bei ihm eben nicht mehr war als eine Ahnung, eine Vermutung, bis dieses Stück da in der Zeitung erschienen ist.«

»Der eine oder andere wird Ihnen schon glauben, Alex«, sagte Roscoe Heyward. Sein Ton und Gesichtsausdruck verrieten in aller Deutlichkeit: Ich aber nicht.

»Roscoe, ich bitte Sie!« sagte Patterton mit mildem Tadel. »Nun gut, Alex, ich akzeptiere Ihre Erklärung. Ich vertraue allerdings darauf, daß Sie Ihren ganzen Einfluß bei Miss Bracken geltend machen, daß sie in Zukunft ihre Artillerie auf andere Ziele richtet.«

Heyward fügte hinzu: »Am besten wäre es, sie stellt das Schießen ganz ein.«

»Darauf können Sie sich verlassen«, versicherte Alex dem Bankpräsidenten mit grimmigem Lächeln; Roscoes Einwurf überging er, als habe er ihn nicht gehört.

»Danke.«

Alex war davon überzeugt, daß das Thema für Patterton damit erledigt war und ihre Beziehungen, zumindest an der Oberfläche, zum Normalzustand zurückkehren würden. Was unter der Oberfläche weiterschwelen würde, dessen war er sich nicht so sicher. Wahrscheinlich würde die Frage der Loyalität Alex Vandervoorts im Herzen von Patterton und einigen anderen - darunter auch Direktoren - von nun an mit einer kleinen Fußnote des Zweifels versehen sein. Und wo das nicht der Fall war, mochte es Vorbehalte geben hinsichtlich der Gesellschaft, die Alex sich ausgesucht hatte.

Wie dem auch sein mochte, diese Zweifel und Vorbehalte würden gegen Ende des Jahres, wenn Jerome Pattertons Pensionierung näher rückte, in den Erwägungen der Mitglieder eine Rolle spielen, wenn das Direktorium sich wieder mit der Frage des zukünftigen Präsidenten der Bank beschäftigte. Die Direktoren mochten in mancher Beziehung bedeutende Männer sein; gelegentlich, das wußte Alex, konnten sie aber auch recht engstirnig und voreingenommen sein.

Warum? Warum hatte das alles ausgerechnet jetzt passieren müssen?

Seine Stimmung verfinsterte sich weiter, während Margot ihn halb fragend, halb besorgt betrachtete.

Ernsthafter als zuvor sagte sie: »Ich habe dir Schwierigkeiten gemacht. Eine ganze Menge, glaube ich. Tun wir also beide nicht mehr so, als sei das alles nicht wahr.«

Er war im Begriff, sie wieder zu beruhigen, besann sich dann aber anders; er spürte, daß sie jetzt offen miteinander reden mußten.

»Noch etwas muß gesagt werden«, fuhr Margot fort. »Wir haben darüber gesprochen, wir wußten, daß so etwas geschehen könnte, und wir haben uns gefragt, ob wir so bleiben könnten, wie wir sind - unabhängig -, und doch zusammenbleiben können.«

»Ja«, sagte er, »ich weiß.«

»Ich hatte nur nicht damit gerechnet«, sagte sie bedrückt,

»daß es schon so bald dazu kommen würde.«

Er streckte eine Hand nach ihr aus, wie er es so oft schon getan hatte, aber sie rückte weiter weg und schüttelte den Kopf. »Nein, wir wollen das zu Ende bringen.«

Ohne Vorwarnung, das wurde ihm schlagartig klar, und ohne, daß einer von ihnen es gewollt hatte, war in ihren Beziehungen eine Krise aufgetreten.

»Es wird wieder passieren, Alex. Wir wollen uns da nichts vormachen. Nein, nein, nicht mit der Bank, aber in anderen Dingen, die irgendwie damit zusammenhängen. Und ich brauche die Gewißheit, daß wir damit fertig werden, wenn es passiert, nicht nur dieses eine Mal und in der Hoffnung, daß es nicht wieder vorkommt.«

Er wußte, daß es richtig war, was sie gesagt hatte. Margots Leben war eine Kette von Konfrontationen; es würde immer neue geben. Manche davon würden sich außerhalb seiner Interessensphären abspielen, andere nicht.

Und etwas anderes stimmte auch - sie hatten hierüber schon gesprochen, genau vor anderthalb Wochen. Aber da war es ein abstraktes Gespräch gewesen, die Entscheidung war weniger klar gewesen, nicht so scharf definiert, wie die Ereignisse der letzten Woche es erzwungen hatten.

»Du und ich, wir können etwas tun«, sagte Margot. »Wir können jetzt Schluß machen. Es war schön, und noch haben die anderen nichts zwischen uns zerschlagen. Wir würden ohne Bitterkeit auseinandergehen; es wäre ein vernünftiger Schluß. Wenn wir das tun, wenn wir uns nicht mehr sehen und wenn wir nicht mehr zusammen gesehen werden, dann würde sich das sehr schnell herumsprechen. Das ist in solchen Fällen immer so. Das würde zwar nicht ungeschehen machen, was in der Bank passiert ist, aber es könnte dir deine Position in der Bank erleichtern.«

Auch das stimmte, wie Alex sehr wohl wußte. Ihn überfiel die Versuchung, das Angebot anzunehmen, eine Komplikation -sauber und schnell - aus seinem Leben zu verbannen, eine Komplikation, die im Laufe der Jahre größer und nicht geringer werden würde. Und wieder fragte er sich: Warum trafen so viele Probleme und Sorgen zusammen - die Verschlechterung in Celias Zustand; Ben Rossellis Tod; die Auseinandersetzungen in der Bank; die unverdienten Angriffe vom Vormittag. Und jetzt Margot und die Entscheidung, vor die sie ihn stellte. Warum?

Die Frage erinnerte ihn an etwas, das sich vor Jahren ereignet hatte, als er einmal auf der Durchreise in Vancouver gewesen war. Eine junge Frau war aus einem Hotelzimmer im vierundzwanzigsten Stock in den Tod gesprungen, und vor dem Sprung hatte sie mit Lippenstift auf das Fensterglas geschrieben: Warum, warum nur? Alex hatte sie nicht gekannt, er hatte auch nie erfahren, was das für Probleme waren, die sie für so unlösbar gehalten hatte. Aber sein Zimmer hatte sich im selben Stockwerk des Hotels befunden, und ein redseliger Direktionsassistent hatte ihm die traurige Lippenstift-Inschrift auf dem Fenster gezeigt. Die Erinnerung daran war nie in ihm erloschen.

Warum, warum nur treffen wir solche Entscheidungen in unserem Leben? Oder warum trifft das Leben sie für uns? Warum hatte er Celia geheiratet? Warum mußte sie geisteskrank werden? Warum schreckte er noch immer vor der Katharsis der Scheidung zurück? Warum mußte Margot ausgerechnet eine Aktivistin sein? Wie konnte er jetzt ernstlich erwägen, Margot zu verlieren? Wieviel lag ihm eigentlich daran, Präsident der FMA zu werden?

Soviel nicht!

Energisch riß er sich zusammen und schüttelte seinen Trübsinn ab. Zum Teufel damit! Weder für die FMA noch für sämtliche Positionen der Welt, nicht einmal für seinen eigenen persönlichen Ehrgeiz würde er jemals seine private Handlungsfreiheit und seine Unabhängigkeit aufgeben. Oder auf Margot verzichten.

»Die viel wichtigere Frage ist«, sagte er zu ihr, »willst du, daß wir es so halten, wie du eben gesagt hast - willst du den »vernünftigen Schluß

»Natürlich nicht«, sagte Margot mit Tränen in der Stimme.

»Dann will ich es auch nicht, Bracken. Dann werde ich es auch nie wollen. Seien wir also froh, daß es passiert ist, daß wir erkannt haben, ein für allemal, was wir in Wahrheit wollen.«

Als er diesmal seine Arme ausstreckte, wich sie nicht zurück.

6

»Roscoe, mein Junge«, sagte The Hon. Harold Austin, und selbst am Telefon merkte man es seiner Stimme an, daß er selbstzufrieden strahlte. »Ich habe mit Big George gesprochen. Er lädt Sie und mich zum Golf auf die Bahamas ein - nächsten Freitag.«

Roscoe Heyward schob nachdenklich die Lippen vor. Er war zu Hause an diesem Samstagnachmittag im März, und er saß im Arbeitszimmer seines Hauses in Shaker Heights. Als das Telefon läutete, hatte er eine Mappe mit Jahresberichten durchgesehen. Andere Papiere lagen rings um seinen Ledersessel auf dem Fußboden ausgebreitet.

»Ich weiß nicht recht, ob ich so bald schon weg kann, und dann auch noch so weit«, sagte er zweifelnd. »Ob wir nicht versuchen sollten, eine Besprechung in New York vorzuschlagen?«

»Versuchen können wir das natürlich. Aber es wäre dumm von uns, denn Big George zieht Nassau nun einmal vor; und außerdem bespricht Big George Geschäftliches am liebsten auf einem Golfplatz - und zwar Geschäftliches von unserer Sorte, Sachen, die er sich persönlich vorbehält.«

»Big George« näher zu identifizieren, war bei beiden nicht nötig. Es gab übrigens kaum jemanden in der Industrie, im Bankgeschäft oder im öffentlichen Leben, dem man es hätte erklären müssen.

G. G. Quartermain, Direktoriumsvorsitzender und Generaldirektor der Supranational Corporation - SuNatCo -, war ein Bulle von einem Mann, mit mehr Macht hinter sich als mancher Staatschef. Er gebrauchte diese Macht wie ein König. Seine Interessen und sein Einfluß erstreckten sich über die ganze Welt wie diejenigen des Konzerns, dessen Geschicke er lenkte. In der SuNatCo selbst und auch außerhalb des Konzerns war er ein vielbewunderter, gehaßter, umschmeichelter, von allen Seiten bestürmter und gefürchteter Mann.

Seine Stärke lag in der Geschichte seiner Leistungen. Vor acht Jahren war G. G. Quartermain - wegen eines finanziellen Zauberkunststücks, das er gerade vollbracht hatte - von der damals am Boden liegenden und verschuldeten Supranational zur Hilfe gerufen worden. In diesen acht Jahren hatte er den Konzern wieder auf die Beine gestellt, ihn zu einem ans Phantastische grenzenden Koloß ausgebaut, dreimal die Aktien gesplittet und die Dividenden vervierfacht. Die Aktionäre, durch Big George zu reichen Leuten gemacht, beteten ihn an; sie ließen ihm auch jedes Maß an Handlungsfreiheit, das er sich nur wünschen konnte. Gewiß, es gab auch Kassandrarufe; er habe, so hieß es, ein Reich auf tönernen Füßen gegründet. Aber die Jahresberichte der SuNatCo und ihrer vielen Tochtergesellschaften - die Roscoe Heyward gerade studiert hatte, als The Hon. Harold anrief - straften die pessimistischen Zweifler Lügen.

Heyward war dem SuNatCo-Vorsitzenden zweimal begegnet; einmal flüchtig in einer Menschenmenge, das zweite Mal zusammen mit Harold Austin in einer Hotel-Suite in Washington, D. C.

Die Washingtoner Begegnung kam zustande, als The Hon. Harold dem SuNatCo-Vorsitzenden Quartermain über einen Auftrag berichtete, den er für Supranational ausgeführt hatte. Heyward hatte keine Ahnung, was das für ein Auftrag gewesen war - die beiden anderen hatten den Hauptteil ihres Gesprächs beendet, als er zu ihnen stieß -, er wußte nur, daß so oder so Regierungsdinge berührt waren.

Die Werbeagentur Austin warb in den gesamten Vereinigten Staaten für Hepplewhite Distillers, eine große SuNatCo-Tochter, aber The Hon. Harolds persönliche Beziehungen zu G. G. Quartermain gingen offenbar weit darüber hinaus.

Der Bericht jedenfalls schien Big George in glänzende Stimmung versetzt zu haben. Als er mit Heyward bekannt gemacht wurde, sagte er: »Harold sagt mir, daß er Direktor in Ihrer kleinen Bank ist und daß Sie beide ganz gern ein bißchen an unserem Kuchen knabbern möchten. Na, wollen mal sehen, was sich machen läßt.«

Der Oberhäuptling von Supranational hatte dann Heyward kräftig auf die Schulter geklopft und das Thema gewechselt.

Dieses Washingtoner Gespräch mit G. G. Quartermain hatte Heyward Mitte Januar - vor zwei Monaten - veranlaßt, dem finanzpolitischen Ausschuß der FMA mitzuteilen, daß man wahrscheinlich mit der SuNatCo ins Geschäft kommen werde. Später hatte er gemerkt, daß er voreilig gewesen war. Jetzt schienen sich die Aussichten wieder zu verbessern.

»Na gut«, sagte Heyward am Telefon, »vielleicht kann ich mich nächsten Donnerstag für ein, zwei Tage freimachen.«

»Das klingt schon besser«, hörte er The Hon. Harold sagen. »Ich weiß ja nicht, was Sie vorhatten, aber wichtiger für die Bank kann es unmöglich gewesen sein. Ach ja, noch etwas -Big George läßt uns von seiner Privatmaschine abholen.«

Heywards Miene hellte sich auf. »Was Sie nicht sagen. Ist die denn groß genug für einen schnellen Trip?«

»Es ist eine 707. Dachte ich mir doch, daß Ihnen das schmecken würde.« Harold Austin kicherte in sich hinein. »Wir fliegen also Donnerstag mittag hier ab, haben den ganzen Freitag auf den Bahamas und sind am Samstag wieder zurück. Übrigens, wie sehen denn die neuesten SuNatCo-Berichte aus?«

»Ich habe sie mir gerade angesehen.« Heyward warf einen Blick auf die Finanzberichte, die rings um seinen Sessel ausgebreitet lagen. »Der Patient scheint gesund zu sein; sehr gesund sogar.«

»Wenn Sie das sagen«, meinte Austin, »dann genügt mir das.«

Als er den Hörer wieder auflegte, gestattete sich Heyward ein ganz leichtes, überlegenes Lächeln. Der bevorstehende Flug, sein Zweck und die Tatsache, daß es ein Trip nach den Bahamas in einem Privatflugzeug war - das alles beiläufig nächste Woche in Unterhaltungen zu erwähnen, würde höchst befriedigend sein. Und kam dann sogar noch etwas dabei heraus, dann würde das seine eigene Stellung im Direktorium festigen - und das war etwas, das er angesichts der Interims-Ernennung von Jerome Patterton zum FMA-Präsidenten nie aus den Augen verlor.

Angenehm war auch, daß er schon am Samstag wieder zurückfliegen konnte. Auf die Art würde er seinen Auftritt in seiner Kirche - der St. Athanasius-Kirche - nicht absagen müssen. Er war dort Laienredner und hielt jeden Sonntag mit klarer und feierlicher Stimme die Lesung.

Dieser Gedanke erinnerte ihn daran, daß auch morgen ein Sonntag war und er seinen Text noch nicht durchgearbeitet hatte. Er nahm die schwere Familienbibel vom Bücherbord und schlug eine durch ein Lesezeichen kenntlich gemachte Stelle auf. Es war eine Seite in den Sprüchen Salomos, und sie enthielt einen Lieblingsvers Heywards, der auch morgen in seiner Lesung vorkommen würde: Gerechtigkeit erhöhet ein Volk; aber die Sünde ist der Leute Verderben.

Für Roscoe Heyward war der Ausflug nach den Bahamas eine Erweiterung seines Horizonts.

Nicht, daß ihm der Lebensstil der Reichen fremd gewesen wäre. Wie die meisten leitenden Banker hatte Heyward oft gesellschaftlich mit Kunden und Geschäftsfreunden zu tun gehabt, die auf der Suche nach fürstlichem Komfort und Amüsement ihr Geld freizügig, ja, geradezu demonstrativ auszugeben pflegten. Und er hatte ihnen fast ihre finanzielle Freiheit geneidet.

Doch G. G. Quartermain übertraf sie alle.

Die Düsenmaschine vom Typ 707, kenntlich an einem großen »Q« an Rumpf und Leitwerk, landete auf die Minute genau zur verabredeten Zeit auf dem internationalen Flughafen der Stadt. Sie rollte zu einem privaten Flugsteig, wo The Hon. Harold und Heyward die Limousine verließen, die sie aus der Stadt hergebracht hatte. Im Nu hatte man sie durch die Hecktür an Bord geleitet.

In einem Foyer, das einer Miniatur-Hotelhalle glich, wurden sie von einem Quartett begrüßt - einem Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haar und jener Mischung von Autorität und Ehrerbietung, die ihn zum Majordomus stempelte, sowie drei jungen Frauen.

»Willkommen an Bord, meine Herren«, sagte der Majordomus. Heyward nickte, ohne den Mann richtig wahrzunehmen, da seine Aufmerksamkeit von den Frauen abgelenkt war - atemberaubend schönen Mädchen, alle in den Zwanzigern, alle mit einem strahlenden Lächeln. Roscoe schoß der Gedanke durch den Kopf, daß Quartermains Organisation wohl die hübschesten Stewardessen von TWA, United und American hatte antreten lassen und dann diese drei abgesahnt hatte, wie man das Fett von bester Vollmilch abschöpft. Das eine Mädchen war honigblond, die andere eine aufregende Brünette, die dritte hatte langes rotes Haar. Alle waren langbeinig, schlank und angenehm sonnengebräunt. Die Sonnenbräune wurde noch durch die modisch kurzen hellbeigefarbenen Uniformen unterstrichen.

Die Uniform des Majordomus war aus dem gleichen eleganten Material geschneidert wie die der Mädchen. Alle vier trugen auf der linken Brusttasche ein eingesticktes »Q«.

»Guten Tag, Mr. Heyward«, sagte der Rotschopf. Ihre angenehm modulierte Stimme hatte etwas Sanftes, beinahe Verführerisches. »Ich bin Avril. Wenn Sie mir bitte folgen wollen; ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«

Während Heyward ihr folgte, überrascht, daß sie von einem »Zimmer« sprach, wurde The Hon. Harold von der Blonden begrüßt.

Die elegante Avril ging Heyward durch einen Korridor voraus, der sich seitlich über einen Teil des Flugzeugs erstreckte. An diesem Korridor befanden sich mehrere Türen.

Über ihre Schulter sprechend, verkündete sie: »Mr. Quartermain nimmt gerade eine Sauna mit Massage. Sie sehen ihn später im Salon.«

»Eine Sauna? Hier an Bord?«

»Ja. Sie befindet sich unmittelbar hinter dem Flugdeck. Dort ist auch ein Dampfbad. Mr. Quartermain legt Wert darauf, immer eine Sauna oder ein russisches Bad nehmen zu können, ganz gleich, wo er sich gerade befindet, und reist immer in Begleitung seines persönlichen Masseurs.« Avril schickte ein blendendes Lächeln nach hinten zu Heyward. »Wenn Sie ein Bad mit Massage möchten - wir haben Zeit genug während des Fluges. Ich werde es Ihnen gerne ausrichten.«

»Nein, vielen Dank.«

Das Mädchen blieb an einer Tür stehen. »Hier ist Ihr Zimmer, Mr. Heyward.« Noch während sie sprach, setzte sich das Flugzeug in Bewegung und rollte zur Startbahn. Die unvermutete Bewegung ließ Heyward stolpern.

»Hoppla!« Avril streckte den Arm aus, stützte ihn, und einen Augenblick lang waren sie einander nahe. Seine Sinne registrierten lange, schlanke Finger, bronzeorange lackierte Nägel, eine leichte, aber feste Berührung und einen Hauch Parfüm.

Sie ließ die Hand auf seinem Arm. »Es ist wohl besser, wenn ich Sie für den Start anschnalle. Unser Kapitän hat es immer sehr eilig. Mr. Quartermain schätzt es nicht, Zeit auf Flughäfen zu vertrödeln.«

Er nahm nur flüchtig einen kleinen, elegant eingerichteten Salon wahr, in den das Mädchen ihn führte, dann saß er auch schon in den Kissen eines Sofas, während die Finger, die er schon zur Kenntnis genommen hatte, ihm geschickt einen Gurt um den Leib schnallten. Die Empfindung war nicht unangenehm.

»Das wär's.« Die Maschine rollte jetzt schnell über den Beton. »Wenn Sie gestatten, bleibe ich hier, bis wir abgehoben haben«, sagte Avril.

Sie setzte sich neben ihn auf das Sofa und schnallte sich nun selbst an.

»Selbstverständlich«, sagte Roscoe Heyward. Ihm war absurd zumute, er fühlte sich wie betäubt. »Bitte bleiben Sie doch.«

Er sah sich jetzt genauer in dem Raum um. Etwas wie diesen Salon oder diese Kabine hatte er noch nie in seinem Leben in einem Flugzeug gesehen: alles war auf luxuriöse, aber praktische Nutzung des zur Verfügung stehenden Raums angelegt. Drei Wände waren teakgetäfelt, mit blattgoldverzierter Schnitzerei, die das »Q«-Motiv erkennen ließ. Die vierte Wand bestand fast nur aus Spiegeln, die den Raum viel größer erscheinen ließen, als er war. Zu seiner Linken war ein Schreibtisch in die Wand eingelassen, der ein vollständiges kleines Büro darstellte, komplett mit Telefon-Konsole und einem verglasten Fernschreiber. Eine kleine Bar in der Nähe war mit einem Arrangement von Miniaturflaschen bestückt. In die Spiegelwand, die sich gegenüber von Heyward und Avril befand, war ein Fernsehschirm eingebaut; das Gerät hatte einen doppelten Satz von Bedienungsknöpfen, die von beiden Seiten des Sofas aus erreichbar waren. Eine Falttür hinter ihnen führte vermutlich in ein Bad.

»Hätten Sie Lust, unseren Start zu beobachten?« fragte Avril. Ohne eine Antwort abzuwarten, berührte sie die TV-Knöpfe an ihrer Seite des Sofas, und ein farbiges, gestochen scharfes Bild sprang auf den Leuchtschirm. Offensichtlich befand sich in der Nase des Flugzeugs eine Kamera, und auf dem Schirm konnten sie eine Rollbahn sehen, die zu einer breiten Startbahn führte. Sie wurde in voller Länge sichtbar, als die 707 auf sie einschwenkte. Ohne eine Sekunde zu verschwenden, bewegte sich die Maschine voran, die Startbahn begann unter ihnen wegzurasen, dann kippte der Rest von ihr nach unten, als die schwere Düsenmaschine sich nach oben abwinkelte und in die Luft stieg. Roscoe hatte das Gefühl, schwungvoll-schwebend nach oben gehoben zu werden, nicht nur wegen des TV-Bildes. Als nur noch Himmel und Wolken zu sehen waren, schaltete Avril das Gerät aus.

»Mit diesen Knöpfen bekommen Sie die regulären TV-Kanäle«, erklärte sie ihm, dann zeigte sie auf den Fernschreiber. »Da erhalten Sie den Dow Jones, den AP- und UPI-Dienst oder Telex. Sie brauchen nur das Flugdeck anzurufen, man wird Ihnen dann zuleiten, was Sie haben wollen.«

»Das geht alles ein wenig über das hinaus, was ich sonst gewöhnt bin«, bemerkte Heyward vorsichtig.

»Ich weiß. Das geht beinahe allen unseren Gästen so, aber man staunt, wie schnell sich jeder daran gewöhnt.« Wieder der direkte Blick, das blendende Lächeln. »Wir haben vier von diesen Privatkabinen, und jede läßt sich mühelos in ein Schlafzimmer verwandeln. Man drückt da nur ein paar Knöpfe. Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist wohl jetzt nicht nötig.«

»Ganz wie Sie wünschen, Mr. Heyward.«

Sie klinkte ihren Gurt aus und stand auf. »Wenn Sie Mr. Austin suchen, er hat die Kabine unmittelbar hinter Ihnen. Weiter vorn ist der Hauptsalon, wo man Sie erwartet, sobald Sie bereit sind. Dann gibt es noch einen Speiseraum und Büros; dahinter befindet sich Mr. Quartermains Privatapartment.«

»Vielen Dank für die geographischen Hinweise.« Heyward nahm seine randlose Brille ab und zog ein Taschentuch heraus, um sie zu putzen.

»Ach, lassen Sie mich das bitte tun!« Sanft, aber entschieden nahm ihm Avril die Brille aus der Hand, zauberte ein rechteckiges Seidentuch hervor und polierte die Gläser. Dann setzte sie ihm die Brille wieder auf, wobei ihre Finger ganz leicht hinter seine Ohren wanderten. Heyward glaubte sich verpflichtet abzuwehren, aber er ließ es geschehen.

»Meine Aufgabe auf dieser Reise, Mr. Heyward, ist es, allein für Sie zu sorgen und darauf zu achten, daß Sie alles haben, was Sie wünschen.«

Hatte er es sich eingebildet, oder hatte das Mädchen einen leichten Akzent auf das Wort »alles« gelegt? Er rief sich scharf zur Ordnung und befahl sich selbst, dies nicht hoffen zu wollen. Stimmte seine Vermutung jedoch, so wäre die Schlußfolgerung schockierend.

»Zwei Dinge noch«, sagte Avril. Bildschön und geschmeidig war sie zur Tür geschritten, im Begriff, ihn zu verlassen. »Wenn Sie mich für irgend etwas brauchen, drücken Sie bitte die Taste Nr. sieben auf dem Telefon.«

Heyward antwortete mürrisch: »Vielen Dank, junge Dame, aber das wird wohl nicht nötig sein.«

Sie schien nicht im geringsten verlegen. »Und das zweite wäre: Auf dem Weg nach den Bahamas werden wir kurz in Washington zwischenlanden. Dort kommt der Vizepräsident an Bord.«

»Ein Vizepräsident von Supranational?«

In ihren Augen tanzten spöttische kleine Lichter. »Aber nicht doch, Sie Dummchen. Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten.«

Ungefähr fünfzehn Minuten später wandte sich Big George Quartermain mit dröhnender Stimme an Roscoe Heyward: »Grundgütiger! Was zum Teufel trinken Sie denn da? Muttermilch?«

»Limonade.« Heyward hielt sein Glas hoch und inspizierte die fade Flüssigkeit. »Trink' ich sehr gern.«

Der Vorsitzende von Supranational zog die massigen Schultern hoch. »Jedem Süchtigen sein eigenes Gift. Kümmern die Mädchen sich um euch beide?«

»Kann mich nicht beklagen«, gluckste The Hon. Harold Austin. Wie die anderen saß er bequem zurückgelehnt in dem luxuriös eingerichteten Hauptsalon der 707; die Blonde, die verraten hatte, daß sie Rhetta hieß, lag hingekuschelt auf dem weichen Teppich zu seinen Füßen.

Avril sagte honigsüß: »Wir tun unser Bestes.« Sie stand hinter Heywards Sessel und ließ ihre Hand leicht über seinen Rücken wandern. Er fühlte, wie ihre Finger seinen Halsansatz berührten, dort einen Moment verweilten, dann weiterglitten.

G. G. Quartermain hatte wenige Minuten zuvor den Salon betreten, prächtig in einem karmesinroten Frotteemantel mit weißen Borten und oben dem unvermeidlichen »Q« groß auf der Brust. Wie ein römischer Senator war er von beflissener Dienerschaft umgeben - zur Zeit bestehend aus einem schweigsamen Mann in sportlichem Weiß mit hartem Gesicht, wahrscheinlich der Masseur, und einer weiteren Hostess in Beige; sie hatte feine japanische Gesichtszüge. Der Masseur und das Mädchen überwachten den Einzug von Big George in einen breiten, thronähnlichen Sessel, der ganz offensichtlich für ihn reserviert war. Dann zauberte eine dritte Gestalt - der Majordomus von vorhin - auf unbegreifliche Weise einen eiskalt betauten Martini herbei und ließ ihn in G. G. Quartermains wartende Hand gleiten.

Mehr noch als bei ihren früheren Begegnungen empfand Heyward den Namen »Big George« als in jeglicher Hinsicht angemessen. Physisch war ihr Gastgeber ein Berg von einem Mann - mindestens 1,95 m groß und mit der Statur eines Dorfschmiedes. Selbst sein Kopf war wuchtiger als bei den meisten anderen Männern, und seine Gesichtszüge paßten dazu - hervorstehende große Augen, dunkel und schlau und flink, der Mund breitlippig und stark, befehlsgewohnt wie der Mund eines Sergeanten der Marineinfanterie, nur daß sich Q.s Befehle auf Angelegenheiten von weit größerer Tragweite bezogen. Und es bedurfte keiner großen Menschenkenntnis, um zu erkennen, daß die zur Schau getragene Jovialität in Gedankenschnelle machtvollem Mißvergnügen Platz machen konnte.

Doch grobschlächtig wirkte er nicht; man empfand ihn auch nicht als übergewichtig oder gar fett. Unter der Frottee-Robe spannten sich Muskeln, die Gesichtshaut war von keinen Fettschichten unterlagert, und das massige Kinn zeigte keine Neigung zum Doppelkinn. Sein Bauch erschien flach und straff.

Was seine andere Größe betraf, so berichtete die Wirtschaftspresse täglich über Reichweite und Unersättlichkeit seines Konzerns. Und sein Lebensstil an Bord seines Flugzeuges, das mit zwölf Millionen Dollar zu Buche stand, war schlichtweg königlich.

Der Masseur und der Majordomus verschwanden lautlos. An ihrer Stelle erschien, wieder wie ein Charakterdarsteller auf der Bühne, ein Chefkoch - ein bleicher, sorgenbeladener, magerer Mann, makellos in Küchenweiß mit einer hohen Kochsmütze, die fast die Kabinendecke berührte. Heyward überlegte unwillkürlich, wieviel Personal wohl an Bord der Maschine sein mochte. Später erfuhr er, daß es sechzehn Personen waren.

Der Koch stand steif neben dem Sessel von Big George und bot ihm eine übergroße schwarze Ledermappe mit eingeprägtem goldenen »Q« dar. Big George ignorierte ihn.

»Der Ärger da in eurer Bank.« Quartermain wandte sich an Roscoe Heyward. »Demonstrationen. Und so 'n Zeug. Alles wieder im Lot? Seid ihr solvent?«

»Wir waren immer solvent«, antwortete Heyward. »Das hat nie zur Debatte gestanden.«

»Der Markt war anderer Meinung.«

»Seit wann ist der Aktienmarkt ein präzises Barometer - für irgendwas?«

Big George lächelte flüchtig, dann wandte er seine Aufmerksamkeit der japanischen Hostess zu. »Mondstrahl, hol mir die neueste Kursnotierung von FMA.«

»Jawohl, Misto Q«, sagte das Mädchen. Sie ging durch eine vordere Tür hinaus.

Big George nickte in die Richtung, in der sie verschwunden war. »Bricht sich bei Quartermain immer noch die Zunge ab. Nennt mich immer >Misto Q<.« Mit einem breiten Lächeln setzte er hinzu: »Kommt aber anderswo glänzend klar.«

Roscoe Heyward sagte schnell: »Die Berichte, die Ihnen zu Ohren gekommen sind, beziehen sich auf eine Bagatelle, die maßlos übertrieben wurde. Außerdem hat sie sich in der Übergangsphase ereignet, als wir den neuen Präsidenten bekamen.«

»Aber ihr seid nicht festgeblieben«, beharrte Big George. »Ihr habt euch von Agitatoren ins Bockshorn jagen lassen, seid weich geworden und habt kapituliert.«

»Das ist richtig. Und ich will ganz offen eingestehen, daß mir diese Entscheidung gar nicht gefallen hat. Ich habe mich übrigens dagegen ausgesprochen.«

»Man muß solchen Typen die Stirn bieten! Gib ihnen Saures, den Schweinen, so oder so! Niemals den Schwanz einkneifen!« Der Vorsitzende von Supranational kippte seinen Martini hinunter, und aus dem Nichts erschien der Majordomus, nahm das leere Glas entgegen und ließ ein neues in Big Georges Hand gleiten. Das Getränk war perfekt gekühlt, wie an dem beschlagenen Glas deutlich wurde.

Der Koch stand immer noch wartend da. Quartermain nahm keine Notiz von ihm.

In Erinnerungen schwelgend, erzählte er: »Hatten ein Werk bei Denver, Zulieferer, Teilmontage. Viel Ärger mit den Leuten. Irrsinnige Lohnforderungen, absolut verrückt. Anfang dieses Jahres rief die Gewerkschaft wieder mal den Streik aus, den letzten von vielen. Ich habe unseren Leuten gesagt - den Werksmanagern -, macht den Schweinen begreiflich, daß wir die Bude dichtmachen. Kein Mensch hat uns geglaubt. Wir haben Studien machen lassen, Ausweichmöglichkeiten geplant. Haben Werkzeugmaschinen und Pressen in eins unserer anderen Werke schaffen lassen. Haben dann die Produktion aufgenommen. In Denver haben wir dichtgemacht. Mit einem Schlag kein Werk, keine Jobs, keine Lohntüten. Jetzt liegen sie alle auf den Knien und winseln - Arbeiter, Gewerkschaft, die Stadt Denver, die Regierung des Bundesstaates -, ringen die Hände, flehen uns an, wieder aufzumachen.« Er betrachtete seinen Martini und sagte dann großmütig: »Na, vielleicht tun wir's. Neues Produktionsprogramm, und zu unseren Bedingungen. Aber zu Kreuze gekrochen sind wir nicht.«

»Fabelhaft, George!« sagte The Hon. Harold. »Wir brauchen Leute mit Rückgrat. Aber das Problem in unserer Bank ist ein bißchen anders gelagert. In gewisser Beziehung befinden wir uns noch immer in einer Interimssituation, die, wie Sie ja wissen, mit Ben Rossellis Tod einsetzte. Aber ziemlich viele bei uns hoffen, unsern Roscoe hier im nächsten Frühling am Ruder zu sehen.«

»Freut mich. Geb' mich nicht gern mit Leuten ab, die nicht an der Spitze stehen. Wer mit mir ins Geschäft kommen will, muß entscheiden können, dann dafür sorgen, daß die Entscheidung steht.«

»Ich kann Ihnen versichern, George«, sagte Heyward, »daß die Bank sich an jede Entscheidung halten wird, die Sie und ich treffen.«

Heyward erkannte, daß ihr Gastgeber ihn und Harold Austin außerordentlich geschickt in die Rolle von Bittstellern manövriert hatte - eine Rolle, die ihm als Bankier ungewohnt war. Aber es war nun einmal nicht daran zu rütteln - ein Kredit für Supranational würde nicht nur eine sorgenfreie Anlage, sondern für die FMA Bank auch einen enormen Prestigegewinn bedeuten. Mindestens ebenso wichtig war, daß er Vorläufer für andere, neue Industriekonten sein konnte, die dem Schrittmacher Supranational Corporation folgen würden.

Barsch fuhr Big George den Koch an. »Na, was ist?«

Die Gestalt in Weiß erwachte wie elektrisiert zum Leben. Der Koch streckte die schwarze Ledermappe vor, die er seit seinem Eintritt bereitgehalten hatte. »Das Menü, Monsieur, zum Luncheon. Ich bitte um Genehmigung.«

Big George machte keine Anstalten, die Mappe entgegenzunehmen. Er überflog nur den Text, der ihm hingehalten wurde. Sein Finger schoß wie ein Pfeil vor. »Ändern Sie den Waldorf- in einen Cäsar-Salat.«

»Oui, Monsieur.«

»Und der Nachtisch. Kein Glace Martinique. Ein Soufflé Grand Marnier.«

»Gewiß, Monsieur.«

Mit einem Kopfnicken wurde der Mann entlassen. Als er sich zum Gehen wandte, brüllte Big George ihm nach: »Und wenn ich ein Steak bestelle, wie will ich es?«

»Monsieur« - der Koch machte mit seiner freien Hand eine beschwörende Geste -, »ich 'abe bereits zweimal Entschuldigung gebeten wegen unglücklischer Weise gestern abend.«

»Papperlapapp. Meine Frage war: Wie will ich es?«

Mit gallischem Schulterzucken intonierte der Chef eine auswendig gelernte Lektion: »Medium, aber eher etwas mehr durchgebraten.«

»Vergessen Sie das nicht wieder.«

Der Verzweiflung nahe stammelte der Koch: »Monsieur, wie kann isch je vergessen?« Niedergeschlagen zog er sich zurück.

»Noch was ist wichtig«, teilte Big George seinen Gästen mit. »Niemals den Leuten was durchgehen lassen. Ich zahle dem Franzmann ein Vermögen, damit er genau weiß, wie ich mein Essen haben will. Gestern abend hat er danebengehauen - nicht viel, aber es reichte, um ihm die Leviten zu lesen. Nächstes Mal wird er dran denken. Wie ist der Kurs?« Mondstrahl war mit einem Zettel in der Hand zurückgekehrt.

Mit ihrem leichten Akzent las sie vor: »FMA wird jetzt mit fünfundvierzig dreiviertel gehandelt.«

»Na, bitte schön«, sagte Roscoe Heyward, »wir sind um noch einen Punkt geklettert.«

»Aber noch nicht wieder so hoch wie damals, ehe Rosselli ins Gras gebissen hatte«, sagte Big George. Er lächelte breit. »Doch wenn die Leute Wind davon bekommen, daß Sie bei der Finanzierung von Supranational helfen, werden Ihre Aktien in die Höhe schießen.«

Das war schon möglich, dachte Heyward. In der vielfach verschlungenen Welt des Geldes und der Aktienpreise ereigneten sich unerklärliche Dinge. Daß irgend jemand einem anderen Geld lieh, mochte nicht sehr viel bedeuten - aber dennoch würde der Markt reagieren.

Wichtiger aber war, daß Big George jetzt klar und eindeutig gesagt hatte, daß es tatsächlich zu Geschäften irgendeiner Art zwischen der First Mercantile American Bank und SuNatCo kommen werde. Über die Einzelheiten würde man zweifellos in den nächsten beiden Tagen ausführlich reden. Er spürte, wie die Erregung in ihm hochstieg.

Über ihren Köpfen ertönte sanft ein Gong. Draußen wurde das Dröhnen der Düsen leiser, höher, langsamer.

»Washington, ahoi!« sagte Avril. Sie und die anderen Mädchen machten sich daran, die Männer mit breiten Gurten und hurtigen, leichten Fingern an ihre Sitze zu schnallen.

Die Zeit, die sie für die Zwischenlandung in Washington benötigten, war noch kürzer als zuvor beim Start. Mit einem 14karätigen VIP-Passagier an Bord, schien Schnelligkeit bei Landung, Anrollen und Starten ersten Vorrang zu haben.

In weniger als zwanzig Minuten hatten sie wieder die Reisegeschwindigkeit und -höhe auf dem Wege nach den Bahamas erreicht.

Der Vizepräsident war untergebracht; für ihn sorgte die Brünette, Krista, ein Arrangement, das er ganz offensichtlich begrüßte.

Männer vom Secret Service, die für die Sicherheit des Vizepräsidenten zuständig waren, wurden im Heck einquartiert.

Bald darauf führte Big George Quartermain, inzwischen in einen cremefarbenen Seidenanzug gekleidet, seine Gäste gutgelaunt vom Salon in den weiter vorn gelegenen Speiseraum des Düsenriesen - ein elegant ausgestattetes Zimmer, vorwiegend in Silber und Königsblau gehalten. Dort wurden den vier Männern, die an einem mit Schnitzwerk verzierten Eichentisch unter einem Kristallüster Platz genommen hatten, während sich Mondstrahl, Avril, Rhetta und Krista verheißungsvoll im Hintergrund aufhielten, kulinarische Genüsse vorgesetzt, wie nicht viele große Restaurants der Welt sie bieten können.

Roscoe Heyward aß mit Genuß, winkte jedoch bei den verschiedenen Weinen und dem dreißigjährigen Cognac, der zum Mokka gereicht wurde, ab. Aber er bemerkte, daß bei den schweren Goldrand-Cognac-Schwenkern das traditionelle, dekorative »N« des Napoleon fehlte. Statt dessen trugen sie ein »Q«.

7

Die Sonne strahlte aus makellos azurblauem Himmel auf das üppige Grün der langen Spielbahn mit der Einheit 5 beim fünften Loch des Fordly Cay Clubs auf den Bahamas. Dieser Platz und der dazugehörige luxuriöse Golfclub gehörten zu den sechs exklusivsten der Welt.

Jenseits des Grüns erstreckte sich ein palmengesäumter und verlassener weißer Sandstrand wie ein Streifen des Paradieses und verlor sich in der Feme. Eine klare, türkisblaue See plätscherte in winzigen Wellen an den Strand. Einen knappen Kilometer vom Ufer entfernt schäumte eine lange weiße Linie von Brechern an Korallenriffen empor.

In der Nähe aber, neben dem Golfplatz, prangte in unvorstellbar vielfältigen Farben ein exotisches Blumenmuster -Eibisch, Bougainvillea, Poinsettia, Frangipani. In der frischen, klaren Luft, die von einer angenehmen leichten Brise bewegt wurde, hing ein Hauch von Jasmin.

»Näher als hier«, bemerkte der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, »wird wahrscheinlich kein Politiker an den Himmel herankommen.«

»Zu meiner Vorstellung vom Himmel«, bemerkte The Hon. Harold Austin, »würde nicht gehören, daß man einen Ball immer wieder im Slice nach der rechten Seite schlägt.« Er zog eine Grimasse und schwenkte wütend sein Eisen 4. »Es muß doch möglich sein, sich in diesem Spiel zu verbessern.«

Die vier spielten um den besten Ball - Big George und Roscoe Heyward gegen Harold Austin und den Vizepräsidenten.

»Ich will Ihnen mal was sagen, Harold«, verkündete der Vizepräsident, Byron Stonebridge. »Gehen Sie in den Kongreß zurück und arbeiten Sie auf den Job hin, den ich habe. Da angelangt, gibt es für Sie nichts anderes mehr als Golf; Sie können sich dann soviel Zeit nehmen, wie Sie wollen, um Ihr Spiel zu verbessern. Es ist historisch belegt, daß fast jeder Vizepräsident im letzten halben Jahrhundert beim Ausscheiden viel besser Golf gespielt hat als bei seinem Amtsantritt.«

Wie zur Bestätigung seiner Worte trieb er Augenblicke später seinen dritten Schlag - ein herrliches Eisen 8 - schnurgerade zum Fahnenstock.

Stonebridge, hager und elastisch, mit geschmeidigen Bewegungen, spielte an diesem Tag beinahe noch besser als sonst. Als Sohn eines Farmers aufgewachsen, der jeden Tag viele Stunden auf dem kleinen Familienanwesen schwer arbeiten mußte, hatte er sich über die Jahre hin einen sehnigen Körper bewahrt. Jetzt strahlte sein vergnügtes Bauerngesicht, äs der Ball fiel, dann bis auf ein Fuß an das Loch heranrollte.

»Nicht schlecht«, gab Big George zu, als sein Karren heranrollte und hielt. »Washington verlangt Ihnen wohl nicht allzuviel Arbeit ab, was, By?«

»Ach, ich kann mich nicht beklagen. Vorigen Monat habe ich eine Inventur der regierungsamtlichen Büroklammern geleitet. Und aus dem Weißen Haus ist was durchgesickert - allem Anschein nach hab' ich Chancen, da schon bald die Bleistifte anspitzen zu dürfen.«

Die anderen lachten pflichtschuldig in sich hinein. Es war kein Geheimnis, daß Stonebridge, Ex-Gouverneur eines Bundesstaates, Ex-Minderheitsführer im Senat, nicht glücklich in seiner gegenwärtigen Rolle war. Vor der Wahl hatte sein Mitstreiter, der Präsidentschaftskandidat, immer wieder erklärt, daß sein Vizepräsident - in einer neuen Ära nach Watergate -eine sinnvolle und arbeitsreiche Rolle in der Regierung spielen werde. Wie immer nach der Amtseinführung wurde dieses Versprechen nicht eingelöst.

Heyward und Quartermain machten ihre Annäherungen an das Grün, dann warteten sie mit Stonebridge, während The Hon.

Harold, der unregelmäßig gespielt hatte, den Ball verfehlte, lachte, den Rasen traf, lachte und schließlich doch seine Annäherung machte.

Die vier Männer bildeten ein ungleiches Quartett. G. G. Quartermain, die anderen weit überragend, war teuer und makellos in Schottenhosen, Lacoste-Strickjacke und marineblaue Foot-Joys aus Wildleder gekleidet. Er trug eine rote Golfmütze, deren Abzeichen seinen vielbeneideten Status als Mitglied des Fordly Cay Club proklamierte.

Der Vizepräsident präsentierte sich modebewußt und adrett -feste, doch leichte Hosen, ein maßvoll buntes Hemd, dazu Golfschuhe in Schwarz und Weiß. Für einen dramatischen Kontrast sorgte Harold Austin, der von Schnitt und Farbe her -Shocking Pink und Lavendel - am auffälligsten gekleidet war. Roscoe Heyward war praktisch und sportgerecht angezogen: dunkelgraue Hosen, ein weißes kurzärmeliges Jackenhemd und weiche schwarze Schuhe. Selbst auf dem Golfplatz verleugnete er den Bankier nicht.

Ihr Vormarsch seit dem ersten Abschlag hatte einer Kavalkade geglichen. Big George und Heyward teilten sich ein Elektromobil; Stonebridge und The Hon. Harold besetzten ein anderes. Sechs weitere Elektrokarren waren von der Secret-Service-Eskorte des Vizepräsidenten mit Beschlag belegt worden, und sie umringten die Spieler jetzt - zu beiden Seiten, von vorn und hinten - wie ein Zerstörergeschwader.

»Wenn man Ihnen freie Hand ließe, By«, sagte Roscoe Heyward, »freie Hand, einige Regierungsprioritäten zu setzen, welche wären das wohl?«

Gestern noch hatte Heyward ihn korrekt mit »Mr. Vice-President« angeredet, aber ihm war sehr bald gesagt worden: »Lassen Sie doch die Förmlichkeit; es hängt einem zum Halse raus. Sie werden merken, ich höre am besten auf >By<.« Heyward, der Vornamen-Freundschaften mit wichtigen Leuten hoch schätzte, war entzückt.

Stonebridge dachte nach. »Wenn ich das Sagen hätte, würde ich mich auf Wirtschaftspolitik konzentrieren - finanzielle Vernunft wiederherstellen, Ausgleich des Staatshaushalts.«

G. G. Quartermain, der zugehört hatte, bemerkte: »Ein paar mutige Leute haben das bereits versucht, By. Sie sind gescheitert. Und Sie kommen zu spät.«

»Es ist spät, George, aber nicht zu spät.«

»Dazu hätte ich allerhand zu bemerken.« Big George ging in die Hocke und prüfte die Linie zum Einlochen. »Nach neun. Das hier hat erst mal Vorrang.«

Seit Beginn des Spiels war Quartermain stiller gewesen als die anderen, angespannt. Er hatte sein Handicap auf -3 gebracht, und wenn er spielte, dann, um zu siegen. Zu siegen oder besser als Platzstandard zu spielen, das machte ihm dasselbe Vergnügen (sagte er) wie die Übernahme einer neuen Gesellschaft für Supranational.

Heyward spielte zuverlässig und kompetent, weder aufsehenerregend gut noch so, daß er sich dessen hätte schämen müssen.

Als alle vier beim sechsten Abschlag ihre Elektromobile verließen, sagte Big George warnend: »Kontrollieren Sie das Schlagergebnis der beiden nur ja mit Ihrem Bankiersauge, Roscoe. Genauigkeit gehört nicht zu den Stärken von Politikern und Werbefritzen.«

»Mein hohes Amt gebietet, daß ich gewinne«, sagte der Vizepräsident. »Mit allen Mitteln.«

»Oh, ich habe die Ergebnisse hier.« Roscoe Heyward tippte sich an die Stirn. »Bei Loch l hatten George und By vier Schläge, Harold sechs, und ich hatte einen Bogey. Wir waren alle Par am 2. Loch außer By mit dem unglaublichen Birdie. Natürlich hatten Harold und ich da auch Netto-Birdies. Alle spielten das Par auf der 3. Bahn außer Harold; er hatte weitere sechs Schläge. Das vierte Loch war unser gutes, vier Schläge für George und mich (und ich hatte da einen Schlag Vorgabe), fünf Schläge für By, sieben Schläge für Harold. Und dieses letzte Loch war natürlich eine richtige Katastrophe für Harold, aber dann kommt sein Partner mit einem weiteren Birdie. Was das Spiel betrifft, so liegen wir jetzt gleich.«

Byron Stonebridge starrte ihn an. »Das ist ja unheimlich! Verdammt noch mal.«

»Beim ersten Loch haben Sie sich bei mir geirrt«, sagte The Hon. Harold. »Ich hatte fünf Schläge, nicht sechs.«

Heyward sagte mit fester Stimme: »Stimmt nicht, Harold. Sie erinnern sich, Sie schlugen in den Palmenhain, dann kraftvoll kurz heraus, kamen mit dem Holzschläger nur vor das Grün, machten eine Annäherung und brauchten zwei weitere Schläge zum Einlochen.«

»Er hat recht«, bestätigte Stonebridge. »Ich erinnere mich.«

»Verdammt noch mal, Roscoe«, grollte Harold Austin. »Wessen Freund sind Sie eigentlich?«

»Bei Gott, meiner!« rief Big George. Freundschaftlich schlang er einen Arm um Heywards Schulter. »Sie fangen an, mir zu gefallen, Roscoe, besonders Ihre Vorgabe!« Während Heyward strahlte, senkte Big George die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »War letzte Nacht alles befriedigend?«

»Restlos befriedigend, danke. Die Reise hat mir Spaß gemacht, der Abend auch, und ich habe äußerst gut geschlafen.«

Er hatte zunächst gar nicht gut geschlafen. Im Laufe des vergangenen Abends in G. G. Quartermains Herrenhaus auf den Bahamas war es deutlich geworden, daß Avril, der schlanke, schöne Rotschopf, Roscoe Heyward in jeder von ihm gewünschten Weise zur Verfügung stand. Das ging klar aus den Anspielungen der anderen hervor sowie aus Avrils Verhalten, die ihm im Laufe des Tages und mehr noch mit Fortschreiten des Abends immer näher rückte. Keine Gelegenheit ließ sie ungenutzt, sich Heyward zuzuneigen, so daß ihr weiches Haar sein Gesicht streifte, oder sonst unter irgendeinem Vorwand körperlichen Kontakt zu ihm herzustellen. Er ermutigte sie zwar nicht bei ihren Avancen, erhob aber auch keinerlei Einwand.

Ebenso deutlich war es, daß die üppige Krista Byron Stonebridge zur Verfügung stand und Rhetta, die atemberaubende Blondine, Harold Austin.

Die exquisit schöne Japanerin Mondstrahl war selten mehr als ein paar Schritte von der Seite G. G. Quartermains entfernt.

Quartermains Besitztum, eines der sechs, die dem Vorsitzenden von Supranational in verschiedenen Ländern gehörten, lag auf dem Prospero Ridge, hoch über der Stadt Nassau. Man hatte von dort aus einen herrlichen Blick über Land und Meer. Das Haus stand inmitten eines sorgsam gepflegten Parks hinter hohen Steinmauern. Heywards Zimmer im ersten Stock, in das ihn Avril nach ihrer Ankunft geführt hatte, bot einen weiten Blick über dieses Panorama. Durch die Bäume konnte man von dem Zimmer auch das Haus eines Nachbarn sehen - des Premierministers, dessen Ruhe und Ungestörtheit von patrouillierenden Beamten der Royal Bahamas Police geschützt wurden.

Am späten Nachmittag gab es Cocktails an einem kolonnadenum säumten Schwimmbad. Es folgte das Abendessen, das bei Kerzenschein im Freien auf einer Terrasse serviert wurde. Dieses Mal saßen die Mädchen, die sich ihrer Uniformen entledigt hatten und im Abendkleid erschienen waren, zusammen mit den Männern am Tisch. Kellner mit weißen Handschuhen warteten im Hintergrund und bedienten aufmerksam, während zwei herumwandernde Spieler für Musik sorgten. Es herrschte eine gesellige Stimmung, und die Unterhaltung war lebhaft und freundschaftlich.

Nach dem Abendessen entschieden sich Vizepräsident Stonebridge und Krista dafür, im Haus zu bleiben; die anderen stiegen in drei Rolls-Royces ein - es waren dieselben Wagen, die sie vom Flughafen abgeholt hatten - und ließen sich zum Spielkasino Paradise Island fahren. Dort setzte Big George erhebliche Summen, und er schien zu gewinnen. Austin beteiligte sich maßvoll, Roscoe Heyward überhaupt nicht. Heyward mißbilligte das Glücksspiel, hörte jedoch mit Interesse zu, als Avril ihm die feineren Raffinessen beim Chemin de fer, Roulette und Blackjack erklärte. Das alles war ihm neu. Wegen des Gesprächslärms, der hier herrschte, mußte Avril sich beim Sprechen dicht zu Heywards Ohr vorbeugen, und es war ihm, wie auch schon im Flugzeug, keineswegs unangenehm.

Doch dann begann sein Körper, Avril mit beunruhigender Plötzlichkeit stärker zur Kenntnis zu nehmen, so daß es ihm zunehmend schwerer fiel, Gedanken und Wünsche von sich zu weisen, die er längst als tadelnswert erkannt hatte. Er spürte, daß Avril seinen inneren Kampf bemerkt hatte und ihn amüsiert verfolgte, und das trug nicht zum Erhalt seines inneren Gleichgewichts bei. Schließlich gelang es ihm dann an seiner Schlafzimmertür, zu der sie ihn um 2.00 Uhr früh begleitet hatte, nur mit äußerster Willensanstrengung - besonders, als sie eine Bereitschaft zum Verweilen zu erkennen gab -, sie nicht hereinzubitten.

Bevor Avril sich in ihr eigenes Zimmer zurückzog - wo immer es sich befinden mochte -, warf sie ihr rotes Haar mit einer eleganten Kopfbewegung zurück und sagte lächelnd: »Am Bett ist ein Sprechgerät. Wenn Sie irgend etwas wünschen, drücken Sie Taste Nummer sieben, und ich komme.« Dieses Mal bestand nicht der geringste Zweifel, was sie mit diesem »irgend etwas« gemeint hatte. Und die Nummer sieben, so schien es, war die Chiffre für Avril, ganz gleich, wo sie gerade war.

Unerklärlicherweise war seine Stimme plötzlich schwer, und seine Zunge schien zu Übergröße geschwollen, als er etwas Aber selbst dann war sein innerer Widerstreit noch nicht vorüber. Beim Auskleiden kehrten seine Gedanken zu Avril zurück, und zu seinem Ärger sah er, daß sein Körper seinen Willensentschluß ignorierte. Es war schon lange her, seit so etwas unaufgefordert geschehen war.

Er war dann auf die Knie gefallen und hatte zu Gott gebetet, ihn vor der Sünde und der Versuchung zu bewahren. Und nach einer Weile, so schien es, wurde sein Gebet erhört. Sein Körper erschlaffte vor Müdigkeit. Doch er schlief erst sehr viel später ein.

Als sie jetzt mit dem Karren weiterfuhren, sagte Big George plötzlich: »Hören Sie, alter Junge, wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen heute nacht mal Mondstrahl rüber. Sie werden's nicht glauben, was für Tricks die kleine Lotusblume kennt.«

Heywards Gesicht lief rot an. Er beschloß, fest zu bleiben. »George, ich bin sehr gern hier bei Ihnen, und an Ihrer Freundschaft liegt mir viel. Aber das ändert nichts daran, daß wir auf gewissen Gebieten doch recht unterschiedliche Vorstellungen haben.«

Das Gesicht des großen Mannes erstarrte. »Auf welchen Gebieten?«

»Nun, zum Beispiel auf moralischen.«

Big George dachte nach, und sein Gesicht war noch immer wie eine Maske. Plötzlich lachte er laut auf. »Moral - was ist denn das?« Er stoppte den Karren, während The Hon. Harold sich links von ihnen zu einem Schlag bereitmachte. »Okay, Roscoe, jeder nach seiner Fasson. Aber sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich anders besinnen.«

Trotz der Festigkeit seines Entschlusses ertappte sich Heyward im Laufe der nächsten beiden Stunden immer wieder dabei, daß seine Phantasie sich mit dem zerbrechlichen und verführerischen Mädchen aus Japan beschäftigte.

Am Ende von neun Löchern griff Big George am Erfrischungsstand des Platzes sein Streitgespräch vom fünften Loch mit Byron Stonebridge wieder auf.

»Die US-Regierung und andere Regierungen«, erklärte Big George, »werden von Männern geführt, die wirtschaftliche Grundsätze nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Das ist der Grund dafür - und zwar der einzige Grund -, daß wir eine galoppierende Inflation haben. Deshalb kracht das Geldsystem der Welt zusammen. Deshalb kann alles, was mit Geld zusammenhängt, immer nur noch schlimmer werden.«

»Da muß ich Ihnen zumindest teilweise recht geben«, erwiderte Stonebridge. »Wenn man sieht, wie der Kongreß mit vollen Händen das Geld ausgibt, könnte man glauben, daß es unbegrenzte Mengen davon gibt. Wir haben angeblich vernünftige Leute im Repräsentantenhaus und im Senat, aber die scheinen zu glauben, daß man für jeden hereinkommenden Dollar in aller Seelenruhe vier oder fünf ausgeben darf.«

Voller Ungeduld sagte Big George: »Das weiß doch jeder Geschäftsmann. Und zwar seit einer Generation. Die Frage lautet nicht, ob die amerikanische Wirtschaft zusammenbrechen wird, sie lautet nur noch: wann?«

»Ich bin nicht davon überzeugt, daß das unausweichlich ist. Wir könnten den Zusammenbruch immer noch abwenden.«

»Wir könnten es, aber wir werden's nicht tun. Der Sozialismus - und das heißt, Geld ausgeben, das man nicht hat und nie haben wird - ist zu tief verwurzelt. Es kommt also mal der Tag, an dem die Regierung keinen Kredit mehr hat. Dummköpfe glauben, das könne nie passieren. Aber es wird passieren.«

Der Vizepräsident seufzte. »Öffentlich würde ich das bestreiten. Hier aber, im Vertrauen und ganz unter uns, kann ich es nicht.«

»Der Ablauf der Ereignisse«, sagte Big George, »ist ganz leicht vorherzusagen. Es wird sich im großen und ganzen ähnlich abspielen wie in Chile. Viele Leute hier glauben, daß in Chile alles ganz anders war und daß Chile sowieso weit weg ist. Das stimmt nicht. Es war in kleinem Maßstab das Modell für die USA - und für Kanada und Großbritannien.«

The Hon. Harold sagte nachdenklich: »Ich teile Ihre Meinung, was den Ablauf betrifft. Erst die Demokratie - solide, von der ganzen Welt anerkannt, leistungsfähig. Dann folgt der Sozialismus, zurückhaltend zu Anfang, aber bald immer deutlicher. Wilde Geldausgaben, bis nichts mehr da ist. Danach dann der wirtschaftliche Ruin, Anarchie, Diktatur.«

»Wie tief wir auch absacken«, meinte Byron Stonebridge, »ich glaube nicht, daß es so weit mit uns kommen kann.«

»Es muß auch nicht so weit kommen«, sagte Big George. »Nämlich dann nicht, wenn es bei uns noch ein paar Leute mit Intelligenz und Macht gibt, die vorausdenken und vorausplanen. Wenn der finanzielle Kollaps kommt, dann haben wir hier in den USA zwei starke Arme, die uns vor der Anarchie retten können. Der eine ist Big Business. Damit meine ich ein Kartell multinationaler Konzerne wie meinen und große Banken wie Ihre, Roscoe, und andere - die könnten das Land finanziell führen und finanzielle Disziplin erzwingen. Wir wären liquide, weil wir überall in der Welt operieren; wir haben dann längst unsere eigenen Mittel da untergebracht, wo die Inflation sie nicht auffressen kann. Der andere starke Arm sind Militär und Polizei. In Partnerschaft mit dem Big Business würden sie für Ordnung sorgen.«

»Mit anderen Worten, ein Polizeistaat«, bemerkte der Vizepräsident trocken. »Es könnte sein, daß Sie da auf Widerstand stoßen.«

Big George zuckte die Achseln. »Vielleicht ein bißchen; aber nicht sehr. Die Leute werden sich mit dem Unvermeidlichen abfinden. Besonders dann, wenn die sogenannte Demokratie in allen Fugen kracht, wenn das Geldsystem in Scherben liegt und die Kaufkraft des einzelnen bei Null angelangt ist. Außerdem glauben die Amerikaner nicht mehr an demokratische Einrichtungen. Ihr Politiker, ihr habt ihnen diesen Glauben genommen.«

Roscoe Heyward hatte geschwiegen und zugehört. Jetzt sagte er: »Was Sie da kommen sehen, George, ist eine Erweiterung des jetzigen militär-industriellen Komplexes zu einer elitären Regierung.«

»Ganz genau das. Und das Industriell-Militärische - so herum ist es mir lieber - wird im gleichen Maße stärker, wie die amerikanische Wirtschaft schwächer wird. Und wir verfügen über die Organisation. Noch ist sie lose geknüpft, aber sie strafft sich zusehends.«

»Eisenhower hat die militär-industrielle Struktur als erster erkannt«, sagte Heyward.

»Und er hat davor gewarnt«, fügte Byron Stonebridge hinzu.

»Verdammt noch mal, ja!« pflichtete Big George ihm bei. »Und das war schön dumm von ihm. Ausgerechnet Ike hätte doch das Kräftepotential darin erkennen sollen. Sehen Sie es denn nicht?«

Der Vizepräsident nahm einen Schluck von seinein Planter's Punch. »Ich möchte nicht zitiert werden. Aber ja, ich sehe es auch.«

»Ich sage«, versicherte Big George ihm, »Sie sollten sich zu uns schlagen.«

The Hon. Harold fragte: »Was meinen Sie, George, wieviel Zeit haben wir noch?«

»Meine eigenen Experten sagen, acht bis neun Jahre. Dann ist der Kollaps des Geldsystems unvermeidlich.«

»Was mir daran als Banker gefällt«, sagte Roscoe Heyward, »ist, daß dann endlich wieder Disziplin in Geld und Regierung einzieht.«

G. G. Quartermain zeichnete die Barrechnung ab und stand auf. »Und Sie werden es erleben. Das verspreche ich Ihnen.«

Sie fuhren weiter zum zehnten Abschlag.

Big George rief zu dem Vizepräsidenten hinüber: »By, Sie sind über sich hinausgewachsen, und jetzt haben Sie die Ehre, als erster abzuspielen. Teen Sie Ihren Ball auf, und dann zeigen Sie uns, was diszipliniertes und ökonomisches Golfspiel ist! Sie führen mit l auf, und es liegen neun schwierige Löcher vor uns.«

Big George und Roscoe Heyward warteten auf dem Karrenweg, während Harold Austin am vierzehnten Loch seine Lage prüfte; nach einer allgemeinen Suche hatte ein Secret-Service-Mann seinen Ball unter einem Eibischstrauch aufgespürt. Big George war gelöster, seit er und Heyward zwei Löcher genommen hatten und jetzt l auf führten. Als sie wieder im Mobil saßen, wurde das Thema angeschnitten, auf das Heyward gehofft hatte. Es geschah mit erstaunlicher Beiläufigkeit.

»Ihre Bank würde also gern mit Supranational ins Geschäft kommen.«

»Wir hatten daran gedacht.« Heyward versuchte, ebenso gelassen zu sein wie der andere.

»Ich expandiere die Medien- und Kommunikationssparte Ausland und kaufe kleine, aber wichtige Telefongesellschaften und Sender auf. Manche waren in Regierungsbesitz, andere privat. Wir machen das in aller Stille, wo nötig, zahlen wir örtlichen Politikern; dadurch lassen wir nationalistisches Geschrei gar nicht erst aufkommen. Supranational liefert fortgeschrittene Technologie, leistungsfähigen Service, den sich kleine Länder nicht leisten können, und Standardisierung für globalen Anschluß. Für uns selbst steckt gute Rendite drin. Noch drei Jahre, dann kontrollieren wir über unsere Töchter 45 Prozent der weltweiten Kommunikationsnetze. Kein anderer kommt uns auch nur nahe. Das ist wichtig für Amerika; lebenswichtig wird es in einer industriell-militärischen Liaison sein, wie wir sie vorhin erwähnt haben.«

Heyward nickte. »Daß das von Bedeutung ist, leuchtet mir ein.«

»Ich hätte gern, daß Ihre Bank mir eine Kreditlinie von fünfzig Millionen Dollar einräumt. Selbstverständlich zur Prime Rate.«

»Das versteht sich von selbst. Alle unsere Arrangements werden zur Prime Rate sein.« Heyward hatte gewußt, daß jeder Kredit für Supranational nur zum für den Konzern günstigsten Zinssatz zustande kommen würde. Im Bankwesen war es üblich, daß die reichsten Kunden am wenigsten für geborgtes Geld zahlten; die höchsten Zinssätze waren für die Armen da. »Wir müßten nur noch prüfen«, sagte er, »welche gesetzlichen Limits es nach dem Bundesgesetz für unsere Bank gibt.«

»Gesetzliche Limits, zum Teufel damit! So was ist doch zu umgehen, das wird doch täglich gemacht - und das wissen Sie genauso gut wie ich.«

»Ja, ich weiß, es gibt Mittel und Wege.«

Wovon die beiden Männer sprachen, war die für alle amerikanischen Banken geltende Vorschrift, die jeder Bank untersagte, einem einzelnen Schuldner mehr zu leihen als zehn Prozent ihres Kapitals und eines Kapitaleinzahlungsagios. Sinn der Vorschrift war es, eine Sicherung gegen Bankkräche einzubauen und die Einleger vor Verlusten zu schützen. Im Falle der First Mercantile American würde ein Kredit von fünfzig Millionen Dollar an Supranational erheblich über dieses Limit hinausgehen.

»Sie brauchten die Kredite ja nur unter unseren Töchtern aufzuteilen«, schlug Big George vor. »Wir verteilen sie dann so, wie wir sie brauchen.«

»So könnte man es machen«, meinte Roscoe Hey ward nachdenklich. Es war ihm bewußt, daß der Vorschlag gegen den Geist des Gesetzes verstieß, technisch aber innerhalb der vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen blieb. Aber er wußte auch, daß es stimmte, was Big George gesagt hatte. Derartige Methoden wurden jeden Tag von den größten und angesehensten Banken angewandt.

Aber selbst wenn dieses Problem sich aus dem Wege räumen ließ, so wurde ihm doch bei der Höhe der vorgeschlagenen Verpflichtung schwindlig. Er hatte zwanzig oder fünfundzwanzig Millionen für den Anfang im Auge gehabt, wobei man die Summe vielleicht hätte ausbauen können, je nachdem, wie sich die Beziehungen zwischen Supranational und der Bank entwickelten.

Als könnte er seine Gedanken lesen, sagte Big George kategorisch: »Mit kleinen Beträgen gebe ich mich nicht ab. Wenn fünfzig Millionen mehr sind, als ihr aufbringen könnt, dann vergessen wir die ganze Sache eben. Dann geb' ich's der Chase.«

Das so verlockende, großartige Geschäft, das Heyward hier hatte in die Wege leiten wollen, schien ihm plötzlich wieder zu entschlüpfen.

Mit Nachdruck sagte er: »Nein, aber nein. Das ist uns nicht zuviel.«

Im Geiste ließ er andere FMA-Verpflichtungen Revue passieren. Niemand kannte sie besser als er. Ja, fünfzig Millionen für SuNatCo ließen sich beschaffen. Nur würde man dann innerhalb der Bank einige Hähne zudrehen müssen -kleinere Darlehen müßten drastisch eingeschränkt, Hypotheken gedrosselt werden; aber das ließe sich machen. Ein großer Einzelkredit für einen Kunden wie Supranational war immens viel einträglicher als ein ganzer Haufen kleiner Kredite, die zu verwalten und wieder hereinzubringen einen kostspieligen Apparat erforderte.

»Ich werde mich bei unserem Direktorium mit allem Nachdruck für die Kreditlinie einsetzen«, sagte Heyward entschlossen. »Und ich bin davon überzeugt, daß meine Kollegen zustimmen werden.«

Sein Golfpartner nickte kurz. »Gut.«

»Es würde meine Position natürlich verbessern, wenn ich unseren Direktoren mitteilen könnte, daß wir als Bank dann auch im Direktorium von Supranational vertreten sein würden.«

Big George fuhr den Golfkarren bis dicht an seinen Ball, den er eingehend studierte, bevor er antwortete. »Das ließe sich eventuell einrichten. Kommt es zustande, dann würde ich natürlich von Ihrer Treuhandabteilung erwarten, daß sie Geld in unseren Papieren anlegt. Es wird höchste Zeit, daß neue Käufe den Kurs anziehen lassen.«

Mit zunehmender Selbstsicherheit sagte Heyward: »Das Thema könnten wir untersuchen, zusammen mit anderen Angelegenheiten. Supranational wird dann natürlich ein aktives Konto bei uns haben, und es ergibt sich die Frage der Kompensation... «

Heyward wußte, daß sie jetzt den Ritualtanz zwischen Banker und Kunden vollführten. Er symbolisierte den Grundsatz der Lebensgemeinschaft Bank und Konzern: Kratzt du mir den Rücken, kratz' ich dir den Rücken.

G. G. Quartermain, der ein Eisen aus seiner AlligatorlederGolftasche zog, sagte gereizt: »Verschonen Sie mich mit den Einzelheiten. Mein Finanzmann, Inchbeck, kommt heute. Er fliegt morgen mit uns zurück. Da könnt ihr beiden euch ja zusammenhocken.«

Es gab keinen Zweifel; der kurze geschäftliche Teil des Tages war beendet.

Mittlerweile schien das diffuse Spiel des Hon. Harold seinen Partner angesteckt zu haben. »Sie können einen regelrecht verhexen«, beklagte sich Byron Stonebridge nach einem Schlag.

Und nach einem anderen sagte er: »Verdammt noch mal, Harold, Ihr Querschlagen ist ansteckend wie die Pest. Wer mit Ihnen spielt, sollte sich vorher impfen lassen.« Und aus irgendeinem Grund wurden Schwung, Schläge und Haltung des Vizepräsidenten schwächer, was unnötig Schläge kostete.

Da Austin sich trotz der Rüge nicht besserte, lagen Big George und Roscoe auch am siebzehnten Loch noch l in Führung. Das war G. G. Quartermain sehr recht, und er trieb seinen 1. Schlag vom 18. Abschlag ungefähr 250 Meter schnurgerade die Mitte der Spielbahn hinab, schuf die beste Voraussetzung, das Loch in Birdie zu spielen, und damit hatte seine Seite das Spiel gewonnen.

Sein Sieg hatte Big George in eine joviale Stimmung versetzt, und er packte Byron Stonebridge bei den Schultern. »Ich hoffe, das erhöht meinen Kredit in Washington.«

»Kommt drauf an, was Sie haben wollen«, sagte der Vizepräsident. Etwas spitz fügte er hinzu: »Und wie diskret Sie sind.«

Bei einem Cocktail in der Garderobe zahlten The Hon. Harold und Stonebridge G. G. Quartermain je einhundert Dollar - eine Wette, die sie vor Spielbeginn abgeschlossen hatten. Heyward hatte sich gegen das Wetten gesperrt, deshalb wurde ihm jetzt nichts ausgezahlt.

Großmütig sagte Big George: »Ihr Spiel hat mir gefallen, Partner.« Er wandte sich den anderen zu. »Ich meine, Roscoe hat eine Anerkennung verdient. Meinen Sie nicht auch?«

Sie nickten, und Big George schlug sich klatschend aufs Knie. »Ich hab's! Einen Sitz im Supranational-Direktorium. Gefällt Ihnen das als Preis?«

Heyward lächelte. »Sie scherzen wohl.«

Einen Augenblick lang verschwand das Lächeln vom Gesicht des SuNatCo-Vorsitzenden. »Wenn es um Supranational geht, scherze ich niemals.«

Erst jetzt begriff Heyward, daß Big George soeben auf diese Art ihr Gespräch von vorhin bestätigt hatte. Stimmte er jetzt zu, dann bedeutete das natürlich auch, daß er die anderen Verpflichtungen auf sich nahm...

Sein Zögern dauerte nur Sekunden. »Wenn es Ihr Ernst ist, dann nehme ich natürlich mit Freuden an.«

»Wir werden es nächste Woche bekanntgeben.«

Das Angebot war so blitzartig gekommen, und es war so atemberaubend, daß Heyward noch immer nicht so recht daran glauben konnte. Er hatte erwartet, daß man irgendeinen anderen Direktor der First Mercantile American Bank einladen werde, in das Supranational-Direktorium einzutreten. Selbst ausgewählt zu werden, und zwar persönlich von G. G. Quartermain, das war die äußerste Nobilitierung. Die SuNatCo-Direktoriumsliste las sich in ihrer jetzigen Zusammensetzung wie ein Gotha der Geschäfts- und Finanzwelt.

Big George lachte zufrieden, so als könne er Gedanken lesen. »Unter anderem können Sie dann ja das Geld Ihrer Bank im Auge behalten.«

Heyward sah, wie The Hon. Harold ihm einen fragenden Blick zuwarf. Als Heyward ganz leicht mit dem Kopf nickte, strahlte sein FMA-Direktoriumskollege über das ganze Gesicht.

8

Der zweite Abend in G. G. Quartermains Herrenhaus auf den Bahamas unterschied sich auf subtile Art von dem ersten. Alle acht Personen, die Männer und die Mädchen, schienen sich in gelöster Vertrautheit zu bewegen. Es herrschte eine Intimität der Stimmung, die am Abend zuvor gefehlt hatte. Roscoe Heyward bemerkte den Unterschied und meinte, auch den Grund dafür zu kennen.

Seine Intuition sagte ihm, daß Rhetta die vergangene Nacht mit Harold Austin verbracht habe und Krista mit Byron Stonebridge. Er hoffte nur, daß die beiden Männer nicht das gleiche auch von ihm und Avril annahmen. Er war sicher, daß sein Gastgeber es nicht tat; seine Bemerkungen vom Vormittag deuteten darauf hin, wahrscheinlich deshalb, weil man Big George über alles informierte, was in diesem Hause geschah beziehungsweise nicht geschah.

Die abendliche Versammlung - wieder am Schwimmbad und zur Dinnerzeit auf der Terrasse - verlief in angenehmster Stimmung. Roscoe Heyward gestattete es sich, entspannt und fröhlich daran teilzuhaben.

Er genoß ganz unverhohlen Avrils unverändert fortgesetzte Aufmerksamkeiten; das Mädchen verriet auch nicht durch das leiseste Zeichen, daß sie ihm die Zurückweisung vom Vorabend nachtrug. Da er sich selbst gegenüber den Beweis erbracht hatte, daß er ihren Versuchungen zu widerstehen vermochte, sah er nicht ein, warum er sich jetzt die angenehme Gesellschaft Avrils versagen sollte. Noch zwei andere Gründe gab es für seine euphorische Stimmung, nämlich die Zusicherung des Supranational-Geschäfts für die First Mercantile American Bank und die gänzlich unerwartete, strahlende Trophäe eines Sitzes im SuNatCo-Direktorium. Zweifellos würde beides dazu beitragen, sein eigenes Prestige innerhalb der FMA in bedeutendem Maße zu steigern und ihn seinem Ziel, der Anwärterschaft auf den Präsidentenstuhl der Bank, ein gutes Stück näher zu bringen.

Er hatte vorhin ein kurzes Gespräch mit dem Finanzdirektor von Supranational geführt, Stanley Inchbeck, der, wie Big George angekündigt hatte, prompt erschienen war. Inchbeck war ein geschäftiger New Yorker mit Stirnglatze, und er und Heyward waren übereingekommen, die Einzelheiten am nächsten Tag während des Rückflugs zu regeln. Abgesehen von seiner Besprechung mit Heyward, hatte Inchbeck fast den ganzen Nachmittag allein mit G. G. Quartermain hinter verschlossener Tür verbracht. Obwohl er sich doch allem Anschein nach irgendwo im Hause aufhalten mußte, erschien Inchbeck weder zum Cocktail noch zum Dinner.

Noch etwas anderes war Roscoe Heyward am frühen Abend aufgefallen. Vom Fenster seines Zimmers im ersten Stock hatte er gesehen, wie G. G. Quartermain und Byron Stonebridge, tief im Gespräch versunken, fast eine Stunde lang im Park spazierengingen. Sie waren zu weit vom Haus entfernt, als daß er ein Wort ihrer Unterhaltung hätte verstehen können, aber Big George schien überredend auf den anderen einzusprechen, und der Vizepräsident unterbrach ihn von Zeit zu Zeit, allem Anschein nach mit einer Frage. Heyward mußte unwillkürlich an die Bemerkung denken, die Big George am Morgen auf dem Golfplatz gemacht hatte, als er von seinem »Kredit in Washington« gesprochen hatte, und Heyward fragte sich, von welchen der vielen Supranational-Interessen jetzt wohl die Rede sein mochte; eine Frage, auf die er wahrscheinlich nie eine Antwort bekommen würde, wie er sich selber eingestand.

Jetzt, nach dem Abendessen, draußen in der süß duftenden Dunkelheit, war Big George wieder ganz der aufgeräumte, gutgelaunte Gastgeber. Die Hände um einen dickbauchigen Cognacschwenker mit dem großen »Q« gelegt, verkündete er: »Heute gibt's keinen Ausflug. Die Party findet zu Hause statt.«

Der Majordomus, die Kellner und die Musiker waren diskret verschwunden.

Rhetta und Avril, die Champagner tranken, riefen im Chor: »Eine Party! Wir feiern eine Party!«

Auch By Stonebridge erhob seine Stimme. »Was denn für eine Party?« verlangte er zu wissen.

»Eine rauschende, mein Schatz!« erklärte Krista und setzte gleich darauf mit einer Stimme hinzu, die infolge des Weins, den es bei Tisch gegeben hatte, und des Champagners ein wenig undeutlich klang: »Eine rauschende Wasserparty. Ich will schwimmen.«

Stonebridge sagte: »Was hält Sie denn noch zurück?«

»Nichts, By, Darling! Überhaupt nichts!« Mit ein paar raschen Bewegungen setzte Krista ihr Champagnerglas ab, entledigte sich mit kurzem Schlenkern der Füße ihrer Schuhe, löste die Träger ihres Kleides und vollführte eine Drehbewegung des Oberkörpers. Das lange grüne Abendkleid rauschte wie in einer Kaskade herab, so daß sie jetzt in ihrem kurzen Unterkleid dastand. In der nächsten Sekunde zog sie es über den Kopf und warf es weg. Mehr hatte sie nicht angehabt.

Nackt und lächelnd, wie eine zum Leben erwachte Skulptur von Maillol, mit ihrem exquisit geformten und wohlproportionierten Körper, den hohen, festen Brüsten und dem pechschwarzen Haar, schritt Krista jetzt von der Terrasse die Stufen zu dem beleuchteten Schwimmbad hinab und tauchte hinein. Sie schwamm die ganze Länge des Beckens, dann wandte sie sich um und rief den anderen zu: »Es ist herrlich! Kommt doch auch!«

»Also wirklich«, rief Stonebridge, »ich glaube, ich werd's tun.« Er warf sein Sporthemd von sich, entledigte sich der Schuhe, zog die Hose aus und trat, nackt wie Krista, wenn auch weniger reizvoll, an den Rand des Swimmingpools und tauchte ins Wasser.

Mondstrahl und Rhetta waren schon dabei, sich auszuziehen.

»Halt!« rief Harold Austin. »Auch dieser Sportsmann begibt sich an den Start.«

Roscoe Heyward, der Krista halb schockiert, halb fasziniert beobachtet hatte, spürte Avril dicht neben sich. »Rossie, mein Süßer, machen Sie mir doch bitte den Reißverschluß auf.« Sie wandte ihm den Rücken zu.

Mit unsicherer Hand versuchte er, den Reißverschluß von seinem Stuhl aus zu erreichen.

»Stehen Sie doch auf, Sie Dummerchen«, lachte Avril. Als er es tat, lehnte sie sich mit halb ihm zugewandtem Kopf gegen ihn; ihre Wärme, ihr Duft waren überwältigend.

»Fertig?«

Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. »Nein, da scheint irgendwas... «

Mit einer geschickten Bewegung griff Avril zu. »Da, lassen Sie mich mal.« Sie führte zu Ende, was er begonnen hatte, und zog den Reißverschluß ganz herunter. Mit einer Bewegung ihrer Schultern schlüpfte sie aus dem Kleid.

Sie warf die Haare mit der ihm nun schon vertrauten Bewegung zurück. »Na, worauf warten Sie noch? Machen Sie mir den BH auf.«

Seine Hände zitterten. Sein Blick konnte sich nicht von ihr lösen, als er tat, was ihm aufgetragen war. Der BH fiel herab. Seine Hände blieben, wo sie waren.

Mit einer kaum wahrnehmbaren, graziösen Bewegung drehte Avril sich herum. Sie beugte sich vor und küßte ihn weich und warm auf die Lippen. Seine Hände, die ihre Stellung nicht verändert hatten, berührten die nach vorn drängenden Warzen ihrer Brüste. Unwillkürlich, so schien es, griffen seine Finger fester zu. Elektrische Ströme schienen von ihnen auszugehen und pflanzten sich durch seinen Körper fort.

»Hm«, schnurrte Avril wie eine zufriedene Katze. »Das ist gut. Kommen Sie schwimmen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Bis gleich dann.« Sie wandte sich um, schritt in ihrer Nacktheit wie eine griechische Göttin davon und gesellte sich zu den anderen, die im Bassin herumalberten.

G. G. Quartermain hatte seinen Stuhl vom Tisch zurückgeschoben und war sitzen geblieben. Er nippte an seinem Cognac und betrachtete Heyward mit listigem Blick. »Ich bin auch nicht so wild aufs Schwimmen. Aber dann und wann, wenn man weiß, daß man unter Freunden ist, ist es gut für einen Mann, sich mal gehenzulassen.«

»Damit mögen Sie recht haben. Auch damit, was Sie über den Freundeskreis gesagt haben, in dem ich mich allerdings zu befinden glaube.« Heyward sank wieder in seinen Stuhl zurück; er nahm seine Brille ab und begann, die Gläser zu polieren. Er hatte sich jetzt wieder unter Kontrolle. Die Sekunde besinnungsloser Tollheit lag hinter ihm. Die Schwäche war überwunden. Er fuhr fort: »Das Problem liegt natürlich darin: Man geht gelegentlich ein wenig weiter, als man beabsichtigt hatte. Darum bin ich dafür, sich zu beherrschen. Haltung bewahren, das ist wichtig - dann braucht man hinterher auch nichts zu bereuen.«

Big George gähnte.

Während sie miteinander sprachen, rieben die anderen, die inzwischen aus dem Wasser gekommen waren, einander mit Handtüchern trocken und schlüpften in Bademäntel, die neben dem Becken bereitlagen.

Ungefähr zwei Stunden später begleitete Avril - wie sie es am Abend zuvor getan hatte - Roscoe Heyward bis an die Tür seines Schlafzimmers. Zuerst, unten, hatte er noch darauf bestehen wollen, daß sie ihn nicht begleitete. Dann hatte er sich anders besonnen, im Vertrauen auf seine wiederhergestellte Willenskraft und überzeugt davon, daß er keinen wilden, erotischen Impulsen mehr erliegen werde. Er fühlte sich sogar gefestigt genug, um fröhlich und aufgeräumt sagen zu können: »Gute Nacht, meine Liebe. Und, bevor Sie es mir noch einmal erzählen, ich weiß, daß Sie die Nummer sieben auf der Sprechanlage haben, aber Sie können sich darauf verlassen, daß ich nichts brauchen werde.«

Avril hatte ihn mit einem geheimnisvollen Halblächeln angesehen und sich dann abgewendet. Er machte sofort seine Schlafzimmertür zu und verschloß sie, dann summte er leise vor sich hin, während er sich für die Nacht fertigmachte.

Aber als er im Bett lag, fand er keinen Schlaf.

Fast eine Stunde lag er wach, die Bettdecke zurückgeworfen, die Matratze unter ihm weich und doch fest. Durch ein offenes Fenster konnte er das schläfrige Summen von Insekten hören und, fern, das Geräusch von Brechern am Strand.

Trotz aller guten Vorsätze stand das Mädchen Avril im Brennpunkt seiner Gedanken.

Avril... wie er sie gesehen und berührt hatte... atemberaubend schön, nackt und begehrenswert. Instinktiv bewegte er die Finger, durchlebte noch einmal das Gefühl jener vollen, festen Brüste, die Warzen hart und herausragend, spürte noch einmal, wie diese Brüste in den Schalen seiner Hände gelegen hatten.

Und unterdessen strafte sein Körper - fordernd, sich straffend - seinen Entschluß zur Ehrbarkeit Lügen.

Er versuchte, seine Gedanken abzulenken - hin zu Angelegenheiten der Bank, zum Kredit für Supranational, zu dem Direktoriumssitz, den G. G. Quartermain ihm in Aussicht gestellt hatte. Aber die Gedanken an Avril kehrten zu ihm zurück, stärker noch als vorher, unmöglich, sie zu unterdrücken. Er gedachte ihrer Beine, ihrer Schenkel, ihrer Lippen, ihres weichen Lächelns, ihrer Wärme und ihres Duftes... ihrer Bereitwilligkeit.

Er stand auf und wanderte auf und ab, bemüht, seine Energie in eine andere Richtung zu lenken. Doch sie ließ sich nicht in andere Richtungen lenken.

Am Fenster stehend, bemerkte er, daß sich ein strahlender Dreiviertelmond erhoben hatte. Er badete den Garten, die Strände und das Meer in weißes, verklärtes Licht. Bei diesem Anblick kam ihm eine längst vergessene Zeile wieder in den Sinn: Der Mond schuf die Nacht zur Liebe...

Er nahm seine Wanderung wieder auf, kehrte ans Fenster zurück, stand dort, aufgerichtet.

Zweimal machte er eine Bewegung hin zum Nachttisch mit der Sprechanlage. Zweimal ließen Entschluß und Festigkeit ihn umkehren.

Beim dritten Mal kehrte er nicht mehr um. Er packte das Gerät mit der Hand, stöhnte - eine Mischung aus Qual, Selbstvorwurf, rauschhafter Erregung, himmlischer Erwartung.

Entschlossen und fest drückte er die Taste Nummer sieben.

9

Nichts in Miles Eastins bisheriger Erfahrung oder Phantasie hatte ihn vor seiner Einlieferung in die Strafanstalt von Drummonburg auf die gnadenlose, demütigende Hölle des Gefängnisses vorbereitet.

Sechs Monate waren jetzt seit der Aufdeckung seiner Unterschlagung und seines Diebstahls vergangen und vier Monate seit seinem Prozeß und seiner Verurteilung.

In seltenen Augenblicken, wenn er in der Lage war, trotz körperlichen Elends und seelischer Qual objektiv zu denken, sagte Miles Eastin sich, daß die Gesellschaft, sofern sie beabsichtigt hatte, wilde, barbarische Rache an Menschen wie ihm zu üben, diese Absicht in einem Maße verwirklicht habe, das weit über das Wissen jedes Menschen hinausging, der nicht selber das Fegefeuer des Gefängnisses durchlitten hatte. Und, so sagte er sich weiter, wenn es das Ziel einer solchen Strafe war, ein menschliches Wesen seiner Menschlichkeit zu berauben und es in ein Tier mit niedrigsten Instinkten zu verwandeln, dann war das Gefängnissystem der richtige Weg, das zu erreichen.

Aber eins erreichte es nicht und würde es auch nie erreichen, gestand Miles Eastin sich ein, nämlich, einen Menschen durch den Gefängnisaufenthalt zu einem besseren Mitglied der Gesellschaft zu machen, als er es bei seinem Einzug in den Kerker gewesen war. Zu welchem Strafmaß er auch verurteilt war, das Gefängnis konnte ihn nur demütigen und ihn schlechter machen, als er war; konnte nur seinen Haß auf »das System«, das ihn dorthin geschickt hatte, steigern; konnte nur die Möglichkeit verringern, daß aus ihm jemals ein nützlicher, die Gesetze achtender Bürger würde. Und je länger seine Strafe war, um so geringer war die Wahrscheinlichkeit einer moralischen Erlösung und Errettung.

So war es vor allem die Dauer des Gefängnisaufenthalts, die jedes Potential zu einer Besserung, das im Gefangenen bei seiner Ankunft noch vorhanden gewesen sein mochte, zersetzte und am Ende ganz zerstörte.

Und wenn ein einzelner sich einen Rest sittlicher Werte bewahrte, wenn er sich daran klammerte wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring, dann geschah das aus seinen eigenen inneren Kräften heraus und nicht wegen, sondern trotz des Gefängnisses.

Miles kämpfte um ein wenig Halt, er rang darum, sich Spuren des Besten zu bewahren, das es vorher einmal in ihm gegeben hatte, er versuchte, nicht vollständig brutalisiert, total gefühllos, restlos verzweifelt und zutiefst verbittert zu werden. Es war so leicht, sich in dieses vierfache Gewand zu hüllen, in ein Nesselhemd, das der Mensch, der es einmal anzog, sein ganzes Leben lang tragen würde. Die meisten Gefangenen taten es. Es waren die, die entweder schon vor ihrer Ankunft brutalisiert worden waren und seither noch an Brutalität gewonnen hatten, oder die anderen, die die Zeit im Gefängnis zermürbt hatte; die Zeit und die kaltherzige Inhumanität der Bürger da draußen, gleichgültig gegenüber den Schrecken, die hinter diesen Mauern walteten, dem Anstand, der hier - immer im Namen der Gesellschaft - ausgerottet wurde wie ein Übel.

Im Unterschied zu den meisten gab es für Miles eine Chance, und sie beherrschte seine Gedanken, solange er sich noch über Wasser zu halten vermochte. Er war zu zwei Jahren verurteilt worden. Damit kam er in vier weiteren Monaten für eine Begnadigung in Frage.

Die Möglichkeit, daß ihm die Begnadigung nicht zuteil werden könnte, wagte er überhaupt nicht in Betracht zu ziehen. Was das bedeuten würde, war zu entsetzlich. Er glaubte nicht, daß er zwei Jahre im Gefängnis durchhalten konnte, ohne vollständig und für alle Zeiten an Geist und Körper unrettbar zerstört daraus hervorzugehen.

Durchhalten! rief er sich selbst am Tag und in den Nächten zu. Durchhalten in der Hoffnung auf die Erlösung, auf die Begnadigung!

Zu Anfang, nach der Festnahme und während der Untersuchungs haft vor dem Prozeß, hatte er gedacht, daß ihn das Eingeschlossensein in einem Gittergefängnis in den Wahnsinn treiben würde. Er erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, daß Freiheit selten geschätzt wurde, solange man sie nicht eingebüßt hatte. Jetzt erkannte er den Wahrheitsgehalt dieses Ausspruchs, daß kein Mensch begreifen konnte, wieviel die physische Bewegungsfreiheit bedeutete - und sei es nur die Freiheit, von einem Zimmer ins andere oder ein paar Schritte vor die Tür gehen zu dürfen -, bis ihm selbst derartige Entscheidungsfreiheiten total verweigert wurden.

Dennoch war die Zeit vor dem Prozeß ein einziger Luxus, verglichen mit den Bedingungen, die in diesem Gefängnis herrschten.

Der Käfig, in dem er in Drummonburg eingesperrt war, hieß Zelle und hatte die Abmessungen 1,80 m mal 2,40 m. Sie bildete einen Teil eines in vier Schichten aufgetürmten, x-förmigen Zellenhauses. Als man das Gefängnis vor mehr als einem halben Jahrhundert baute, hatte man jede Zelle für eine Person vorgesehen; heute mußten die meisten Zellen wegen der Raumnot in den Gefängnissen vier Menschen aufnehmen. Das galt auch für Miles' Zelle. An den meisten Tagen waren die Gefangenen während achtzehn oder vierundzwanzig Stunden des Tages in diese winzigen Hohlräume eingeschlossen.

Bald nach der Ankunft von Miles waren sie wegen Unruhen in einem anderen Teil des Gefängnisses siebzehn ganze Tage und Nächte eingeschlossen geblieben - »Einschluß, Zellenspeisung« nannten die Behörden das. Nach der ersten Woche bedeuteten die verzweifelten Schreie von zwölfhundert nahezu um den Rest ihres Verstandes gebrachten Männern eine weitere Folter.

Die Zelle, in die Miles Eastin eingewiesen wurde, hatte vier an den Wänden befestigte Pritschen, ein Waschbecken und eine einzige Toilette ohne Sitz, die sich alle vier Insassen teilten. Wegen des geringen Wasserdrucks in den uralten, zerfressenen Rohren kam das - kalte - Wasser gewöhnlich nur in einem schwachen und dünnen Strahl aus dem Hahn; manchmal versiegte es völlig. Aus dem gleichen Grunde ließ sich die Toilette oft nicht spülen. Es war schlimm genug, in einen engen Raum eingeschlossen zu sein, in dem vier Männer sich vor den anderen und in Tuchfühlung mit ihnen entleeren mußten, aber dann noch lange hinterher in dem Gestank ausharren zu müssen, während man auf genügend Wasser wartete, um die Quelle des Gestanks endlich beseitigen zu können, das war ekelerregend und rief Brechreiz hervor.

Toilettenpapier und Seife reichten selbst bei größter Sparsamkeit nie aus.

Ein kurzes Duschbad wurde einmal in der Woche zugestanden; bis die Zeit wieder heran war, begannen die Leiber zu stinken und vergrößerten so das Elend in der engen Zelle. In den Duschräumen geschah es, in seiner zweiten Gefängniswoche, daß Miles von einer Gruppe vergewaltigt wurde. So schlimm andere Erlebnisse auch gewesen waren, dieses war das schlimmste.

Bald nach seiner Ankunft war ihm bewußt geworden, daß andere Gefangene sich sexuell von ihm angezogen fühlten. Gutes Aussehen und Jugend, das merkte er bald, waren in dieser Welt negative Attribute. Beim Marsch zum Essen oder beim Spaziergang auf dem Hof brachten die aggressivsten unter den Homosexuellen es fertig, sich um ihn zu drängen und sich an ihm zu reiben. Manche faßten ihn an und tasteten ihn ab; andere, aus der Entfernung, wölbten die Lippen und warfen ihm Kußhände zu. Den einen entzog er sich, die anderen ignorierte er, beides aber wurde immer schwieriger, und seine Nervosität wuchs, schlug in Angst um. Es wurde deutlich, daß nicht beteiligte Sträflinge ihm niemals helfen würden. Er spürte, daß Vollzugsbeamte, die zu ihm hinübersahen, wohl wußten, was da im Gange war. Aber es schien sie nur zu amüsieren.

Obwohl es sich bei den Insassen überwiegend um Schwarze handelte, kamen diese Annäherungsversuche von Schwarzen und Weißen gleichermaßen.

Er befand sich im Duschhaus, einem einstöckigen Wellblechbau, zu dem die Gefangenen, begleitet von Beamten, in Fünfzigergruppen marschierten. Die Gefangenen zogen sich aus, ließen ihre Kleidung in Drahtkörben zurück, trotteten dann nackt und zitternd durch den ungeheizten Bau. Unter den Duschen blieben sie stehen und warteten darauf, daß ein Beamter den Wasserhahn aufdrehte.

Der Duschraum-Beamte befand sich hoch über ihnen auf einer Plattform und konnte nach Belieben die Wassertemperatur regulieren. Waren ihm die Gefangenen zu träge oder zu laut, schickte der Beamte einen eisigen Sturzbach hernieder. Das hatte Wut- und Protestschreie zur Folge, und die Gefangenen sprangen umher wie Wilde, die einen Fluchtweg suchten. Den gab es nicht, denn Fluchtwege waren hier nicht vorgesehen. Manchmal auch schickte der Beamte aus schierer Bosheit fast siedend heißes Wasser durch die Rohre - mit dem gleichen Ergebnis.

An einem Morgen, als eine Fünfzigergruppe, darunter Miles, aus dem Duschraum kam und eine andere, ebenso starke Gruppe, schon entkleidet, darauf wartete hereinzudürfen, fühlte Miles sich plötzlich eng von mehreren Leibern umgeben. Unvermutet wurden seine Arme von einem halben Dutzend Händen gepackt, und man trieb ihn vorwärts. Hinter ihm zischelte eine drängende Stimme: »Schwenk deinen Arsch, mein Hübscher. Wir haben nicht viel Zeit.« Mehrere andere lachten.

Miles sah zu der Plattform hinauf. Er wollte den Beamten aufmerksam machen und schrie: »Sir! Sir!«

Der Beamte, der sich in der Nase bohrte und woanders hinguckte, schien ihn nicht zu hören.

Eine Faust trieb sich hart in Miles' Rippen. Eine Stimme hinter ihm fauchte: »Schnauze!«

Vor Angst schrie er noch einmal, und wieder rammte sich dieselbe Faust, oder eine andere, in seinen Leib. Der Atem blieb ihm weg. Bn brennender Schmerz jagte durch die Seite. Seine Arme wurden brutal verdreht. Mit Füßen, die kaum den Boden berührten, wurde er, wimmernd, vorangetrieben.

Noch immer reagierte der Beamte nicht. Später vermutete Miles, daß der Mann vorgewarnt und bestochen worden war. Da die Strafvollzugsbeamten schändlich unterbezahlt waren, gehörte die Bestechung zu den Alltäglichkeiten des Gefängnislebens.

Dicht beim Ausgang des Duschraums, wo andere dabei waren, sich wieder anzuziehen, befand sich eine schmale, offene Tür. Noch immer eng umzingelt, wurde Miles hindurchgeschoben. Er nahm schwarze und weiße Leiber wahr. Hinter ihnen fiel die Tür mit einem Knall ins Schloß.

Der Raum war klein. Hier wurden Besen, Mops, Putzmittel in Spinden verwahrt, die mit Vorhängeschlössern gesichert waren. Etwa in der Mitte der Kammer stand ein Klapptisch. Mit dem Gesicht nach unten wurde Miles daraufgeworfen; sein Mund und seine Nase schlugen hart auf der Holzplatte auf. Er spürte, wie Zähne sich lockerten. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Seine Nase begann zu bluten.

Während seine Füße auf dem Boden blieben, wurden ihm die Beine grob auseinandergezerrt. Er wehrte sich verzweifelt und verzweifelnd, er versuchte, sich zu bewegen. Die vielen Hände hielten ihn eisern.

»Halt still, mein Hübscher.« Miles hörte ein Grunzen und spürte einen Stoß. Eine Sekunde später schrie er auf vor Schmerz, Ekel und Entsetzen. Der, der seinen Kopf hielt, riß ihn an den Haaren hoch und schlug ihn hart auf die Platte. »Schnauze!«

Jetzt waren die Schmerzen, in schweren Wogen, überall.

»Is' sie nich' schön?« Die Stimme schien aus der Ferne zu kommen und zu hallen wie ein Echo im Traum.

Die Penetration endete. Bevor sein Körper Erleichterung empfinden konnte, begann die nächste. Gegen seinen Willen, denn er kannte die Folgen, schrie er wieder auf. Wieder schlugen sie seinen Kopf auf die Platte.

Während der nun folgenden Minuten und der monströsen Wiederholungen begannen Miles die Sinne zu schwinden. Seine Kraft verließ ihn, seine Gegenwehr wurde geringer. Aber die körperlichen Qualen wurden schlimmer und schlimmer - ein wundes Brennen, das feurige Abschmirgeln von eintausend Nervenspitzen.

Das Bewußtsein mußte ihn vollständig verlassen haben, dann wieder zurückgekehrt sein. Von draußen hörte er die Trillerpfeife eines Beamten. Es war das Signal, sich schleunigst fertig anzuziehen und sich im Hof zu versammeln. Er spürte, wie die Hände, die ihn hielten, ihn losließen. Hinter ihm öffnete sich eine Tür. Die anderen rannten aus der Kammer.

Blutend, wund und kaum bei Bewußtsein, taumelte Miles hinaus. Die geringste körperliche Bewegung verursachte ihm Qualen.

»He, du da!« brüllte der Beamte von seiner Plattform. »Schwenk den Arsch, verdammter schwuler Hund!«

Tastend, nur zur Hälfte dessen bewußt, was er tat, packte Miles den Drahtkorb mit seinen Kleidern und begann sich anzuziehen. Die meisten anderen seiner Fünfzigergruppe waren schon draußen auf dem Hof. Andere fünfzig, die unter den Duschen gewesen waren, warteten darauf, in die Umkleidezone hineingelassen zu werden.

Der Beamte brüllte zum zweiten Mal, dieses Mal noch wütender: »Scheißkopp! Ich sagte - Bewegung!«

Miles stieg in seine rauhen Drillichhosen und wäre dabei hingestürzt, wenn ein Arm ihn nicht gehalten hätte.

»Mal langsam, Junge«, sagte eine tiefe Stimme. »Wart, ich helf dir.« Die erste Hand hielt ihn weiter aufrecht, eine zweite half ihm, die Hose anzuziehen.

Die Trillerpfeife des Beamten schrillte wie verrückt. »Nigger, kannst du nicht hören! Raus mit dir und der schwulen Sau, oder ich melde euch zum Rapport!«

»Yes Sir, yes Sir, Boss. Schon fertig. Schon da. Komm endlich, Junge.«

Durch den Nebel vor seinen Augen sah Miles, daß der Mann neben ihm riesenhaft groß und schwarz war. Später sollte er erfahren, daß er Karl hieß und wegen Mordes lebenslang hatte. Miles fragte sich, ob Karl unter der Bande gewesen war, die ihn vergewaltigt hatte. Er nahm es an, aber er forschte nicht nach, und er erfuhr es nie.

Er erfuhr aber, daß der schwarze Riese trotz seiner Größe und seiner äußerlichen Wildheit von einer Sanftheit des Wesens und einer Feinfühligkeit war, die beinahe etwas Feminines hatten.

Gestützt von Karl, wankte Miles unsicheren Schrittes aus dem Duschhaus und hinaus ins Freie.

Einige Gefangene grinsten, aber auf den Gesichtern der meisten anderen las Miles nur Verachtung. Ein runzliger Alter spie angewidert aus und wandte sich ab.

Miles brachte den Rest des Tages hinter sich - zurück in die Zelle, später in die Kantine, wo er den Fraß nicht essen konnte, den er gewöhnlich aus schierem Hunger herunterwürgte, und schließlich wieder in die Zelle, unterwegs immer wieder von Karl gestützt. Seine drei Zellengefährten ignorierten ihn wie einen Aussätzigen. Gemartert von Schmerz und tiefer Verzweiflung, schlief er schließlich ein, warf sich hin und her, wachte auf, lag stundenlang wach und litt unter der verbrauchten, stinkenden Luft, schlief kurze Zeit und wachte wieder auf. Mit Tagesanbruch und dem Dröhnen der Zellentüren, die aufgerissen wurden, kam neue Angst: Wann würde es wieder passieren? Bald, fürchtete er.

Während des »Spaziergangs« auf dem Hof - zwei Stunden, in denen der größte Teil der Gefängnis-Belegschaft ziellos herumzustehen pflegte - schob Karl sich an ihn heran.

»Wie geht's dir, Junge?«

Miles schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Dreckig.« Er fügte hinzu: »Vielen Dank für gestern.« Ihm war bewußt, daß der große Schwarze ihn vor dem Rapport gerettet hatte. Das hätte Bestrafung bedeutet - wahrscheinlich Tage im Loch - und einen Minuspunkt in seinen Begnadigungspapieren.

»Is' okay, Junge. Eins mußte wissen. Das eine Mal, gestern, genügt den Kerls nicht. Die sind jetzt wie Köter und du die läufige Hündin. Die sind bald wieder hinter dir her.«

»Was kann ich machen?« Hier wurde seine Angst bestätigt, und Miles' Stimme bebte. Er zitterte am ganzen Körper. Der andere betrachtete ihn mit erfahrenem Blick.

»Will dir mal sagen, wasde brauchst, Junge. 'n Beschützer. 'n Kerl, der auf dich aufpaßt. Wie wär's mit mir?«

»Aber warum solltest du?«

»Du entschließt dich und wirst mein fester Freund, und ich paß auf dich auf. Die anderen wissen, du und ich, wir gehn miteinander, und die legen keine Hand an dich. Die wissen genau, tunse dir was, kriegense's mit mir zu tun.« Karl ballte die Finger einer Hand zur Faust; sie hatte die Größe eines kleinen Schinkens.

Obwohl er die Antwort schon kannte, fragte Miles: »Und was willst du dann von mir?«

»Deinen hübschen weißen Arsch, Baby.« Der große Mann schloß die Augen und fuhr träumerisch fort: »Deinen Körper für mich allein. Immer, wenn ich ihn brauche. Wo? Das laß meine Sorge sein.«

Miles Eastin fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.

»Wie wär's mit uns, Baby? Was sagste dazu?«

Wie so oft schon dachte Miles in seiner Verzweiflung: Was vorher auch gewesen sein mag, kann jemand so etwas verdient haben?

Aber er war nun einmal hier. Und er hatte erfahren, daß das Gefängnis ein Dschungel war - verkommen und wild, ohne Gerechtigkeit -, wo der Mensch am Tage seiner Ankunft seine Menschenrechte verlor. Voller Bitterkeit sagte er: »Hab' ich denn eine Wahl?«

»Wenn du so willst, wohl nich'.« Eine Pause, dann ungeduldig: »Na, abgemacht?«

Ganz krank vor innerem Elend, sagte Miles: »Muß wohl.«

Erfreut legte Karl besitzergreifend einen Arm um die Schultern des anderen. Miles schrumpfte in sich zusammen, zwang sich aber mit äußerster Willenskraft dazu, nicht zurückzuweichen.

»Wir müssen dich verlegen lassen, Baby. In meinen Stock. Vielleicht in meine Bude.« Karls Zelle befand sich in einem niedrigeren Stock als die von Miles und lag in einem entgegengesetzten Flügel des x-förmigen Zellenhauses. Der große Mann leckte sich die Lippen. »O ja, Mann.« Schon begann die Hand, die auf Miles lag, zu wandern. »Haste Zaster?« fragte er.

»Nee.« Miles wußte, daß ein wenig Geld ihm das Leben schon erleichtert hätte, aber er besaß keins. Gefangene, die draußen Geld hatten und die das Geld auch nutzten, hatten weniger zu leiden als Gefangene, die nichts besaßen.

»Hab' auch keins«, vertraute Karl ihm an. »Muß mir wohl was einfallen lassen.«

Miles nickte trübe. Ihm wurde bewußt, daß er schon angefangen hatte, sich mit der schmachvollen Rolle der »Freundin« abzufinden. Aber er kannte die Regeln im Gefängnis, und er wußte, daß er sicher war, solange sein Arrangement mit Karl dauerte. Eine Massenvergewaltigung würde es nun nicht mehr geben.

Seine Annahme erwies sich als richtig.

Es gab keine Angriffe mehr, keinen Versuch, ihn zu tätscheln, keine zugeworfenen Kußhände mehr. Karl stand in dem Ruf, genau zu wissen, was er mit seinen gewaltigen Fäusten anfangen konnte. Es ging das Gerücht um, daß er vor einem Jahr einen Mitgefangenen, der ihn geärgert hatte, mit einem Klappmesser getötet habe; offiziell wurde der Mordfall nie geklärt.

Und Miles wurde verlegt, nicht nur in Karls Stockwerk, sondern in seine Zelle. Die Verlegung war offensichtlich das Resultat einer finanziellen Transaktion. Miles fragte Karl, wie er das geschafft habe.

Der große schwarze Mann lachte glucksend. »Die Jungs in der Mafiastraße haben den Zaster rausgerückt. Die mögen dich, Baby.«

»Mögen mich

Wie die anderen Gefangenen auch, kannte Miles die Mafiastraße, die manchmal auch die italienische Kolonie genannt wurde. Das war ein Zellenabschnitt, in dem die Bosse des organisierten Verbrechens untergebracht waren, deren Kontakte mit der Außenwelt und deren Einfluß, wie einige behaupteten, ihnen den Respekt, ja, die Furcht sogar des Gefängnis-Gouverneurs eingebracht hatten. Ihre Privilegien in Drummonburg waren legendär.

Zu diesen Privilegien gehörten wichtige Ämter im Gefängnis, viel Bewegungsfreiheit und besseres Essen, das entweder von Vollzugsbeamten hereingeschmuggelt oder aus den allgemeinen Vorräten der Gefängnisküche gestohlen wurde. Die Bewohner der Mafiastraße verzehrten, wie Miles gehört hatte, oft Steaks und andere Herrlichkeiten, zubereitet auf verbotenen Grills in Werkstatt-Verstecken. Sie hatten auch manchen Komfort in ihren Zellen - Fernsehen zum Beispiel und Höhensonnen. Aber Miles selbst hatte nie Kontakt mit der Mafiastraße gehabt, noch hatte er geahnt, daß dort irgend jemand von seiner Existenz wußte.

»Die sagen, daß du die Schnauze halten kannst«, vertraute Karl ihm an.

Ein Teil des Rätsels wurde ein paar Tage später gelüftet, als ein wieseliger, schmerbäuchiger Gefangener namens LaRocca sich im Gefängnishof neben Miles schob. LaRocca gehörte zwar nicht zur Mafiastraße, aber er war ganz in ihrer Nähe untergebracht und fungierte als Kurier.

Er nickte Karl zu und erkannte damit dessen Besitzerrechte an, dann sagte er zu Miles: »Soll dir was sag'n von Ominsky dem Russen.«

Miles war aufgeschreckt und verstört. Igor Ominsky, genannt der Russe, war der Kredithai, dem er mehrere tausend Dollar geschuldet hatte - und noch schuldete. Ihm war auch klar, daß sich außerdem eine gewaltige Zinssumme angesammelt haben mußte.

Vor sechs Monaten hatten Ominskys Drohungen ihn bewogen, sechstausend Dollar Bargeld in der Bank zu stehlen. Danach waren dann seine früheren Unterschlagungen aufgedeckt worden.

»Ominsky weiß, daßde die Schnauze gehalt'n hast«, sagte LaRocca. »Das gefällt ihm. Für ihn biste 'n Kerl, der in Ordnung is'.«

Es stimmte. In den Verhören vor seinem Prozeß hatte Miles weder den Namen seines Buchmachers preisgegeben noch den Namen des Wucherers. Es waren die beiden Männer, vor denen er zur Zeit seiner Festnahme Angst hatte. Was ihm das Schweigen nützen sollte, schien damals nicht recht klar; vielleicht konnte es ihm auch erheblich schaden. Jedenfalls hatten sie ihn in diesem Punkt auch nicht sehr bedrängt, weder Wainwright, der Sicherheitschef der Bank, noch die Leute vom FBI.

»Weilde dichtgehalten hast«, sagte LaRocca jetzt zu ihm, »soll ich dir von Ominsky sag'n, dasser die Uhr angehalten hat, solange du im Knast sitzt.«

Miles wußte, was das bedeutete. Solange er seine Strafe absaß, sammelten sich keine neuen Schuldzinsen an. Er hatte mittlerweile genug über Kredithaie erfahren, um zu wissen, daß das ein gewaltiges Zugeständnis war. Die Nachricht, die ihm da überbracht wurde, war zugleich der Beweis dafür, daß die Mafiastraße mit ihrem glänzenden externen Informationsnetz genau über seine Existenz informiert war.

»Sag Mr. Ominsky vielen Dank«, sagte Miles. Er hatte aber nicht die geringste Ahnung, wie er das Kapital, das er schuldete, nach seiner Entlassung zurückzahlen sollte; er wußte nicht einmal, wie er genug verdienen sollte, um davon leben zu können.

LaRocca sagte mit einem Kopfnicken: »Du wirst noch von ihnen hör'n, bevorde rauskommst. Vielleicht machen wir 'n Geschäft.« Mit einem neuen Kopfnicken, das Karl einbezog, schlüpfte er davon.

In den Wochen, die nun folgten, bekam Miles den wieseligen LaRocca öfter zu Gesicht. Im Gefängnishof suchte er mehrfach seine und Karls Gesellschaft. LaRocca und auch andere Gefangene waren geradezu fasziniert von dem, was Miles über die Geschichte des Geldes wußte. In gewisser Hinsicht war das, was einmal ein Hobby und ein besonderes Interessengebiet gewesen war, hier für Miles zu einem Mittel geworden, um sich jenen Respekt zu erwerben, den Gefängnisinsassen denen entgegenbringen, deren Lebensgeschichte und Verbrechen mit dem Gehirn zu tun haben und nicht nur mit Gewalt. In dieser Wertskala steht der kleine Straßenräuber am Fuße der Pyramide der Gefängnishierarchie, der Hochstapler und Betrüger nahe der Spitze.

Besonders spannend fand LaRocca Miles' Erzählungen über gewaltige Geldfälschungen, begangen von Regierungen. Gefälscht wurde das Geld eines anderen Landes. »Das waren schon immer die größten Fälschungen von allen«, erzählte Miles eines Tages einem aufmerksam lauschenden Publikum von einem halben Dutzend Männern.

Er beschrieb, wie die britische Regierung die Fälschung großer Mengen von Assignaten genehmigt hatte, um die Französische Revolution zu unterminieren. Das geschah trotz der Tatsache, daß das gleiche Verbrechen, begangen von einzelnen Menschen und nicht vom Staat, in England bis zum Jahre 1821 mit dem Tode durch Erhängen bestraft wurde. Die amerikanische Revolution begann mit offizieller Fälschung britischer Banknoten. Das größte Fälschungsunternehmen von allen aber, fuhr Miles fort, ereignete sich im Zweiten Weltkrieg, als die Deutschen 140 Millionen britische Pfund sowie unbekannte Mengen amerikanischer Dollars fälschten, und zwar in bester Qualität. Die Briten ihrerseits druckten deutsches Geld, und es gibt Gerüchte, daß auch die meisten anderen Alliierten es taten.

»Wasde nich' sagst!« staunte LaRocca. »Und das sind die Schweine, die uns hier einsperr'n. Kannste Gift drauf nehmen, die machen so was auch heute noch.«

LaRocca wußte den Abglanz wohl zu schätzen, der durch Miles' Wissen auch auf ihn selbst fiel. Und er sorgte dafür, daß Miles erfuhr, daß durch ihn etliches von diesen Kenntnissen seinen Weg in die Mafiastraße fand.

»Ich und andre werden sich draußen um dich kümmern«, versprach er eines Tages. Miles wußte schon, daß man ihn möglicherweise etwa zur gleichen Zeit aus dem Gefängnis entlassen würde wie LaRocca.

Über Geld zu reden, das war für Miles so etwas wie ein geistiger Urlaub, der ihn, wenn auch nur für kurze Zeit, die Schrecken der Gegenwart vergessen ließ. Er sollte wohl auch, meinte er, Erleichterung darüber empfinden, daß die Kredituhr angehalten war. Aber weder das Reden noch das Denken an andere Dinge vermochten ihn länger als ein paar Minuten aus seinem Elend zu befreien, aus seinem Ekel vor sich selbst. Er begann an Selbstmord zu denken.

Sein Verhältnis mit Karl war der Herd seines Ekels vor sich selbst. Der große Mann hatte erklärt, was er wollte: »Deinen hübschen weißen Arsch, Baby. Deinen Körper für mich allein. Immer, wenn ich ihn brauche.« Seit ihrer Abmachung hatte er diese Ankündigung wahrgemacht mit einem Appetit, der unersättlich schien.

Zu Anfang versuchte Miles, sich geistig zu betäuben. Er hielt sich vor, daß das, was hier geschah, der Massenvergewaltigung vorzuziehen sei, und das war es tatsächlich - wegen der instinktiven Zartheit Karls. Aber der Ekel blieb, und die Betäubung vertrieb das Bewußtsein nicht.

Schlimmer aber war, was sich seither entwickelt hatte.

Nicht einmal sich selbst gegenüber wagte Miles es sich einzugestehen, aber die Tatsache blieb: Er begann das, was zwischen ihm und Karl geschah, zu genießen. Außerdem betrachtete Miles seinen Beschützer mit neuen Gefühlen... Zuneigung? Ja... Liebe? Nein... Er wagte es für den Augenblick nicht, so weit zu gehen.

Diese Erkenntnisse zerschmetterten ihn. Doch er folgte neuen Vorschlägen, die Karl machte, selbst wenn sie dazu führten, daß Miles' homosexuelle Rolle dadurch deutlicher wurde.

Nach jedem solchen Geschehnis überfielen ihn Fragen. War er noch ein Mann? Er wußte, daß er vorher einer gewesen war. Aber jetzt war er nicht mehr sicher. War er total pervertiert? War das die Art, wie so etwas vor sich ging? Konnte es später eine Umkehr geben, eine Rückkehr zur Normalität, ein Auslöschen des Probierens, des Genießens, das hier und jetzt geschah? Gab es diese Umkehr nicht, war das Leben dann lebenswert? Wahrscheinlich nicht.

Bei diesen Gedanken übermannte ihn die Verzweiflung, aus der es nur einen logischen Ausweg gab: den Selbstmord - als Heilmittel, als Ende, als Erlösung. Es war schwierig im überfüllten Gefängnis, aber es ließ sich machen - durch Erhängen. Fünfmal seit Miles' Einlieferung hatte er den Schrei »Aufgehängt!« gehört - gewöhnlich in der Nacht -, und dann waren Beamte herbeigestürmt wie ein Stoßtrupp, fluchend, Hebel herumwerfend, um Stockwerke aufzuschließen, eine Zelle »aufknackend«, hineinstürzend, um einen Selbstmörder abzuschneiden, bevor er starb. An drei von den fünf Malen waren sie, angespornt vom rauhen Gegröle der Gefangenen und ihrem Gelächter, zu spät gekommen. Unmittelbar danach wurden jedes Mal die nächtlichen Streifen verstärkt, denn Fälle von Selbstmord waren für das Gefängnis unangenehm, aber die Wachsamkeit ließ meistens bald wieder nach.

Miles wußte, wie man es machte. Man ließ ein Stück Laken oder Decke sich mit Wasser vollsaugen, damit das Material nicht riß - darauf zu urinieren, war leiser -, dann befestigte man es an einem Deckenträger, den man von der obersten Pritsche erreichen konnte. Das Ganze mußte lautlos geschehen, während die anderen in der Zelle schliefen...

Am Ende hielt eins ihn zurück, nur dieses eine. Kein anderer Faktor bewirkte Miles' Entschluß durchzuhalten.

Er wollte, sobald er seine Zeit abgesessen hatte, Juanita Nünez sagen, daß es ihm leid tat.

Die Reue, die Miles Eastin bei seiner Verurteilung empfand, war echt gewesen. Er hatte bereut, die First Mercantile American Bank, wo man ihn anständig behandelt hatte, bestohlen und es ihr so unanständig vergolten zu haben. Rückschauend fragte er sich, wie er es eigentlich fertiggebracht hatte, sein Gewissen einfach zu ersticken.

Wenn er jetzt darüber nachdachte, schien es ihm manchmal, als habe ein Fieber ihn besessen. Das Wetten, die Großmannssucht im Umgang mit anderen, die Sportveranstaltungen, das Leben über seine Verhältnisse, der Wahnsinn, von einem Kredithai Geld zu nehmen, und das Stehlen - das alles erschien ihm jetzt wie die irrsinnig falsch zusammengefügten Teile eines fiebernden Gehirns. Er hatte den Kontakt zur Wirklichkeit verloren, und wie bei einem Fieber in fortgeschrittenem Stadium hatte sein Geist sich verzerrt, bis Anstand und sittliche Maßstäbe ganz verschwunden waren.

Wie sonst, das fragte er sich tausendmal, hätte er sich wohl so tief erniedrigen, wie sonst hätte er sich eine solche Schurkerei zuschulden kommen lassen können wie die Ungeheuerlichkeit, den Verdacht wissentlich auf Juanita Nünez zu lenken?

Während des Prozesses hatte er sich so geschämt, daß er es nicht hatte ertragen können, zu Juanita hinüberzuschauen.

Jetzt, nach sechs Monaten, grämte Miles sich weniger wegen der Bank. Er hatte der FMA unrecht getan, aber hier im Gefängnis zahlte er seine Schuld voll zurück. Bei Gott, und wie er gezahlt hatte!

Aber nicht einmal Drummonburg mit seiner ganzen Scheußlichkeit konnte wettmachen, was er Juanita angetan hatte. Nichts konnte das. Und aus diesem Grunde mußte er zu ihr, mußte sie um Verzeihung bitten.

Um das tun zu können, mußte er leben. Und deshalb hielt er durch.

10

»First Mercantile American Bank«, sagte der FMA-Geldhändler mit schnarrender Stimme; er hielt den Hörer geübt zwischen Schulter und linkem Ohr eingeklemmt, so daß er die Hände frei hatte. »Ich nehme sechs Millionen Dollar über Nacht. Ihr Satz?«

An der kalifornischen Westküste sagte ein Geldhändler der riesigen Bank of America mit gedehnter Stimme: »Dreizehn und fünf Achtel.«

»Ziemlich viel«, sagte der FMA-Mann.

»Geizkragen.«

Der FMA-Händler zögerte. Er versuchte zu raten, was der andere dachte; wohin gingen die Sätze? Gewohnheitsmäßig verschloß er die Ohren vor dem monotonen Stimmengewirr in der Geldhandels-Zentrale der First Mercantile American -einem empfindlichen und streng bewachten Nerv in der Zentrale der FMA, von dem nur wenige Kunden der Bank etwas ahnten und den nur ein paar Bevorzugte je zu sehen bekamen. Aber in Zentren wie diesem wird ein großer Teil des Bankgewinns gemacht - oder verspielt.

Bilanzierungsvorschriften zwangen die Bank, bestimmte Barsummen für den Fall möglicher Forderungen zu halten, aber keine Bank wollte zuviel nicht arbeitendes Geld oder zu wenig. Die Geldhändler der Bank hielten die Beträge im Gleichgewicht.

»Bleiben Sie bitte dran«, sagte der FMA-Händler zu San Francisco. Er drückte die Speichertaste auf seiner Telefonkonsole und dann eine andere Taste dicht daneben.

Eine neue Stimme meldete sich: »Manufacturers Hanover Trust, New York.«

»Ich brauche sechs Millionen Tagesgeld. Wie ist Ihr Satz?«

»Dreizehn und drei Viertel.«

An der Ostküste stieg der Preis.

»Besten Dank, nein.« Der FMA-Händler trennte die Verbindung mit New York und ließ die Speichertaste wieder ausrasten, unter der San Francisco wartete. »Ich nehme.«

»Sechs Millionen zu dreizehn und fünf Achtel an Sie geben«, sagte Bank of America.

»Gemacht.«

Der Abschluß hatte zwanzig Sekunden erfordert. Es war einer von Tausenden, die täglich zwischen konkurrierenden Banken getätigt wurden. Scharfsinn und Nerven lagen hier im Wettkampf, und es ging um siebenstellige Einsätze. Die Geldhändler der Banken waren ausnahmslos junge Männer in den Dreißigern - intelligent und ehrgeizig, schnelldenkend und auch unter Streß nicht aus der Fassung zu bringen. Erfolg im Geldhandel förderte die Karriere eines jungen Mannes, Fehler konnten sie allerdings beenden. Diese ständige Spannung bewirkte, daß drei Jahre am Geldhandelstisch als Maximum galten. Danach machte sich die Belastung bemerkbar.

In diesem Augenblick wurde die neueste Transaktion in San Francisco und bei der First Mercantile American verbucht, einem Computer eingegeben, dann der Bundes-Reserve-Bank mitgeteilt. Dort wurde die Bank of America für die nächsten vierundzwanzig Stunden mit sechs Millionen Dollar belastet, der FMA wurde die gleiche Summe gutgeschrieben. Die FMA zahlte der Bank of America für die Nutzung ihres Geldes während dieser Zeit Zinsen.

Überall im ganzen Land fanden ähnliche Transaktionen zwischen anderen Banken statt.

Es war ein Mittwoch, Mitte April.

Alex Vandervoort, der der Geldhandelszentrale, Teil seines Aufgabengebietes in der Bank, gerade einen Besuch abstattete, nickte dem Händler zu, der auf einer erhöhten Plattform saß, umgeben von Assistenten, die Informationen weitergaben und Schreibarbeiten erledigten. Der junge Mann, schon bis über beide Ohren in einem anderen Geschäft, erwiderte den Gruß mit einer Handbewegung und einem gutgelaunten Lächeln.

An anderen Schreibtischen im Raum - der die Größe eines Hörsaals hatte und Ähnlichkeiten mit dem Kontrollzentrum eines großen Flughafens aufwies - saßen andere Händler in Wertpapieren und Obligationen, flankiert von Helfern, Buchhaltern und Sekretärinnen. Alle waren damit beschäftigt, das Geld der Bank einzusetzen - zu verleihen und zu borgen, zu investieren, zu verkaufen, zu reinvestieren.

Hinter den Händlern arbeiteten sechs Finanzkontrolleure an größeren, luxuriöseren Schreibtischen.

Händler und Kontrolleure hatten eine riesige Tafel vor Augen, die sich über die ganze Längswand des Handelszentrums erstreckte und Kursnotierungen, Zinssätze und andere Informationen enthielt. Die ferngesteuerten Zahlen auf der Tafel wechselten ständig.

Ein Effektenhändler, dessen Schreibtisch in Alex' Nähe stand, erhob sich und teilte mit lauter Stimme mit: »Ford und United Auto Workers geben einen Tarifvertrag mit zweijähriger Laufzeit bekannt.« Mehrere andere Händler griffen nach ihrem Telefon. Wichtige Nachrichten aus Industrie und Politik wurden wegen ihrer sofortigen Auswirkung auf Effektenkurse stets auf diese Weise von demjenigen im Raum, der sie zuerst erfuhr, den anderen mitgeteilt.

Sekunden später erlosch ein grünes Licht über der Tafel, ein gelbes Blinklicht blitzte auf. Das war das Signal für die Händler, nicht abzuschließen, weil neue Notierungen hereinkamen, die sich vermutlich aus der Tarifvereinbarung in der Autoindustrie ergaben. Ein rotes Blinklicht, das selten aufleuchtete, hieß: Katastrophenwarnung.

Doch der Tisch des Geldhändlers, dessen Arbeit Alex beobachtet hatte, blieb der Angelpunkt.

Eine Bundesvorschrift verlangte, daß die Banken siebzehneinhalb Prozent ihrer Sichteinlagen in flüssigen Mitteln verfügbar hielten. Die Strafen für Verstöße waren streng. Aber große Summen auch nur einen Tag lang nicht anzulegen, bedeutete ein schlechtes Geschäft für die Bank.

Deshalb registrierten die Banken laufend alle hereinkommenden und hinausgehenden Gelder. Eine zentrale Kassenabteilung hielt den Finger auf dem Geldstrom wie der Arzt auf dem Puls. Überstiegen die Einlagen einer Bankorganisation wie etwa der First Mercantile American die Erwartungen, verlieh die Bank - durch ihren Geldhändler -sofort überschüssige Mittel an andere Banken, deren Reserven sich vielleicht gerade der Mindestgrenze näherten. Hoben umgekehrt die Kunden ungewöhnlich viel ab, borgte sich die FMA Geld.

Die Situation änderte sich von Stunde zu Stunde, so daß eine Bank, die am Morgen Geld verlieh, es am Mittag vielleicht borgen mußte, vor Geschäftsschluß aber schon wieder Verleiher sein konnte. Auf diese Weise setzte eine Großbank an einem Tag oft mehr als eine Milliarde Dollar um.

Zwei andere Dinge ließen sich - man hörte es immer wieder -über das System sagen. Erstens waren die Banken gewöhnlich schneller dabei, für sich selbst Geld zu verdienen als für ihre Kunden. Zweitens erzielten Banken für sich selbst sehr viel höhere Erträge als für Außenstehende, die ihnen ihr Geld anvertrauten.

Alex Vandervoort war in die Geldhandelszentrale gekommen, um, wie er es oft tat, den Geldfluß zu beobachten. Aber es gab auch noch einen weiteren Grund: Gewisse Entwicklungen in den letzten Wochen gefielen ihm nicht sehr, und er wollte sich mit jemandem über diese Dinge aussprechen.

Er stand mit Tom Straughan zusammen, Vizepräsident und wie er selbst Mitglied des finanzpolitischen Ausschusses der FMA. Straughans Büro befand sich gleich nebenan. Zusammen mit Alex hatte er die Geldhandelszentrale betreten. Es war derselbe junge Straughan, der sich im Januar gegen eine Verringerung der Mittel für Forum East ausgesprochen hatte, nun aber den vorgeschlagenen Kredit an die Supranational Corporation begrüßte.

Sie sprachen jetzt über Supranational.

»Sie machen sich unnötige Sorgen, Alex«, sagte Tom Straughan hartnäckig. »SuNatCo ist mit überhaupt keinem Risiko verknüpft und wird uns außerdem nützen. Davon bin ich überzeugt.«

Alex sagte voller Ungeduld: »Kein Risiko, das gibt es nicht. Übrigens geht es mir weniger um Supranational als um die Hähne, die wir anderswo werden zudrehen müssen.«

Beide Männer wußten, auf welche Hähne innerhalb der First Mercantile American Alex anspielte. Vor ein paar Tagen war den Mitgliedern des finanzpolitischen Ausschusses eine Denkschrift mit Vorschlägen zugestellt worden, die Roscoe Heyward entworfen und der Präsident der Bank, Jerome Patterton, genehmigt hatte. Um die Supranational-Kreditlinie in Höhe von fünfzig Millionen Dollar zu ermöglichen, wurde vorgeschlagen, Kleinkredite, Hypotheken und die Finanzierung von Kommunalobligationen drastisch einzuschränken.

»Wenn der Kredit durchgeht und wir die Einschränkungen machen«, argumentierte Tom Straughan, »dann wird das nur eine befristete Angelegenheit sein. In drei Monaten, vielleicht schon früher, können wir unsere Finanzierungen wieder auf den alten Stand bringen.«

»Wenn Sie das glauben, Tom - ich jedenfalls glaube es nicht.«

Alex war schon in gedrückter Stimmung gekommen; das Gespräch mit dem jungen Straughan deprimierte ihn noch mehr.

Die Vorschläge von Heyward und Patterton liefen nicht nur Alex' Überzeugungen zuwider, sondern auch seinen finanziellen Instinkten. Es war seiner Meinung nach unrecht, so erhebliche Mittel der Bank auf Kosten ihrer öffentlichen Pflichten in einen einzigen Industriekredit zu leiten, auch wenn die Industriefinanzierung weit ertragreicher war. Aber selbst vom rein geschäftlichen Standpunkt aus erfüllte ihn das Ausmaß des Supranational-Engagements der Bank - durch SuNatCo-Töchter - mit Unbehagen.

Er wußte, daß er sich in diesem letzten Punkt auf einsamem Posten befand. Alle anderen Mitglieder des Spitzenmanagements der Bank waren begeistert über die neue Supranational-Verbindung, und man hatte Roscoe Heyward zu dieser Leistung überschwenglich gratuliert. Doch das Unbehagen in Alex wollte nicht weichen, wenn er auch nicht sagen konnte, warum. Ganz gewiß schien Supranational finanziell solide zu sein; die Bilanzen wiesen das gigantische Konglomerat als wirtschaftlich kerngesund aus. Und an Prestige rangierte SuNatCo Seite an Seite mit Gesellschaften wie General Motors, IBM, Exxon, Du Pont und U.S. Steel.

Vielleicht, dachte Alex, entsprangen seine Zweifel und seine Niedergeschlagenheit seinem eigenen schwindenden Einfluß innerhalb der Bank. Und er war im Schwinden begriffen. Das war in den letzten Wochen deutlich geworden.

Im Gegensatz dazu stieg Roscoe Heywards Stern steil auf. Er besaß Ohr und Vertrauen Pattertons, ein Vertrauen, das durch den strahlenden Erfolg von Heywards zweitägigem Aufenthalt bei George Quartermain auf den Bahamas noch gestärkt worden war. Alex' eigene Vorbehalte gegenüber diesem Erfolg wurden, wie er wußte, als schlecht verhohlene Mißgunst gedeutet.

Alex spürte auch, daß er seinen persönlichen Einfluß auf Straughan und andere verloren hatte, die sich früher zu seiner Gefolgschaft gezählt hatten.

»Sie müssen doch zugeben«, sagte Straughan jetzt, »daß das Supranational-Geschäft Zucker ist. Haben Sie schon gehört, daß Roscoe sie auf ein Ausgleichskonto von zehn Prozent festgelegt hat? «

Ein Ausgleichskonto war ein Arrangement, auf das sich Banken und Kreditnehmer in harten Verhandlungen zu einigen pflegten. Die Bank bestand darauf, daß ein bestimmter Teil jedes Kredits auf ein Kontokorrentkonto eingezahlt wurde, wo das Geld dem Kontoinhaber keine Zinsen einbrachte, der Bank aber zu eigenen Zwecken und Investierungen zur Verfügung stand. Dem Kreditnehmer stand also sein Kredit nicht in voller Höhe zur Verfügung, so daß der wahre Zinssatz wesentlich höher war als der angegebene. Im Falle von Supranational würden, wie Tom Straughan hervorgehoben hatte, fünf Millionen Dollar auf neuen SuNatCo-Girokonten bleiben - sehr zum Vorteil für die FMA.

»Ich nehme doch wohl an«, sagte Alex mit angespannter Stimme, »daß Ihnen die Kehrseite dieses großartigen Geschäfts nicht verborgen geblieben ist.«

Tom Straughan war anzumerken, daß ihm etwas unbehaglich zumute war. »Man hat mir gesagt, daß es eine Abmachung gibt. Ob man das aber als Kehrseite bezeichnen soll...«

»Verdammt noch mal, das ist es aber! Wir wissen beide, daß Roscoe sich auf Drängen von SuNatCo damit einverstanden erklärt hat, daß unsere Treuhandabteilung erheblich in Supranational- Stammaktien investiert.«

»Und wenn sie es tut, schriftlich ist das nirgendwo festgelegt.«

»Natürlich nicht. So dumm wird niemand sein.« Alex sah den jüngeren Mann scharf an. »Sie haben Zugang zu den Zahlen. Wieviel haben wir bis jetzt schon gekauft?«

Straughan zögerte, ging dann aber zu dem Schreibtisch eines der Kontrolleure in der Handelszentrale. Er kam mit einem Zettel zurück, auf dem etwas mit Bleistift geschrieben war.

»Nach dem Stand von heute siebenundneunzigtausend Aktien.« Straughan fügte hinzu: »Die neueste Notierung ist zweiundfünfzig.«

Mit unbewegter Miene sagte Alex: »Bei Supranational wird man sich die Hände reiben. Unsere Käufe haben ihren Kurs schon um fünf Dollar pro Aktie in die Höhe getrieben.« Er überschlug schnell. »Wir haben also in der vergangenen Woche nahezu fünf Millionen Dollar vom Geld unserer Treuhandkunden bei Supranational angelegt. Warum?«

»Es ist eine erstklassige Anlage.« Straughan versuchte es mit einem etwas leichteren Ton. »Wir werden Kapitalgewinne für sämtliche Witwen und Waisen und kulturellen Stiftungen machen, deren Geld wir verwalten.«

»Oder es zerbröckeln lassen - während wir das in uns gesetzte Vertrauen mißbrauchen. Was wissen wir denn, Tom, was weiß denn jeder von uns über SuNatCo, das wir nicht auch schon vor zwei Wochen gewußt haben? Warum hat die Treuhandabteilung bis zu dieser Woche noch nie eine einzige Supranational-Aktie gekauft?«

Der jüngere Mann schwieg, dann sagte er, in die Defensive gedrängt: »Sicher meint Roscoe, daß er die Gesellschaft als künftiges Direktoriumsmitglied etwas genauer unter die Lupe nehmen kann.«

»Sie enttäuschen mich, Tom. Sie haben sich früher noch nie etwas vorgemacht, besonders dann nicht, wenn Sie die wirklichen Gründe genauso gut kennen wie ich.« Straughan lief rot an, aber Alex blieb beim Thema: »Können Sie sich vorstellen, was das für einen Skandal gibt, wenn die Börsenaufsichtsbehörde darüber stolpert? Interessenkonflikt liegt vor, Mißbrauch des Kreditlimitierungs-Gesetzes, Verwendung von Treuhandgeldern zur Beeinflussung der eigenen Bankgeschäfte; und ich habe nicht den leisesten Zweifel, daß es beschlossene Sache ist, bei der nächsten SuNatCo-Jahreshauptversammlung aufgrund des ManagementAktienpakets das Stimmrecht auszuüben.«

»Und wennschon, es wäre nicht das erste Mal - auch hier nicht«, entgegnete Straughan scharf.

»Das stimmt leider Gottes. Aber der Geruch wird deshalb nicht besser.«

Das Geschäftsethos der Treuhandabteilung war ein altes Problem. Angeblich errichteten die Banken eine interne Schranke - manchmal auch Chinesische Mauer genannt -zwischen ihren eigenen kommerziellen Interessen und den Treuhand-Investierungen. In Wirklichkeit taten sie nichts dergleichen.

Hatte eine Bank Milliarden von Dollar an Kunden Treuhandgeldern anzulegen, so nutzte sie unweigerlich die ihr dadurch verliehene Schlagkraft geschäftlich aus. Von Gesellschaften, in die eine Bank substantiell investierte, wurde erwartet, daß sie sich revanchierten und ihrerseits mit der Bank arbeiteten. Oft setzte man sie auch unter Druck, bis sie einen Leiter der Bank in ihr Direktorium aufnahmen. Taten sie beides nicht, verschwanden ihre Papiere geschwind aus den TreuhandPortefeuilles, und infolge der Bankverkäufe fielen ihre Aktien.

Ebenso wurde von den Maklern, die das gewaltige Volumen der Käufe und Verkäufe für die Treuhandabteilung tätigten, erwartet, daß sie selbst bei der Bank große Konten unterhielten. Das taten sie gewöhnlich auch. Wo nicht, gingen die begehrten Aufträge woandershin.

Trotz aller Propaganda, die die Public Relations-Abteilungen für ihre Banken veranstalteten, rangierten die Interessen der Treuhand-Kunden, einschließlich diejenigen der sprichwörtlichen Witwen und Waisen, oft an zweiter Stelle hinter den Bankinteressen. Auch aus diesem Grunde waren die Resultate, die die Treuhandabteilungen erzielten, im allgemeinen recht kümmerlich.

Die zwischen Supranational und FMA geschaffene Situation war also, wie Alex wußte, keineswegs einzigartig. Aber sie gefiel ihm deshalb nicht besser.

»Alex«, sagte Tom Straughan plötzlich, »ich möchte Ihnen jetzt schon sagen, daß ich morgen im Finanzausschuß für den Supranational-Kredit stimmen werde.«

»Das finde ich bedauerlich.«

Aber unerwartet kam das nicht. Und Alex fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis er so allein und isoliert dastand, daß seine Position in der Bank unhaltbar wurde. Vielleicht würde es nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Nach der morgigen Sitzung des finanzpolitischen Ausschusses, auf der die Supranational-Anträge mit Sicherheit eine Mehrheit finden würden, käme Supranational am nächsten Mittwoch auf die Tagesordnung einer Direktoriumssitzung. Mit Sicherheit erwartete Alex, daß er mit seiner Gegenstimme auf beiden Sitzungen in einsamer Opposition stehen würde.

Wieder schweifte sein Blick über das geschäftige, dem Reichtum und dem Gewinn geweihte Geldhandelszentrum, das im Grunde nichts anderes war als die alten Mammonstempel Babylons und Griechenlands. Nicht, daß Geld, Kommerz und Profit in sich unwürdig waren, dachte er. Allen dreien widmete Alex seine eigene Arbeitskraft, wenn auch nicht blind, wenn auch mit Vorbehalten, die mit moralischen Skrupeln, mit dem Gedanken an eine vernünftige Verteilung des Reichtums und mit dem Berufsethos des Bankiers zu tun hatten. Aber wenn sich die Aussicht auf einen exzeptionellen Profit eröffnete, dann wurden, wie die Geschichte lehrte, diejenigen niedergeschrien oder beiseite gefegt, die derartige Vorbehalte geltend machten.

Was konnte ein einzelner, einsam in seiner Opposition, schon ausrichten, wenn er den gewaltigen Kräften des großen Geldes und des großen Geschäfts gegenüberstand - verkörpert jetzt von Supranational und einer Mehrheit in der FMA?

Wenig, sagte sich Alex Vandervoort. Vielleicht gar nichts.

11


Die Direktoriumssitzung der First Mercantile American Bank in der dritten Aprilwoche war aus mehreren Gründen denkwürdig.

Zwei bankpolitische Hauptthemen gaben Anlaß zu intensiver Diskussion - zum einen die Supranational-Kreditlinie, zum anderen eine vorgeschlagene Erweiterung der Sparabteilung und die Eröffnung vieler neuer Filialen in den Vororten.

Schon vor dem eigentlichen Beginn kündigte sich der Tenor dieser Sitzung an. Heyward, ungewöhnlich aufgeräumt und entspannt, erschien früh. Er trug einen neuen, eleganten hellgrauen Anzug. Er begrüßte die anderen Direktoren schon an der Tür des Sitzungssaals. Aus der Herzlichkeit, mit der sie seinen Gruß erwiderten, ging klar hervor, daß die meisten Direktoren nicht nur schon über den Buschtelegraphen von der Supranational-Vereinbarung gehört hatten, sondern daß sie auch mit allem Nachdruck dafür waren.

»Gratuliere, Roscoe«, sagte Philip Johannsen, Präsident von MidContinent Rubber, »Sie haben diese Bank wahrhaftig ein schönes Stück nach oben geboxt. Weiter so, mein Junge!«

Strahlend dankte Heyward. »Ich weiß es zu schätzen, Phil, daß Sie auf meiner Seite stehen. Sie sollen wissen, daß ich noch andere Ziele ins Auge gefaßt habe.«

»Sie werden sie auch erreichen, keine Angst.«

Ein Direktor mit niedriger Stirn aus dem Norden des Bundesstaats, Floyd LeBerre, Direktoriumsvorsitzender der General Cable and Switchgear Corporation, kam herein. Früher hatte er Heyward nie mit besonderer Herzlichkeit behandelt, aber jetzt schüttelte er ihm warm die Hand. »Freut mich sehr, daß Sie in das Supranational-Direktorium einziehen, Roscoe.« Der Vorsitzende von General Cable senkte die Stimme. »Meine Verkaufsabteilung für Eisenbahnzubehör bewirbt sich um einige SuNatCo-Aufträge. Ich würde ganz gern bald mal mit Ihnen darüber reden.«

»Wie wär's nächste Woche?« schlug Heyward freundlich vor. »Ich werde mich darum kümmern, verlassen Sie sich darauf.«

Mit zufriedener Miene ging LeBerre weiter.

Harold Austin, der alles mitgehört hatte, zwinkerte bedeutungsvoll. »Unser kleiner Ausflug hat sich gelohnt. Sie haben Oberwasser.«

Heute war The Hon. Harold mehr denn je der alternde Playboy: buntkarierte Jacke, braune Hosen mit weitem Schlag und zu dem fröhlich gemusterten Hemd eine Fliege in Himmelblau. Das weißwallende Haar war frisch geschnitten und vom Stylisten behandelt.

»Harold«, sagte Heyward, »wenn ich mich irgendwie revanchieren kann... «

»Die Gelegenheit wird sich bestimmt finden«, versicherte The Hon. Harold ihm, dann schlenderte er weiter zu seinem Platz.

Sogar Leonard L. Kingswood, der energische Vorsitzende von Northam Steel und Alex Vandervoorts leidenschaftlichster Anhänger im Direktorium, fand ein freundliches Wort, als er vorbeiging. »Hab' gehört, daß Sie Supranational eingefangen haben, Roscoe. Ein erstklassiges Geschäft.«

Andere Direktoren kamen mit ähnlichen Komplimenten.

Unter den letzten, die eintrafen, waren Jerome Patterton und Alex Vandervoort. Der Bankpräsident, mit weißumfranster leuchtender Glatze und dem üblichen Habitus eines Landedelmanns, ging sofort zu seinem Platz an der Spitze des langen, ovalen Direktoriumstisches. Alex, einen Schnellhefter mit Papieren unter dem Arm, nahm seinen gewohnten Platz in der Mitte der linken Seite ein.

Patterton forderte mit einem Hammerschlag Aufmerksamkeit und erledigte rasch mehrere Routineangelegenheiten. Dann verkündete er: »Der erste Hauptpunkt der Tagesordnung lautet: Zur Genehmigung durch das Direktorium vorgelegte Kredite.«

Ein Rascheln mit Papieren rings um den Tisch zeigte an, daß die vertraulichen Kreditmappen, für die Direktoren zusammengestellt und im traditionellen Blau der FMA gehalten, aufgeschlagen wurden.

»Wie üblich, meine Herren, liegen vor Ihnen die Einzelheiten der Vorschläge der Geschäftsleitung. Von besonderem Interesse ist heute, wie die meisten von Ihnen schon wissen, das neue Konto der Supranational Corporation. Ich persönlich bin begeistert über die ausgehandelten Bedingungen, und ich empfehle sie dringend zur Annahme. Ich überlasse es Roscoe, dem die Bank die Einleitung dieses neuen und bedeutenden Geschäfts verdankt, die Einzelheiten vorzutragen und etwaige Fragen zu beantworten.«

»Ich danke Ihnen, Jerome.« Roscoe Heyward setzte sich behutsam die randlose Brille auf, die er aus alter Gewohnheit poliert hatte, und beugte sich im Sitzen vor. Er sprach weniger streng als üblich, seine Stimme klang angenehm und selbstsicher.

»Meine Herren, vor der Vergabe eines großen Kredits ist es ratsam, sich der finanziellen Solidität des Kreditnehmers zu vergewissern, auch wenn der Kreditnehmer dreifach kreditwürdig ist, wie es bei Supranational der Fall ist. Im Anhang >B< Ihrer blauen Mappe« - wieder raschelte rings um den Tisch das Papier - »finden Sie eine von mir persönlich zusammengestellte Übersicht der Aktiva und die Gewinnprojektion der SuNatCo-Gruppe einschließlich aller Töchter. Dabei wurde von der geprüften Vermögensaufstellung sowie von zusätzlichen Daten ausgegangen, die mir Mr. Stanley Inchbeck, der Finanzdirektor der Supranational, auf meine Bitte zur Verfügung gestellt hat. Wie Sie sehen, sind es exzellente Zahlen. Unser Risiko ist minimal.«

»Ich weiß nicht, welchen Ruf Inchbeck hat«, warf ein Direktor ein; es war Wallace Sperrie, Inhaber einer Firma, die wissenschaftliche Instrumente anfertigte. »Aber Ihren Ruf kenne ich, Roscoe, und wenn Sie die Zahlen für gut halten, dann sind sie vierfach gut für mich.«

Mehrere zustimmende Rufe wurden laut.

Alex Vandervoort kritzelte mit einem Bleistift auf einem Block, der vor ihm lag.

»Danke Ihnen, Wally, meine Herren.« Heyward gestattete sich ein leichtes Lächeln. »Ich hoffe, Ihr Vertrauen erstreckt sich auch auf die begleitenden Maßnahmen, die ich vorgeschlagen habe.«

Obwohl die Empfehlungen in der blauen Mappe aufgeführt waren, beschrieb er sie noch einmal - die Kreditlinie in Höhe von fünfzig Millionen Dollar, der Supranational und ihren Töchtern sofort in vollem Umfang zu gewähren, wobei finanzielle Kürzungen in anderen Tätigkeitsbereichen der Bank gleichzeitig wirksam werden sollten. Diese Kürzungen, versicherte Heyward den lauschenden Direktoren, sollten rückgängig gemacht werden, »sobald es möglich und klug ist«. Über den Termin ließ er sich im einzelnen nicht aus. Er schloß: »Ich empfehle dem Direktorium dieses Paket, und ich verspreche, daß unsere eigenen Gewinnzahlen im Lichte dieses Pakets sehr gut aussehen werden.«

Heyward lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und Jerome Patterton sagte: »Ich bitte jetzt um Fragen und Diskussion.«

»Offen gesagt«, erklärte Wallace Sperrie, »ich halte beides für überflüssig. Es ist alles klar. Meiner Meinung nach sind wir Zeugen eines Meisterstücks im Bankgeschäft geworden, und ich schlage die Zustimmung vor.«

Mehrere Stimmen riefen gleichzeitig: »Schließe mich an!«

»Vorgeschlagen und unterstützt«, stellte Jerome Patterton im offiziellen Singsang fest. »Sind wir bereit zur Abstimmung?«

Offensichtlich hoffte er es. Sein Hammer schwebte über der Tischplatte.

»Nein«, sagte Alex Vandervoort mit ruhiger Stimme. Er schob seinen Bleistift und das vollgekritzelte Blatt Papier weg. »Ich meine, auch andere sollten ihre Stimme erst abgeben, wenn sehr viel ausführlicher diskutiert worden ist.«

Patterton seufzte. Er legte den Hammer hin. Alex hatte ihm in gewohnter Höflichkeit schon vorher seine Absichten angekündigt, aber Patterton hatte gehofft, daß Alex sich anders besinnen werde, sobald er die so gut wie einhellige Stimmung des Direktoriums spürte.

»Es tut mir aufrichtig leid«, sagte Alex Vandervoort jetzt, »mich hier vor dem Direktorium im Konflikt mit meinen Kollegen Jerome und Roscoe wiederzufinden. Aber Pflicht und Gewissen erlauben es mir nicht, meine Bedenken wegen dieses Kredits und meine Opposition zu verschweigen.«

»Was ist denn los? Gefällt Supranational Ihrer Freundin nicht?« Die bösartige Frage kam von Forrest Richardson, seit vielen Jahren FMA-Direktor; er war brüsk im Auftreten, hatte einen Ruf als Kampfhahn und war ein Kronprinz in der Fleischkonservenbranche.

Alex stieg die Zornröte ins Gesicht. Zweifellos hatten die Direktoren nicht vergessen, daß sein Name vor drei Monaten in der Öffentlichkeit mit Margots »Bank-in« in Verbindung gebracht worden war; dennoch hatte er keine Lust, sein Privatleben hier sezieren zu lassen. Aber er unterdrückte eine heftige Entgegnung und antwortete: »Miss Bracken und ich erörtern nur sehr selten Bankangelegenheiten. Ich versichere Ihnen, daß wir über die vorliegende nicht gesprochen haben.«

Ein anderer Direktor fragte: »Was genau gefällt Ihnen an dem Geschäft nicht, Alex?«

»Alles.«

Rund um den Tisch entstand Unruhe, es gab Ausrufe ärgerlicher Überraschung. Gesichter, die sich Alex zugewandt hatten, verrieten wenig Freundlichkeit.

»Am besten legen Sie die ganze Sache klar«, empfahl Jerome Patterton kurz.

»Das werde ich.« Alex griff in den mitgebrachten Schnellhefter und zog ein mit Notizen beschriebenes Blatt heraus.

»Zunächst einmal erhebe ich Einspruch gegen den Umfang des Engagements mit einem einzigen Kunden. Es handelt sich nicht nur um eine wenig ratsame Konzentration des Risikos. Es ist meiner Meinung nach auch betrügerisch im Sinne von Paragraph 23 A des Reserve-Bank-Gesetzes.«

Roscoe Heyward sprang auf. »Ich protestiere gegen das Wort >betrügerisch<.«

»Proteste ändern nichts an der Wahrheit«, entgegnete Alex ruhig.

»Das ist nicht die Wahrheit! Wir haben klargelegt, daß das gesamte Engagement nicht mit der Supranational Cbrporation selbst eingegangen wird, sondern mit ihren Tochtergesellschaften. Es handelt sich um Hepplewhite Distillers, Horizon Land, Atlas Jet Leasing, Caribbean Finance und International Bakeries.« Heyward packte eine blaue Mappe. »Die Kreditzuweisungen sind hier spezifiziert.«

»Alle diese Firmen sind mehrheitlich im Besitz von Supranational.«

»Aber es sind auch alteingeführte, aus eigener Kraft lebensfähige Gesellschaften.«

»Warum reden wir dann immer nur von Supranational?«

»Weil es einfacher und bequemer ist.« Heywards Augen funkelten.

»Sie wissen ebensogut wie ich«, beharrte Alex, »daß G. G. Quartermain, wenn unser Geld erst einmal bei irgendeiner der Tochtergesellschaften liegt, dieses Geld nach Belieben bewegen kann und wird.«

»Halt mal, stop!« Die Unterbrechung kam von Harold Austin, der sich vorgebeugt hatte und mit der Hand auf den Tisch schlug, um die anderen aufmerksam zu machen. »Big George Quartermain ist ein guter Freund von mir. Ich lasse es mir nicht bieten, daß hier der Vorwurf der Böswilligkeit erhoben wird.«

»Niemand hat von Böswilligkeit gesprochen«, erwiderte Alex. »Ich rede von einer Tatsache aus dem Konzernalltag. Es werden häufig große Summen zwischen Supranational-Töchtern hin- und herbewegt; das weisen die Bilanzen aus. Das ist die Bestätigung - wir leihen unser Geld einem einzigen Organismus.«

»Also«, sagte Austin; er wandte sich von Alex ab und anderen Direktoriumsmitgliedern zu, »ich sage noch einmal, ich kenne George Quartermain gut und auch Supranational. Wie die meisten von Ihnen wissen, habe ich das Treffen zwischen Roscoe und Big George auf den Bahamas arrangiert, wo diese Kreditlinie besprochen worden ist. In Kenntnis aller Umstände sage ich, es handelt sich um ein ausnehmend gutes Geschäft für die Bank.«

Es entstand eine momentane Stille, die Philip Johannsen beendete.

»Wäre es denkbar, Alex«, erkundigte sich der Präsident von MidContinent Rubber, »daß Sie sich ein ganz klein wenig ärgern, daß Roscoe zu diesem Golfspiel auf den Bahamas eingeladen worden ist und nicht Sie?«

»Nein. Was ich hier vortrage, hat nichts mit persönlichen Dingen zu tun.«

Ein anderer bemerkte skeptisch: »Es sieht aber ganz so aus.«

»Meine Herren, meine Herren!« Jerome Patterton ließ den Hammer hart auf den Tisch sausen.

Alex hatte etwas dieser Art erwartet. Er bewahrte die Ruhe und insistierte: »Ich wiederhole, der Kredit stellt ein zu starkes Engagement mit einem einzigen Kreditnehmer dar. So zu tun, als ob es sich nicht um einen einzigen Kreditnehmer handelt, ist darüber hinaus ein schlauer Versuch, das Gesetz zu umgehen, was jeder einzelne hier im Räume weiß.« Herausfordernd blickte er in die Runde.

»Ich weiß es nicht«, sagte Roscoe Heyward, »und ich sage, Sie sind voreingenommen und legen es falsch aus.«

Es war jetzt klar, daß hier etwas Außerordentliches geschah. Direktoriumssitzungen waren gewöhnlich entweder reine Formalität, oder die Direktoren tauschten im Falle mild abweichender Meinungen höfliche Bemerkungen aus. Zorniger, ätzend scharfer Streit war praktisch unbekannt.

Zum ersten Mal ergriff Leonard L. Kingswood das Wort. Seine Stimme klang versöhnlich. »Alex, ich gebe zu, daß das, was Sie da sagen, nicht ohne Substanz ist. Aber Sie können doch nicht bestreiten, daß derartige Geschäftspraktiken zwischen Großbanken und Großfirmen etwas Alltägliches sind.«

Jede Intervention durch den Vorsitzenden von Northam Steel war bedeutungsvoll. In der Dezember-Sitzung war Kingswood Wortführer derjenigen gewesen, die Alex' Ernennung zum Chef der FMA empfahlen. Jetzt fuhr er fort: »Offen gesagt, wenn Sie derartige Finanzierungen für unkorrekt halten, muß ich gestehen, daß sich meine eigene Gesellschaft ebenfalls schuldig gemacht hat.«

Bedauernd, weil er wußte, daß es ihn einen Freund kostete, schüttelte Alex den Kopf. »Tut mir leid, Len. Ich halte es trotzdem nicht für korrekt, darüber hinaus finde ich, daß wir uns nicht dem Vorwurf des Interessenkonflikts aussetzen sollten, indem Roscoe dem Supranational-Direktorium beitritt.«

Leonard Kingswood kniff die Lippen zusammen. Er sagte nichts mehr.

Dafür aber Philip Johannsen. Leicht ironisch sagte er: »Alex, wenn Sie nach dieser letzten Bemerkung immer noch von uns erwarten, daß wir Ihnen abnehmen, es sei alles ganz unpersönlich, dann sind Sie verrückt.«

Roscoe Heyward versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht.

Alex' Gesicht hatte einen grimmig-entschlossenen Zug angenommen. Und wenn es die letzte FMA-Direktoriumssitzung sein sollte, an der er teilnahm - er wollte zu Ende bringen, was er begonnen hatte. Johannsens Bemerkung übergehend, erklärte er: »Warum lernen Banker nie etwas dazu! Von allen Seiten -vom Kongreß, von den Verbrauchern, von unseren eigenen Kunden und von der Presse - wirft man uns vor, den Interessenkonflikt durch Verfilzung der Direktoriumsposten zu verewigen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß die meisten Vorwürfe zu Recht bestehen. Jeder von uns weiß, wie die großen Ölgesellschaften durch enge Zusammenarbeit in Bankdirektorien Kontakt miteinander halten, und das ist nur ein Beispiel von vielen. Wir aber machen immer weiter mit derselben Art von Inzucht: Du gehst in mein Direktorium, ich gehe in deins. Wenn Roscoe Direktor bei Supranational ist, wessen Interessen wird er dann voranstellen? Die von Supranational? Oder die der First Mercantile American? Und hier bei uns, wird er SuNatCo gegenüber anderen Gesellschaften bevorzugen, weil er dort im Direktorium sitzt? Die Aktionäre beider Gesellschaften haben ein Recht, diese Fragen beantwortet zu bekommen; das gleiche Recht haben Legislative und Öffentlichkeit. Mehr noch, wenn wir nicht bald mit einigen überzeugenden Antworten kommen, wenn wir nicht aufhören, so selbstherrlich wie bisher zu sein, dann wird sich das gesamte Bankgewerbe mit harten, restriktiven Gesetzen abfinden müssen. Und wir würden es auch nicht besser verdienen.«

»Wenn Sie den Gedanken logisch zu Ende führen wollen«, wandte Forrest Richardson ein, »dann könnte man jedem zweiten in diesem Direktorium Interessenkonflikt vorwerfen.«

»Sie sagen es. Und sehr bald wird die Bank dieser Situation ins Auge sehen und sie abändern müssen.«

»Man kann da anderer Meinung sein«, warf Richardson ingrimmig ein. Seine eigene Fleischfabrik war, wie alle wußten, Großkreditnehmer der FMA, und Forrest Richardson hatte an Direktoriumssitzungen teilgenommen, bei welchen Kredite an seine Gesellschaft gebilligt worden waren.

Ohne sich von der zunehmenden Feindseligkeit aus dem Konzept bringen zu lassen, pflügte Alex weiter. »Andere Aspekte des Supranational-Kredits beunruhigen mich nicht weniger. Um das Geld verfügbar zu machen, sollen wir Hypotheken und Kleinkredite reduzieren. Allein in diesen beiden Bereichen wird die Bank ihre öffentlichen Aufgaben nicht erfüllen.«

Verärgert sagte Jerome Patterton: »Es ist eindeutig erklärt worden, daß es sich um befristete Beschränkungen handelt.«

»Richtig«, gab Alex zu. »Nur ist niemand bereit, sich auf einen Termin festzulegen oder zu sagen, was aus den Geschäften und den Kunden wird, die die Bank während der Dauer der Beschränkungen verliert. Und überhaupt noch nicht berührt haben wir den dritten Bereich, der von den Beschränkungen betroffen sein wird - die Kommunalobligationen.« Er schlug seinen Aktendeckel auf und zog ein zweites Blatt mit Notizen zu Rate. »In den nächsten sechs Wochen werden elf Emissionen von Kreis- und Schulbezirks-Obligationen in unserem Bundesstaat ausgeschrieben. Beteiligt unsere Bank sich nicht, bleibt mindestens die Hälfte dieser Obligationen unverkauft.« Seine Stimme gewann an Schärfe. »Hat dieses Direktorium die Absicht, so kurz nach Ben Rossellis Tod mit einer Tradition zu brechen, die über drei Rosselli-Generationen hin gepflegt worden ist?«

Zum ersten Mal seit Beginn der Sitzung begannen die Teilnehmer Blicke des Unbehagens zu wechseln. Es war die vor langer Zeit vom Gründer, Giovanni Rosselli, eingeführte Politik der First Mercantile American Bank, Schuldverschreibungen kleiner Kommunen des Staates zu garantieren und zu verkaufen. Ohne diese Hilfe durch die größte Bank des Bundesstaates drohte solchen Emissionen - die niemals groß, wichtig oder auch nur bekannt waren - das Schicksal, keinen Markt zu finden, was für die Gemeinden bedeutete, daß sie dringende Aufgaben nicht finanzieren konnten. Die Tradition war von Giovannis Sohn Lorenzo und von seinem Enkel Ben weitergeführt worden. Dieses Geschäft war nicht besonders ertragreich, brachte aber auch keinen Verlust. Es stellte jedoch einen wichtigen Dienst an der Öffentlichkeit dar und leitete einen Teil des Geldes, das deren Bürger bei der FMA deponiert hatten, in kleinere Kommunen zurück.

»Jerome«, schlug Leonard Kingswood vor, »vielleicht sollte man diesen Aspekt noch einmal überdenken.«

Es gab zustimmendes Gemurmel.

Roscoe Heyward nahm eine blitzschnelle Einschätzung der Lage vor. »Jerome... Wenn Sie gestatten.«

Der Bankpräsident nickte.

»Angesichts der traditionsbewußten Haltung, die das Direktorium einzunehmen scheint«, sagte Heyward glattzüngig, »können wir bestimmt die Sache neu überprüfen und einen Teil der Mittel zur Finanzierung von KommunalSchuldverschreibungen wieder bereitstellen, ohne daß auch nur eins der Supranational-Arrangements beeinträchtigt würde. Darf ich vorschlagen, daß das Direktorium, das ja seine Gefühle klar zum Ausdruck gebracht hat, die Einzelheiten Jerome und mir anvertraut.« Es fiel auf, daß er Alex nicht einbezog.

Kopfnicken und zustimmende Worte signalisierten Einverständnis.

Alex erhob Einspruch: »Das ist nur eine begrenzte Zusage. Von Hypotheken und Kleinkrediten hört man gar nichts.«

Die anderen Direktoriumsmitglieder schwiegen bedeutsam.

»Ich glaube, wir haben alle Meinungen gehört«, sagte Jerome Patterton. »Vielleicht können wir jetzt über den Vorschlag als Ganzes abstimmen.«

»Nein«, sagte Alex. »Da ist noch etwas anderes.«

Patterton und Heyward tauschten einen Blick halbbelustigter Resignation.

»Auf einen Interessenkonflikt habe ich schon hingewiesen«, stellte Alex mit ernster Stimme fest. »Jetzt möchte ich vor einem noch größeren warnen. Seit Abschluß der Verhandlungen über den Supranational-Kredit hat unsere eigene Treuhandabteilung bis gestern nachmittag« - er zog seine Notizen zu Rate -»einhundertunddreiundzwanzigtausend Supranational-Aktien gekauft. In dieser Zeit, und sicherlich wegen der substantiellen Käufe mit dem Geld unserer Treuhandkunden, ist der SuNatCo-Aktienkurs um siebeneinhalb Punkte gestiegen; ich bin sicher, daß das beabsichtigt und als eine der Bedingungen vereinbart worden war... «

Seine Worte gingen in Protestrufen unter - sie kamen von Roscoe Heyward, Jerome Patterton und anderen Direktoren.

Heyward war wieder aufgesprungen, mit funkelnden Augen. »Das ist eine vorsätzliche Verdrehung der Tatsachen!«

Alex schlug zurück: »Die Käufe sind keine Verdrehung.«

»Aber Ihre Auslegung! SuNatCo ist eine vorzügliche Geldanlage für unsere Treuhandkonten.«

»Warum ist sie plötzlich so gut?«

Hitzig protestierte Patterton: »Alex, spezifische Transaktionen der Treuhandabteilung sind hier kein Diskussionsthema für uns.«

»Das will ich meinen«, sagte Philip Johannsen scharf.

Harold Austin und mehrere andere riefen laut: »Ich auch!«

»Ob das nun ein Thema für uns ist oder nicht«, fuhr Alex unbeirrt fort, »so weise ich Sie auf jeden Fall darauf hin, daß dieses Geschäftsgebaren unvereinbar sein könnte mit dem Glass-Steagall-Gesetz von 1933 und daß Direktoren haftbar gemacht werden können... «

Sofort erhob sich ein halbes Dutzend weiterer zorniger Stimmen. Alex wußte, daß er einen empfindlichen Nerv getroffen hatte. Zweifellos waren sich die Anwesenden bewußt, daß die von ihm beschriebenen Wechselbeziehungen vorlagen, aber sie zogen es vor, im einzelnen nichts davon zu wissen. Kenntnis bedeutete Komplicenschaft und Verantwortung. Beides wollten sie nicht.

Nun ja, dachte Alex, ob es ihnen gefällt oder nicht, sie wußten es jetzt. Die anderen Stimmen übertönend, fuhr er mit Festigkeit fort: »Ich erkläre dem Direktorium, daß wir es noch bereuen werden, wenn es den Supranational-Kredit mitsamt seinen Weiterungen ratifiziert.« Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Das ist alles.«

Jerome Patterton schlug mehrmals mit seinem Hammer auf den Tisch, bis sich der Aufruhr legte.

Blasser als zuvor verkündete er: »Wenn die Diskussion beendet ist, schreiten wir zur Abstimmung.«

Augenblicke später waren die Supranational-Anträge gebilligt. Die einzige Gegenstimme kam von Alex Vandervoort.

12

Kälte schlug Vandervoort entgegen, als die Direktoren ihre Sitzung nach dem Mittagessen fortsetzten. Normalerweise ließ sich in einer zweistündigen Vormittagssitzung alles erledigen. Heute jedoch war eine Verlängerung zugestanden worden.

Angesichts der im Direktorium herrschenden Feindseligkeit hatte Alex dem Vorsitzenden beim Mittagessen vorgeschlagen, seinen Vortrag bis zur nächsten Monatssitzung zu verschieben. Aber Patterton hatte ihm kurz angebunden erklärt: »Nichts da. Wenn die Direktoren üble Laune haben, dann Ihretwegen. Jetzt löffeln Sie gefälligst die Suppe aus, die Sie sich eingebrockt haben.«

Das waren ungewöhnlich harte Worte für den sonst so milden Patterton, aber sie machten deutlich, wie stark der Strom war, gegen den Alex jetzt zu schwimmen hatte. Er war auch überzeugt davon, daß er sich die Mühen der nächsten Stunde ebensogut schenken konnte. Was er auch sagen würde, man würde seine Vorschläge zurückweisen, und wenn aus keinem anderen Grund als aus reiner Widerborstigkeit.

Als die Direktoren sich wieder setzten, gab Philip Johannsen der allgemeinen Stimmung Ausdruck, indem er pointiert auf die Uhr sah. »Ich habe heute nachmittag schon einen Termin absagen müssen«, erklärte der Chef von MidContinent Rubber ingrimmig, »und ich habe noch mehr zu tun; machen wir es also kurz.« Mehrere andere nickten zustimmend.

»Ich werde mich so kurz fassen wie möglich, meine Herren«, versprach Alex, als Jerome Patterton ihm das Wort erteilt hatte. »Ich möchte vier Punkte vortragen.« Er zählte sie beim Sprechen an den Fingern ab.

»Erstens, unsere Bank verzichtet auf ein bedeutendes, ertragreiches Geschäft, indem sie die Möglichkeiten der Sparexpansion nicht mit aller Energie nutzt. Zweitens, mehr Spareinlagen verbessern die Stabilität der Bank. Drittens, je länger wir zögern, desto schwieriger wird es sein, unsere vielen Konkurrenten einzuholen. Viertens, wegweisende Arbeit - die wir und andere Banken auf uns nehmen müssen - kann geleistet werden, um eine Rückkehr zu dem Grundsatz persönlicher, wirtschaftlicher und öffentlicher Sparsamkeit zu fördern, der allzu lange vernachlässigt worden ist.«

Er nannte Methoden, die es der First Mercantile American ermöglichen könnten, die Konkurrenz zu überflügeln -Erhöhung des Sparzinses bis an die obere gesetzliche Grenze; attraktivere Bedingungen für langfristige Sparbriefe mit ein- bis fünfjähriger Kündigungsfrist; Giro-Leistungen für Sparer im Rahmen der Bankgesetze; Geschenkprämien für neue Sparer; Bekanntmachung des Sparprogramms und der neun neuen Filialen durch einen massiven Werbefeldzug.

Alex hatte seinen üblichen Platz verlassen und sprach jetzt vom Kopfende des Direktoriumstisches aus. Patterton war mit seinem Stuhl zur Seite gerückt. Alex hatte auch den ChefVolkswirtschaftler der Bank, Tom Straughan, mitgebracht, der Ständer mit Diagrammen vor den Direktoren aufgebaut hatte.

Roscoe Heyward hatte sich auf seinem Platz vorgeschoben und lauschte mit ausdrucksloser Miene.

Als Alex eine Pause machte, warf Floyd LeBerre ein: »Dazu hätte ich jetzt gleich eine Bemerkung.«

Patterton, der wieder zu seiner gewohnten Höflichkeit zurückgefunden hatte, fragte: »Wollen Sie Fragen während des Vortrags beantworten, Alex, oder heben wir sie uns bis zum Schluß auf?«

»Ich nehme Floyds Frage jetzt an.«

»Es ist keine Frage«, sagte der Vorsitzende von General Cable ohne die Spur eines Lächelns. »Es ist eine Erklärung für das Protokoll. Ich bin gegen eine bedeutende Expansion der Sparabteilung, weil wir uns dadurch nur selber auf die Füße treten. Wie verwalten jetzt erhebliche Einlagen von korrespondierenden Banken... «

»Achtzehn Millionen Dollar von den Spar- und Darlehenskassen«, sagte Alex. Er hatte mit LeBerres Einwand gerechnet, der zweifellos Hand und Fuß hatte. Wenige Banken existierten ganz aus eigener Kraft; die meisten pflegten finanzielle Verbindungen mit anderen Geldinstituten, und die First Mercantile American machte da keine Ausnahme. Mehrere örtliche Spar- und Darlehenskassen unterhielten große Konten bei der FMA, und aus Sorge, daß diese Beträge abgezogen werden könnten, hatte man sich bisher bei allen Vorschlägen, den Sparsektor auszubauen, starke Zurückhaltung auferlegt.

»Das habe ich berücksichtigt«, erklärte Alex.

LeBerre war nicht zufrieden. »Haben Sie berücksichtigt, daß wir dieses ganze Geschäft verlieren, wenn wir in ernsthafte Konkurrenz mit unseren eigenen Kunden treten?«

»Einen Teil. Aber sicher nicht alles. Jedenfalls sollten die Gewinne des geplanten Unternehmens die Verluste bei weitem übertreffen.«

»Behaupten Sie.«

Alex blieb dabei: »Ich sehe das als tragbares Risiko an.«

Leonard Kingswood sagte betont ruhig: »Aber im Zusammenhang mit Supranational waren Sie gegen jegliches Risiko, Alex.«

»Ich bin nicht prinzipiell gegen Risiken. Dies hier ist ein viel kleineres Risiko. Und außerdem kann man die beiden Dinge gar nicht miteinander vergleichen.«

Skepsis zeigte sich auf den Gesichtern.

LeBerre sagte: »Ich würde gern Roscoes Meinung dazu hören.«

Zwei andere stimmten ein: »Ja, hören wir, was Roscoe zu sagen hat.«

Köpfe wandten sich Heyward zu, der eingehend seine gefalteten Hände betrachtete. Mit Unschuldsmiene sagte er: »Man torpediert nicht gern einen Kollegen.«

»Warum denn nicht?« fragte jemand. »Genau das hat er doch bei Ihnen versucht.«

Heyward lächelte schwach. »Aber ich möchte mir nicht dasselbe nachsagen lassen.« Sein Gesicht wurde ernst. »Ich teile jedoch Floyds Meinung. Ein intensiver Ausbau des Spargeschäfts würde uns den Verlust bedeutender Korrespondenzgeschäfte eintragen. Ich glaube nicht, daß ein theoretischer, potentieller Gewinn das wert wäre.« Er zeigte auf eines der von Straughan aufgehängten Schaubilder, das die geographische Lage der vorgeschlagenen neuen Filialen verdeutlichte. »Die Herren werden bemerken, daß sich fünf der vorgeschlagenen Filialen in der Nähe von Spar- und DarlehensInstituten befinden würden, die erhebliche Einlagen bei FMA unterhalten. Wir dürfen sicher sein, daß diese Tatsache auch ihrer Aufmerksamkeit nicht entgehen wird.«

»Die Standorte«, sagte Alex, »sind sorgfältig aufgrund von Bevölkerungsstudien ausgewählt worden. Sie befinden sich dort, wo die Menschen sind. Gewiß, die Spar- und Darlehenskassen waren als erste da; in vieler Beziehung waren sie vorausschauender als Banken wie unsere eigene. Aber das heißt doch nicht, daß wir uns auf ewig fernhalten müssen.«

Heyward zuckte die Achseln. »Ich habe meine Meinung schon gesagt. Eins will ich aber noch hinzufügen - der Gedanke an Filialen mit Ladencharakter widerstrebt mir zutiefst.«

»Ganz richtig, Filialen mit Ladencharakter oder auch Geldläden«, gab Alex scharf zurück. »So werden nämlich die Bankfilialen der Zukunft aussehen.« Alles, was er sagte, kam anders heraus, als er es sich vorgenommen hatte, dachte Alex etwas trübe. Zum Thema der Filialen selbst hatte er erst später kommen wollen. Nun, jetzt kam es darauf wohl auch nicht mehr an.

»Nach der Beschreibung hier zu urteilen«, sagte Floyd LeBerre - er las ein Informationsblatt, das Tom Straughan verteilt hatte -, »unterscheiden sich diese neuen Filialen kaum von Automaten-Waschsalons.«

Heyward las ebenfalls und schüttelte den Kopf. »Nicht unser Stil. Ohne Würde.«

»Wir täten besser daran, ein bißchen Würde abzuschütteln und mehr Geschäft hereinzuholen«, erklärte Alex. »Ja, Ladenfront-Banken ähneln Waschsalons; aber Bankfilialen dieser Art kommen jetzt auf uns zu. Ich wage eine Prophezeiung: Weder wir noch unsere Konkurrenten werden sich noch lange die vergoldeten Gruften leisten können, die uns jetzt als Filialen dienen. Grundstücks- und Baukosten erlauben es nicht mehr. In zehn Jahren wird - mindestens - die Hälfte unserer heutigen Bankfilialen aufgehört haben, in der uns vertrauten Form zu existieren. Ein paar wichtige werden wir beibehalten. Der Rest wird sich auf weniger kostspieligem Grund ansiedeln, er wird voll automatisiert sein, es wird Kassenautomaten geben, Fragen werden über Kabelfernsehen beantwortet, alle Filialen werden an einen Zentralcomputer angeschlossen sein. Bei der Planung neuer Filialen - die neun, die ich hier vorschlage, eingeschlossen - müssen wir diesen bevorstehenden Wandel berücksichtigen.«

»Was die Automation angeht, stimme ich mit Alex überein«, sagte Leonard Kingswood. »Die meisten von uns erleben es in ihrer eigenen Branche. Sie macht sich schneller breit, als wir erwartet hatten.«

»Nicht minder wichtig ist«, fuhr Alex mit Nachdruck fort, »daß wir momentan die Chance haben, der Konkurrenz um einen großen - und gewinnbringenden - Sprung vorauszueilen, vorausgesetzt, es geschieht mit Pauken- und Trompetenbegleitung. Mit Unterstützung einer massiven Werbe-und Promotionskampagne und Nutzung aller Medien. Meine Herren, sehen Sie sich die Zahlen an. Hier zunächst unsere jetzigen Spareinlagen - wesentlich geringer, als sie sein sollten... «

Er entwickelte seine Gedanken weiter, unterstützt durch die Schaubilder und gelegentliche Erläuterungen durch Tom Straughan. Alex wußte, daß die Zahlen und Vorschläge, die er und Straughan hart erarbeitet hatten, solide und logisch waren. Dennoch spürte er krasse Opposition bei einigen Direktoren, mangelndes Interesse bei anderen. Weiter unten am Tisch legte ein Direktor die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Gähnen.

Offensichtlich hatte er verloren. Der Plan über die Expansion der Sparabteilung und der Filialen würde zurückgewiesen werden, was praktisch einem Mißtrauensvotum auch gegen ihn selbst gleichkäme. Wie schon vorhin fragte Alex sich jetzt wieder, wie lange er sein Amt in der FMA wohl noch innehaben werde. Viel Zukunft schien er nicht zu haben, und er sah sich auch nicht als Angehöriger eines Regimes, das von Heyward beherrscht wurde.

Er beschloß, nun keine Zeit mehr zu vergeuden. »Okay, das soll reichen, meine Herren. Sofern Sie nicht noch Fragen haben.«

Er hatte keine erwartet. Am allerwenigsten hatte er mit Unterstützung von der Seite gerechnet, von der sie jetzt kam.

»Alex«, sagte Harold Austin lächelnd und in freundlichem Ton, »ich möchte Ihnen danken. Offen gesagt, ich bin beeindruckt. Das hatte ich nicht erwartet, aber Ihr Vortrag hat mich überzeugt. Mehr noch. Mir gefällt die Sache mit den neuen Bankfilialen.«

Wenige Plätze weiter machte Heyward ein verdutztes Gesicht, dann funkelte er Austin an. The Hon. Harold ignorierte ihn und appellierte an die anderen, die hier am Tisch saßen. »Ich meine, wir sollten uns Alex' Vorschlag unvoreingenommen durch den Kopf gehen lassen und unsere Meinungsverschiedenheiten von heute morgen mal vergessen.«

Leonard Kingswood nickte, mehrere andere ebenfalls. Auch die übrigen Direktoren schüttelten ihre NachmittagsSchläfrigkeit ab und wurden aufmerksam. Nicht ohne Grund war Austin das dienstälteste FMA-Direktoriumsmitglied. Sein Einfluß war stark. Außerdem hatte er Geschick darin, andere zu seinen Ansichten zu bekehren.

»Sie haben zu Anfang Ihrer Ausführungen von einer Rückkehr zu persönlicher Sparsamkeit gesprochen«, fuhr The Hon. Harold fort, »von Führungsqualitäten, die Banken wie die unsere an den Tag legen sollten.«

»Ja, stimmt.«

»Könnten Sie den Gedanken weiter ausführen?«

Alex zögerte. »Bitte, wenn Sie Wert darauf legen...«

Sollte er sich darauf einlassen? Alex wog die Möglichkeiten gegeneinander ab. Der Einwurf überraschte ihn nicht mehr. Er wußte genau, warum Austin die Front gewechselt hatte.

Werbung. Als Alex vorhin einen »massiven Werbefeldzug« mit Hilfe aller Medien vorgeschlagen hatte, war ihm aufgefallen, wie Austins Kopf sich aufrichtete, wie sein Interesse offensichtlich erwacht war. Von dem Augenblick an war es nicht mehr schwer gewesen, seine Gedanken zu erraten. Die Werbeagentur Austin hatte wegen der Mitgliedschaft des Hon. Austin im Direktorium und seines damit verbundenen Einflusses bei der FMA das Monopol in der Werbung für die Bank. Eine Kampagne von der Art, wie Alex sie vorsah, würde der Agentur Austin erheblichen Gewinn bringen.

Austins Reaktion war ein Fall von Interessenkonflikt der krassesten Art - der gleiche Interessenkonflikt, den Alex heute morgen im Hinblick auf Roscoe Heywards Einzug in das Supranational-Direktorium angeprangert hatte. Alex hatte gefragt: Wessen Interessen würde Roscoe voranstellen? Die von Supranational? Oder die Interessen der Aktionäre der First Mercantile American? Jetzt sollte man Austin eine Parallelfrage stellen.

Die Antwort lag auf der Hand: Austin nahm seine eigenen Interessen wahr; FMA rangierte an zweiter Stelle. In diesem Zusammenhang war es unerheblich, daß Alex an den Plan glaubte. Die Unterstützung - aus eigennützigen Gründen gewährt - verstieß gegen Treu und Glauben.

Sollte Alex das sagen? Tat er es, so löste er einen Aufruhr aus, größer noch als den vom Vormittag, und er würde wieder der Unterlegene sein. Direktoren steckten zusammen wie Logenbrüder. Mit Sicherheit würde eine solche Konfrontation auch jede eigene Effektivität Alex' in der FMA beenden. Lohnte es sich also? War es notwendig? Verlangten seine Pflichten es von ihm, der Hüter des Gewissens anderer zu sein? Alex war sich nicht sicher. Unterdessen beobachteten die Direktoren ihn und warteten.

Alex holte tief Luft. »Es ist richtig, ich habe - wie Harold sagt - von Sparsamkeit gesprochen und von einer führenden Hand.« Alex warf einen Blick auf seine Notizen, die er noch vor ein paar Minuten hatte zur Seite legen wollen.

»Es heißt«, erklärte er den lauschenden Direktoren, »daß Regierung, Industrie und Handel jeder Art auf Kredit beruhen. Ohne Kredit, ohne Geldaufnahme, ohne Darlehen - kleine, mittlere und massive - würde jegliches Geschäft aufhören und die ganze Gesellschaftsordnung verkümmern. Das wissen wir Banker am besten.

Nun wächst aber die Zahl derer, die glauben, daß das Leben auf Pump und die Defizitfinanzierung außer Rand und Band geraten sind, daß sie jedes vernünftige Maß hinter sich gelassen haben. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat ein erschreckendes Gebirge von Schulden aufgetürmt, weit mehr, als wir je zurückzahlen können. Andere Regierungen sind in ebenso schlimmer oder noch schlimmerer Lage. Das ist der wahre Grund der Inflation und der Unterminierung der Währung hier bei uns und in anderen Ländern.

Diese überwältigende Staatsverschuldung«, führte Alex weiter aus, »entspricht mehr oder weniger einer gigantischen Konzernverschuldung. Und, auf weniger hoher finanzieller Ebene, haben Millionen von Menschen - dem vom Staat gesetzten Beispiel folgend - sich Schuldenlasten aufgebürdet, die sie nicht wieder abzahlen können. Die Gesamtverschuldung der Vereinigten Staaten beträgt zweieinhalb Billionen Dollar. Die Verbraucherverschuldung im ganzen Land nähert sich jetzt der Zweihundert-Milliarden-Dollargrenze. In den vergangenen sechs Jahren haben mehr als eine Million Amerikaner Bankrott gemacht.

Irgendwo am Wege ist uns - als Nation, als Unternehmer, als Bürger - die alte Tugend der Sparsamkeit, des Haushaltens abhanden gekommen, die Kunst, Ausgaben und Einnahmen aufeinander abzustimmen, das, was wir anderen schulden, in ehrlichen Grenzen zu halten.«

Die Stimmung im Raum war auf einmal ernst geworden. Darauf eingehend, sagte Alex mit ruhiger Stimme: »Ich wollte, ich könnte behaupten, daß sich schon eine Tendenzänderung ankündigt. Aber noch zeichnet sie sich nicht ab. Doch Tendenzen setzt man in Gang, indem irgendwo entschlossen gehandelt wird. Warum nicht bei uns?

Es liegt in der Natur unserer Zeit, daß Sparkonten - mehr als jede andere monetäre Tätigkeit - finanzielle Umsicht repräsentieren. Als Staat und als Bürger brauchen wir mehr Umsicht. Ein Weg dahin führt über eine gewaltige Steigerung des Sparvolumens.

Und es kann ungeheuer gesteigert werden - wenn wir uns einsetzen und wenn wir arbeiten. Individuelle Sparsamkeit allein wird zwar nicht überall die finanzielle Vernunft wiederherstellen, aber sie ist ein bedeutsamer Schritt in diese Richtung.

Deshalb ergibt sich hier eine Gelegenheit, richtungweisend einzuwirken, Führungsqualitäten zu zeigen, und deshalb glaube ich auch, daß unsere Bank diese Qualitäten - hier und jetzt - an den Tag legen muß.«

Alex setzte sich. Sekunden später wurde ihm bewußt, daß er mit keinem Wort auf seine Zweifel hinsichtlich der Intervention durch Austin eingegangen war.

Leonard Kingswood beendete das kurze Schweigen, das eingetreten war. »Vernunft und Wahrheit hört man nicht immer gern. Aber ich glaube, wir haben sie gerade zu hören bekommen.«

Philip Johannsen brummte, dann gestand er widerstrebend ein: »Das hört sich überzeugend an, zumindest teilweise.«

»Mich hat es ganz überzeugt«, sagte The Hon. Harold. »Meiner Meinung nach sollte das Direktorium den Plan für die Expansion der Sparabteilung und der Filialen so annehmen, wie er vorgetragen wurde. Ich werde dafür stimmen. Ich empfehle Ihnen allen dringend, das ebenfalls zu tun.«

Dieses Mal ließ sich Roscoe Heyward seine Wut nicht anmerken, wenn seine Miene auch angespannt war. Alex vermutete, daß auch Heyward die Motive Harold Austins erraten hatte.

Noch fünfzehn Minuten lang wogte die Diskussion hin und her, bis Jerome Patterton den Hammer herniedersausen ließ und zur Abstimmung rief. Mit überwältigender Mehrheit wurden Alex Vandervoorts Vorschläge angenommen. Die einzigen Gegenstimmen gaben Floyd LeBerre und Roscoe Heyward ab.

Als er das Sitzungszimmer verließ, spürte Alex, daß die Feindseligkeit von vorhin nicht verflogen war. Einige Direktoren gaben ihm zu verstehen, daß sie seine harte Einstellung gegenüber Supranational vom Vormittag nicht verdaut hatten. Aber das neueste, unerwartete Ergebnis hatte ihm wieder Auftrieb gegeben, hatte seinen Pessimismus hinsichtlich seiner zukünftigen Rolle in der FMA vermindert.

Harold Austin fing ihn ab. »Alex, wann werden Sie die Verwirklichung Ihres Sparkonten-Plans in Angriff nehmen?«

»Sofort.« Er mochte nicht grob erscheinen und fügte hinzu: »Danke für die Unterstützung.«

Austin nickte. »Dann würde ich gern bald mit zwei oder drei Leuten meiner Agentur herkommen und die Kampagne besprechen.«

»Gut. Nächste Woche.«

Austin hatte also - ohne Aufschub und ohne jede Verlegenheit - bestätigt, was Alex vermutet hatte. Um fair zu sein, dachte Alex, mußte man jedoch zugeben, daß die Werbeagentur Austin vorzügliche Arbeit leistete und aufgrund dessen für den Auftrag ausgewählt werden konnte.

Aber er konstruierte nachträglich Entschuldigungsgründe, und er wußte es. Durch sein Schweigen vor wenigen Minuten hatte er um des Zweckes willen das Prinzip verraten. Er fragte sich, wie Margot seine Fahnenflucht aufnehmen werde.

The Hon. Harold sagte gut aufgelegt: »Dann sehen wir uns also demnächst.«

Roscoe Heyward, der unmittelbar vor Alex das Sitzungszimmer verlassen hatte, wurde von einem uniformierten Bankboten angehalten, der ihm einen verschlossenen Umschlag übergab. Heyward riß ihn auf und nahm ein zusammengefaltetes Blatt mit einer telefonisch übermittelten Nachricht heraus. Beim Lesen hellte sich seine Miene sichtbar auf; er warf einen Blick auf die Uhr, und er lächelte. Warum wohl, fragte Alex sich.

13


Es war eine ganz einfache Nachricht. Roscoes absolut zuverlässige Chefsekretärin, Dora Callaghan, informierte ihn, daß Miss Deveraux angerufen und hinterlassen habe, daß sie in der Stadt sei und sich freuen würde, wenn er so bald wie möglich rückrufen könnte. Die Mitteilung schloß mit einer Telefon- und einer Hausanschluß-Nummer.

Heyward erkannte die Nummer wieder: das Columbia Hilton Hotel. Miss Deveraux, das war Avril.

Seit dem nun anderthalb Monate zurückliegenden Flug nach den Bahamas hatten sie sich zweimal wiedergesehen. Beide Male im Columbia Hilton. Und beide Male, ebenso wie in jener Nacht in Nassau, als er die Taste Nummer sieben gedrückt hatte, die Avril in sein Zimmer rief, hatte sie ihn in ein Paradies geführt, an einen Ort sexueller Ekstase, von deren Existenz er sich nie etwas hatte träumen lassen. Avril wußte unglaubliche Dinge, die man einem Mann antun kann; sie hatten ihn - in jener ersten Nacht - zunächst schockiert und dann begeistert. Später erweckte ihr Geschick Woge um Woge sinnlichen Vergnügens, bis er vor Glück aufschrie und Worte stammelte, von denen er nicht gewußt hatte, daß er sie kannte. Nachher war Avril sanft, zärtlich, liebevoll und geduldig gewesen, bis er, zu seiner Überraschung und wilden Freude, aufs neue geweckt war.

In diesem Augenblick hatte er angefangen zu begreifen, in einer Deutlichkeit, die sich seither noch gesteigert hatte, wieviel an Leidenschaft und Glanz des Lebens - an gegenseitigem Erforschen, an Erhöhung, Teilen, Geben und Nehmen - er und Beatrice nie erfahren hatten.

Für Roscoe und Beatrice war seine Entdeckung zu spät gekommen, allerdings war es eine Entdeckung, die Beatrice vielleicht nie gewollt hätte. Aber noch war Zeit für Roscoe und Avril; bei den Begegnungen seit Nassau hatten sie es bewiesen.

Er sah auf die Uhr, lächelnd - das Lächeln, das Vandervoort gesehen hatte.

Natürlich würde er so bald wie möglich zu Avril fahren. Es bedeutete eine Änderung seiner Termine für den Nachmittag und Abend, aber das machte nichts. Selbst in diesem Augenblick bewirkte der Gedanke an das Wiedersehen mit ihr, daß sein Körper sich regte und wie der eines jungen Mannes reagierte.

Ein paar Mal seit Beginn der Affäre mit Avril hatte ihn sein Gewissen geplagt. An den letzten Sonntagen in der Kirche hatte ihm der Text zu schaffen gemacht, den er vor der Reise nach den Bahamas vorgelesen hatte: Gerechtigkeit erhöhet ein Volk; aber die Sünde ist der Leute Verderben. In solchen Augenblicken tröstete er sich mit den Worten Christi aus dem Johannes-Evangelium: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein... Und: Ihr richtet nach dem Fleisch. Ich richte niemand. Heyward gestattete sich sogar den Gedanken - mit einer Leichtfertigkeit, die ihn noch vor nicht langer Zeit entsetzt hätte -, daß man mit der Bibel, ebenso wie mit der Statistik, alles beweisen konnte.

Außerdem erübrigte sich jede Debatte. Das Rauschmittel Avril war stärker als alle Gewissensbisse.

Auf dem Weg vom Direktoriumszimmer in seine auf demselben Stockwerk gelegene Büro-Suite dachte er, innerlich voller Glut: Zusammen zu sein mit Avril, das würde die Krönung eines triumphalen Tages bedeuten, des Tages, an dem seine Supranational-Anträge angenommen worden waren und sein berufliches Prestige den Scheitelpunkt erreicht hatte. Natürlich hatte ihn das Resultat des Nachmittags enttäuscht, und Harold Austins Verrat hatte ihn in ganz schlichte Wut versetzt, auch wenn er sofort die selbstsüchtigen Motive dahinter erkannt hatte. Trotzdem befürchtete Heyward nicht, daß Vandervoorts Gedanken nennenswerten konkreten Erfolg zeitigen würden. Seine eigenen Supranational-Arrangements würden sich auf die diesjährigen Bankgewinne weit positiver auswirken.

Was ihn daran erinnerte, daß er eine Entscheidung über die zusätzliche halbe Million Dollar treffen mußte, die Big George Quartermain als weiteren Kredit an Q-Investments verlangt hatte.

Roscoe Heyward runzelte leicht die Stirn. Er war sich bewußt, daß die ganze Angelegenheit mit Q-Investments ein wenig regelwidrig war, aber in Anbetracht des Engagements der Bank mit Supranational, und umgekehrt, konnte man gewiß darüber hinwegsehen.

Vor etwa einem Monat hatte er die Angelegenheit in einer vertraulichen Mitteilung an Jerome Patterton dargelegt.

G. G. Quartermain von Supranational hat mich gestern wegen eines seiner persönlichen Projekte, das unter dem Namen ^Investments firmiert, zweimal aus New York angerufen. Es handelt sich um eine kleine private Gruppe, deren Vorsitzender Quartermain (Big George) ist; unser eigener Direktor, Harold Austin, sitzt mit im Direktorium. Die Gruppe hat bereits große Pakete von Stammaktien verschiedener Supranational-Unternehmen günstig aufgekauft. Weitere Käufe sind geplant.

Big George wünscht von uns einen Kredit in Höhe von 1,5 Millionen Dollar für Q-Investments - zu dem gleichen niedrigen Satz wie beim Supranational-Kredit, aber ohne die Bedingung eines Ausgleichskontos. Er weist darauf hin, daß das SuNatCo-Ausgleichskonto mehr als ausreicht, um diesen persönlichen Kredit zu kompensieren - was richtig ist, wenn natürlich auch die Gegengarantie fehlt.

Ich sollte noch erwähnen, daß auch Harold Austin mich angerufen hat, um darauf zu dringen, daß der Kredit gewährt wird.

The Hon. Harold hatte Heyward in Wirklichkeit rundheraus an das Prinzip eine Hand wäscht die andere erinnert - an den Gegendienst für Austins kräftige Unterstützung zur Zeit von Ben Rossellis Tod. Heyward würde wiederum auf diese Unterstützung dringend angewiesen sein, wenn Patterton - der Interimspapst - in acht Monaten in den Ruhestand treten würde.

In der Hausmitteilung an Patterton hieß es weiter:

Der Zinssatz für diesen vorgeschlagenen Kredit ist offen gesagt zu niedrig, und der Verzicht auf ein Ausgleichskonto wäre ein großes Zugeständnis. Aber in Anbetracht des Supranational-Geschäfts, das wir Big George verdanken, sollten wir meiner Meinung nach darauf eingehen.

Ich empfehle, den Kredit zu geben. Stimmen Sie zu?

Jerome Patterton hatte mit Bleistift ein lakonisches »Ja« neben die letzte Frage geschrieben und die Hausmitteilung zurückgeschickt. Heyward kannte Patterton und nahm an, daß er der ganzen Sache nicht mehr als einen flüchtigen Blick gewidmet hatte.

Heyward hatte keinen Grund gesehen, warum Alex Vandervoort damit befaßt werden sollte, auch war der Kredit nicht so groß, daß er vom finanzpolitischen Ausschuß hätte genehmigt werden müssen. Deshalb hatte Roscoe Heyward einige Tage später durch seine Paraphe selbst die Genehmigung erteilt, was im Rahmen seiner Vollmachten lag und was völlig korrekt war.

Nicht korrekt dagegen war eine persönliche Transaktion zwischen ihm selbst und G. G. Quartermain, und er hatte sie auch niemandem gemeldet.

Während ihres zweiten Telefonats über Q-Investments hatte Big George - der von einer SuNatCo-Niederlassung in Chicago aus anrief - gesagt: »Habe mit Harold Austin über Sie gesprochen, Roscoe. Wir meinen beide, es wird Zeit, daß Sie in unsere Investmentgruppe einsteigen. Hätten Sie gern bei uns. Ich hab' schon was unternommen; ich habe Ihnen zweitausend Anteile zugewiesen, die wir als voll bezahlt betrachten. Es sind Zertifikate auf den Namen eines Strohmannes, blanko giriert -das ist diskreter so. Ich lasse sie Ihnen mit der Post zuschicken.«

Heyward hatte Skrupel gehabt. »Danke Ihnen, George, aber ich meine, das sollte ich nicht annehmen.«

»Um Gottes willen, warum nicht?«

»Berufsethos, wissen Sie.«

Big George hatte losgeprustet. »In welcher Welt leben Sie eigentlich, Roscoe? So was passiert doch andauernd zwischen Kunden und Bankern. Sie wissen es. Ich weiß es.«

Ja, Heyward wußte, daß es vorkam, wenn auch nicht »andauernd«, wie Big George behauptete, und Heyward hatte sich selber nie daran beteiligt.

Bevor er antworten konnte, drängte Quartermain schon: »Hören Sie, Mann, seien Sie kein Narr. Wenn Ihnen wohler dabei ist, sagen wir eben, daß die Anteile ein Entgelt darstellen für Ihre Anlageberatung.«

Aber Heyward wußte, daß er keine Anlageberatung gegeben hatte, weder damals noch in der Folgezeit.

Ein, zwei Tage später trafen die Q-InvestmentsAnlagezertifikate eingeschrieben per Luftpost ein, in einem Umschlag mit kunstvollen Siegeln und dem Vermerk Streng persönlich und vertraulich. Nicht einmal Dora Callaghan hatte ihn aufgemacht.

Abends zu Hause, beim Studium des ebenfalls von Big George gelieferten Finanzstatus der Q-Investments, erkannte Heyward, daß seine zweitausend Anteile einen Nettowert von 20000 Dollar hatten. Später, wenn Q-Investments florierte oder in eine AG umgewandelt wurde, konnte ihr Wert viel höher sein.

Zu dem Zeitpunkt hatte er noch die feste Absicht, die Anteile an G. G. Quartermain zurückzuschicken; dann, als er seine eigene prekäre Finanzlage noch einmal überdachte - sie war nicht besser als vor mehreren Monaten -, hatte er gezögert. Schließlich erlag er der Versuchung, und gegen Ende der Woche legte er die Zertifikate in sein Stahlschließfach in der FMA-Hauptfiliale. Schließlich hatte er die Bank damit nicht beraubt, redete er sich ein. In Wirklichkeit war, wegen Supranational, das Gegenteil der Fall. Wenn sich also Big George entschloß, ihm eine freundschaftliche Anerkennung zukommen zu lassen, warum dann kleinlich sein und es ablehnen?

Doch daß er angenommen hatte, bedrückte ihn noch ein wenig, besonders seit Big George ihn Ende letzter Woche angerufen hatte - dieses Mal aus Amsterdam - und sich um eine weitere halbe Million Dollar für Q-Investments bemüht hatte.

»Es hat sich eine einzigartige Gelegenheit für unsere Q-Gruppe ergeben, hier in Gelderland ein Aktienpaket mitzunehmen, das mit Sicherheit hochsegeln wird. Kann über den öffentlichen Draht wenig sagen, Roscoe, Sie müssen mir schon vertrauen.«

»Natürlich tu ich das, George«, hatte Heyward erwidert, »aber die Bank wird Details wissen wollen.«

»Die kriegen Sie - morgen, durch Kurier.« Und Big George hatte bedeutungsvoll hinzugefügt: »Vergessen Sie nicht, daß Sie jetzt einer von uns sind.«

Zum zweitenmal hatte Heyward flüchtig ein unbehagliches Gefühl: G. G. Quartermain verwandte vielleicht mehr Aufmerksamkeit auf seine privaten Anlagen als auf die Leitung von Supranational. Aber die Nachrichten vom nächsten Tag hatten ihn beruhigt. »The Wall Street Journal« und andere Zeitungen berichteten in großer Aufmachung über eine bedeutende, von Quartermain zustande gebrachte industrielle Übernahme durch SuNatCo in Europa. Es war ein wirtschaftlicher Coup, der die Supranational-Aktien in New York und London in die Höhe schießen und den FMA-Kredit an den Konzerngiganten noch solider erscheinen ließ.

Als Heyward sein Vorzimmer betrat, begrüßte ihn Mrs. Callaghan mit ihrem üblichen Matronenlächeln. »Die anderen Mitteilungen liegen auf Ihrem Schreibtisch, Sir.«

Er nickte, aber als er sein Arbeitszimmer betreten hatte, schob er den Stapel zur Seite. Er zögerte bei Papieren, die fertig, aber noch nicht genehmigt waren und die sich auf den zusätzlichen Kredit für Q-Investments bezogen. Dann schlug er sich auch das aus dem Sinn und wählte über die direkte Amtsleitung die Nummer des Paradieses.

»Rossie, Süßer«, füsterte Avril, während ihre Zungenspitze sein Ohr erforschte, »du hast es zu eilig. Warte! Lieg still! Still! Laß dir Zeit!« Sie streichelte seine nackte Schulter, dann seine Wirbel, mit schwebenden Fingernägeln, scharf, aber dennoch sanft.

Heyward stöhnte - ein Gemisch von ausgekostetem süßesten Vergnügen, Schmerz und hinausgezögerter Erfüllung -, und er gehorchte.

Sie flüsterte wieder: »Glaub mir, es lohnt sich zu warten.«

Er wußte es. Es war immer so. Wieder fragte er sich, wie jemand, der so jung und so schön war, soviel gelernt haben, so emanzipiert sein konnte... so frei von Hemmungen... so herrlich erfahren.

»Noch nicht, Rossie! Liebling, noch nicht!Da! Das ist brav. Hab Geduld!«

Ihre Hände, geschickt und wissend, forschten weiter. Er ließ Verstand und Körper schweben, aus Erfahrung wissend, daß es das beste war, alles... ganz genau so zu tun... wie sie es sagte.

»Oh, das ist gut, Rossie. Ist das nicht wunderbar?«

Er hauchte: »Ja. Ja!«

»Bald, Rossie. Ganz bald.«.

Neben ihm, über die beiden dicht aneinandergelegten Kissen des Bettes, ergoß sich Avrils rotes Haar. Ihre Küsse berauschten ihn. Er atmete ihren süßen, betörenden Duft ein. Ihr herrlicher gertenschlanker, hingebungsvoller Leib war unter ihm. Das, schrien seine Sinne, war das Beste im Leben, auf Erden und im Himmel, hier, jetzt.

Die einzige bittersüße Traurigkeit dabei war der Gedanke daran, daß er so viele Jahre gewartet hatte, um es zu finden.

Wieder suchten Avrils Lippen die seinen und fanden sie.

Sie drängte ihn: -»Jetzt, Rossie! Jetzt, Süßer! Jetzt!«.

Das Schlafzimmer war, wie Heyward bei seiner Ankunft bemerkt hatte, genormtes Hilton - sauber, zweckmäßig-bequem, eine charakterlose Schachtel. Ein Wohnraum des gleichen Genres lag auf der anderen Seite der Tür; auch diesmal, wie bei den vorangegangenen Treffen, hatte Avril eine Suite genommen.

Seit dem späten Nachmittag waren sie hier. Nach der Umarmung hatten sie ein wenig geschlafen, waren aufgewacht, hatten sich wieder geliebt - wenn auch diesmal nicht bis zum Höhepunkt - und hatten dann noch eine Stunde geschlummert. Jetzt zogen beide sich an. Heywards Uhr zeigte acht.

Er war erschöpft, körperlich ausgelaugt. Mehr als alles andere wollte er nach Hause und ins Bett - allein. Er fragte sich, wie bald er sich mit einigem Anstand davonmachen konnte.

Avril war im Wohnzimmer gewesen und hatte telefoniert. Als sie wieder hereinkam, sagte sie: »Ich habe das Abendessen für uns bestellt, Süßer. Es wird gleich hier sein.«

»Das ist großartig, meine Liebe.«

Avril hatte einen durchsichtigen Unterrock und einen Slip angezogen. Keinen BH. Sie fing an, ihr langes Haar zu bürsten, das in Unordnung geraten war. Er saß auf dem Bett und beobachtete sie, trotz seiner Müdigkeit der Tatsache bewußt, daß jede ihrer Bewegungen geschmeidig und sinnlich war. Verglichen mit Beatrice, die er täglich sah, war Avril so jung. Plötzlich kam er sich niederschmetternd alt vor.

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Avril sagte: »Machen wir den Champagner auf.«

Er stand auf einer Anrichte in einem Eiskübel. Heyward hatte ihn schon vorhin bemerkt. Inzwischen war das Eis zum größten Teil geschmolzen, aber die Flasche war noch kalt. Ungeschickt hantierte er an Draht und Korken.

»Nein, nicht den Korken bewegen«, wies Avril ihn an. »Halt die Flasche schief, halt dann den Korken fest und dreh die Flasche.«

Es ging ganz leicht. Sie wußte so viel.

Sie nahm ihm die Flasche ab und schenkte zwei Gläser ein. Er schüttelte den Kopf. »Du weißt, daß ich nicht trinke, Liebes.«

»Probier's mal, man fühlt sich herrlich jung danach.« Sie reichte ihm ein Glas. Als er kapitulierte und es nahm, schoß ihm die Frage durch den Kopf, ob sie ihn wohl durchschaut hatte.

Nach zweimaligem Nachfüllen, als der Zimmerservice das Abendessen brachte, fühlte er sich tatsächlich jünger.

Als der Kellner gegangen war, sagte Heyward: »Du hättest mich zahlen lassen sollen.« Vor ein paar Minuten hatte er seine Brieftasche gezogen, aber Avril hatte abgewinkt und die Rechnung abgezeichnet.

»Warum, Rossie?«

»Weil du mir erlauben mußt, dir wenigstens etwas von deinen Auslagen zu ersetzen - die Hotelrechnungen, die Flugkarte hierher von New York.« Er hatte erfahren, daß Avril ein Apartment in Greenwich Village hatte. »Das ist zuviel, du sollst nicht alles allein bezahlen.«

Sie sah ihn forschend an, dann lachte sie silberhell. »Ja, glaubst du denn, daß ich das alles bezahle?« Sie schloß mit einer Handbewegung die ganze Suite ein. »Von meinem Geld? Rossie, Baby, du mußt verrückt sein!«

»Aber wer zahlt es denn?«

»Supranational natürlich, Dummchen! Das hier wird denen alles in Rechnung gestellt - die Suite, das Essen, mein Flugticket, meine Zeit.« Sie ging zu seinem Stuhl hinüber und küßte ihn; ihre Lippen waren voll und feucht. »Mach dir doch darüber keine Gedanken!«

Er saß ganz still, zerschmettert und schweigend, und verarbeitete den Schock, den das eben Gesagte ihm versetzt hatte. Die besänftigende Wirkung des Champagners lief noch durch seinen Körper, aber in seinem Kopf war es klar.

»Meine Zeit.« Das tat weher als alles andere. Bis jetzt hatte er angenommen, daß Avril ihn nach den Bahamas angerufen, ein Treffen vorgeschlagen hatte, weil sie ihn mochte, weil sie genossen hatte - ebensosehr wie er selbst -, was zwischen ihnen geschehen war.

Wie hatte er so naiv sein können? Natürlich war das ganze Unternehmen von Quartermain arrangiert und von Supranational finanziert worden. Hätte sein gesunder Menschenverstand ihm das nicht sagen müssen? Oder hatte er sich abgeschirmt, indem er sich diese Fragen nicht stellte, weil er es nicht wissen wollte? Noch etwas: Wenn Avril für »meine Zeit« bezahlt wurde, was war sie dann? Eine Hure? Und wenn sie das war, was war dann Roscoe Heyward? Er schloß die Augen. Lukas 18, Vers 13, dachte er: Gott, sei mir Sünder gnädig!

Eines konnte er natürlich tun. Sofort. Er konnte feststellen, wieviel bisher ausgegeben worden war, und Supranational einen persönlichen Scheck über diese Summe zuschicken. Er begann zu rechnen, dann erkannte er, daß er keinerlei Vorstellung von Avrils Preis hatte. Sein Instinkt sagte ihm, daß er nicht gering sein konnte.

Überhaupt bezweifelte er, ob das klug sein würde. Sein Finanzdirektoren-Verstand argumentierte: Wie sollte Supranational die Zahlung verbuchen? Und realistischer noch: Er konnte das Geld praktisch nicht entbehren. Außerdem, was würde geschehen, wenn er Avril wieder brauchte? Und das würde bestimmt bald der Fall sein, wie er jetzt schon wußte.

Das Telefon läutete und füllte das kleine Zimmer mit Lärm. Avril meldete sich, sagte ein paar Worte und verkündete dann:

»Für dich.«

»Für mich?«

Als er den Hörer nahm, dröhnte eine Stimme: »Hallo, Roscoe!«

»Wo sind Sie, George?« fragte Heyward scharf.

»Washington. Hab' wirklich gute Nachricht über SuNatCo. Quartals-Gewinn- und Verlustrechnung. Sie lesen das morgen in den Zeitungen.«

»Sie rufen mich hier an, um mir das zu sagen?«

»Hab' Sie unterbrochen, wie?«

»Nein.«

Big George lachte glucksend. »Nur ein freundschaftlicher Anruf, alter Junge. Um mich zu überzeugen, daß alles richtig geregelt ist.«

Wenn er protestieren wollte, begriff Heyward, dann war jetzt der richtige Augenblick. Aber wogegen protestieren? Gegen die großzügige Überlassung von Avril? Oder wegen seiner eigenen akuten Verlegenheit?

Die dröhnende Telefonstimme übertönte seine Ratlosigkeit. »Der Q-Investments-Kredit schon okay?«

»Nicht ganz.«

»Lassen sich Zeit, was?«

»Nicht unbedingt. Es sind gewisse Formalitäten nötig.«

»Machen wir voran damit, oder ich muß 'ner anderen Bank das Geschäft geben und vielleicht auch etliches von Supranational dahin übertragen.«

Die Drohung war klar. Sie überraschte Heyward auch nicht, denn Druck und Zugeständnisse gehörten zum normalen Bankgeschäft.

»Ich tu mein Bestes, George.«

Ein Grunzen. »Avril noch da?«

» Ja.«

»Geben Sie sie mir.«

Heyward hielt Avril den Hörer hin. Sie lauschte kurz, sagte: »Ja, mach' ich«, lächelte und legte auf.

Sie ging in das Schlafzimmer, wo er einen Koffer aufschnappen hörte, und einen Augenblick später tauchte sie mit einem großen braunen Umschlag wieder auf. »Georgie sagte, ich soll dir das geben.«

Es war ein Umschlag von der gleichen Art und mit ähnlichen Siegeln wie jener andere, der die Anteils-Zertifikate von Q-Investments enthalten hatte.

»Von Georgie soll ich dir ausrichten, daß es eine Erinnerung an unseren Spaß in Nassau ist.«

Noch mehr Zertifikate? Er bezweifelte es. Er überlegte, ob er die Annahme verweigern sollte, aber die Neugier war stärker.

»Du sollst es erst zu Hause aufmachen«, sagte Avril.

Er ergriff die Gelegenheit und sah auf die Uhr. »Ich muß sowieso gehen, Liebes.«

»Ich auch. Ich fliege heute abend nach New York zurück.«

Sie sagten sich in der Suite auf Wiedersehen. Beim Abschied hätte es einen Moment der Verlegenheit geben können. Avrils Weltgewandtheit verhinderte das.

Sie schlang die Arme um ihn, und sie preßten sich eng aneinander, während sie flüsterte: »Du bist ein Schatz, Rossie. Wir sehen uns bald.«

Ungeachtet dessen, was er erfahren hatte, ungeachtet seiner momentanen Müdigkeit hatte sich seine Leidenschaft für sie nicht verändert. Und was »meine Zeit« auch kosten mochte, eines stand fest: Avril bot etwas dafür.

Roscoe Heyward nahm ein Taxi vom Hotel zur Zentrale der First Mercantile American. In der Vorhalle des Bankgebäudes hinterließ er, daß er in fünfzehn Minuten Wagen und Fahrer für die Heimfahrt wünsche. Dann fuhr er mit dem Aufzug in den sechsunddreißigsten Stock und ging durch lautlose Korridore, vorbei an verlassenen Schreibtischen, zu seiner Büro-Suite.

An seinem Schreibtisch öffnete er den versiegelten Umschlag, den Avril ihm gegeben hatte. In einem zweiten Päckchen befanden sich, jedes Blatt mit einem Bogen Seidenpapier geschützt, zwölf vergrößerte Fotografien.

In jener zweiten Nacht auf den Bahamas, als die Mädchen und Männer nackt in Big Georges Schwimmbad gebadet hatten, war der Fotograf diskret unsichtbar geblieben. Vielleicht hatte er ein Teleobjektiv benutzt, möglicherweise hatte er sich hinter Büschen des üppigen Gartens versteckt. Er mußte einen hochempfindlichen Film benutzt haben, denn kein Blitzlicht hatte ihn verraten. Das war auch gleichgültig. Dagewesen war der Fotograf jedenfalls.

Die Fotos zeigten Krista, Rhetta, Mondstrahl, Avril und Harold Austin beim Entkleiden und unbekleidet. Roscoe Heyward kam vor, umgeben von den nackten Mädchen, sein Gesicht eine Studie in Faszination. Man sah Heyward, wie er Avrils Kleid und BH löste; ein anderes Bild zeigte ihn, wie er sie küßte, die Hände um ihre Brüste gewölbt. Zufall oder Absicht, von Vizepräsident Stonebridge war nur der Rücken zu sehen.

Technisch und künstlerisch waren alle Fotos von hoher Qualität, und offensichtlich war der Fotograf kein Amateur. Aber, dachte Heyward, G. G. Quartermain war es gewohnt, für das Beste zu zahlen.

Bemerkenswert: Auf keinem der Fotos erschien Big George.

Die Fotos waren allein durch ihr Vorhandensein ein Schock für Heyward. Warum hatte man sie geschickt? War das eine Drohung? Oder ein plumper Scherz? Wo waren die Negative und andere Abzüge? Er begann zu begreifen, daß Quartermain ein komplexer, sprunghafter, vielleicht sogar gefährlicher Mann war.

Andererseits ertappte Heyward sich dabei, daß er, trotz seines Schocks, fasziniert war. Während er die Fotos betrachtete, fuhr er sich unbewußt mit feuchter Zunge über die Lippen. Sein erster Impuls war es, sie zu vernichten. Aber er brachte es nicht fertig.

Erschrocken stellte er fest, daß er schon fast eine halbe Stunde an seinem Schreibtisch saß.

Die Fotos mit nach Hause zu nehmen, war natürlich ausgeschlossen. Also wohin damit? Er packte sie sorgfältig wieder ein und schloß den Umschlag in ein Schreibtischfach ein, in dem er mehrere persönliche, private Akten verwahrte.

Aus alter Gewohnheit sah er in einem anderen Schubfach nach, wo Mrs. Callaghan manchmal aktuelle Papiere verwahrte, wenn sie abends seinen Schreibtisch aufräumte. Oben auf dem Packen in dem Schubfach lagen die Papiere, die sich auf den zusätzlichen Kredit für Q^nvestments bezogen. Er sagte sich: Warum verzögern? Warum schwanken? War es wirklich nötig, Patterton ein zweites Mal zu fragen? Der Kredit war solide, ebenso wie G. G. Quartermain und Supranational. Hey ward nahm die Papiere heraus, kritzelte ein »Genehmigt« darauf und setzte seine Initialen daneben.

Wenige Minuten später fuhr er in die Halle hinab. Sein Fahrer wartete, die Limousine stand draußen.

14

Nolan Wainwright hatte nur noch selten Gelegenheit, das städtische Leichenschauhaus von innen zu sehen. Das letzte Mal, erinnerte er sich, war es vor drei Jahren gewesen, als er die Leiche eines Bankwächters identifizierte, der bei einer Schießerei mit Bankräubern ums Leben gekommen war. Als Wainwright noch bei der Kriminalpolizei war, waren Besuche in Leichenhallen und das Betrachten der Opfer von Gewaltverbrechen notwendige und häufige Begleiterscheinungen seines Berufs. Aber auch damals hatte er sich nie daran gewöhnen können. Eine Leichenhalle, jede Leichenhalle, mit der Atmosphäre von Tod und Beinhaus, deprimierte ihn und verursachte ihm manchmal Übelkeit. So auch jetzt.

Der Sergeant der städtischen Kriminalpolizei, mit dem er hier verabredet war, marschierte gelassen neben Wainwright einen düsteren Gang entlang, ihre Schritte hallten auf den uralten, zersprungenen Fliesen. Der Wärter der Leichenhalle, der ihnen den Weg wies und aussah, als werde er bald selbst dort Kunde sein, stapfte ihnen lautlos auf seinen Gummisohlen voran.

Der Kriminalbeamte, der Timberwell hieß, war jung, zu dick, schlecht rasiert und hatte ungepflegtes Haar. Vieles hatte sich verändert, grübelte Wainwright, in den zwölf Jahren, seit er nicht mehr Leutnant der städtischen Polizei war.

»Angenommen, der Tote ist Ihr Mann. Wann haben Sie ihn dann zuletzt gesehen?« fragte Timberwell.

»Vor sieben Wochen. Anfang März.«

»Wo?«

»In einer kleinen Bar am anderen Ende der Stadt. Heißt >Easy Overc.«

»Kenn' ich. Danach noch von ihm gehört?«

»Nein.«

»'ne Ahnung, wo er wohnt?«

Wainwright schüttelte den Kopf. »Wollte er nicht sagen. Da hab' ich nicht weiter nachgebohrt.«

Nolan Wainwright konnte nicht einmal den Namen mit Bestimmtheit sagen. Der Mann hatte ihm einen genannt, aber das war mit ziemlicher Sicherheit ein falscher gewesen. Er hatte fair sein wollen und hatte nicht versucht, den richtigen herauszubekommen. Er wußte nicht mehr, als daß »Vic« ein ehemaliger Sträfling war, der Geld brauchte und bereit war, als Spitzel zu arbeiten.

Im Oktober des vergangenen Jahres hatte Alex Vandervoort auf Drängen Wainwrights die Genehmigung erteilt, einen Spitzel zu beschäftigen, der den Ursprung der gefälschten Keycharge-Bankkreditkarten aufspüren sollte, die damals in beunruhigender Zahl auftauchten. Wainwright streckte Fühler aus, ließ seine Verbindungen in der Innenstadt spielen, und später wurde durch weitere Zwischenträger ein Treffen zwischen ihm und Vic arrangiert; man wurde handelseinig. Das war im Dezember. Der Sicherheitschef erinnerte sich an das Datum, da Miles Eastins Prozeß in derselben Woche stattgefunden hatte.

In den folgenden Monaten kam es zu noch zwei weiteren Begegnungen zwischen Vic und Wainwright, jede in einer anderen, entlegenen Kneipe, und bei allen drei Zusammenkünften hatte Wainwright dem Mann Geld gegeben in der Hoffnung, irgendwann den Gegenwert dafür zu bekommen. Ihr Kommunikationssystem war einseitig. Vic konnte ihn anrufen und einen Treff an einem Ort seiner Wahl vereinbaren; Wainwright dagegen hatte keine Möglichkeit, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Aber er hatte Verständnis für diese Regelung und akzeptierte sie.

Wainwright hatte Vic nicht gemocht, aber das hatte er auch nicht erwartet. Der Exsträfling war durchtrieben, schlüpfrig, mit ewig tropfender Nase und anderen äußeren Zeichen des Rauschgiftkonsumenten. Er verachtete alles und jeden, Wainwright eingeschlossen, und hatte einen ständigen höhnischen Zug um den Mund. Aber bei ihrem dritten Treffen, im März, schien es, als sei er über eine Spur gestolpert.

Er hatte ein Gerücht gehört: Ein großer Posten falscher Zwanzig-Dollar-Scheine von hoher Qualität stand zur Verteilung durch Zwischenhändler und Männer bereit, die die Scheine tatsächlich auszugeben hatten. Man quatschte auch davon, daß irgendwo im Schatten - hinter den Verteilern - eine mächtige, leistungsfähige Organisation mit anderen Arbeitsgebieten stand, einschließlich Kreditkarten. Diese letzte Information war verschwommen, und Wainwright hatte den Verdacht, daß Vic sie erfunden hatte, um sich bei ihm Liebkind zu machen. Vielleicht aber auch nicht.

Vic ging mehr ins einzelne und behauptete, man habe ihm versprochen, ihn - am Rande - bei der Falschgeldaktion einzusetzen. Er meinte, wenn er den Auftrag bekam, wenn er sich das Vertrauen der Leute erwarb, könnte er mehr über die Organisation erfahren. Es gab ein, zwei Details, die Vic nach Wainwrights Ansicht aus Mangel an Kenntnis und Phantasie nicht erfunden haben konnte; sie überzeugten den BankSicherheitschef davon, daß die Information im wesentlichen authentisch war. Plausibel war auch der vorgeschlagene Aktionsplan.

Wainwright war immer von der Annahme ausgegangen, daß der Hersteller der gefälschten Keycharge-Bankkarten sich wahrscheinlich auch mit anderen Formen der Fälschung befaßte. Das hatte er Alex Vandervoort im Oktober auch mitgeteilt. Und wenn er sich nicht täuschte und es sich tatsächlich um eine großangelegte Organisation handelte, riskierte der Spitzel sein Leben, wenn er ertappt wurde. Er hatte sich verpflichtet gefühlt, Vic darauf hinzuweisen, und Vic hatte ihm mit einem höhnischen Grinsen gedankt.

Nach diesem Treffen hatte Wainwright nichts mehr von Vic gehört.

Am vergangenen Tag war er auf eine Kurzmeldung im »Times-Register« aufmerksam geworden; man hatte eine im Fluß treibende Leiche gefunden.

»Ich sollte Sie warnen«, erklärte Detective Sergeant Timberwell, »es ist kein hübscher Anblick, was von dem Kerl übriggeblieben ist. Die Ärzte schätzen, daß er eine Woche im Wasser gelegen hat. Außerdem ist viel Verkehr auf dem Fluß, und es sieht danach aus, als ob er in eine Schiffsschraube geraten ist.«

Noch immer dem alten Wärter folgend, betraten sie einen hell erleuchteten, langen Raum mit niedriger Decke. Die Luft war sehr kühl. Sie roch nach Desinfektionsmitteln. Die ihnen gegenüberliegende Wand sah aus wie ein riesiger Aktenschrank mit rostfreien Stahlschubfächern, jedes einzelne mit einer Nummer versehen. Hinter den Fächern summte eine Kühlanlage.

Der Wärter starrte kurzsichtig auf eine Liste, die an ein Schreibbrett geklammert war, ging dann zu einem Schubfach etwa in der Mitte des Raumes. Er zog, und die Lade glitt lautlos auf Nylonrollen heraus. Was sich unter dem Papierlaken abzeichnete, mochte ein gedunsener Körper sein.

»Das sind die Überreste, die Sie haben wollten, Chef«, sagte der alte Mann. Gleichgültig, als handele es sich um einen Sack Kartoffeln, den er da freilegte, schlug er das Laken zurück.

Wainwright bereute, hergekommen zu sein. Ihm wurde übel.

Die Leiche, die sie da sahen, hatte einmal ein Gesicht gehabt. Jetzt war keins mehr da. Das Treiben im Wasser, Verwesung und etwas anderes - wahrscheinlich eine Schiffsschraube, wie Timberwell gesagt hatte - hatten Fleisch bloßgelegt und zerfetzt. Aus der Masse ragten weiße Knochen hervor.

Schweigend betrachteten sie den Toten, dann fragte der Kriminalbeamte: »Sehen Sie was, das Sie identifizieren können?«

Wainwright nickte. Er hatte die Seite des Kopfes gesehen, wo das, was vom Haaransatz noch übrig war, in den Hals überging. Der etwa eigroße rote Fleck - zweifellos ein Muttermal - war noch deutlich zu sehen. Er war Wainwright gleich bei der ersten Begegnung mit Vic aufgefallen. Die Lippen, die sich so oft höhnisch verzogen hatten, waren nicht mehr da, aber es gab für ihn keinen Zweifel daran, daß es sich um die Leiche seines Geheimagenten handelte. Er teilte es Timberwell mit; der nickte.

»Wir haben ihn selbst schon nach Fingerabdrücken identifiziert. Besonders klar waren sie nicht, aber es reichte.« Der Beamte nahm ein Notizbuch heraus und schlug es auf. »Sein wirklicher Name, ob Sie's glauben oder nicht, war Clarence Hugo Levinson. Er führte noch mehrere andere Namen, und er hat ein langes Vorstrafenregister, meistens Kleinkram.«

»In der Zeitung stand, daß er nicht ertrunken, sondern an Stichwunden gestorben ist.«

»Das hat die Obduktion ergeben. Davor war er gefoltert worden.«

»Wie wollen Sie das wissen?«

»Dem haben sie die Eier zerquetscht. Im Autopsiebericht steht, daß sie offenbar in eine Art Schraubstock gelegt worden sind, daß der Schraubstock zugedreht worden ist, bis sie platzten. Wollen Sie sehen?«

Ohne die Aufforderung abzuwarten, zog der Wärter den Rest des Lakens weg.

Obwohl die Genitalien im Wasser geschrumpft waren, hatte die Autopsie genug bloßgelegt, um Timberwells Worte zu bestätigen. Wainwright würgte es in der Kehle. »O Gott.« Er gab dem alten Mann ein Zeichen. »Decken Sie ihn zu.«

Dann drängte er Timberwell: »Machen wir, daß wir hier rauskommen.«

Bei starkem schwarzen Kaffee in einem winzigen Restaurant, einen halben Straßenblock von der Leichenhalle entfernt, murmelte Detective Sergeant Timberwell: »Armer Hund! Was er auch auf dem Kerbholz hatte, das hat keiner verdient.« Er holte eine Zigarette hervor, steckte sie an und bot Wainwright die Schachtel an. Der schüttelte den Kopf.

»Kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist«, bemerkte Timberwell. »Man stumpft mit der Zeit ab. Aber es gibt Sachen, an die gewöhnt man sich nie.«

»Ja.« Wainwright dachte an seine eigene Verantwortung für das, was Clarence Hugo Levinson alias Vic zugestoßen war.

»Ich brauche eine schriftliche Aussage von Ihnen, Mr. Wainwright. Zusammenfassung dessen, was Sie mir über Ihre Vereinbarung mit dem Verstorbenen erzählt haben. Wenn's Ihnen recht ist, gehen wir, wenn wir den Kaffee ausgetrunken haben, zur Wache und setzen sie auf.«

»Gut.«

Der Beamte blies einen Rauchring und trank einen Schluck Kaffee. »Die Kreditkarten-Fälschung - wie steht's jetzt damit?«

»Es tauchen immer mehr auf. An manchen Tagen is t es wie 'ne Epidemie. Es kostet uns und andere Banken eine Stange Geld.«

Skeptisch sagte Timberwell: »Sie meinen, es kostet die Öffentlichkeit Geld. Banken wie Ihre geben die Verluste weiter. Deshalb regt sich Ihr Management auch längst nicht so darüber auf.«

»Da kann ich Ihnen leider nicht widersprechen.« Wainwright dachte an seine verlorenen Schlachten im Kampf um einen größeren Etat für den Schutz der Bank vor Verbrechen.

»Taugen die Karten was?«

»Sie sind tadellos.«

Der Kriminalbeamte nickte nachdenklich. »Dasselbe behauptet der Secret Service auch von den falschen Banknoten, die hier in der Stadt im Umlauf sind. Es sind viele. Aber das wissen Sie wohl selber.«

»Ja, ich weiß.«

»Vielleicht hatte der arme Kerl recht mit seiner Vermutung, daß beides aus derselben Quelle stammt.«

Beide schwiegen, dann sagte der Kriminalbeamte plötzlich: »Ich sollte Sie warnen. Vielleicht haben Sie selbst schon dran gedacht.«

Wainwright wartete.

»Wer den gefoltert hat, der hat ihn zum Sprechen gebracht. Sie haben ihn gesehen. Unmöglich, daß er den Mund gehalten hat. Sie können also davon ausgehen, daß er über alles gesungen hat, auch über das Geschäft mit Ihnen.«

»Daran hab' ich auch schon gedacht.«

Timberwell nickte. »Ich glaube nicht, daß Sie persönlich in Gefahr sind, aber für die Leute, die Levinson umgebracht haben, sind Sie Gift. Wenn einer von denen auch nur dieselbe Luft mit Ihnen atmet und sie kommen dahinter, ist er tot - und zwar auf üble Weise.«

Wainwright wollte etwas sagen, aber Timberwell kam ihm zuvor.

»Hören Sie, ich sage nicht, daß Sie keinen neuen Spitzel losschicken sollen. Das ist Ihre Sache, und ich will davon nichts wissen - jedenfalls jetzt nicht. Aber das eine rate ich Ihnen: Wenn Sie's tun, seien Sie supervorsichtig und lassen Sie sich nie mit dem Kerl sehen. Das ist das mindeste, was Sie ihm schulden.«

»Vielen Dank für die Warnung«, sagte Wainwright. Er dachte noch immer an das, was er unter dem weggezogenen Laken gesehen hatte. »Aber ich glaube kaum, daß es einen anderen geben wird.«

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