Obwohl es nicht leichter geworden war mit ihrem Wochengehalt von 98 Dollar als Bankkassiererin (nach Abzügen blieben ihr 83 Dollar), gelang es Juanita doch Woche um Woche, sich und Estela über Wasser zu halten und Estelas Kindergarten zu bezahlen. Juanita hatte sogar - bis August - die Schulden, die ihr Mann ihr hinterlassen hatte, bei der Finanzierungsgesellschaft um ein Geringes verkleinert. Die Finanzierungsfirma war ihr entgegengekommen und hatte einen neuen Vertrag mit kleineren Monatsraten ausgestellt; jetzt liefen sie allerdings - bei höheren Zinsen - noch über drei Jahre.
In der Bank hatte man Juanita nach den falschen Anschuldigungen im Oktober des vergangenen Jahres rücksichtsvoll behandelt, alle kamen ihr außerordentlich freundlich entgegen, doch hatte sie sich an niemanden enger angeschlossen. Vertraulichkeit fiel ihr nicht leicht. Sie begegnete allen Menschen mit einer instinktiven Vorsicht, die zum Teil angeboren war, zum Teil aus Erfahrung herrührte. Der Mittelpunkt ihres Lebens, der Höhepunkt, dem jeder Arbeitstag entgegenführte, waren die Abendstunden, die sie mit Estela verbrachte.
Auch jetzt waren sie beisammen.
In der Küche ihrer winzigen, aber gemütlichen Wohnung machte Juanita das Abendessen, assistiert - und manchmal behindert - von der Dreijährigen. Sie hatten zusammen einen fertig gemischten Teig ausgerollt und geformt, Juanita, um damit eine Fleischpastete abzudecken, während Estela mit ihren winzigen Fingern ein geraubtes Stück Teig knetete.
»Mammi! Guck mal, ich hab' ein Zauberschloß gemacht.«
Sie lachten zusammen. »jQué lindo, mi cielo!« sagte Juanita liebevoll. »Wir schieben das Schloß mit der Pastete in den Backofen. Dann wird beides verzaubert.«
Für ihre Pastete hatte Juanita Rindfleisch genommen und es mit Zwiebeln, einer Kartoffel, frischen Wurzeln und einer Büchse Erbsen vermischt. Das Gemüse würde die kleine Fleischportion strecken; eine größere konnte Juanita nicht erschwingen. Aber sie kochte mit Begabung und Phantasie, und die Pastete würde gut schmecken und nahrhaft sein.
Sie war schon seit zwanzig Minuten im Backofen und mußte noch zehn Minuten drinbleiben. Juanita las Estela aus einer spanischen Übersetzung von Hans Christian Andersen vor, als es klopfte. Sie unterbrach und lauschte unsicher zur Tür hin. Besucher waren immer selten; ganz ungewöhnlich aber war es, daß jemand zu so später Stunde kam. Nach ein paar Augenblicken wiederholte sich das Klopfen. Sie bedeutete Estela, sitzen zu bleiben, dann erhob sie sich ein wenig nervös und ging langsam zur Tür.
Ihre Wohnung war die einzige im obersten Stock eines früheren Einfamilienhauses, das vor langer Zeit in verschiedene Mietwohnungen unterteilt worden war. Die Sanierer von Forum East behielten die Unterteilungen des Gebäudes bei, modernisierten und reparierten aber. Die Sanierung allein änderte jedoch nichts daran, daß die Gegend von Forum East berüchtigt war wegen ihrer hohen Kriminalität; besonders zahlreich waren Straßenüberfälle und Einbrüche. So schlossen sich die meisten Einwohner nachts ein und verriegelten die Türen, cbwohl die einzelnen Wohnungskomplexe voll besetzt waren. In Juanitas Haus gab es eine wuchtige Eingangstür, nur ließen die anderen Mieter sie immer offen.
Unmittelbar vor Juanitas Wohnung befand sich ein enger Treppenabsatz. Das Ohr an die Tür gepreßt, rief sie: »Wer ist da?« Keine Antwort, aber das Klopfen wiederholte sich, leise, aber beharrlich.
Sie überzeugte sich, daß die Sicherheitskette vorgelegt war, dann schloß sie die Tür auf und öffnete sie einen Spalt - gerade so weit, wie die Kette es zuließ.
Zuerst konnte sie wegen der trüben Treppenbeleuchtung nichts erkennen, dann wurde ein Gesicht vorgestreckt, und eine Stimme fragte: »Juanita, darf ich mit Ihnen sprechen? Ich muß es - bitte! Darf ich hereinkommen?«
Sie war verblüfft. Miles Eastin. Aber weder die Stimme noch die Züge gehörten dem Eastin, den sie gekannt hatte.
Das Gesicht, das sie jetzt besser sehen konnte, war blaß und ausgemergelt, die Sprache war unsicher und klang flehend.
Sie versuchte Zeit zu gewinnen. »Ich dachte, Sie wären im Gefängnis.«
»Man hat mich entlassen. Heute.« Er korrigierte sich. »Ich habe Bewährung bekommen.«
»Warum kommen Sie her?«
»Ich wußte noch, wo Sie wohnen.«
Sie schüttelte den Kopf, die Sicherheitskette blieb eingeklinkt. »Danach habe ich nicht gefragt. Warum kommen Sie zu mir!«
»Weil ich monatelang, die ganze Zeit im Gefängnis, an nichts anderes gedacht habe, als Sie zu besuchen, mit Ihnen zu sprechen, Ihnen zu erklären... «
»Es gibt nichts zu erklären.«
»O doch! Juanita, ich flehe Sie an. Schicken Sie mich nicht weg! Bitte!«
Aus dem Zimmer hinter ihr kam Estelas helle Stimme: »Mammi, wer ist da?«
»Juanita«, sagte Miles Eastin, »Sie brauchen keine Angst zu haben - Sie nicht, Ihr kleines Mädchen nicht. Ich habe nichts bei mir außer diesem hier.« Er hielt einen kleinen verbeulten Koffer hoch. »Das sind nur die Sachen, die sie mir bei der Entlassung wiedergegeben haben.«
»Tja...« Juanita schwankte. Trotz des unguten Gefühls war sie neugierig. Warum wollte Miles sie in Wirklichkeit sprechen? Im Zweifel, ob sie das noch bereuen werde, schob sie die Tür etwas weiter zu und nahm die Kette aus der Verriegelung.
»Danke.« Er trat zögernd ein, als fürchte er auch jetzt noch, daß Juanita sich anders besinnen könnte.
»Hallo«, sagte Estela, »bist du ein Freund von meiner Mammi?«
Einen Augenblick lang schien Eastin aus dem Konzept zu geraten, dann erwiderte er: »Nicht immer. Ich wollt', ich wär's gewesen.«
Das kleine dunkelhaarige Mädchen musterte ihn. »Wie heißt du?«
»Miles.«
Estela kicherte. »Du bist aber dünn.«
»Ja, ich weiß.«
Jetzt, wo er im Licht stand, erschrak Juanita noch mehr über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. In den acht Monaten, die sie Miles nicht gesehen hatte, war er so hager geworden, daß seine Wangen eingesunken waren und er nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Der zerknitterte Anzug schlotterte ihm um die Glieder, als sei er für einen Mann von doppelter Breite gemacht. Er sah müde und geschwächt aus. »Darf ich mich setzen?«
»Ja.« Juanita zeigte auf einen Korbstuhl; sie selbst blieb aber vor ihm stehen. Sie sagte fast anklagend: »Sie haben im Gefängnis nicht gut gegessen.«
Er nickte leicht, zum ersten Mal mit einem kleinen Lächeln. »Geschlemmt wird da nicht gerade. Ich glaube, man sieht's.«
»Si, me dt cuenta. Man sieht's.«
Estela fragte: »Bist du zum Essen gekommen? Mammi hat eine Pastete gemacht.«
Er zögerte. »Nein.«
»Haben Sie heute schon etwas gegessen?« verlangte Juanita
»Heute morgen. An der Bushaltestelle habe ich was gegessen.« Der Duft der fast fertig gebackenen Pastete wehte aus der Küche herein. Instinktiv wandte Miles den Kopf.
»Dann essen Sie mit uns.« Sie legte noch ein Gedeck auf den kleinen Tisch, an dem sie mit Estela zu essen pflegte. Sie handelte wie selbstverständlich. In jedem puertorikanischen Haushalt - auch im ärmsten - verlangte der Brauch, daß das vorhandene Essen geteilt wurde.
Während sie aßen, schwatzte Estela, und Miles beantwortete ihre Fragen; ein Teil seiner anfänglichen Spannung schien von ihm abzufallen. Ein paarmal sah er sich in dem bescheiden eingerichteten, aber freundlichen Apartment um. Juanita hatte ein Talent dafür, sich nett einzurichten; nähen und dekorieren machte ihr Spaß. So hatte sie die alte, gebrauchte Bettcouch, die im Wohnzimmer stand, mit einem fröhlich weiß, rot und gelb gemusterten Baumwollstoff überzogen. Der Rohrstuhl, auf dem Miles vorher gesessen hatte, war einer von zweien, die sie billig erstanden und feuerrot angestrichen hatte. Für die Fenster hatte sie einfache, billige Vorhänge aus hellgelbem Stoff genäht. Ein naives Bild und mehrere Reiseposter schmückten die Wände.
Juanita hörte den beiden zu, sagte aber selbst kaum ein Wort; sie war immer noch von Zweifel und Argwohn erfüllt. Warum war Miles in Wahrheit gekommen? Wollte er ihr wieder neuen Kummer machen? Ihre Erfahrung sagte ihr, daß es so kommen könnte. Aber im Augenblick schien er harmlos zu sein -körperlich jedenfalls schwach, ein wenig verängstigt, möglicherweise besiegt. Juanita hatte genügend Menschenkenntnis, um diese Symptome zu erkennen.
Aber sie empfand keine Feindseligkeit gegen ihn. Miles hatte versucht, ihr die Schuld an einem Diebstahl zuzuschieben, den er selbst begangen hatte, aber seither war viel Zeit vergangen. Selbst damals, als seine Tat aufgedeckt wurde, hatte sie in erster Linie Erleichterung empfunden, nicht Haß. Jetzt wollte Juanita für sich und Estela nichts anderes, als in Ruhe gelassen zu werden.
Miles Eastin seufzte, als er den Teller wegschob. Er hatte nichts darauf zurückgelassen. »Danke. Das war das schönste Essen seit langer Zeit.«
»Was werden Sie jetzt unternehmen?« fragte Juanita.
»Weiß nicht. Morgen fange ich an, mir einen Job zu suchen.« Er holte tief Luft und schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber sie hob abwehrend die Hand.
»Estelita, vamos, amorcito. Ins Bett!«
Wenig später, gewaschen, gekämmt und in einem winzigen rosa Pyjama, erschien Estela, um gute Nacht zu sagen. Große, schimmernde Augen betrachteten Miles ernst. »Mein Daddy ist weggegangen. Gehst du auch weg?«
»Ja, schon bald.«
»Das hab' ich gedacht.« Sie hielt ihm das Gesicht chen zum Gutenachtkuß hin.
Nachdem sie Estela zu Bett gebracht hatte, machte Juanita die Tür des Schlafzimmers hinter sich zu. Sie nahm Miles gegenüber Platz, die Hände im Schoß gefaltet. »So«, forderte sie ihn auf, »reden Sie.«
Er zögerte, befeuchtete die Lippen. Jetzt, wo der Augenblick gekommen war, schien er unentschlossen, der Worte nicht mächtig. Schließlich brachte er heraus: »Die ganze Zeit, seit sie mich... eingesperrt haben..., wollte ich sagen, daß es mir leid tut. Alles, was ich getan habe, tut mir leid, aber am meisten das, was ich Ihnen angetan habe. Ich schäme mich. Ich weiß beinahe nicht mehr, wie es passiert ist. Das heißt, ich weiß es schon...«
Juanita zuckte die Achseln. »Was geschehen ist, ist geschehen. Spielt es jetzt noch eine Rolle?«
»Für mich schon. Bitte, Juanita - ich möchte Ihnen erzählen,
wie es dazu kam.«
Dann, wie eine befreite Fontäne, sprudelten die Worte aus ihm heraus. Er sprach von seinem erwachten Gewissen, von seiner Reue, vom Wahnsinn des vergangenen Jahres mit Glücksspiel und Schulden, wie es ihn besessen hatte wie ein Fieber, das alle sittlichen Werte und jedes Urteil verzerrte. Wenn er jetzt zurückdachte, gestand er Juanita, dann war ihm, als hätte ein anderer von seinem Körper und Geist Besitz ergriffen. Er sprach offen von seiner Schuld, die Bank bestohlen zu haben. Am schlimmsten aber, schwor er, war das, was er ihr angetan hatte oder anzutun versucht hatte. Seine Scham darüber, erklärte er aufgewühlt, habe ihn jeden Tag im Gefängnis heimgesucht und werde nie mehr von ihm weichen.
Als Miles zu reden begann, hatte Juanita zunächst voller Argwohn zugehört. Er legte sich auch nicht gänzlich, während Miles fortfuhr; das Leben hatte sie zu oft getäuscht und um ihr Recht betrogen, als daß sie noch rückhaltlos an irgend etwas hätte glauben können. Doch sie glaubte aus seinen Worten herauszuhören, daß es ihm ernst mit dem Gesagten war, und ein Gefühl des Mitleids überwältigte sie.
Sie ertappte sich dabei, wie sie Miles mit Carlos verglich, dem Mann, der sie verlassen hatte. Carlos war schwach gewesen; Miles auch. Doch in gewisser Weise sprach Miles' Bereitschaft, zurückzukehren und ihr reuig gegenüberzutreten, für eine Stärke und Männlichkeit, die Carlos nie besessen hatte.
Plötzlich ging ihr das Komische der Sache auf: Beide Männer in ihrem Leben waren - aus welchem Grund auch immer - mit Makeln behaftet und wenig imponierend. Sie waren, wie sie selbst, Menschen, die im Leben zu kurz gekommen waren. Sie hätte beinahe gelacht, unterdrückte es aber, da Miles es nie verstehen würde.
»Juanita, ich möchte Sie etwas fragen«, sagte er gerade ernst. »Können Sie mir verzeihen?«
Sie sah ihn an.
»Und wenn Sie es tun, wollen Sie es mir dann auch sagen?«
Das lautlose Lachen erstarb; Tränen stiegen ihr in die Augen. Das verstand sie. Sie war als Katholikin geboren, und wenn sie heutzutage auch wenig mit der Kirche zu tun hatte, so verstand sie doch die Tröstung der Beichte und der Absolution. Sie erhob sich.
»Miles«, sagte Juanita. »Stehen Sie auf. Sehen Sie mich an.«
Er gehorchte, und sie sagte mit sanfter Stimme: »Has sufrido bastante. Ja, ich verzeihe dir.«
Die Muskeln seines Gesichts zuckten und arbeiteten. Dann hielt sie ihn in den Armen, während er weinte.
Als Miles sich gefaßt hatte und sie wieder saßen, dachte Juanita an das im Augenblick Naheliegendste.
»Wo werden Sie heute nacht bleiben?«
»Ich weiß nicht. Ich finde schon was.«
Sie überlegte eine Weile, dann sagte sie entschlossen: »Sie können hierbleiben, wenn Sie wollen.« Als sie seine Überraschung sah, fügte sie rasch hinzu: »Sie können in diesem Zimmer schlafen, nur heute nacht. Ich werde mich im Schlafzimmer bei Estela einrichten. Unsere Tür wird verschlossen sein.« Sie wollte jedes Mißverständnis ausschalten.
»Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht«, sagte er, »dann würde ich gern bleiben. Und Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
Er sagte ihr nicht, aus welchem Grund sie in Wirklichkeit nichts zu fürchten hatte: Daß es andere Probleme für ihn gab -psychologische und sexuelle -, denen er sich noch nicht gestellt hatte. Miles wußte bisher nur, daß sein Verlangen nach Frauen sich in Nichts aufgelöst hatte wegen wiederholter homosexueller Beziehungen zwischen ihm und Karl, seinem Beschützer im Gefängnis. Er fragte sich, ob er jemals wieder ein Mann sein würde - in sexueller Hinsicht.
Wenig später, als sich bei ihnen beiden die Müdigkeit bemerkbar machte, verschwand Juanita im Nebenzimmer.
Am Morgen hörte sie durch die geschlossene Schlafzimmertür, wie Miles sich rührte. Als sie eine halbe Stunde später aus dem Schlafzimmer kam, war er nicht mehr da.
Ein Zettel lag auf dem Wohnzimmertisch.
Juanita -
danke aus ganzem Herzen
Miles
Während sie für sich und Estela das Frühstück machte, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß sie sein Fortgehen bedauerte.
Seitdem ihm das Direktorium der FM A vor viereinhalb Monaten die Genehmigung für die Expansion der Sparabteilung und der Bankfilialen erteilt hatte, war Alex Vandervoort nicht müßig gewesen. Planungs- und Arbeitskonferenzen mit fremden Beratern und Unternehmern hatten fast täglich stattgefunden. Die Arbeit ging nachts, an Wochenenden und Feiertagen weiter, immer wieder angetrieben von Alex' Forderung, das Programm müsse vor Ende des Sommers starten und bis zur Herbstmitte auf vollen Touren laufen.
Die Reorganisation der Sparabteilung war in dieser Frist noch am leichtesten zu erreichen. Das meiste, was Alex verwirklichen wollte - einschließlich der Schaffung von vier neuen Arten von Sparkonten, mit höherem Zins und verschiedenen Bedürfnissen angepaßt -, war Thema früherer, von ihm veranlaßter Studien gewesen. Es galt nur noch, sie in die Wirklichkeit umzusetzen. Das Neuland, das betreten wurde, machte ein kräftiges Werbeprogramm erforderlich, um neue Sparer anzulocken, und das wurde - Interessenkonflikt oder nicht - von der AustinAgentur schnell und gekonnt verwirklicht. Das Thema der Sparkampagne lautete:
WENN SIE SPAREN, GIBT IHNEN DIE FIRST MERCANTILE AMERICAN NOCH GELD DAZU
Jetzt, Anfang August, verkündeten doppelseitige Anzeigen in den Zeitungen die Vorzüge des von der FMA vorgeschlagenen Sparprogramms. Sie zeigten auch, wie sich achtzig Filialen der Bank über den Staat verteilten, wo jeden, der ein neues Konto eröffnete, Geschenke, Kaffee und »höfliche Beratung in allen finanziellen Fragen« erwarteten. Der Wert des Geschenks richtete sich nach der Höhe der ersten Einzahlung; der Sparer mußte sich verpflichten, das Geld eine bestimmte Zeit auf dem Konto zu belassen. Werbespots in Radio und Fernsehen hämmerten den Leuten eine entsprechende Botschaft ein.
Was die neuen Filialen betraf - »unsere Geldläden«, wie Alex sie nannte -, so wurden die ersten zwei Ende Juli eröffnet, drei weitere in den ersten Augusttagen, die restlichen vier sollten noch vor dem 1. September den Betrieb aufnehmen. Da sie sämtlich in gemieteten Räumen untergebracht waren, was Umbau, nicht Neubau bedeutete, war man auch hier glatt mit der Arbeit vorangekommen.
Die Geldläden - ein Name, der sich rasch durchsetzte erregten anfangs die meiste Aufmerksamkeit. Sie erbrachten sogar noch mehr Publicity, als Alex Vandervoort, die PR-Abteilung der Bank und die Austin Advertising Agency vorausgesehen hatten. Und der Initiator von all dem - in seiner Bedeutung aufsteigend wie ein Komet - war Alex.
Er hatte es weder geahnt noch beabsichtigt. Es passierte einfach.
Eine Reporterin der Morgenzeitung »Times-Register«, die über die Eröffnung der neuen Filialen berichten sollte, entdeckte bei der Suche nach Background-Material im Zeitungsarchiv ein paar alte Artikel über das »Bank-in« vom vergangenen Februar zugunsten von Forum East, in denen auch über die Rolle gemutmaßt wurde, die Alex bei der Affäre gespielt hatte. In einem Gespräch mit dem Ressortchef für Features und Reportagen entstand der Gedanke, daß Alex gutes Material für eine längere Geschichte abgeben könnte. Dieser Gedanke erwies sich als richtig.
Wenn Sie an moderne Banker denken (schrieb die Reporterin später), dann dürfen Sie sich keine feierlichen, übervorsichtigen Funktionäre im konservativen dunkelblauen Zweireiher vorstellen, die die Stirn runzeln und Ihnen eine abschlägige Antwort erteilen. Denken Sie lieber an Alexander Vandervoort.
Mr. Vandervoort, der ein großes Tier in unserer eigenen First Mercantile American Bank ist, sieht schon mal gar nicht wie ein Banker aus. Seine Anzüge sind von der Herrenmoden-Seite im »Esquire«, er gibt sich wie Johnny Carson, und wenn es an die Kreditvergabe geht, besonders bei kleineren Darlehen, ist er - mit seltenen Ausnahmen -darauf programmiert, das Wörtchen »Ja« auszusprechen. Doch er hält auch viel von Sparsamkeit und findet es bedauerlich, daß die meisten von uns nicht mehr so vernünftig mit Geld umgehen können wie unsere Eltern und Großeltern.
Außerdem ist Alexander Vandervoort führend in moderner Banktechnologie, und etliches davon ist diese Woche in die Vororte unserer Stadt eingezogen.
Es gibt einen New Look im Bankgeschäft, nämlich Bankfilialen, die nicht mehr wie Banken aussehen - was gut paßt, denn treibende Kraft ist Mr. Vandervoort (der, wie gesagt, nicht wie ein Banker aussieht).
Ich bin in dieser Woche mit Alexander Vandervoort losgezogen, um mir mal anzusehen, was er als die »Jedermanns-Bank der Zukunft« bezeichnet, »die die FMA heute schon hat Wirklichkeit werden lassen«.
Der PR-Chef der Bank, Dick French, hatte alles organisiert. Die Reporterin, eine etwas füllige Blondine mittleren Alters namens Jill Peacock, war keine Pulitzer-Journalistin, aber die Geschichte interessierte sie, und sie stand der Sache positiv gegenüber.
Alex und Miss Peacock standen in einer der neuen Bankfilialen, die sich in einem vorstädtischen Einkaufszentrum befand. Sie war nicht größer als irgendein Drugstore, hell erleuchtet und freundlich eingerichtet. Die wichtigsten Einrichtungsgegenstände waren zwei automatische Ducotel-Kassierer aus Edelstahl, die die Kunden selbst bedienten, und ein in einer Art Kabine aufgestelltes Kabelfernsehgerät. Die Auto-Kassierer, erklärte Alex, waren direkt mit Computern in der FMA-Zentrale verbunden.
»Das Publikum verlangt heutzutage Service«, fuhr er fort. »Deshalb besteht der Bedarf nach Banken mit längeren und vor allem für die Kunden günstigeren Schalterstunden. Geldläden wie dieser sind rund um die Uhr geöffnet, an sieben Tagen der Woche.«
»Und dauernd müssen Angestellte da sein?« fragte Miss Peacock.
»Nein. Tagsüber steht ein Angestellter für Fragen zur Verfügung. Die übrige Zeit ist niemand da, außer den Kunden.«
»Haben Sie denn keine Angst vor Raubüberfällen?«
Alex lächelte. »Die Auto-Kassierer sind wie Festungen gebaut, ausgerüstet mit dem besten Alarmsystem, das uns heute bekannt ist. Und Fernseh-Rundumkameras - eine davon gibt es in jedem Geldladen - übertragen, was sie sehen, in ein ständig besetztes Kontrollzentrum in der City. Unsere Hauptsorge ist nicht Sicherheit - sondern die Frage, wie man die Kunden an neue Gedanken gewöhnt.«
»Sieht ganz so aus«, bemerkte Miss Peacock, »als hätten einige sich schon daran gewöhnt.«
Trotz der frühen Stunde - 9.30 Uhr - war schon ein Dutzend Menschen in der Bank, andere kamen hinzu. Meistens Frauen.
»Aus Untersuchungen, die wir angestellt haben, geht hervor, daß Frauen am schnellsten auf Änderungen in der Verkaufstechnik eingehen«, fuhr Alex fort. »Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Einzelhandelsgeschäfte so neuerungsfreudig sind. Die Männer sind da langsamer, aber am Ende lassen sie sich von ihren Frauen überreden.«
Kurze Schlangen hatten sich vor den automatischen Kassierern gebildet, aber es gab praktisch keine Stockungen. Transaktionen waren rasch erledigt, wenn jeder Kunde einen Ausweis aus Kunststoff in einen Schlitz geschoben und einfach angeordnete Tasten gedrückt hatte. Manche zahlten Bargeld oder Schecks ein, andere hoben Geld ab. Ein paar Kunden zahlten Bank-, Gas-, Wasser- oder Elektrizitätsrechnungen. In jedem Falle schluckte die Maschine Papier und Bargeld oder spie eins oder das andere aus, alles in Blitzgeschwindigkeit.
Miss Peacock zeigte auf die Auto-Kassierer. »Haben die Leute den Umgang damit schneller gelernt, als Sie erwartet hatten, oder langsamer?«
»Viel, viel schneller. Es hat etwas Mühe gekostet, die Leute dazu zu bringen, die Maschinen das erste Mal zu benutzen. Aber haben sie es erst einmal probiert, finden sie es faszinierend und verlieben sich geradezu in die Sache.«
»Aber es heißt doch immer, Menschen gehen lieber mit Menschen um als mit Maschinen. Warum soll das im Bankgeschäft anders sein?«
»Die Untersuchungen, von denen ich gesprochen habe, geben Aufschluß über den Grund: absolute Vertraulichkeit.«
Vertraulich ist die Sache wirklich (gab Jill Peacock in ihrem Artikel in der Sonntagsausgabe zu), und das nicht nur im Umgang mit den Frankenstein-Monster-Kassierern.
In demselben Geldladen saß ich in einer Kabine vor einer Kombination von Bildschirm und Fernsehkamera, eröffnete ein Konto und verhandelte dann über ein Darlehen.
Früher, wenn ich mir Geld von einer Bank borgte, war mir das immer etwas peinlich. Dieses Mal nicht, denn das Gesicht vor mir auf dem Bildschirm war ganz unpersönlich. Und der, dem das Gesicht gehörte - ein Schemen von einem Mann, dessen Namen ich nicht kannte -, war kilometerweit entfernt.
»Siebenundzwanzig Kilometer entfernt, um genau zu sein«, hatte Alex gesagt. »Der Bankbeamte, mit dem Sie gesprochen haben, sitzt in einem Kontrollraum unserer Zentrale in der City. Von dort aus können er und andere direkte Verbindung mit jeder Bankfiliale aufnehmen, die an das Kabelfernsehen angeschlossen ist.«
Miss Peacock dachte nach. »Wie rasch verändert sich das Bankgeschäft eigentlich?«
»In technologischer Hinsicht entwickeln wir uns schneller als Luft- und Raumfahrt. Was Sie hier sehen, ist die wichtigste Neuerung seit Einführung des Girokontos, und in spätestens zehn Jahren werden die meisten Bankgeschäfte so abgewickelt werden.«
»Wird es dann wenigstens noch ein paar menschliche Kassierer geben?«
»Eine Zeitlang, aber die Rasse wird schnell aussterben. Die Vorstellung, daß jemand Geld mit der Hand abzählt und es dann über einen Schaltertisch reicht, wird uns bald vorsintflutlich vorkommen - so überholt wie der altmodische Krämer, der Zucker, Erbsen und Butter abwiegt, die Ware dann selbst in Tüten tut.«
»Ziemlich traurig das Ganze«, meinte Miss Peacock.
»Das ist Fortschritt oft.«
Später fragte ich ein Dutzend zufällig herausgegriffene Leute, wie ihnen die neuen Geldläden gefielen. Sie waren ohne Ausnahme begeistert.
Nach der Zahl der Menschen zu urteilen, die die Läden besuchen, dürfte diese Ansicht weit verbreitet sein, und die Beliebtheit der Läden, sagt Mr. Vandervoort, trägt sehr zum Erfolg einer Werbekampagne fürs Sparen bei, die gerade läuft...
Ob die Geldläden der Spar-Werbung halfen oder umgekehrt, ist nie ganz klar geworden. Jedenfalls wurden die kühnsten Ziele der FMA erreicht und mit phänomenaler Geschwindigkeit übertroffen. Es schien - wie Alex zu Margot Bracken sagte -, als sei ein in der Öffentlichkeit sich anbahnender Trend haargenau mit dem Terminplan der First Mercantile American zusammengefallen.
»Hör auf anzugeben und trink deinen Orangensaft«, gab Margot zurück. Ein Sonntagmorgen in Margots Wohnung war ein Vergnügen. Noch in Pyjama und Bademantel, hatte er Jill Peacocks Geschichte im »Sunday Times-Register« zum ersten Mal gelesen, während Margot Eggs Benedict zum Frühstück machte.
Alex strahlte noch immer Zufriedenheit aus, als sie aßen. Margot nahm sich den Bericht im »Times-Register« ebenfalls vor und gab zu: »Nicht übel.« Sie beugte sich vor und küßte ihn. »Ich freue mich für dich.«
»Das ist bessere Publicity als die letzte, die du mir eingebrockt hast, Bracken.«
Gut gelaunt entgegnete sie: »Wart's ab, man weiß nie, wie der Hase läuft. Die Presse gibt, die Presse nimmt. Vielleicht fallen sie schon morgen über dich und die Bank her.«
Er seufzte. »Du hast leider viel zu oft recht.«
Aber dieses Mal nicht.
Eine gekürzte Fassung der Geschichte wurde in den Artikeldienst übernommen und von Zeitungen in vierzig anderen Städten nachgedruckt. AP bemerkte das allgemeine Interesse und schickte einen eigenen Bericht über seinen bundesweiten Draht; UPI tat es ebenfalls. »The Wall Street Journal« schickte einen Reporter, und mehrere Tage später kamen die First Mercantile American Bank und Alex Vandervoort in einem zusammenfassenden Artikel über automatisiertes Bankgeschäft vor, den das Blatt auf der ersten Seite veröffentlichte. Eine NBC-Außenstelle schickte ein Fernseh-Team, das Alex in einem Geldladen interviewte, und die Aufnahme wurde in den Abendnachrichten des Fernsehprogramms gesendet.
Mit jeder neuen Publicity-Welle bekam die Spar-Kampagne neuen Schwung, und die Geschäfte in den Geldläden blühten.
Aus majestätischer Höhe beobachtete »The New York Times« zunächst in aller Ruhe das Geschehen. Dann, Mitte August, verkündete der Wirtschaftsteil ihrer Sonntagsausgabe: »Ein Radikaler des Bankgewerbes, der sicher noch von sich reden machen wird.«
Das »Times«-Interview mit Alex war in Frage- und Antwortform gehalten. Es begann mit dem Thema Automation, ging dann zu Allgemeinerem über.
Frage: Was ist heutzutage die größte Crux im Bankgeschäft?
Vandervoort: Zu lange ist alles nach dem Willen von uns Bankern gegangen. Wir sind so beschäftigt mit unserem eigenen Wohlergehen, daß wir uns zu wenig um die Interessen unserer Kunden kümmern.
Frage: Können Sie ein Beispiel nennen?
Vandervoort: Ja. Bankkunden - vor allem die privaten -müßten viel höhere Zinsen bekommen.
Frage: Auf welchen Gebieten?
Vandervoort: Auf mehreren - bei Sparkonten, auch auf Sparbriefe und auf die Einlagen auf Girokonten.
Frage: Sprechen wir zunächst einmal über Sparkonten. Es gibt doch ein Bundesgesetz, das eine Höchstgrenze für Sparzinsen bei Geschäftsbanken festsetzt.
Vandervoort: Ja, und der Sinn des Gesetzes ist, Spar- und Darlehenskassen zu schützen. Es gibt übrigens ein anderes Gesetz, das Spar- und Darlehenskassen daran hindert, ihren Kunden Scheckbücher zu geben. Damit will man die Geschäftsbanken schützen. Ich finde, die Gesetze sollten nicht die Banken, sondern die Menschen schützen.
Frage: Sie meinen damit, daß die Sparer in den Genuß maximaler Zinssätze kommen sollten und in den Genuß aller Dienstleistungen einer Bank?
Vandervoort: Das meine ich.
Frage: Sie haben Sparbriefe erwähnt.
Vandervoort: Die Bundes-Reserve-Bank hat Großbanken wie meiner die Werbung für langfristige Einlagen zu hohen Zinssätzen verboten. Solche Einlagen sind besonders empfehlenswert für Menschen, die sich auf den Ruhestand vorbereiten und ihre Einkommensteuer auf später verschieben wollen, wenn die Jahre geringeren Einkommens da sind. Die Zentralbank begründet dieses Verbot mit faulen Ausreden. In Wirklichkeit will man damit kleine Banken vor den großen schützen, denn die großen sind leistungsfähiger und können zu besseren Bedingungen abschließen. Wie üblich, denkt man zuletzt an die Kunden. Sie ziehen den kürzeren.
Frage: Lassen Sie uns das ganz klar sagen. Sie meinen, daß unsere Zentralbank, die Bundes-Reserve-Bank, mehr für kleine Banken tut als für die Öffentlichkeit?
Vandervoort: Sie sagen es.
Frage: Nun zu den Girokonten. Einige Bankiers haben erklärt, sie würden durchaus Zinsen für Giro-Einlagen zahlen wollen, aber sie dürften es nicht, weil das Bundesgesetz es verbietet.
Vandervoort: Den nächsten Banker, der Ihnen das erzählt, fragen Sie, wann unsere mächtige Banklobby in Washington das letzte Mal etwas unternommen hat, um dieses Gesetz zu ändern. Wenn es jemals Vorstöße in der Richtung gegeben hat, dann habe ich nichts davon gehört.
Frage: Ihrer Meinung nach wollen also die meisten Banker das Gesetz überhaupt nicht ändern?
Vandervoort: Das meine ich nicht, das weiß ich. Das Gesetz, das die Verzinsung von Giro-Einlagen verhindert, ist ein sehr angenehmes Gesetz, wenn Ihnen zufällig eine Bank gehört. Es wurde 1933 eingebracht, kurz nach der Depression, um die Banken zu stärken, weil damals ja gerade so viele gescheitert waren.
Frage: Aber das war vor mehr als vierzig Jahren.
Vandervoort: Jawohl. So ein Gesetz brauchen wir schon lange nicht mehr. Ich will Ihnen was sagen. Wenn wir in diesem Augenblick sämtliche Giro-Einlagen im ganzen Land addierten, kämen wir auf eine Summe von mehr als 200 Milliarden Dollar. Sie können Gift darauf nehmen, daß die Banken Zinsen für dieses Geld einnehmen, aber die Kontoinhaber - die Kunden der Bank - bekommen keinen Cent.
Frage: Sie sind selbst Bankier, und Ihre eigene Bank profitiert von dem Gesetz, über das wir sprechen; warum also treten Sie für eine Änderung ein?
Vandervoort: Erstens bin ich für Fairneß. Zweitens brauchen die Banken diese vielen Krücken in Gestalt protektionistischer Gesetze nicht. Meiner Meinung nach fahren wir besser - und damit meine ich bessere Dienstleistung und bessere Ertragslage - ohne sie.
Frage: Hat es in Washington nicht Empfehlungen hinsichtlich der von Ihnen erwähnten Änderungen gegeben?
Vandervoort: Ja. Den Bericht der Hunt-Kommission 1971 und Gesetzesvorschläge, die sich daraus ergaben und die den Verbrauchern zugute kommen würden. Aber der ganze Komplex ist im Kongreß blockiert, wobei Sonderinteressen - einschließlich unserer eigenen Banklobby - den Fortschritt aufhalten.
Frage: Rechnen Sie damit, daß Sie sich durch Ihre Offenheit in diesem Gespräch die Feindschaft anderer Banker zuziehen werden?
Vandervoort: Darüber hatte ich wirklich nicht nachgedacht.
Frage: Vom Bankgeschäft abgesehen, haben Sie eine Gesamtmeinung über die gegenwärtige wirtschaftliche Lage?
Vandervoort: Ja, aber eine Gesamtmeinung darf sich nicht auf die Wirtschaft beschränken.
Frage: Bitte formulieren Sie Ihre Meinung - und beschränken Sie sie nicht.
Vandervoort: Unser größtes Problem, und unser größtes Pflichtversäumnis als Nation, ist die Tatsache, daß heute fast alles gegen den einzelnen ausgerichtet ist und zugunsten der großen Institutionen - große Konzerne, große Geschäftshäuser, große Gewerkschaften, große Banken, große Regierung. Der einzelne hat deshalb nicht nur Schwierigkeiten, voranzukommen und sich dort zu halten, sondern ihm fällt es oft schwer genug, einfach nur zu überleben. Und immer, wenn etwas Schlimmes passiert - Inflation, Abwertung, Depression, Verknappungen, Steuererhöhungen, sogar Kriege -, haben nicht die großen Institutionen darunter zu leiden, oder doch nur wenig, sondern es trifft nur den einzelnen.
Frage: Sehen Sie da irgendwelche historischen Parallelen?
Vandervoort: Allerdings. Es mag sich sonderbar anhören, aber am nächsten kommt meiner Meinung nach das Frankreich unmittelbar vor der Revolution. Damals ging jedermann trotz Unruhe und schlechter Wirtschaftslage von der Annahme aus, daß die Geschäfte wie gewohnt weitergehen würden. Statt dessen stürzte der Pöbel -bestehend aus einzelnen Menschen, die sich auflehnten -die Tyrannen, die ihn unterdrückten. Ich sage nicht, daß bei uns jetzt genau vergleichbare Umstände herrschen, aber in vieler Hinsicht sind wir der Tyrannei über das Individuum wieder sehr nahegekommen. Und Leuten, die ihre Familien wegen der Inflation nicht mehr ernähren können, mitzuteilen, >euch ist es noch nie so gut gegangene, das kommt dem Rat: >Sollen sie doch Kuchen essen< peinlich nahe. Deshalb sage ich, wenn wir unsere derzeitige Lebensform und unsere persönliche Freiheit, die wir angeblich hochschätzen, bewahren wollen, dann täten wir gut daran, wieder an die Interessen des einzelnen zu denken und etwas für ihn zu tun.
Frage: Und in Ihrem eigenen Falle würden Sie damit beginnen, darauf hinzuwirken, daß die Banken dem einzelnen besser dienen.
Vandervoort: Ja.
»Liebling, das ist großartig! Ich bin stolz auf dich, und ich liebe dich mehr denn je«, sagte Margot zu Alex, als sie am Tage vor der Veröffentlichung des Interviews ein Vorausexemplar las. »Das ist das Ehrlichste, was ich je gehört habe. Aber deine Bank-Kollegen werden dich nicht gerade dafür lieben. Die werden deine Eier zum Frühstück wollen.«
»Einige schon«, sagte Alex. »Andere nicht.«
Aber jetzt, da er die Fragen und Antworten gedruckt gesehen hatte, war er trotz der Woge des Erfolges, die ihn emporgetragen hatte, doch ein wenig in Sorge.
»Daß man Sie nicht gekreuzigt hat, Alex«, verkündete Lewis D'Orsey, »haben Sie nur der Tatsache zu verdanken, daß es >The New York Times< war. Hätten Sie das alles irgendeiner anderen Zeitung im Lande gesagt, dann hätten die Direktoren Ihrer Bank sich von Ihnen losgesagt und Sie verstoßen wie einen Aussätzigen. Nicht so im Falle der >Times<. Das hüllt Sie in den Mantel der Wohlanständigkeit, aber fragen Sie mich nicht, warum.«
»Lewis«, bat Edwina D'Orsey, »könntest du deine Rede vielleicht kurz unterbrechen und Wein nachschenken?«
»Ich halte keine Rede.« Ihr Mann erhob sich vom Tisch und ergriff eine zweite Karaffe Clos de Vougeot 1962. An diesem Abend sah Lewis so schwächlich und unterernährt aus wie eh und je. Er fuhr fort: »Ich lasse mich ruhig und deutlich über >The New York Times< aus, die ich für ein steriles, rosarotes Schmutzblatt halte, dessen durch nichts gerechtfertigtes Prestige ein Monument des amerikanischen Schwachsinns ist.«
»Sie hat eine größere Auflage als dein Informationsbrief«, sagte Margot Bracken. »Kannst du sie vielleicht deshalb nicht leiden?«
Sie und Alex Vandervoort waren zu Gast bei Lewis und Edwina D'Orsey in deren elegantem Cayman Manor-Penthouse. Auf dem Tisch schimmerten im weichen Kerzenlicht Tafellinnen, Kristall und poliertes Silber. An der einen Seite des großen Eßzimmers umrahmte ein breites, tiefes Fenster die flimmernden Lichter der tief unter ihnen liegenden Stadt. Durch die Lichter wand sich schwarz der Lauf des Flusses.
Eine Woche war vergangen seit der Veröffentlichung des kontroversen Interviews mit Alex.
Lewis stocherte an einem Rinds-Medaillon herum und sagte herablassend zu Margot: »Mein vierzehntägiger Informationsbrief repräsentiert hohe Qualität und überlegenen Intellekt. Die meisten Tageszeitungen, einschließlich der >Times<, sind vulgäre Quantität.«
»Hört auf mit der Stichelei, ihr beiden!« Edwina wandte sich Alex zu. »Mindestens ein Dutzend Leute haben mir diese Woche in der Bank gesagt, daß sie das Interview gelesen hätten und daß sie Ihre Offenheit bewundern. Wie war denn die Reaktion in der Zentrale?«
»Gemischt.«
»Ich wette, ich kenne einen, der nicht begeistert war.«
»Sie haben recht.« Alex lachte in sich hinein. »Roscoe war nicht der Anführer der Gratulationscour.«
Heywards ganze Haltung war in letzter Zeit noch eisiger geworden. Alex hatte den Verdacht, daß Heyward sich nicht nur über die Aufmerksamkeit ärgerte, die Alex zuteil wurde, sondern auch über die Erfolge der Sparkampagne und der Geldläden; Roscoe Heyward hatte sich gegen beides ausgesprochen.
Eine andere miesmacherische Prophezeiung Heywards und seiner Anhänger im Direktorium hatte sich auf die Einlagen der Spar- und Darlehenskassen in Höhe von 18 Millionen Dollar bezogen. Trotz erheblichen Geschreis von seiten ihrer Geschäftsleitungen hatten sie ihre Einlagen doch nicht von der First Mercantile American abgezogen. Auch sah es nicht so aus, als würde das noch kommen.
»Von Roscoe und einigen anderen abgesehen«, sagte Edwina, »sollen Sie nach allem, was ich höre, jetzt einen ziemlich starken Anhang in der Bank haben.«
»Vielleicht bin ich gerade >in<, wie ein Modegag, der schnell wieder vergeht.«
»Oder eine Sucht«, sagte Margot. »Auf mich wirkst du gewohnheitsbildend.«
Er lächelte. Es hatte ihm in der letzten Woche Auftrieb gegeben, Glückwünsche von Leuten zu hören, die er selbst schätzte und respektierte, wie Tom Straughan, Orville Young, Dick French und Edwina, und von anderen, darunter Nachwuchs-Führungskräfte, deren Namen er vorher nicht einmal gekannt hatte. Mehrere Direktoren hatten angerufen und sich beifällig geäußert. »Sie tun sehr viel für das Image der Bank«, hatte Leonard L. Kingswood am Telefon gesagt. Und wenn Alex durch den FMA-Tower ging, war das manchmal wie ein Triumphzug gewesen, mit all den Angestellten und Sekretärinnen, die ihn grüßten und ihm zulächelten.
»Weil wir gerade von Ihrem Personal reden, Alex«, sagte Lewis D'Orsey, »mir fällt ein, daß Ihnen in Ihrer Zentrale was fehlt - nämlich Edwina. Wird Zeit, daß sie aufrückt. Solange das nicht passiert, entgeht euch was.«
»Lewis, wie kannst du so etwas sagen?« Selbst im Kerzenlicht konnte man sehen, daß Edwina dunkelrot angelaufen war. Sie protestierte: »Wir sind hier privat zusammen. Auch sonst wäre das eine höchst unpassende Bemerkung. Alex, ich bitte Sie um Entschuldigung.«
Ungerührt betrachtete Lewis seine Frau über seine halbmondförmigen Brillengläser hinweg. »Bitte ruhig um Entschuldigung, meine Liebe. Ich werde es nicht tun. Ich kenne deine Fähigkeiten und deinen Wert; wer sollte sie besser beurteilen können als ich? Außerdem bin ich es gewohnt, die Aufmerksamkeit auf Überragendes zu lenken, das ich sehe.«
»Ein dreifaches Hurra für Lewis!« sagte Margot. »Alex, wie steht's? Wann zieht meine geschätzte Kusine in den Tower um?«
Edwina wurde zornig. »Hört endlich auf, bitte! Es ist mir peinlich.«
»Das braucht niemandem peinlich zu sein.« Alex nippte genießerisch an seinem Wein. »Hm! 1962 war ein gutes Jahr für
Burgunder. Um keine Spur schlechter als 1961, meint ihr nicht auch?«
»Ja«, stimmte sein Gastgeber zu. »Zum Glück habe ich reichlich von beidem.«
»Wir vier sind Freunde«, sagte Alex, »wir können also offen sprechen, weil wir wissen, daß es unter uns bleibt. Warum soll ich nicht zugeben, daß ich schon an eine Beförderung für Edwina gedacht habe, und zwar denke ich an eine besondere Aufgabe. Wie bald ich das, und einige andere Veränderungen, durchsetzen kann, das hängt, wie Edwina selber weiß, von den Entwicklungen der nächsten Monate ab.«
»Ich weiß.« Edwina nickte. Sie wußte außerdem, daß ihre persönliche Loyalität gegenüber Alex in der Bank allgemein bekannt war. Seit Ben Rossellis Tod, und schon vorher, war ihr klar, daß Alex' Beförderung zum Präsidenten fast mit Sicherheit auch ihrer eigenen Karriere zugute kommen würde. Sollte dagegen Roscoe Heyward den Posten erhalten, würde sie keine weiteren Aufstiegschancen in der First Mercantile American haben.
»Noch etwas möchte ich gern«, sagte Alex. »Ich würde Edwina gern im Direktorium sehen.«
Margots Miene hellte sich auf. »Das nenne ich ein Wort! Das war' mal 'ne Rakete für Women's Lib!«
»Nein!« Edwina reagierte mit Schärfe. »Ich will nicht in einem Atemzug mit Women's Lib genannt werden - niemals! Was ich erreicht habe, das habe ich aus eigener Kraft erreicht, in ehrlicher Konkurrenz mit Männern. Women's Lib - die Schlagwörter, die nur darauf hinzielen, begünstigt und vorgezogen zu werden, weil man eine Frau ist -, das hat die Gleichberechtigung der Geschlechter zurückgeworfen, nicht gefördert.«
»Das ist Unsinn!« Margot wirkte schockiert. »Du hast leicht reden, weil du ungewöhnlich bist, weil du Glück hattest!«
»Mit Glück hat das nichts zu tun gehabt«, sagte Edwina. »Ich habe gearbeitet.«
»Kein Glück?«
»Na gut, nicht viel.«
Aber Margot gab sich nicht zufrieden. »Es muß Glück im Spiel gewesen sein, weil du eine Frau bist. Solange man zurückdenken kann, war das Bankgeschäft ein exklusiver Männerclub - ohne den geringsten Grund.«
»Ist Erfahrung denn kein Grund?« fragte Alex.
»Nein. Erfahrung, das ist eine Nebelwand, von den Männern errichtet, um Frauen fernzuhalten. Nichts ist männlich am Bankgeschäft. Die einzige Voraussetzung dafür ist Grips und den haben Frauen manchmal reichlicher als Männer. Alles andere findet entweder auf dem Papier oder im Kopf statt, die einzige körperliche Arbeit ist das Ein- und Ausladen von Geld, wenn gepanzerte Autos es bringen oder abholen, und das könnten weibliche Boten ganz gewiß auch schaffen.«
»Das will ich alles gar nicht bestreiten«, sagte Edwina. »Es ist nur nicht mehr aktuell. Die männliche Alleinherrschaft ist längst durchbrochen - von Leuten wie mir -, und sie wird immer weiter durchlöchert. Wer will denn von Women's Lib befreit werden? Ich nicht.«
»So weit bist du nun auch nicht vorgedrungen«, gab Margot zurück. »Sonst wärst du schon in der Zentrale und brauchtest nicht mehr davon zu reden, wie wir es heute abend tun.«
Lewis D'Orsey lachte in sich hinein. »Touché, meine Liebe!«
»Andere Frauen im Bankgeschäft brauchen Women's Lib«, schloß Margot, »und zwar noch lange.«
Alex lehnte sich zurück - wie immer, wenn er einen Streit auskostete, an dem Margot beteiligt war. »Man kann alles mögliche über unsere gemeinsamen Mahlzeiten sagen«, bemerkte er, »aber langweilig sind sie nie.«
Lewis nickte zustimmend. »Als derjenige, der damit angefangen hat, möchte ich sagen - ich freue mich über die Pläne, die Sie mit Edwina haben.«
»Na gut«, sagte seine Frau mit fester Stimme, »und ich danke Ihnen auch, Alex. Aber das reicht. Reden wir von was anderem.«
Das taten sie.
Margot erzählte ihnen von einem Musterprozeß, den sie gegen ein Warenhaus angestrengt hatte, das Kunden mit einem laufenden Anschreibkonto systematisch betrog. Die ausgedruckte Gesamtsumme auf der Monatsrechnung, erklärte Margot, war immer ein paar Dollar höher, als sie hätte sein sollen. Beschwerte sich jemand, so erklärte man die Unstimmigkeit als Versehen, aber es kamen kaum Beschwerden. »Sehen die Leute eine ausgedruckte Gesamtsumme, glauben sie ganz einfach, daß sie stimmt. Sie bedenken nicht - oder sie wissen nicht -, daß man Maschinen so programmieren kann, daß sie falsch rechnen. Das war hier der Fall.« Margot fügte hinzu, daß das Kaufhaus auf die Art Zehntausende von Dollar zuviel eingenommen hatte, wofür sie vor Gericht den Beweis erbringen werde.
»Wir programmieren in der Bank keine Fehler«, sagte Edwina, »aber sie schleichen sich doch ein, trotz der Maschinen. Deshalb rate ich den Leuten immer, ihre Bankauszüge nachzuprüfen.«
Bei ihren Kaufhaus-Untersuchungen, berichtete Margot ihren Zuhörern, hatte ihr ein Privatdetektiv namens Vernon Jax geholfen. Er sei geschickt und phantasievoll vorgegangen. Sie sang sein Lob in höchsten Tönen.
»Ich habe von ihm gehört«, sagte Lewis D'Orsey. »Er hat für die Börsenaufsicht gearbeitet - in einer Sache, auf die ich sie mal gestoßen hatte. Ein guter Mann.«
Als sie das Eßzimmer verließen, sagte Lewis zu Alex: »Freiheit, die ich meine. Wie wär's, wenn wir uns eine Zigarre und einen Cognac gönnten? Wir gehen in mein Arbeitszimmer. Edwina kann Zigarrenrauch nicht leiden.«
Sie entschuldigten sich bei den Damen und stiegen die Treppe - das Penthouse der D'Orseys erstreckte sich über zwei Etagen -zu Lewis' Allerheiligstem hinunter. Dort angelangt, sah Alex sich neugierig um.
Es war ein großer Raum, mit Bücherregalen an zwei Wänden und Zeitungs- und Zeitschriftenständern an einer dritten. Die Regale und Ständer quollen über. Drei Schreibtische standen in dem Zimmer, auf dem einen eine elektrische Schreibmaschine und auf allen Stapel von Papieren, Büchern und Akten. »Wenn ich an einem Schreibtisch in Papierbergen ersticke«, erklärte Lewis, »ziehe ich einfach an den nächsten um.«
Eine offenstehende Tür gab den Blick frei auf das, was tagsüber das Büro einer Sekretärin und das Archiv war. Lewis ging hinein und kam mit zwei Cognacschwenkern und einer Flasche Courvoisier wieder, aus der er einschenkte.
»Ich habe mich oft gefragt«, sagte Alex, »wie es wohl hinter den Kulissen eines erfolgreichen Finanz-Informationsdienstes aussieht.«
»Ich kann nur persönlich für meinen sprechen, der von kompetenter Seite für den besten gehalten wird, den es gibt.« Lewis gab Alex einen Cognac, zeigte dann auf eine offene Zigarrenkiste. »Bedienen Sie sich - es sind Macanudos, gibt keine besseren. Außerdem steuerlich absetzbar.«
»Wie bringen Sie denn das fertig?«
Lewis lachte zufrieden. »Sehen Sie sich die Bauchbinden an. Für einen lächerlich geringen Aufpreis lasse ich die Originalbauchbinden entfernen und andere draufmachen mit dem Text >The D'Orsey Newsletter« Das ist Werbung -Geschäftskosten, deshalb kann ich bei jeder Zigarre das befriedigende Gefühl haben, daß Uncle Sam sie spendiert.«
Wortlos nahm Alex eine Zigarre und schnupperte daran. Er hatte es längst aufgegeben, moralische Urteile über Lücken in den Steuergesetzen abzugeben. Der Kongreß machte die Gesetze, und wer wollte es dem Bürger verübeln, wenn er sich ganz streng danach richtete?
»Um wieder auf Ihre Frage zurückzukommen«, sagte Lewis, »ich mache kein Geheimnis aus dem Zweck, den >The D'Orsey Newsletter< verfolgt.« Er gab Alex Feuer, steckte dann seine eigene Zigarre an und inhalierte genießerisch. »Er will ein paar Auserwählten helfen, reicher zu werden oder zum mindesten das zu behalten, was sie besitzen.«
»Das habe ich schon bemerkt.«
Jeder Informationsbrief enthielt, wie Alex wußte, Ratschläge, wie Geld zu machen sei - es ging um den Kauf oder Verkauf von Wertpapieren, um Währungen, in die man einsteigen oder aus denen man sich zurückziehen sollte, fremde Aktienmärkte, die man suchen oder meiden sollte, Steuerlücken für die Reichen und die Beweglichen, wie man Geschäfte über Schweizer Konten machte, politische Hintergrundinformationen, die sich auf das Geld auswirken konnten, drohende Katastrophen, die sich von Wissenden gewinnträchtig nutzen ließen. Die Liste war immer lang, der Ton des Informationsbriefes herrisch und absolut. Selten wurde um den heißen Brei herumgeredet.
»Bedauerlicherweise«, fügte Lewis hinzu, »gibt es in der Informationsdienst-Branche eine Menge Ignoranten und Scharlatane, die den ernsthaften und ehrlichen Diensten schaden. Einige sogenannte Informationsbriefe bestehen aus wiedergekäuten Zeitungsmeldungen und sind deshalb wertlos; andere jubeln den Abonnenten irgendwelche Aktien unter und lassen sich dafür von Maklern und Promotern bezahlen, wenn auch Schwindel dieser Art am Ende immer auffliegt. Es gibt vielleicht ein halbes Dutzend Informationsbriefe, die sich lohnen. An der Spitze steht meiner.«
Bei jedem anderen, dachte Alex, würde einem dieses ewige Selbstlob auf die Nerven gehen. Bei Lewis tat es das merkwürdigerweise nicht, vielleicht deshalb, weil der Erfolg ihm bisher stets recht gegeben hatte. Und was Lewis' politische Ansichten betraf, die auf dem extremen rechten Flügel angesiedelt waren, so fand Alex, daß er sie leicht herausfiltern konnte, so daß ein klares finanzielles Destillat blieb - wie Tee, den man durch ein feines Sieb gießt.
»Ich vermute, daß Sie zu meinen Abonnenten gehören«, sagte Lewis.
»Ja - über die Bank.«
»Hier haben Sie die neueste Nummer. Nehmen Sie sie, auch wenn Sie Ihr Exemplar Montag mit der Post bekommen.«
»Danke.« Alex nahm das blaßblaue hektographierte Blatt entgegen - vier auf Quartformat zusammengefaltete Seiten, unscheinbar im Aussehen. Das Original war engzeilig mit der Maschine geschrieben, dann fotografiert und verkleinert worden. Aber was dem Informationsbrief an äußerer Aufmachung fehlte, das machte er durch Geldeswert wieder wett. Lewis behauptete, daß jeder, der seinem Rat folgte, das ihm zur Verfügung stehende Kapital in Jahresfrist um ein Viertel bis zu einer Hälfte vermehren und es in manchen Jahren sogar verdoppeln oder verdreifachen könne.
»Worin besteht Ihr Geheimnis?« sagte Alex. »Wie kommt es, daß Sie so oft recht haben?«
»Ich habe einen Verstand wie ein Computer, den man dreißig Jahre lang mit Informationen gefüttert hat.« Lewis sog an seiner Zigarre, dann tippte er sich mit knochigem Finger an die Stirn. »Jeder finanzielle Informationsbrocken, der je zu meiner Kenntnis gelangt ist, wird hier oben gespeichert. Außerdem kann ich eine Information mit einer anderen in Beziehung setzen und die Zukunft mit der Vergangenheit. Und dazu besitze ich etwas, was kein Computer hat - eine instinktive Gabe.«
»Warum plagen Sie sich dann mit einem Informationsbrief herum? Warum machen Sie nicht ein Vermögen für sich selbst?«
»Befriedigt nicht. Keine Konkurrenz. Außerdem«, Lewis grinste, »ich fahre nicht schlecht dabei.«
»Wenn ich mich recht erinnere, kostet Ihr Abonnement... «
»Dreihundert Dollar pro Jahr für den Informationsbrief. Zweitausend Dollar die Stunde für persönliche Beratung.«
»Manchmal habe ich mich gefragt, wie viele Abonnenten Sie wohl haben.«
»Das möchten andere auch wissen. Aber das ist mein sorgsam gehütetes Geheimnis.«
»Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht aushorchen.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich an Ihrer Stelle wäre auch neugierig.«
Heute abend, dachte Alex, wirkte Lewis gelockerter, als er ihn je erlebt hatte.
»Aber ich werde Ihnen das Geheimnis verraten«, sagte Lewis. »Ein bißchen angeben will jeder. Ich habe mehr als fünftausend Abonnenten für meinen Informationsbrief.«
Alex rechnete im Kopf und pfiff leise durch die Zähne. Das bedeutete Jahreseinnahmen von mehr als anderthalb Millionen Dollar.
»Außerdem«, vertraute Lewis ihm an, »veröffentliche ich in jedem Jahr ein Buch, und pro Monat habe ich ungefähr zwanzig Beratungen. Das Honorar dafür und die Bucheinnahmen decken alle meine Kosten, so daß der Informationsbrief Reingewinn ist.«
»Erstaunlich!« Aber vielleicht, dachte Alex, war es das gar nicht. Wer Lewis' Rat folgte, brachte seine Auslagen hundertfach wieder herein. Außerdem konnte man Abonnement und Beratungshonorar von den Steuern absetzen.
»Gibt es irgendeinen generellen Rat«, fragte Alex, »den Sie Leuten geben würden, die Geld anlegen oder sparen wollen?«
»Unbedingt, ja! - Kümmern Sie sich selbst darum!«
»Angenommen, es ist jemand, der keine Ahnung hat... «
»Dann soll er lernen. Das ist gar nicht so schwer, und sich um das eigene Geld kümmern, das kann Spaß machen. Natürlich soll man auf Rat hören, aber mit Skepsis und Vorsicht, und außerdem muß man auf der Hut sein, welchen Rat man annimmt. Nach kurzer Zeit weiß man, wem man trauen kann und wem nicht. Viel lesen, auch Informationsbriefe wie meinen. Aber nie einem anderen das Recht übertragen, Entscheidungen für einen zu treffen. Damit sind vor allem Börsenmakler gemeint; bei denen, und bei Treuhandabteilungen von Banken, verliert man am schnellsten, was man hat.«
»Sie mögen Treuhandabteilungen nicht?«
»Verdammt noch mal, Alex, Sie wissen ganz genau, daß Ihre eigene und andere Banken da Jämmerliches leisten. Große Treuhandkonten werden individuell bedient - mehr oder minder. Mittlere und kleinere werden entweder in einen Topf geworfen oder von unterbezahlten Idioten verwaltet, die Baisse und Hausse nicht unterscheiden können.«
Alex zog eine Grimasse, protestierte aber nicht. Zu gut wußte er, daß - von wenigen, ehrenvollen Ausnahmen abgesehen - es stimmte, was Lewis gesagt hatte.
Während sie ihren Cognac in dem rauchgeschwängerten Zimmer schlürften, schwiegen beide Männer. Alex blätterte die Seiten des neuesten Informationsbriefes um, überflog die Texte, die er später genauer lesen würde. Wie üblich war einiges darin technischer Natur.
Tabellenmäßig scheinen wir in die dritte Phase des Baisse-Marktes einzutreten. Der 200-Tages-Durchschnitt
ist in allen 3 DJ-Durchschn. gebrochen, die in perfekter Abstiegssynchronisation sind. Die AD-Linie kracht.
Einfacher war:
Empfohlene Währungsmischung:
Schweizer Franken.............. 40%
Holl. Gulden...................25%
Deutsche Mark.................20%
Kan. Dollar.................... 10%
Öst. Schilling.................. 5%
US-Dollar..................... 0%
Darüber hinaus riet Lewis seinen Lesern, weiterhin 40 Prozent ihrer Aktiva in Goldbarren, Goldmünzen und in Form von Anteilen an Goldminen anzulegen.
In einer regelmäßig erscheinenden Spalte wurden internationale Wertpapiere zum Handeln oder Halten aufgeführt. Alex überflog die Kolumnen unter »Kaufen« und »Halten«, dann die unter »Verkaufen«. Er stockte abrupt bei:
»Supranational - sofort zum Tageskurs verkaufen.«
»Lewis, diese Supranational-Notiz - warum Supranational verkaufen? Und >sofort zum Tageskurse? Seit Jahren hatten Sie das unter >langfristig haltene geführt.«
Sein Gastgeber dachte nach, bevor er antwortete. »Ich habe ein ungutes Gefühl, was SuNatCo betrifft. Ich bekomme zu viele negative Informationsbrocken aus Quellen, die voneinander unabhängig sind. Ein paar Gerüchte über hohe Verluste, die nicht gemeldet worden sind. Auch erzählt man sich von bedenklichen Buchungspraktiken innerhalb der Tochtergesellschaften. Aus Washington die unbestätigte Behauptung, daß Big George Quartermain auf der Suche nach einer Subvention a la Lockheed ist. Worauf es hinausläuft -vielleicht... vielleicht auch nicht... Untiefen voraus. Als Vorsichtsmaßnahme ist es mir lieber, wenn meine Leute aussteigen.«
»Aber alles, was Sie sagen, sind Gerüchte und Schattenspiele. So was kann man über jedes Unternehmen hören. Wo bleibt die Substanz?«
»Gibt's nicht. Meine Verkaufsempfehlung beruht auf Instinkt. Manchmal handele ich nach Instinkt. Dies ist so ein Fall.« Lewis D'Orsey legte seinen Zigarrenstummel in einen Aschenbecher und stellte sein leeres Glas ab. »Gehen wir wieder zu den Damen?«
»Ja«, sagte Alex und folgte Lewis. Aber seine Gedanken waren noch bei Supranational.
»Ich hätte nicht geglaubt«, sagte Nolan Wainwright mit harter Stimme, »daß Sie den Nerv hätten hierherzukommen.«
»Ich auch nicht.« Miles Eastins Stimme verriet seine Nervosität. »Ich wollte eigentlich schon gestern kommen, hab's aber dann nicht fertiggebracht. Auch heute habe ich eine halbe Stunde draußen herumgelungert, bis ich den Mut hatte hereinzukommen.«
»Mut! Ich würde es Unverschämtheit nennen. Aber wo Sie schon mal hier sind - was wollen Sie?«
Die beiden Männer standen einander in Nolan Wainwrights Privatbüro gegenüber. Sie bildeten einen scharfen Kontrast: der strenge, schwarze, gutaussehende Bank-Vizepräsident, verantwortlich für Sicherheitsfragen, und Eastin, der ExSträfling - abgemagert, bleich, unsicher, ein anderer als der intelligente, stets gutgelaute Assistent des Innenleiters, der noch vor elf Monaten in der FMA gearbeitet hatte.
Die Umgebung, in der sie sich jetzt befanden, war spartanisch, verglichen mit den meisten anderen Abteilungen der Bank. Einfach gestrichene Wände, graue Metallmöbel, auch Wainwrights Schreibtisch war grau und aus Metall. Der Fußboden war sparsam mit Teppich ausgelegt. Die Bank verschwendete Geld und Kunst auf ertragbringende Bereiche. Dazu gehörte die Sicherheit nicht.
»Also«, wiederholte Wainwright, »was wollen Sie?«
»Ich möchte Sie fragen, ob Sie mir helfen wollen.«
»Warum sollte ich?«
Der jüngere Mann zögerte, bevor er antwortete, dann sagte er, noch immer nervös: »Ich weiß, daß Sie mich mit dem ersten Geständnis reingelegt haben. In der Nacht meiner Verhaftung. Mein Anwalt sagte, daß es ungesetzlich war, daß es vor Gericht nicht hätte verwendet werden dürfen. Sie wußten das. Aber Sie haben mich in dem Glauben gelassen, daß es ein gültiges Geständnis war, deshalb habe ich das zweite für das FBI unterschrieben, ohne zu ahnen, daß es einen Unterschied gab... «
Wainwrights Augen wurden schmal und argwöhnisch. »Bevor ich antworte, will ich eines wissen. Haben Sie ein Tonbandgerät bei sich?«
»Nein.«
»Soll ich das glauben?«
Miles zuckte die Achseln, dann hielt er die Hände hoch, wie er es bei Leibesvisitationen und im Gefängnis gelernt hatte.
Einen Augenblick schien es, als wollte Wainwright sich weigern, ihn zu durchsuchen, dann klopfte er den anderen Mann rasch und professionell ab. Miles ließ die Arme sinken.
»Ich bin ein alter Fuchs«, sagte Wainwright. »Burschen wie Sie denken, sie sind helle und können einen reinlegen, dann einen Prozeß anfangen. Sie sind also zum Knastadvokaten geworden?«
»Nein. Nur das mit dem Geständnis hab' ich rausgekriegt.«
»Na gut, da Sie damit angefangen haben, dürfen Sie's auch gern wissen. Natürlich war mir klar, daß es juristisch nicht hiebund stichfest war. Natürlich habe ich Sie reingelegt. Und noch was: Unter den gleichen Umständen würde ich es wieder tun. Sie waren schuldig, oder etwa nicht? Sie waren drauf und dran, Mrs. Nunez ins Gefängnis zu schicken. Wollen Sie mir da meine Tricks vorhalten?«
»Ich dachte nur... «
»Ich weiß, was Sie dachten. Sie dachten, Sie kommen her, und weil mich mein Gewissen peinigt, bin ich Wachs in Ihren Händen für irgendwelche Pläne, die Sie haben. Pustekuchen. Nichts zu machen.«
Miles Eastin murmelte: »Ich hatte keine Pläne. Es tut mir leid, daß ich gekommen bin.«
»Was wollen Sie denn?«
Es entstand eine Pause, in der sie einander abschätzten. Dann sagte Miles: »Einen Job.«
»Hier? Sie müssen verrückt sein.«
»Warum? Ich wäre der ehrlichste Angestellte, den die Bank je gehabt hat.«
»Bis jemand Sie unter Druck setzt, mal wieder was zu klauen.«
»Niemals!« Ganz kurz kehrte ein wenig von Miles Eastins altem Temperament zurück. »Können Sie denn nicht glauben, daß ich was dazugelernt habe? Daß ich gelernt habe, was passiert, wenn man stiehlt! Daß ich gelernt habe, es niemals wieder zu tun. Können Sie sich nicht vorstellen, daß es keine Versuchung gibt, der ich jetzt nicht widerstehen würde, nur um nicht noch einmal das Gefängnis zu riskieren?«
Wainwright sagte brummig: »Was ich glaube oder nicht glaube, spielt keine Rolle. Die Bank hat Grundsätze. Einer davon lautet, keinen Vorbestraften einzustellen. Auch wenn ich wollte, könnte ich nichts daran ändern.«
»Aber Sie könnten's versuchen. Sogar hier gibt es Jobs, wo Vorstrafen nichts ausmachen, wo es überhaupt keine Möglichkeit gibt, etwas zu stehlen. Könnte ich nicht so eine Arbeit haben?«
»Nein.« Dann kam Neugier ins Spiel. »Warum sind Sie denn so scharf darauf, wieder zu uns zu kommen?«
»Weil ich keine Arbeit finden kann, nichts, gar nichts, nirgendwo.« Miles' Stimme wurde unsicher. »Und weil ich Hunger habe.«
»Was haben Sie?«
»Mr. Wainwright, es ist drei Wochen her seit meiner vorzeitigen Entlassung zur Bewährung. Seit mehr als einer Woche hab' ich kein Geld mehr. Seit drei Tagen hab' ich nichts mehr gegessen. Ich bin fertig, glaub' ich.« Die Stimme, die unsicher gewesen war, versagte und brach. »Herzukommen... zu Ihnen, schon zu wissen, was Sie sagen... das war das letzte...«
Wainwright hörte zu, und einiges von der Härte wich aus seinem Gesicht. Jetzt zeigte er auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Zimmers. »Setzen Sie sich.«
Er ging hinaus und gab seiner Sekretärin fünf Dollar. »Gehen Sie in die Cafeteria«, wies er sie an, »holen Sie zwei RoastbeefSandwiches und einen halben Liter Milch.«
Als er wieder hereinkam, saß Miles noch auf dem Stuhl, der ihm zugewiesen worden war, vornübergesunken, mit leerem Gesichtsausdruck.
»Hat Ihr Bewährungshelfer nichts unternommen?«
Mit Bitterkeit in der Stimme sagte Miles: »Er hat eine Menge Fälle - sagte er mir -, einhundertfünfundsiebzig, die zur Bewährung vorzeitig entlassen wurden. Jeden einzelnen muß er einmal im Monat sprechen, und was kann er da schon tun? Es gibt keine Jobs. Er gibt mir nur gute Ratschläge.«
Aus Erfahrung wußte Wainwright, was das für Ratschläge sein würden: Nicht mit anderen Kriminellen zu verkehren, die Miles im Gefängnis kennengelernt haben könnte; keine bekannten Treffpunkte von Kriminellen aufzusuchen. Eins von beidem zu tun und dabei erwischt zu werden, bedeutete die prompte Rückkehr ins Gefängnis. Aber in der Praxis waren die Vorschriften ebenso unrealistisch wie veraltet. Ein Gefangener ohne Einkommen hatte alles gegen sich; der Umgang mit anderen, die im gleichen Boot saßen, war oft seine einzige Chance, am Leben zu bleiben. Das war auch ein Grund für die hohe Rückfallquote unter Ex-Strafgefangenen.
Wainwright fragte: »Sie haben wirklich Arbeit gesucht?«
»Ich war überall, wo vielleicht eine Chance bestand. Und wählerisch war ich nicht.«
In den drei Wochen seiner Suche hatte Miles ein einziges Mal fast eine Chance gehabt, als Küchenhilfe in einem drittklassigen, stets überfüllten italienischen Restaurant unterzukommen. Der Job war frei, und der Inhaber, ein Mann mit traurigem Windhundgesicht, war geneigt, ihn einzustellen. Aber als Miles seine Vorstrafe erwähnte, wozu er, wie er wußte, verpflichtet war, sah er, wie der andere einen raschen Blick zur Kassenlade warf, die ganz in der Nähe war. Selbst dann noch hatte der Restaurantbesitzer gezögert, aber seine Frau, ein Feldwebel in Frauenkleidern, entschied: »Nein! Wir können uns das Risiko nicht leisten.« Alle Bitten und Schwüre hatten nichts ausgerichtet.
Anderswo hatte sein Status als Bewährungs-Sträfling alle Hoffnungen noch schneller zunichte gemacht.
»Wenn ich etwas für Sie tun könnte, würde ich es vielleicht tun.« Wainwrights Ton war seit Beginn des Gesprächs milder geworden. »Aber ich kann's nicht. Hier gibt's nichts. Glauben Sie mir.«
Miles nickte bedrückt. »Im Grunde hab' ich das erwartet.«
»Was werden Sie nun als nächstes versuchen?«
Bevor er antworten konnte, kam die Sekretärin zurück und gab Wainwright eine Papiertüte und Wechselgeld. Als das Mädchen wieder gegangen war, nahm er die Milch und die Sandwiches heraus und legte alles auf den Tisch; Eastin sah zu und befeuchtete sich die Lippen.
»Sie können das hier essen, wenn Sie wollen.«
Miles bewegte sich rasch, mit hastigen Fingern wickelte er das erste Sandwich aus. Alle Zweifel über die Wahrheit seiner Aussage, daß er hungrig sei, verschwanden, als Wainwright zusah, wie die Nahrungsmittel schweigend, gierig verschlungen wurden. Und während der Sicherheitschef zusah, begann sich ein Gedanke in ihm zu bilden.
Am Ende trank Miles den letzten Schluck Milch aus einem Pappbecher und wischte sich die Lippen. Von den Sandwiches war keine Krume übriggeblieben.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte Wainwright. »Was wollen Sie als nächstes unternehmen?«
Eastin zögerte merklich, dann sagte er tonlos: »Weiß nicht.«
»Ich glaube, Sie wissen es wohl. Und ich glaube, Sie lügen -zum ersten Mal, seit Sie hereingekommen sind.«
Miles Eastin zuckte die Achseln. »Spielt das noch eine Rolle?«
»Ich vermute folgendes«, sagte Wainwright, als ob er die Bemerkung nicht gehört hätte. »Bis jetzt haben Sie sich von den Leuten ferngehalten, die Sie im Gefängnis kennengelernt haben. Aber da Sie hier nichts erreicht haben, haben Sie beschlossen, zu ihnen zu gehen. Das Risiko, gesehen zu werden und die Bewährungsfrist zu verlieren, nehmen Sie auf sich.«
»Verdammt noch mal, was bleibt mir denn anderes übrig? Und wenn Sie das alles schon wissen, warum fragen Sie?«
»Sie haben also solche Verbindungen.«
»Wenn ich ja sage«, sagte Eastin verächtlich, »greifen Sie, wenn ich zur Tür raus bin, nach dem Telefon und rufen den Bewährungsausschuß an.«
»Nein.« Wainwright schüttelte den Kopf. »Was wir auch beschließen, ich verspreche Ihnen, das nicht zu tun.«
»Was meinen Sie damit: >Was wir auch beschließend^«:
»Wir könnten uns da eventuell auf was einigen. Wenn Sie bereit wären, ein gewisses Wagnis auf sich zu nehmen. Ein ziemlich großes sogar.«
»Was für ein Wagnis?«
»Lassen wir das vorerst. Wenn's nötig wird, kommen wir darauf zurück. Erzählen Sie mir erst mal von den Leuten, die Sie im Knast kennengelernt haben, und von denen, mit denen Sie jetzt Verbindung aufnehmen können.« Vorsicht und Mißtrauen hatten sich nicht gelegt; Wainwright spürte das und fügte hinzu: »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich - ohne Ihre Zustimmung -keinen Gebrauch von dem mache, was Sie mir sagen.«
»Woher soll ich wissen, daß es kein Trick ist - so, wie Sie mich schon mal reingelegt haben?«
»Das können Sie auch nicht wissen. Sie werden das Risiko eingehen müssen, mir zu vertrauen. Entweder das, oder Sie gehen und kommen nie wieder.«
Miles schwieg, dachte nach, feuchtete gelegentlich seine Lippen an. Dann begann er plötzlich, ohne zu erkennen zu geben, daß er sich entschieden hatte, zu erzählen.
Er schilderte, wie der Abgesandte von der Mafiastraße sich im Gefängnis Drummonburg zum ersten Mal an ihn herangemacht hatte. Die ihm übermittelte Nachricht, erklärte er Wainwright, war von draußen gekommen, von dem Wucherer, dem Kredithai Igor (»der Russe«) Ominsky, und sie besagte, daß er, Eastin, ein brauchbarer Kerl sei, weil er »die Schnauze gehalten« und bei seiner Verhaftung und auch später nicht die Identität des Hais und des Buchmachers verraten hatte. Als Zugeständnis würden deshalb die Zinsen für Eastins Darlehen während seiner Haftzeit ruhen. »Der Bote der Mafiastraße sagte, daß Ominsky die Uhr angehalten habe, solange ich im Knast bin.«
»Jetzt sind Sie aber nicht im Knast«, stellte Wainwright fest. »Die Uhr läuft also wieder.«
Miles machte ein sorgenvolles Gesicht. »Ja, ich weiß.« Das war ihm klar, und er bemühte sich, nicht daran zu denken, während er Arbeit suchte. Er war auch der Gegend ferngeblieben, wo er, wie man ihm gesagt hatte, Kontakt zu dem Wucherer Ominsky und anderen aufnehmen konnte. Es handelte sich um den Fitness-Club Doppelte Sieben, nicht weit vom Stadtzentrum; diese Mitteilung hatte ihn wenige Tage vor der Entlassung aus dem Gefängnis erreicht. Er wiederholte die Adresse, als Wainwright noch einmal nachfragte.
»Die Doppelte Sieben«, sagte der Sicherheitschef der Bank nachdenklich. »Ich kenne den Club nicht, aber ich habe davon gehört. Gilt als Ganoven-Treffpunkt.«
Noch etwas hatte man Miles in Drummonburg erzählt: Er werde, durch Kontakte, die man ihm vermitteln würde, Möglichkeiten finden, Geld zum Leben und zur Abzahlung seiner Schuld zu verdienen. Er hatte keines weiteren Hinweises bedurft, um zu begreifen, daß diese »Möglichkeiten« außerhalb der Legalität liegen würden. Dieses Wissen und seine Furcht vor einer Rückkehr ins Gefängnis hatten ihn einen entschlossenen Bogen um die Doppelte Sieben machen lassen. Bisher.
»Meine Vermutung war also richtig. Sie wären von hier aus dorthin gegangen.«
»O Gott, Mr. Wainwright, ich wollte es nicht! Ich will es immer noch nicht.«
»Vielleicht können wir hier, Sie und ich, einen Weg finden, der beides verbindet.«
»Wie?«
»Haben Sie schon mal von einem Tarnagenten gehört?«
Miles Eastin machte ein überraschtes Gesicht, bevor er zugab: »Ja.«
»Dann hören Sie genau zu.«
Wainwright begann zu sprechen.
Als der Sicherheitschef der Bank vor vier Monaten die aus dem Wasser gezogene, verstümmelte Leiche seines Spitzels Vic betrachtete, hatte er daran gezweifelt, daß er jemals wieder einen Agenten in den Untergrund schicken werde. Damals, schockiert und erfüllt von einem Gefühl persönlicher Schuld, hatte er gemeint, was er sagte, und er hatte seither auch nichts unternommen, um einen Ersatzmann anzuwerben. Aber diese Chance - Eastins Verzweiflung und seine maßgeschneiderten Verbindungen - war zu verheißungsvoll, als daß er sie ignorieren konnte.
Ebenso wichtig: Immer mehr gefälschte Keycharge Kreditkarten tauchten auf, es war wie eine Sintflut, während ihr Ursprung unentdeckt blieb. Konventionelle Methoden zum Aufspüren der Hersteller und Verteiler waren, wie Wainwright wußte, gescheitert; behindert wurden die Nachforschungen auch durch die Tatsache, daß die Fälschung von Kreditkarten nach geltendem Bundesgesetz kein strafrechtliches Vergehen war. Betrug mußte nachgewiesen werden; die Absicht, zu betrügen, reichte nicht aus. Aus allen diesen Gründen interessierten sich die Strafverfolgungsbehörden mehr für andere Formen der Fälschung; mit Kreditkarten befaßten sie sich nur im Zusammenhang mit anderen Fälschungsdelikten. Die Banken hatten - zum Kummer von Professionellen wie Nolan Wainwright - keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, um daran etwas zu ändern.
Das meiste davon erklärte der Banksicherheitschef Miles Eastin ausführlich. Außerdem breitete er einen im Grunde einfachen Plan aus. Miles würde zum Fitness-Club Doppelte Sieben gehen und die Kontakte aufnehmen, die sich ihm boten. Er würde versuchen, sich beliebt zu machen, und er würde auch alle sich ihm bietenden Gelegenheiten nutzen, um zu Geld zu kommen.
»Das bedeutet ein doppeltes Risiko, darüber müssen Sie sich im klaren sein«, sagte Wainwright. »Wenn Sie was Kriminelles tun und dabei geschnappt werden, dann werden Sie verhaftet und vor Gericht gestellt, und kein Mensch kann Ihnen helfen. Das andere Risiko ist, selbst wenn Sie nicht geschnappt werden, aber der Bewährungsausschuß kriegt davon Wind, dann bringt Sie das mit ebensolcher Sicherheit wieder ins Gefängnis.«
Passierte aber keine der beiden Pannen, fuhr Wainwright fort, dann sollte Miles versuchen, seine Kontakte zu erweitern, sich umhören und Informationen sammeln. Zu Anfang sollte er sich hüten, neugierig zu erscheinen. »Sie lassen es langsam angehen«, mahnte Wainwright ihn. »Nichts überstürzen, immer mit Geduld. Es muß sich herumsprechen; lassen Sie die Leute kommen.«
Erst wenn man Miles akzeptiert hatte, sollte er energischer daran arbeiten, mehr zu erfahren. Er konnte dann erste diskrete Erkundigungen nach gefälschten Kreditkarten einziehen, sich persönlich interessiert zeigen und versuchen, näher an die heranzukommen, die damit handelten. »Es gibt immer jemanden«, erklärte Wainwright, »der einen anderen kennt, der wieder von irgendeinem Kerl gehört hat, der weiß, wo was los ist. Auf die Weise rutschen Sie da rein.«
Von Zeit zu Zeit, sagte Wainwright, würde Eastin ihm berichten. Niemals aber direkt.
Das Problem des Berichtens erinnerte Wainwright an seine Pflicht, von Vic zu erzählen. Er tat das ohne Beschönigung, er ließ keine Einzelheit aus. Während er sprach, sah er, wie Miles Eastin blaß wurde, und ihm fiel die Nacht in Eastins Wohnung wieder ein, der Augenblick der Konfrontation und Überführung, als die instinktive Furcht des jüngeren Mannes vor physischer Gewalt sich so deutlich gezeigt hatte.
»Was auch geschieht«, sagte Wainwright mit Strenge, »ich will nicht, daß Sie später sagen oder denken, ich hätte Sie nicht vor den Gefahren gewarnt.« Er hielt inne, dachte nach. »Jetzt zum Thema Geld.«
Wenn Miles sich bereit erklärte, für die Bank als Spitzel zu arbeiten, sagte der Sicherheitschef, dann garantiere er ihm die Zahlung von fünfhundert Dollar monatlich, bis der Auftrag - so oder so - beendet war. Das Geld werde über einen Mittelsmann gezahlt.
»Wäre ich damit Angestellter der Bank?«
»Absolut nicht.«
Die Antwort war eindeutig, nachdrücklich, endgültig. Wainwright führte aus: Die Bank werde offiziell überhaupt nicht beteiligt sein. Erklärte Miles Eastin sich bereit, die vorgeschlagene Rolle zu übernehmen, so war er von dem Augenblick an auf sich allein gestellt. Geriet er in Schwierigkeiten und versuchte er, die First Mercantile American hereinzuziehen, so werde man jede Verbindung zu ihm leugnen, und kein Mensch werde ihm glauben. »Seit Sie rechtsgültig verurteilt worden und ins Gefängnis gekommen sind«, erklärte Wainwright, »haben wir nicht einmal mehr etwas von Ihnen gehört.«
Miles zog eine Grimasse. »Einseitig mein Risiko.«
»Darauf können Sie Gift nehmen! Aber vergessen Sie nicht: Sie sind hergekommen. Ich bin nicht zu Ihnen gekommen. Also antworten Sie - ja oder nein?«
»Was würden Sie an meiner Stelle tun?«
»Ich bin nicht an Ihrer Stelle, und ich werde es kaum jemals sein. Aber ich sage Ihnen, wie ich es sehe. So wie die Dinge stehen, haben Sie keine große Wahl.«
Einen Augenblick lang blitzten Humor und gute Laune des alten Miles Eastin wieder auf. »Kopf - ich verliere; Zahl - ich verliere. Ich habe den großen Preis für Verlierer gewonnen. Eine Frage habe ich noch.«
»Die wäre?«
»Wenn es klappt, wenn ich - wenn Sie die Beweise bekommen, die Sie brauchen, werden Sie mir dann hinterher helfen, einen Job bei der FMA zu finden?«
»Das kann ich nicht versprechen. Ich sagte schon, die Regeln habe ich nicht erfunden.«
»Aber Sie haben Einfluß genug, um sie ein bißchen zurechtzubiegen.«
Wainwright überlegte eine Weile, bevor er antwortete. Er dachte: Wenn es soweit ist, könnte er letzten Endes immer noch zu Alex Vandervoort gehen und ein gutes Wort für Eastin einlegen. Ein Erfolg wäre das wert. Laut sagte er: »Ich werd's versuchen. Mehr verspreche ich nicht.«
»Sie sind hart«, sagte Miles Eastin. »Gut. Ich mache es.«
Sie sprachen über eine Mittelsperson.
»Von heute an«, sagte Wainwright eindringlich, »werden wir beide uns nicht mehr direkt treffen. Das ist zu gefährlich; wir beide werden möglicherweise beobachtet. Wir brauchen jemanden, der Nachrichten weiterleiten kann - in beiden Richtungen - und Geld; jemanden, dem wir beide absolut vertrauen.«
Miles sagte langsam: »Da wäre Juanita Nunez. Wenn sie dazu bereit ist.«
Wainwright sah ihn ungläubig an. »Die Kassiererin, die Sie... «
»Ja. Aber sie hat mir verziehen.« In seiner Stimme klang eine Mischung von Überschwang und Erregung mit. »Ich habe sie besucht, und, der Himmel segne sie, sie hat mir verziehen!«
»Der Teufel soll mich holen.«
»Fragen Sie sie selbst«, sagte Miles Eastin. »Es gibt absolut keinen Grund, warum sie mitmachen sollte. Aber ich glaube... ich glaube, vielleicht tut sie's doch.«
Wie zuverlässig war Lewis D'Orseys Instinkt in bezug auf Supranational Corporation? Wie solide war Supranational? Dieser Gedanke beschäftigte und quälte Alex Vandervoort weiter.
An einem Samstagabend hatte das Gespräch zwischen Alex und Lewis über SuNatCo stattgefunden. Während des ganzen verbleibenden Wochenendes grübelte Alex über die Empfehlung des »D'Orsey Newsletter« nach, Supranational-Aktien zu jedem auf dem Markt erhältlichen Kurs zu verkaufen, und über Lewis' Zweifel an der Solidität des Konzerns.
Das gesamte Thema war von überragender, ja, lebenswichtiger Bedeutung für die Bank. Doch es konnte eine delikate Situation entstehen, in der er, wie Alex einsah, mit Behutsamkeit vorgehen mußte.
Vor allem war Supranational jetzt ein Großkunde, und jeder Kunde würde mit Recht ungehalten sein, wenn seine eigenen Bankiers abträgliche Gerüchte über ihn in Umlauf setzten, besonders wenn sie falsch waren. Und Alex machte sich keine Illusionen: Begann er erst einmal, Erkundigungen einzuziehen und Fragen zu stellen, würde sich das sehr schnell herumsprechen.
Aber waren die Gerüchte falsch? Gewiß fehlte es - wie Lewis D'Orsey zugegeben hatte - an Substanz. Aber das hatte auch für die ersten Gerüchte über so aufsehenerregende Pleiten gegolten wie die von Penn Central, Equity Funding, Franklin National Bank, Security National Bank, American Bank & Trust, U. S. National Bank of San Diego und andere. Und dann gab es ja noch Lockheed, die zwar nicht pleite, aber dem sehr nahegekommen waren, bis eine Spende der US-Regierung sie ausgelöst hatte. Mit beunruhigender Deutlichkeit erinnerte Alex sich an Lewis D'Orseys Bemerkung über den SuNatCo-Vorsitzenden Quartermain, der in Washington nach einem Kredit a la Lockheed Ausschau halte - nur hatte Lewis das Wort »Subvention« gebraucht, was der Wahrheit recht nahe kam.
Es war natürlich denkbar, daß Supranational nur an einem vorläufigen Liquiditätsengpaß litt, was manchmal den gesündesten Firmen passierte. Alex hoffte, daß es nur das - oder weniger als das - war. Aber als einer der leitenden Direktoren der FMA konnte er es sich nicht leisten, die Augen zu schließen und das Beste zu hoffen. Fünfzig Millionen Dollar vom Geld der Bank waren in die SuNatCo geschleust worden; außerdem hatte die Treuhandabteilung unter Verwendung von Mitteln, deren Hütung und Vermehrung Aufgabe der Bank war, große Mengen Supranational-Aktien gekauft, eine Tatsache, die Alex noch immer kalte Schauer über den Rücken jagte, wenn er daran dachte.
Er kam zu dem Schluß, daß er als erstes, fairerweise, Roscoe Heyward unterrichten müsse.
Am Montag morgen ging er von seinem Büro durch den mit Teppich ausgelegten Korridor im sechsunddreißigsten Stock zu Heywards Büro. Die neueste Nummer von »The D'Orsey Newsletter«, die Lewis ihm am Samstag abend gegeben hatte, hatte Alex bei sich.
Heyward war nicht da. Der Chefsekretärin, Mrs. Callaghan, freundlich zunickend, schlenderte Alex hinein und legte den Informationsbrief mitten auf Heywards Schreibtisch. Er hatte einen Kreis um die Meldung über Supranational gezogen und einen Zettel mit folgendem Text darangeklammert:
Roscoe -ich dachte, Sie sollten das lesen.
A.
Dann kehrte Alex in sein eigenes Büro zurück.
Eine halbe Stunde später stürmte Heyward herein, das Gesicht rot angelaufen, und knallte ihm den Informationsbrief auf den Tisch. »Haben Sie mir diesen Wisch, der eine Beleidigung für jeden intelligenten Menschen darstellt, hingelegt?«
Alex zeigte auf den Zettel, der noch immer angeheftet war. »Es sieht so aus.«
»Dann verschonen Sie mich bitte fortan mit diesen Elaboraten eines eingebildeten Dummkopfs!«
»Na, na! Sicher, Lewis D'Orsey ist eingebildet, und ich stimme auch nicht mit allem, was er schreibt, überein. Sie ja offenbar auch nicht. Aber ein Dummkopf ist er nicht, und manche seiner Ansichten verdienen zumindest Aufmerksamkeit.«
»Das finden Sie vielleicht. Andere nicht. Ich empfehle Ihnen, dies hier zu lesen.« Heyward klatschte ein aufgeschlagenes Magazin auf den Informationsbrief.
Alex warf einen Blick darauf, erstaunt über die Heftigkeit des anderen. »Das habe ich schon gelesen.«
Das Magazin war »Forbes«, der fragliche zweiseitige Artikel eine wilde Attacke gegen Lewis D'Orsey. Alex war zu dem Urteil gelangt, daß der Artikel viele bösartige Spitzen, aber wenig Fakten enthielt. Aber er unterstrich, was er schon wußte -daß Angriffe gegen »The D'Orsey Newsletter« in der Presse des Finanz-Establishments keine Seltenheit waren. Alex erinnerte daran: »>The Wall Street Journal< hat vor einem Jahr etwas Ähnliches gebracht.«
»Dann wundert es mich nur, daß Sie die Augen vor Tatsachen verschließen. D'Orsey hat weder Ausbildung noch Qualifikation als Anlageberater aufzuweisen. In gewisser Hinsicht bedaure ich, daß seine Frau für uns arbeitet.«
Mit Schärfe entgegnete Alex: »Edwina und Lewis D'Orsey halten bewußt eine säuberliche Trennung zwischen ihren beruflichen Tätigkeiten aufrecht, und das wissen Sie genauso gut wie ich. Was die Qualifikation betrifft, so darf ich Sie daran erinnern, daß viele studierte Experten sich in Wirtschaftsprognosen sehr schwer getan haben. Im Gegensatz zu Lewis D'Orsey.«
»Nicht, was Supranational betrifft.«
»Sie glauben also, daß SuNatCo solide ist?«
Alex hatte die letzte Frage mit ruhiger Stimme gestellt, nicht aus Feindseligkeit, sondern wie jemand, der Auskunft sucht. Aber sie schien auf Roscoe Heyward eine nahezu explosive Wirkung zu haben. Heyward blitzte ihn durch seine randlose Brille an; sein gerötetes Gesicht lief noch mehr an. »Ihnen würde natürlich nichts größere Freude bereiten, als einen Rückschlag für SuNatCo zu erleben und damit für mich.«
»Nein, das ist... «
»Lassen Sie mich ausreden!« Heywards Gesichtsmuskeln zuckten, als seine Wut sich Luft machte. »Ich habe mehr als genug von Ihren kleinkarierten Intrigen und vertrauensschädigenden Umtrieben, wie diesen Schmutz hier zu verbreiten« - er zeigte auf »The D'Orsey Newsletter« -, »und jetzt sage ich Ihnen, hören Sie auf, lassen Sie's genug sein. Supranational war und ist eine solide, fortschrittliche Gesellschaft mit hohem Ertrag und gutem Management. Das SuNatCo-Konto hereingeholt zu haben - wie eifersüchtig Sie persönlich auch sein mögen -, war mein Verdienst; es ist meine Sache. Und ich warne Sie: Halten Sie sich da heraus!«
Heyward machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte hinaus.
Mehrere Minuten lang saß Alex Vandervoort schweigend da und versuchte abzuwägen, was gerade geschehen war. Der Ausbruch hatte ihn erstaunt. In den zweieinhalb Jahren, die er Roscoe Heyward kannte und in denen er mit ihm gearbeitet hatte, war es zwischen den beiden zu Meinungsverschiedenheiten gekommen und gelegentlich auch deutlich geworden, daß sie einander nicht mochten. Aber noch nie hatte Heyward, wie an diesem Vormittag, die Selbstbeherrschung verloren.
Alex glaubte, den Grund zu kennen. Das ganze Getöse sollte nur verdecken, daß Roscoe Heyward sich Sorgen machte. Je mehr Alex darüber nachdachte, desto überzeugter war er davon.
Da Alex sich zuvor ebenfalls Sorgen gemacht hatte - und zwar über Supranational -, stellte sich nun die Frage von selbst: Machte auch Heyward sich Sorgen über SuNatCo? Und wenn ja, was war zu tun?
Während er grübelte, kam ihm plötzlich die Erinnerung an eine Bemerkung aus einer kürzlich stattgefundenen Unterhaltung. Alex drückte eine Taste der Sprechanlage. »Versuchen Sie, Miss Bracken zu erreichen«, bat er seine Sekretärin.
Es dauerte fünfzehn Minuten, dann sagte Margots Stimme aufgekratzt: »Hoffentlich hast du einen stichhaltigen Grund. Du hast mich aus der Verhandlung herausgeholt.«
»Hab' ich, Bracken.« Er vergeudete keine Zeit. »In deinem Kaufhaus-Musterprozeß - von dem du uns Samstag abend erzählt hast - hast du einen Privatdetektiv beschäftigt, sagtest du.«
»Ja. Vernon Jax.«
»Ich glaube, Lewis kannte ihn oder hatte von ihm gehört.«
»Richtig.«
»Und Lewis sagte, er wäre ein guter Mann, der schon für die Börsenaufsicht gearbeitet hat.«
»Habe ich auch gehört. Wahrscheinlich deshalb, weil Vernon promovierter Volkswirtschaftler ist.«
Alex fügte diese Information den Notizen hinzu, die er sich schon gemacht hatte. »Ist Jax diskret? Vertrauenswürdig?«
»Absolut.«
»Wie erreiche ich ihn?«
»Das werde ich erledigen. Sag mir, wo und wann du ihn sprechen willst.«
»In meinem Büro, Bracken. Heute - unbedingt.«
Alex betrachtete den unordentlich gekleideten, unauffälligen Mann mit beginnender Stirnglatze, der ihm in der Besprechungsecke seines Büros gegenüber saß. Es war gegen drei Uhr nachmittags.
Jax, schätzte Alex, mochte Anfang Fünfzig sein. Er sah wie ein Kleinstadtkrämer aus, dem es nicht allzu gut ging. Das Oberleder seiner Schuhe war brüchig, und sein Jackett wies Flecke von Essensresten auf. Alex wußte schon, daß Jax als Fahndungsbeamter für die Steuerbehörde gearbeitet hatte, bevor er sich selbständig machte.
»Ich höre, daß Sie promovierter Volkswirtschaftler sind«, begann Alex.
Der andere tat das mit einem Achselzucken ab. »Abenduniversität. Sie wissen ja, wie es ist. Abends hat man Zeit und da...« Seine Stimme verlor sich, er ließ den Satz in der Luft hängen.
»Bilanzwesen? Verstehen Sie viel davon?«
»Ein wenig. Bereite mich gerade auf die Buchsachverständigen-Prüfung vor.«
»Wohl auch Abenduniversität, was?« Alex begann, den anderen zu begreifen.
»Richtig.« Der leiseste Anflug eines Lächelns.
»Mr. Jax«, sagte Alex.
»Die meisten sagen einfach Vernon zu mir.«
»Vernon, ich möchte Sie mit einer Nachforschung beauftragen. Absolute Diskretion ist Vorbedingung, und es muß sehr schnell gehen. Sie haben von der Supranational Corporation gehört?«
»Sicher.«
»Ich brauche eine Finanzprüfung der Gesellschaft. Aber es muß ohne ihr Wissen gemacht werden; Schnüffelei also.«
Jax lächelte wieder. »Mr. Vandervoort« - dieses Mal war sein Ton etwas forscher -, »genau das ist mein Geschäft.«
Sie einigten sich auf eine Zeitspanne von einem Monat, aber wenn es gerechtfertigt erschien, sollte Alex einen Zwischenbericht erhalten. Daß die Bank Erkundigungen einziehen ließ, sollte absolut geheim bleiben. In keiner Weise durfte mit illegalen Mitteln gearbeitet werden. Das Honorar für die Ermittlungen sollte 15000 Dollar plus angemessener Spesen betragen, die Hälfte des Honorars sofort, die andere Hälfte nach Vorlage des Abschlußberichts. Alex würde die Zahlung aus FMA-Betriebsmitteln veranlassen. Er wußte, daß man später Rechenschaft darüber verlangen würde, aber darüber wollte er sich den Kopf erst zerbrechen, wenn es soweit war.
Am späten Nachmittag, als Jax gegangen war, rief Margot an.
»Hast du ihn angeheuert?«
»Ja.«
»Warst du beeindruckt?«
Alex beschloß, auf das Spiel einzugehen. »Nicht besonders.«
Margot lachte leise. »Das kommt noch. Wart's ab.«
Alex hoffte, daß es nicht dazu kommen würde. Er hoffte inständig, daß Lewis D'Orseys Instinkte getrogen hatten, daß Vernon Jax nichts finden würde und daß die unguten Gerüchte über Supranational sich als Gerüchte erweisen würden - als nicht mehr.
Am Abend stattete Alex einen seiner periodischen Besuche bei Celia im Pflegeheim ab. Er fürchtete diese Besuche jetzt noch mehr; sie deprimierten ihn tief, aber aus einem Gefühl der Pflicht heraus setzte er sie fort. Oder war es Schuld? Er konnte es selbst nicht genau unterscheiden.
Wie üblich wurde er von einer Schwester zu Celias Einzelzimmer in der Klinik geführt. Als die Schwester gegangen war, setzte Alex sich, redete, plauderte in sinnleerer, einseitiger Unterhaltung über alles, was ihm gerade in den Kopf kam, obwohl Celia durch kein Zeichen zu erkennen gab, daß sie zuhörte, ja, nicht einmal, daß ihr seine Gegenwart bewußt war. Bei einem seiner früheren Besuche hatte er Kauderwelsch geredet, nur um zu sehen, ob sich ihr leerer Gesichtsausdruck veränderte. Er hatte sich nicht verändert. Danach hatte er sich geschämt und es nicht wieder getan.
Aber er hatte es sich angewöhnt, während dieser Sitzungen bei Celia vor sich hin zu reden, kaum selbst zuzuhören, während die Hälfte seines Verstandes abschweifte. An diesem Abend sagte er unter anderem zu seiner Frau: »Die Menschen haben heutzutage alle möglichen Probleme, Celia; Probleme, an die noch vor ein paar Jahren kein Mensch auch nur dachte. Mit jeder cleveren Erfindung oder Entdeckung erheben sich Dutzende von Fragen und Entscheidungen, um die wir uns früher nie zu kümmern brauchten. Nehmen wir doch nur elektrische Büchsenöffner. Hat man so ein Ding - und ich habe eins in meiner Wohnung -, taucht gleich das Problem auf, wo eine Steckdose für den Stecker ist, wenn man das Ding benutzen soll, wie man es reinigt, was man tun kann, wenn es kaputt geht; samt und sonders Probleme, die kein Mensch hätte, wenn es keine elektrischen Büchsenöffner gäbe, und wer braucht die Dinger eigentlich? Apropos Probleme, ich habe mehrere in diesem Augenblick - persönliche und auch in der Bank. Heute ist ein großes aufgetaucht. In mancher Beziehung hast du es hier vielleicht besser...«
Alex rief sich zur Ordnung, merkte, daß er vielleicht kein Kauderwelsch, auf jeden Fall aber Unfug redete. Hier hatte niemand es besser, in diesem tragischen Viertel-Leben im Dämmerzustand.
Nichts anderes aber war für Celia geblieben; in den letzten Monaten war diese Tatsache noch deutlicher geworden. Noch vor einem Jahr waren Spuren ihrer früheren mädchenhaften, zerbrechlichen Schönheit sichtbar gewesen. Auch sie waren nun verschwunden. Ihr einst prachtvolles blondes Haar war stumpf und schütter. Ihre Haut hatte einen Anflug von Grau; hier und da zeigten Striemen, wo sie sich gekratzt hatte.
War ihre zusammengekauerte Fötalhaltung früher nur gelegentlich vorgekommen, so nahm sie jetzt kaum mehr eine andere ein. Und trotz der Tatsache, daß Celia zehn Jahre jünger war als Alex, wirkte sie jetzt hexenhaft und zwanzig Jahre älter.
Fast fünf Jahre waren seit Celias Einzug in das Pflegeheim vergangen. Jetzt war sie total institutionalisiert, und sie würde es wahrscheinlich auch bleiben.
Während er seine Frau betrachtete und dabei weiter sprach, empfand Alex Mitleid und Trauer, aber eine innere Verbindung zu ihr war nicht mehr vorhanden, auch keine Zuneigung. Vielleicht sollte er derartige Gefühle empfinden, aber es wollte ihm, wenn er ehrlich mit sich selbst war, nicht gelingen. Dennoch war er an Celia gebunden, das erkannte er - durch Bande, die er niemals trennen wollte und konnte, bis der eine oder der andere von ihnen starb.
Er dachte an sein Gespräch mit Dr. McCartney, dem Leiter des Pflegeheims, das er vor fast elf Monaten geführt hatte, am Tage, nachdem Ben Rosselli auf so dramatische Weise seinen nahen Tod bekanntgegeben hatte. Auf Alex' Frage nach der Auswirkung einer Scheidung und Alex' Wiederverheiratung auf Celia hatte der Psychiater geantwortet: Es könnte sie über die Schwelle treiben, die sie noch von der totalen geistigen Verwirrung trennt.
Und Margot hatte später erklärt: Das, was von Celias geistiger Gesundheit noch vorhanden ist, in eine Grube ohne Boden zu stoßen, das will ich nicht auf mein Gewissen laden, und ich will auch nicht, daß du dir so etwas auflädst.
An diesem Abend fragte Alex sich, ob Celias geistige Gesundheit vielleicht schon in einer Grube ohne Boden angelangt sei. Aber selbst wenn es so war, änderte es nichts an seiner Abneigung dagegen, die endgültige, rücksichtslose Maschinerie der Scheidung in Gang zu setzen.
Auch war er nicht dazu übergegangen, dauernd mit Margot Bracken zusammen zu leben, und sie war nicht für immer zu ihm gezogen. Margot war das eine so recht wie das andere, doch Alex wollte noch immer die Heirat - die er offensichtlich nicht haben konnte, ohne sich von Celia scheiden zu lassen. In letzter Zeit jedoch hatte er Margots Ungeduld wegen des Ausbleibens einer Entscheidung gespürt.
Wie sonderbar, daß er, in der First Mercantile American gewohnt, große Entscheidungen rasch, wie sie kamen, zu treffen, in seinem Privatleben mit Entschlußlosigkeit ringen sollte!
Im Kern des Problems, das erkannte Alex, steckte seine alte Ambivalenz hinsichtlich seiner persönlichen Schuld. Hätte er, vor Jahren, durch mehr Mühe, Liebe und Verständnis seine junge, nervöse, sich unsicher fühlende Frau vor dem bewahren können, was aus ihr geworden war? Noch immer hatte er das Gefühl, es hätte ihm gelingen können, wenn er sich mehr ihr anstatt der Bank gewidmet hätte.
Deshalb kam er her, deshalb fuhr er fort, das wenige zu tun, das er vermochte.
Als es Zeit war, Celia zu verlassen, erhob er sich und ging auf sie zu, um sie auf die Stirn zu küssen, wie er es immer tat, wenn sie es zuließ. Aber heute abend zuckte sie zurück, kroch noch mehr in sich zusammen, die Augen geweitet vor plötzlicher Furcht. Er seufzte und gab den Versuch auf.
»Gute Nacht, Celia«, sagte Alex.
Es kam keine Antwort. Er ging hinaus und überließ seine Frau der einsamen Welt, in der sie jetzt wohnte.
Am nächsten Morgen ließ Alex Nolan Wainwright rufen. Er teilte dem Sicherheitschef mit, daß das Honorar für den Privatdetektiv Vernon Jax über Wainwrights Abteilung angewiesen werden sollte. Alex werde die Zahlung genehmigen. Alex sagte nichts über die Art der Nachforschung, die Jax anstellen sollte, und Wainwright fragte nicht. Im Augenblick, sagte sich Alex, konnte es nur von Nutzen sein, wenn möglichst wenig Leute das Ziel kannten.
Nolan Wainwright hatte seinerseits einen Bericht für Alex. Er betraf seine Absprache mit Miles Eastin über seine Tätigkeit als Spitzel für die Bank. Alex reagierte sofort.
»Nein. Ich will den Mann nie wieder auf unserer Gehaltsliste haben.«
»Er wird nicht auf der Gehaltsliste stehen«, machte Wainwright geltend. »Ich habe ihm klargemacht, daß er, was die Bank angeht, keinerlei Status hat. Bekommt er Geld, so wird es ihm bar ausgezahlt, ohne irgendwelche Belege, die Aufschluß über die Herkunft geben könnten.«
»Das ist Haarspalterei, Nolan. So oder so wäre er von uns beschäftigt, und dem kann ich nicht zustimmen.«
»Wenn Sie nicht zustimmen«, wandte Wainwright ein, »dann binden Sie mir die Hände, hindern mich daran, meine Arbeit zu tun.«
»Ihre Arbeit zu machen, das zwingt Sie nicht, einen verurteilten Dieb anzustellen.«
»Haben Sie schon mal was davon gehört, daß man einen Dieb braucht, um einen anderen zu fangen?«
»Dann nehmen Sie einen, der nicht ausgerechnet unsere Bank geschädigt hat.«
Sie stritten hin und her, zum Teil hitzig. Am Ende gab Alex widerstrebend nach. Dann fragte er: »Ist Eastin sich klar, was für ein großes Risiko er eingeht?«
»Er weiß das.«
»Sie haben ihm von dem toten Mann erzählt?« Alex hatte vor mehreren Monaten Vics Geschichte gehört, von Wainwright.
»Ja.«
»Mir gefällt die Sache immer noch nicht - gar nicht.«
»Sie wird Ihnen noch weniger gefallen, wenn die KeychargeVerluste immer weiter ansteigen, wie sie's tun.«
Alex seufzte. »Na gut. Es ist Ihre Abteilung, und Sie können sie auf Ihre Art führen, deshalb habe ich nachgegeben. Eines möchte ich Ihnen aber deutlich sagen: Wenn Sie Grund zu der Annahme haben, daß Eastin in unmittelbarer Gefahr ist, ziehen Sie ihn sofort von der Sache ab.«
»Das hatte ich vor.«
Wainwright war froh, daß er sich durchgesetzt hatte, wenn es auch eine härtere Auseinandersetzung geworden war, als er erwartet hatte. Es schien jedoch nicht klug, jetzt etwas anderes zu erwähnen - zum Beispiel seine Hoffnung, Juanita Nunez als Zwischenträgerin gewinnen zu können. Schließlich, redete er sich selbst ein, hatte Alex prinzipiell zugestimmt, weshalb ihn also mit Einzelheiten behelligen?
Juanita Nunez war zwischen Argwohn und Neugier hin- und hergerissen. Argwohn deshalb, weil sie dem für Sicherheitsfragen zuständigen Vizepräsidenten der Bank, Nolan Wainwright, nicht traute und ihn nicht mochte. Neugier deshalb, weil sie zu gern gewußt hätte, warum er sie sprechen wollte, und allem Anschein nach heimlich.
Es handele sich um nichts, was sie persönlich beträfe und sie beunruhigen müsse, hatte Wainwright ihr am Telefon versichert, als er Juanita gestern in der Cityfiliale anrief. Er hätte nur gern vertraulich und unter vier Augen mit ihr gesprochen, sagte er. »Es geht darum, ob Sie bereit wären, einem anderen zu helfen.«
»Ihnen zum Beispiel?«
»Nicht unmittelbar.«
»Wem dann?«
»Das möchte ich Ihnen lieber unter vier Augen mitteilen.«
Dem Klang seiner Stimme entnahm Juanita, daß Wainwright sich bemühte, freundlich zu sein. Aber sie wehrte sich gegen diese Freundlichkeit; sie hatte seine gefühllose Härte nicht vergessen, als sie unter Dieb stahlsverdacht stand. Diese Erinnerung hatte nicht einmal seine anschließende Entschuldigung auslöschen können. Sie glaubte nicht, daß irgend etwas sie auslöschen konnte.
Wie dem auch sei, er war ein leitender Angestellter der FMA und sie eine kleine Kassiererin. »Gut«, sagte Juanita, »ich bin hier, und als ich das letzte Mal hingesehen habe, war der Tunnel offen.« Sie nahm an, daß entweder Wainwright von der Zentrale herüberkommen oder sie aufgefordert werden würde, sich dort zu melden. Aber er hatte eine Überraschung für sie.
»Es wäre das beste, wenn wir uns nicht in der Bank träfen, Mrs. Nünez. Das werden Sie verstehen, sobald ich Ihnen erklärt habe, worum es geht. Wie wär's, wenn ich Sie heute abend mit meinem Wagen von zu Hause abhole, und wir unterhalten uns, während wir herumfahren?«
»Das geht nicht.« Sie war mehr denn je auf der Hut.
»Sie meinen, heute abend nicht?«
»Ja.«
»Wie wär's morgen?«
Juanita versuchte, Zeit zu gewinnen, um einen Entschluß fassen zu können. »Das werde ich erst später entscheiden können.«
»Na gut, rufen Sie mich morgen an. So früh Sie können. Und inzwischen erwähnen Sie bitte niemandem gegenüber, daß wir dieses Gespräch geführt haben.«
Das war gestern gewesen, und heute, am Dienstag der dritten Septemberwoche, war der Vormittag schon halb herum, und Juanita wußte, daß sie Wainwright nun bald anrufen müßte, oder er würde sie anrufen.
Sie hatte noch immer ein ungutes Gefühl. Manchmal, dachte sie, hatte sie eine Nase für Unheil, und Unheil witterte sie jetzt. Sie hatte daran gedacht, Mrs. D'Orsey um Rat zu bitten, die sie auf der anderen Seite der Bank an ihrem Schreibtisch sehen konnte. Aber sie zögerte, denn Wainwright hatte sie ausdrücklich davor gewarnt, etwas von ihrem Gespräch verlauten zu lassen. Und gerade das hatte ihre Neugier geweckt.
Heute bearbeitete Juanita neue Konten. Neben ihr stand ein Telefon. Sie starrte es an; schließlich nahm sie den Hörer ab und wählte den Hausanschluß der Sicherheitsabteilung. Augenblicke später fragte Nolan Wainwrights tiefe Stimme: »Nun, können Sie es heute abend einrichten?«
Die Neugier siegte. »Ja, aber nicht lange.« Sie erklärte ihm, daß sie Estela eine halbe Stunde allein lassen werde; nicht länger.
»Das wird reichen. Wann und wo?«
Die Abenddämmerung sank herab, als Nolan Wainwrights Mustang II vor dem Mietshaus in Forum East, in dem Juanita Nünez wohnte, sich mit der Nase an den Bordstein schob und hielt. Augenblicke später tauchte Juanita in der Haustür auf und schloß sie sorgsam hinter sich. Wainwright beugte sich von seinem Platz hinter dem Steuer hinüber, öffnete die Tür des Beifahrersitzes, und sie kletterte in den Wagen.
Er half ihr dabei, den Gurt anzulegen, dann sagte er: »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.«
»Eine halbe Stunde«, erinnerte Juanita ihn. »Nicht länger.« Sie gab sich keine Mühe, freundlich zu sein, und der Gedanke, Estela alleingelassen zu haben, machte sie schon nervös.
Der Sicherheitschef der Bank nickte, während er den Wagen vom Bordstein weg lenkte und sich behutsam in den Verkehrsstrom einordnete. Schweigend fuhren sie zwei Straßenblocks weit, dann bogen sie nach links in eine lebhaftere Straße mit Mittelstreifen ein, gesäumt mit hell erleuchteten Geschäften und Schnellrestaurants. Im Fahren sagte Wainwright: »Wie ich höre, hat der junge Eastin Sie besucht.«
»Woher wissen Sie das?« fragte sie scharf.
»Von ihm selber. Er hat auch gesagt, daß Sie ihm verziehen haben.«
»Wenn er's gesagt hat, dann wissen Sie's ja.«
»Juanita - darf ich Sie so nennen?«
»So heiße ich. Wenn Sie unbedingt wollen.«
Wainwright seufzte. »Juanita, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß es mir leid tut, was zwischen uns passiert ist. Wenn Sie mir das noch immer verübeln, dann kann ich das verstehen.«
Sie taute ein wenig auf. »Bueno, sagen Sie mir lieber, was Sie von mir wollen.«
»Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie bereit wären, Eastin zu helfen.«
»Um ihn geht's also.«
»Ja.«
»Warum sollte ich? Ist es nicht genug, wenn ich ihm verzeihe?«
»Wenn Sie meine Meinung hören wollen - es ist mehr als genug. Aber er hat mir gesagt, daß Sie vielleicht... «
Sie fiel ihm ins Wort. »Wie soll ich ihm denn helfen?«
»Bevor ich Ihnen das sage, müssen Sie mir bitte versprechen, daß unter uns bleibt, was heute abend gesagt wird.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe keinen, dem ich es weitersagen könnte. Aber ich verspreche es Ihnen.«
»Eastin wird einiges aufzuspüren versuchen. Für die Bank, aber inoffiziell. Hat er Erfolg, könnte es ihm bei seiner Rehabilitierung helfen, und darum geht es ihm.« Wainwright machte eine Pause, während er einen Traktor mit Anhänger überholte. Er fuhr fort: »Die Arbeit ist riskant. Sie wäre noch riskanter, wenn Eastin mir direkt berichtete. Wir brauchen jemanden, der Nachrichten vom einen zum anderen befördert -einen Zwischenträger.«
»Und da sind Sie auf mich verfallen?«
»Es wäre eine Möglichkeit, die Entscheidung liegt aber ganz allein bei Ihnen. Stimmen Sie zu, würde es Eastin helfen, wieder auf die Beine zu kommen.«
»Und ist Miles der einzige, dem es helfen würde?«
»Nein«, gab Wainwright zu. »Es würde mir helfen; der Bank auch.«
»So ähnlich habe ich es mir gedacht.«
Sie hatten jetzt die hellen Lichter hinter sich gelassen und passierten eine Brücke über den Fluß, dessen Wasser tief unter ihnen schwarz in der zunehmenden Dunkelheit schimmerte. Die Räder des Wagens summten auf der metallenen Straßenoberfläche. Am Ende der Brücke lag die Auffahrt zu einer Fernstraße, die zum Nachbarstaat führte. Wainwright lenkte den Wagen dorthin.
»Sie sagen, er soll einiges aufspüren... Erzählen Sie mir mehr davon.« Juanitas Stimme war leise, ausdruckslos.
»Bitte.« Er schilderte ihr, wie Miles Eastin unter Ausnutzung der im Gefängnis hergestellten Kontakte arbeiten und nach welchen Beweisen er suchen sollte. Es hatte keinen Sinn, sagte sich Wainwright, ihr etwas vorzuenthalten, denn Juanita würde es später doch erfahren. Er berichtete ihr deshalb auch von dem Mord an Vic, verschwieg allerdings die Einzelheiten. »Ich sage nicht, daß Eastin das Gleiche passieren muß«, schloß er,
»jedenfalls werde ich mein möglichstes tun, um das zu verhindern. Ich erwähne es nur, damit Sie wissen, auf was er sich da einläßt; er selbst weiß es natürlich auch. Wenn Sie bereit wären, ihm in der Weise zu helfen, die ich Ihnen geschildert habe, würde es seine Sicherheit erhöhen.«
»Und wer sorgt für meine Sicherheit?«
»Sie gehen praktisch kein Risiko ein. Sie würden nur mit Eastin und mit mir Kontakt haben. Kein anderer erfährt davon, Sie werden nicht in die Sache hineingezogen. Dafür würden wir sorgen.«
»Wenn Sie da so sicher sind, warum treffen wir uns dann unter diesen Umständen?«
»Nur aus Vorsicht. Um sicherzustellen, daß wir nicht zusammen gesehen werden und niemand mithören kann.«
Juanita wartete, dann sagte sie: »Und das ist alles? Mehr haben Sie mir nicht mitzuteilen?«
»Ich denke, das wäre alles.«
Sie waren jetzt auf der Fernstraße, und er fuhr gleichmäßige 70 Stundenkilometer. Er blieb in der rechten Fahrspur, während andere Fahrzeuge sie überholten. Aus der Gegenrichtung strömten ihnen in Dreierreihen Scheinwerfer entgegen, zogen dann, verschwimmend, an ihnen vorbei. Bald würde er eine Ausfahrt nehmen und in die Richtung, aus der sie gekommen waren, zurückfahren. Juanita saß schweigend neben ihm, den Blick nach vorn gerichtet.
Er fragte sich, woran sie denken mochte und wie ihre Antwort ausfallen würde. Er hoffte auf ihr Ja. Wie früher schon, war er sich der sexuellen Anziehung bewußt, die diese zierliche Mädchenfrau auf ihn ausübte. Ihre Widerborstigkeit war ein Teil davon; auch ihr Geruch - eine körperliche feminine Präsenz in dem kleinen, geschlossenen Auto. In Nolan Wainwrights Leben hatte es seit seiner Scheidung wenige Frauen gegeben, und zu jeder anderen Zeit hätte er vielleicht sein Glück versucht. Was er aber jetzt von Juanita wollte, durfte er nicht durch ein Techtelmechtel aufs Spiel setzen.
Gerade wollte er dem Schweigen ein Ende machen, als Juanita sich ihm zuwandte. Trotz des Halbdunkels konnte er sehen, daß ihre Augen blitzten.
»Sie müssen verrückt sein! Verrückt! Verrückt!« Ihre Stimme wurde lauter. »Halten Sie mich für schwachsinnig? jüna boba! jüna tonta! Kein Risiko für mich, sagen Sie! Natürlich ist da ein Risiko, sogar ein ganz gewaltiges. Und wofür? Für den Ruhm des Mr. Wainwright und seiner Bank.«
»Moment mal... «
Sie achtete nicht auf seine Unterbrechung und ließ ihrem Zorn freien Lauf. »Bin ich so ein Nichts? Ich bin allein, ich bin Puertorikanerin. Das genügt wohl, um mir in dieser Welt alles zuzumuten. Ist es Ihnen gleichgültig, wen Sie mißbrauchen und wie? Bringen Sie mich nach Hause! Was für eine pendejada ist das eigentlich?«
»Halt mal!« sagte Wainwright; diese Reaktion hatte er nicht erwartet. »Was ist das, pendejada?«
»Idiotie! Pendejada, daß Sie das Leben eines Menschen für Ihre Interessen, für Ihre Kreditkarten wegwerfen! Pendejada, daß Miles sich darauf einläßt.«
»Er ist zu mir gekommen, hat mich um Hilfe gebeten. Ich bin nicht zu ihm gegangen.«
»Und das nennen Sie Hilfe?«
»Für das, was er tut, wird er bezahlt. Das wollte er auch. Und er war es, der Sie vorgeschlagen hat.«
»Was stimmt denn bei ihm nicht, daß er mich nicht selbst fragen kann? Hat Miles die Sprache verloren? Oder schämt er sich, versteckt er sich hinter Ihrem Rockschoß?«
»Ist ja schon gut, ist ja gut«, wehrte Wainwright die Attacke ab. »Ich habe kapiert. Ich bringe Sie nach Hause.« Eine Ausfahrt lag kurz vor ihnen; er nahm sie, fuhr über eine Brücke und steuerte wieder in Richtung Stadt.
Juanita saß da, noch immer vor Wut kochend.
Zuerst hatte sie versucht, Wainwrights Vorschlag in aller Ruhe zu überdenken. Aber während er sprach und während sie zuhörte, stürmten Zweifel und Fragen auf sie ein, und dann, als sie einen Punkt nach dem anderen bedachte, wuchsen Zorn und Empörung und machten sich schließlich in einer Explosion Luft. Mit diesem Gefühlsausbruch kamen erneuter Haß und Ekel gegen den Mann hoch, der da neben ihr saß. Die schmerzliche Erinnerung an ihr erstes Zusammentreffen mit ihm kehrte jetzt wieder und nahm an Heftigkeit zu. Und sie empfand Zorn, nicht nur, was sie selbst betraf, sondern auch wegen des Mißbrauchs, den Wainwright und die Bank mit Miles treiben wollten.
Gleichzeitig richtete ihr Zorn sich auch gegen Miles. Warum hatte er sich nicht selbst, direkt, an sie gewandt? War er nicht Manns genug? Ihr fiel wieder ein, wie sie vor nicht ganz drei Wochen seinen Mut bewundert hatte, zu ihr zu kommen, ihr entgegenzutreten, sie um Verzeihung zu bitten. Aber seine jetzige Handlungsweise, die Art, sie durch einen anderen bearbeiten zu lassen, das paßte schon eher zu seinem früheren Verrat, als er ihr die Schuld an seinen eigenen Verfehlungen hatte zuschieben wollen. Aber dann schlugen ihre Gedanken um. War sie zu hart, war sie ungerecht? Und wenn sie ehrlich sein wollte - spielte bei all ihrem Zorn nicht auch die Enttäuschung eine Rolle, daß Miles nach der Begegnung in ihrer Wohnung nicht wiedergekommen war? Und daß nicht er - den sie trotz allem mochte - mit diesem Vorschlag gekommen war, sondern Nolan Wainwright vorgeschickt hatte, den sie nicht mochte?
Ihr Zorn, der sich nie lange hielt, verebbte langsam; Unsicherheit trat an seine Stelle.
»Und was werden Sie jetzt tun?« fragte sie.
»Wofür ich mich auch entscheide, Ihnen werde ich es gewiß nicht anvertrauen.« Seine Stimme klang schroff, von seinem Versuch, freundlich zu sein, war nichts mehr geblieben.
Plötzlich beunruhigt, fragte Juanita sich, ob sie unnötig feindselig gewesen war; sie hätte die Bitte abschlagen können, ohne beleidigend zu werden. Ob Wainwright nach einer Möglichkeit suchen würde, es ihr in der Bank heimzuzahlen? Hatte sie ihren Arbeitsplatz in Gefahr gebracht - die Arbeit, auf die sie angewiesen war, um für Estela sorgen zu können? Juanitas Angst nahm zu. Sie hatte nun doch das Gefühl, in einer Falle zu sitzen.
Und noch etwas kam hinzu, gestand sie sich ein: Wenn sie aufrichtig war - worum sie sich bemühte -, so tat es ihr leid, daß sie wegen ihrer Entscheidung nun Miles nie wiedersehen würde.
Der Wagen fuhr langsamer. Sie waren in der Nähe der Abzweigung, die sie wieder zurückbringen würde über die Brücke.
Zu ihrer eigenen Überraschung hörte Juanita sich mit einer tonlosen, leisen Stimme sagen: »Also gut. Ich mache es.«
»Sie machen - was?«
»Ich mache es, ich werde als - wie haben Sie es genannt...«
»Als Zwischenträger fungieren.« Wainwright sah sie von der Seite her an. »Haben Sie es sich auch gut überlegt?«
»Si, estoy segura. Ich bin ganz sicher, daß ich es will.«
Zum zweitenmal an diesem Abend seufzte er. »Sie sind ein seltsamer Mensch.«
»Ich bin eine Frau.«
»Ja«, sagte er, und einiges von seiner Freundlichkeit kehrte zurück. »Das habe ich gemerkt.«
Anderthalb Straßenblocks von Forum East entfernt hielt Wainwright an, ließ aber den Motor laufen. Er zog zwei Umschläge aus einer Innentasche seines Jacketts - einen dicken, einen kleineren - und gab Juanita den dickeren.
»Das ist Geld für Eastin. Verwahren Sie es, bis er sich meldet.« Der Umschlag, erklärte Wainwright, enthielt vierhundertfünfzig Dollar in bar - die vereinbarte monatliche Summe, abzüglich eines Vorschusses von fünfzig Dollar, den Miles in der vorigen Woche von Wainwright bekommen hatte.
»Ende der Woche«, fügte er hinzu, »ruft Eastin mich an, und ich nenne dann ein Codewort, das wir schon vereinbart haben. Ihr Name fällt nicht. Aber er weiß dann, daß er sich bei Ihnen melden soll, und das wird er kurz darauf tun.«
Juanita nickte, sich konzentrierend, und merkte sich, was ihr gesagt worden war.
»Nach diesem Telefonanruf werden Eastin und ich keinen direkten Kontakt mehr aufnehmen. Was wir uns mitzuteilen haben, läuft über Sie. Am besten schreiben Sie nichts auf, sondern behalten alles im Kopf. Ich weiß zufällig, daß Sie ein gutes Gedächtnis haben.«
Wainwright lächelte, als er das sagte, und plötzlich lachte Juanita auf. Wie merkwürdig, daß ihr außerordentlich gutes Gedächtnis, einst Ursache ihrer Schwierigkeiten mit der Bank und Nolan Wainwright, jetzt von ihm als Pluspunkt verbucht und genutzt wurde!
»Übrigens brauche ich Ihre private Telefonnummer«, setzte er hinzu. »Ich habe sie auf der Liste nicht gefunden.«
»Das liegt daran, daß ich kein Telefon habe. Zu teuer.«
»Aber Sie brauchen eins. Vielleicht will Eastin Sie anrufen; vielleicht ich. Wenn Sie sich sofort ein Telefon legen lassen, werde ich dafür sorgen, daß Ihnen die Bank die Kosten ersetzt.«
»Ich will's versuchen. Aber ich weiß von anderen, daß es in Forum East lange dauert, bis man einen Anschluß bekommt.«
»Dann lassen Sie mich das regeln. Ich rufe die Telefongesellschaft morgen an. Ich garantiere Ihnen, daß es schnell über die Bühne geht.«
»Gut.«
Jetzt öffnete Wainwright den zweiten, kleineren Umschlag. »Wenn Sie Eastin das Geld geben, dann geben Sie ihm auch dies.«
»Dies« war eine Keycharge-Bankkreditkarte, ausgestellt auf den Namen H. E. LYNCOLP. Auf der Rückseite der Karte war ein freier Platz für die Unterschrift.
»Lassen Sie Eastin die Karte unterschreiben, mit diesem Namen, in seiner normalen Handschrift. Der Name ist erfunden, aber wenn er die Anfangsbuchstaben und den letzten Buchstaben ansieht, wird er merken, daß sie das Wort H-E-L-P ergeben, HILFE. Dafür ist die Karte da.«
Der Sicherheitschef der Bank erklärte, daß der KeychargeComputer so programmiert worden sei, daß bei Vorlage dieser Karte, wo es auch sei, ein Kauf bis zu hundert Dollar genehmigt würde, gleichzeitig aber würde automatisch in der Bank ein Alarm ausgelöst. Wainwright erhielt auf diese Weise die Nachricht, daß Eastin Hilfe brauchte, und auch, wo er sich gerade befand.
»Er kann die Karte benutzen, wenn er eine heiße Spur gefunden hat und Unterstützung braucht oder auch, wenn er glaubt, daß er in Gefahr ist. Je nachdem, was bis dahin geschehen ist, werde ich entscheiden, was zu tun ist. Sagen Sie ihm, er soll etwas kaufen, das mehr als fünfzig Dollar kostet; so können wir sicher sein, daß das Geschäft telefonische Bestätigung einholt. Nach dem Anruf soll er dann so lange trödeln wie irgend möglich, um mir Zeit zum Handeln zu geben.«
Wainwright fügte hinzu: »Vielleicht wird er die Karte nicht brauchen. Aber wenn er sie braucht, dann ist das ein Signal, von dem kein anderer etwas erfährt.«
Auf Wainwrights Bitte wiederholte Juanita seine Anweisungen fast Wort für Wort. Er sah sie bewundernd an. »Sie sind ein kluges Kind.«
»iDe que me vale, muerta?«
»Was heißt das?«
Sie zögerte, dann übersetzte sie: »Was nützt mir das, wenn ich tot bin?«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen!« Er streckte eine Hand aus und berührte flüchtig ihre gefalteten Hände. »Ich verspreche Ihnen, es wird alles gutgehen.«
In diesem Augenblick wirkte seine Zuversicht ansteckend. Aber später, als Juanita in ihre Wohnung zurückgekehrt war und Estela schlief, war dieser Instinkt, der sie hartnäckig vor kommenden Gefahren warnte, plötzlich wieder da und wollte nicht von ihr weichen.
Der Fitness-Club Doppelte Sieben roch nach Dampf, abgestandenem Urin, menschlichen Leibern und Schnaps. Aber wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, mischten sich die Ausdünstungen zu einem einzigen scharfen, auf seltsame Weise nicht unangenehmen Geruch, so daß gelegentlich hereinziehende frische Luft störend wirkte.
Der Club war ein kastenähnliches, dreistöckiges Gebäude aus braunen Ziegeln in einer heruntergekommenen Sackgasse am Rande des Stadtkerns. Seine Fassade trug die Spuren von fünfzigjähriger Abnutzung, Vernachlässigung und - neueren Datums - Kritzelei. Auf dem Dach dieses Baus befand sich ein ungeschmückter Stumpf einer Fahnenstange, und niemand konnte sich erinnern, sie je anders als abgebrochen gesehen zu haben. Der Haupteingang bestand aus einer massiven, nicht gekennzeichneten Tür, die auf einen durch Risse, umgestürzte Mülleimer und unzählige Haufen von Hundekot verschandelten Bürgersteig führte. Unmittelbar hinter der Tür war die Empfangshalle mit abblätternder Farbe an den Wänden, die von einem schwachsinnig geschlagenen Exboxer bewacht werden sollte. Er hatte Auftrag, Mitglieder hereinzulassen und Fremde abzuwimmeln. Er war aber manchmal nicht da, was die Tatsache erklärte, daß Miles Eastin unangefochten hineinspazieren konnte.
Es war kurz vor zwölf, mitten in der Woche, und ein Schwall lauter Stimmen trieb von irgendwoher aus dem hinteren Teil des Gebäudes nach vorn. Miles ging dem Stimmengeräusch entgegen, einen Korridor entlang, der nicht besonders sauber war und dessen Wände mit vergilbten Preisboxer-Fotos behängt waren. Am Ende führte eine offenstehende Tür zu einer halb verdunkelten Bar, aus der die Stimmen kamen. Miles ging hinein.
Anfangs konnte er in dem Dämmerlicht kaum etwas erkennen und tappte mit unsicheren Schritten vorwärts, so daß er von einem Kellner, der es eilig hatte und ein Tablett voller Gläser trug, angerempelt wurde. Der Kellner fluchte, konnte seine Gläser gerade noch retten und ging weiter. Zwei Männer auf Barhockern drehten sich um. Einer sagte: »Dies is 'n Privatclub, Mann. Wennse kein Mitglied sind - raus!«
Der andere beklagte sich: »Pedro, das faule Schwein, is' wohl wieder verduftet. Mensch, das 'n Portier! He, wer biste? Was willste?«
»Ich such' Jules LaRocca«, sagte Miles.
»Such woanders«, befahl ihm der erste. »Keiner da, der so heißt.«
»He, Miles, Baby!« Ein vierschrötiger Mann mit Schmerbauch ruderte emsig durch die Halbfinsternis auf ihn zu. Das vertraute Wieselgesicht nahm Konturen an. Es war LaRocca, der im Gefängnis Drummonburg Emissär der Mafiastraße gewesen war und der sich später Miles und seinem Beschützer Karl angeschlossen hatte. Karl war noch im Knast, und da würde er sehr wahrscheinlich auch bleiben. Jules LaRocca war kurz vor Miles Eastin zur Bewährung entlassen worden.
»Hallo, Jules«, sagte Miles und nickte.
»Komm her. Ich mach' dich mal bekannt hier.« LaRocca packte Miles mit dicken Fingern am Arm. »Freund von mir«, erklärte er den beiden Männern auf Barhockern, die ihm gleichgültig den Rücken zukehrten.
»Warte«, sagte Miles, »bei mir is' nix zu holen. Bin pleite. Kann nix schmeißen.« Er verfiel mühelos in den Jargon, den er im Gefängnis gelernt hatte.
»Macht nichts. Ich schmeiß' 'n Bier.« Als sie ihren Weg zwischen Tischen suchten, fragte LaRocca: »Wo haste gesteckt?«
»'n Job gesucht. Bin erledigt, Jules. Könnte 'n bißchen Hilfe gebrauchen. Wie isses, du hast doch gesagt, daß du was für mich tun willst.«
»Aber ja doch.« Sie blieben an einem Tisch stehen, an dem zwei andere Männer saßen. Einer war dünn und faltig, mit traurigem, pockennarbigem Gesicht; der andere hatte langes blondes Haar, Cowboy-Stiefel und trug eine dunkle Brille. LaRocca zog einen vierten Stuhl heran. »Das 'n Freund von mir, Milesy.«
Der Mann mit der dunklen Brille grunzte. Der andere sagte: »Der Kumpel, der was von Moos versteht?«
»Das isser.« LaRocca brüllte quer durch den Raum nach Bier, dann drängte er den Mann, der zuerst etwas gesagt hatte: »Frag ihn was.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel was über Geld, Arschloch«, sagte der mit der dunklen Brille. Er dachte nach. »Wo isses mit 'm ersten Dollar losgegangen?«
»Das is' leicht«, sagte Miles. »Viele glauben, Amerika hat den Dollar erfunden. Stimmt nicht. Kam aus Böhmen in Deutschland, hieß aber zuerst >Thaler<, was sonst kein Schwein aussprechen konnte, also hat man's zu Dollar verquatscht, und dabei is' es geblieben. So ziemlich zum ersten Mal wird er in >Macbeth< erwähnt - >Zehntausend Taler in den Schatz gezahlt.««
»Mac... wer?«
»Mac Scheiße«, sagte LaRocca. »Willste 'n gedrucktes Programm?« Stolz sagte er zu den beiden anderen: »Seht ihr? Der Junge weiß alles.«
»Nicht ganz«, sagte Miles, »sonst wüßte ich, wie ich im Augenblick 'n paar Piepen machen könnte.«
Zwei Biere wurden vor ihm auf den Tisch geknallt. LaRocca fischte nach Geld und gab es dem Kellner.
»Bevor du Moos machst«, sagte LaRocca zu Miles, »mußte Ominsky zahlen.« Er ignorierte die beiden anderen und beugte sich vertraulich über den Tisch. »Der Russe weiß, daß du aus'm Knast raus bist. Hat schon nach dir gefragt.«
Die Erwähnung des Wucherers, dem er noch immer mindestens dreitausend Dollar schuldete, brachte Miles ins Schwitzen. Und ungefähr die gleiche Summe schuldete er dem Buchmacher, bei dem er gewettet hatte, und die Chance, auch nur eine der beiden Summen zurückzahlen zu können, schien in diesem Augenblick verschwindend gering. Aber er hatte gewußt, daß sein Erscheinen hier an diesem Ort die alten Konten wieder öffnen würde, daß brutaler Druck folgen würde, wenn er nicht mit Geld herausrückte.
Er fragte LaRocca: »Wie soll ich denen was abzahlen, wenn ich keine Arbeit finde?«
Der Mann mit Schmerbauch schüttelte den Kopf. »Erst mal mußte den Russen besuchen.«
»Wo?« Miles wußte, daß Ominsky kein Büro hatte, sondern seine Geschäfte da betrieb, wohin seine Wege ihn gerade führten.
LaRocca zeigte auf das Bier. »Trink aus, dann gehn wir zwei beide mal nachsehen.«
»Betrachten Sie es doch einmal von meiner Warte aus«, sagte der elegant gekleidete Mann und widmete sich weiter seinem Lunch. Seine brillantberingten Hände bewegten sich geschickt über seinem Teller. »Wir hatten eine geschäftliche Vereinbarung, Sie und ich, auf die wir uns geeinigt hatten. Ich habe meine Verpflichtungen eingehalten. Sie Ihre aber nicht. Ich frage Sie, wie stehe ich jetzt da?«
»Hören Sie«, sagte Miles beschwörend, »Sie wissen, was geschehen ist, und ich bin Ihnen auch sehr dankbar, daß Sie die Uhr angehalten haben. Aber ich kann jetzt nicht zahlen. Ich möchte ja, aber ich kann nicht. Bitte lassen Sie mir Zeit.«
Igor (der Russe) Ominsky schüttelte den teuer frisierten Kopf; manikürte Finger berührten eine rosige, sauber rasierte Wange. Er legte Wert auf eine gepflegte Erscheinung. Er lebte gut und kleidete sich gut. Er konnte es sich leisten.
»Zeit ist Geld«, sagte er mit sanfter Stimme, »von beidem haben Sie schon zuviel gehabt.«
LaRocca hatte Miles in das Restaurant geführt, wo er Igor jetzt in seiner Nische gegenübersaß und ihn anstarrte wie eine Maus die Schlange. Auf seiner Seite des Tisches stand kein Essen, nicht mal ein Glas Wasser, das er gut hätte brauchen können, denn seine Lippen waren trocken, und Angst nagte an seinem Magen. Hätte er jetzt seine Abmachung mit Nolan Wainwright rückgängig machen können, die ihn hierhergebracht hatte - Miles hätte es augenblicklich getan. So aber saß er da, schwitzend, beobachtend, während Ominsky sich seiner Seezunge Bonne Femme widmete. Jules LaRocca war diskret in der Bar verschwunden.
Miles' Angst hatte einen einfachen Grund. Den Umfang von Ominskys Geschäft konnte er erraten und daraus folgern, wie absolut seine Macht war.
Miles hatte einmal eine Fernsehdiskussion gesehen, in der man einem Kriminologen, Ralph Salerno, die Frage gestellt hatte: Angenommen, Sie müßten als Verbrecher leben - für welche Art der Kriminalität würden Sie sich entscheiden? Wie aus der Pistole geschossen, hatte der Experte geantwortet: Für den Wucher. Was Miles von seinen Kontakten im Gefängnis wußte, bestätigte diese Ansicht.
Ein Kredithai wie der Russe Ominsky war ein Banker, der schwindelerregende Profite bei minimalem Risiko machte, da er völlig unbehelligt von Vorschriften arbeitete. Er brauchte sich nicht um Kunden zu bemühen, sie kamen von allein zu ihm. Er benötigte kein teures Geschäftslokal und wickelte seine Geschäfte in einem Auto ab, in einer Bar - oder beim Essen, wie jetzt. Seine Buchhaltung war von allereinfachster Art, meist verschlüsselt, und seine Transaktionen - weitgehend in bar -waren nicht zu kontrollieren. Verluste durch faule Kunden kamen selten vor. Doch die Zinssätze, die er berechnete, lagen normalerweise bei 100 Prozent pro Jahr und oft höher.
Miles schätzte, daß Ominsky ständig mindestens zwei Millionen Dollar »auf der Straße« hatte. Ein Teil davon wäre das eigene Geld des Kredithais, der Rest bei ihm investiert von Bossen des organisierten Verbrechens, für die er gegen eine Kommission, die er einbehielt, einen hübschen Gewinn erarbeitete. Es war normal, daß ein Kapital von 100000 Dollar, im Kreditwucher investiert, sich binnen fünf Jahren zu einer Pyramide von 1,5 Millionen Dollar aufschichtete - ein Kapitalgewinn von l400 Prozent. Damit konnte kein anderes Geschäft der Welt konkurrieren.
Dabei waren die Kunden eines Kredithais keineswegs immer kleine Fische. Mit überraschender Häufigkeit borgten große Namen und geachtete Unternehmen bei Kredithaien, wenn andere Kreditquellen erschöpft waren. Manchmal stieg der Kredithai unter Verzicht auf eine Rückzahlung als Partner -oder Eigentümer - in ein anderes Geschäft ein. Wie bei einem menschenfressenden Hai war sein Appetit gewaltig.
Die Hauptkosten in dem Geschäft verursachte das zwangsweise Eintreiben von Außenständen, und der Kredithai sorgte dafür, daß sie minimal blieben, denn er wußte, daß gebrochene Gliedmaßen und krankenhausreife Körper wenig oder überhaupt kein Geld abwarfen; aber er wußte auch, daß seine stärkste Waffe beim Eintreiben die Angst war.
Und diese Angst mußte geschürt werden; zahlte also ein Schuldner nicht, kam die Bestrafung durch angeworbene Gorillas schnell und hart.
Die Risiken, die ein Kredithai einging, waren gering, verglichen mit anderen Formen des Verbrechens. Sehr selten wurde ein Verfahren gegen solche Leute eingeleitet, und nur wenige wurden jemals verurteilt, da die Gerichte nicht genügend Beweise beibringen konnten. Die Kunden des Kredithais waren verschwiegen; teils aus Angst, etliche auch aus Scham, weil sie seine Dienste überhaupt in Anspruch genommen hatten. Und diejenigen, die zusammengeschlagen wurden, erstatteten keine Anzeige, da sie sonst weitere Kostproben zu erwarten hatten, wie ihnen wohl bekannt war.
Also harrte Miles furchtsam aus, während Ominsky seine Seezunge verspeiste.
Unerwartet sagte der Kredithai: »Verstehen Sie was von Buchführung?«
»Buchführung? Aber ja; als ich in der Bank arbeitete... «
Eine Handbewegung gebot ihm Schweigen; kalte, harte Augen musterten ihn abschätzend. »Vielleicht kann ich Sie beschäftigen. Ich brauche einen Buchhalter für die Doppelte Sieben.«
»Für den Fitness-Club?« Es war neu für Miles, daß Ominsky Besitzer oder Manager des Clubs war. Er fügte hinzu: »Ich war heute da, bevor... «
Der andere schnitt ihm das Wort ab. »Wenn ich rede, haben Sie den Mund zu halten und zuzuhören; antworten Sie nur, wenn Sie gefragt werden. LaRocca sagt, daß Sie arbeiten wollen. Wenn ich Ihnen Arbeit verschaffe, geht alles, was Sie verdienen, an mich, als Abzahlung für den Kredit und die Zinsen. Mit anderen Worten, Sie gehören mir. Das möchte ich verstanden wissen.«
»Ja, Mr. Ominsky.« Erleichterung durchflutete Miles. Man wollte ihm also doch Zeit lassen. Das Wie und Warum war unwichtig.
»Sie bekommen Ihr Essen und ein Zimmer«, sagte der Russe Ominsky. »Aber ich warne Sie - Finger weg von der Kasse. Ertappe ich Sie je dabei, daß Sie lange Finger machen, dann werden Sie wünschen, Sie hätten noch einmal die Bank bestohlen, nicht mich.«
Miles lief es unwillkürlich kalt über den Rücken, weniger aus Sorge vor dem Stehlen - er hatte nicht die Absicht, das zu tun -, sondern vielmehr, weil er wußte, was Ominsky tun würde, wenn er jemals erfuhr, daß sich ein Judas in seinem Lager befand.
»Jules wird Sie abholen und unterbringen. Sie werden erfahren, was Sie zu tun haben. Das ist alles.« Ominsky entließ Miles mit einer Handbewegung und nickte LaRocca zu, der sie von der Bar her beobachtet hatte. Während Miles an der äußeren Tür des Restaurants wartete, konferierten die beiden anderen; der Kredithai erteilte Anweisungen, LaRocca nickte.
Jules LaRocca erschien wieder bei Miles. »Da haste Schwein gehabt, Junge. Ab durch die Mitte.«
Als sie gingen, machte sich Ominsky über seinen Nachtisch her, während eine andere wartende Gestalt auf den Platz ihm gegenüber glitt.
Das Zimmer, das man ihm in der Doppelten Sieben angewiesen hatte, lag im obersten Geschoß des Gebäudes und war wenig mehr als eine schäbig möblierte Zelle. Miles machte das nichts aus. Es stellte einen höchst zaghaften Neubeginn dar, eine Chance, sein Leben neu zu gestalten und etwas von dem zurückzuerlangen, was er verloren hatte, wenn er auch wußte, daß es Zeit kosten würde, riskant war und Unternehmungsgeist erforderte. Im Augenblick versuchte er, nicht allzuviel über seine Doppelrolle nachzudenken, sich statt dessen darauf zu konzentrieren, sich nützlich zu machen und akzeptiert zu werden, wie Nolan Wainwright es ihm aufgetragen hatte.
Zunächst erforschte er das Innere des Gebäudes. Der größte Teil des Erdgeschosses - abgesehen von der Bar, in der er zu Anfang gewesen war - wurde von einer Sporthalle und Handballplätzen eingenommen. Im ersten Stock befanden sich Dampfbad- und Massageräume. Der zweite Stock umfaßte Büros; außerdem mehrere andere Räume, deren Verwendungszweck er später kennenlernen sollte. Der dritte Stock, weniger geräumig als die anderen, enthielt mehrere andere Zellen, die Miles' eigener Kammer glichen und in denen Clubmitglieder gelegentlich übernachteten.
Miles fand sich mit Leichtigkeit in die Aufgabe des Buchhalters. Die Arbeit sagte ihm zu; er holte Liegengebliebenes auf und verbesserte die Übertragung in das Hauptbuch, die bisher nachlässig gehandhabt worden war. Er machte dem Clubmanager Vorschläge, wie man andere Bücher vernünftiger führen konnte, vermied es aber, daß ihm selbst das Verdienst an den Verbesserungen zugeschrieben wurde.
Der Manager, ein ehemaliger Boxpromoter namens Nathanson, dem Büroarbeit nicht leicht von der Hand ging, war dankbar. Noch mehr wußte er es zu schätzen, als Miles sich erbot, zusätzliche Arbeiten im Club zu übernehmen, wie Reorganisation des Lagers und des Inventurverfahrens. Nathanson ließ Miles deshalb einen Teil seiner Freizeit auf den Handball-Plätzen verbringen, was ihm zusätzliche Gelegenheit verschaffte, Mitglieder kennenzulernen.
Die ausschließlich männliche Mitgliedschaft des Clubs teilte sich, soweit Miles das übersehen konnte, gewissermaßen in zwei Gruppen. Die eine umfaßte diejenigen, die ernsthaft die Sportanlagen des Clubs benutzten, einschließlich der Dampfbäder und der Massage-Räume. Diese Leute kamen und gingen jeweils allein und schienen sich untereinander kaum zu kennen; Miles vermutete, daß es sich um Angestellte oder kleinere Geschäftsleute handelte, die der Doppelten Sieben ganz schlicht aus Fitness-Gründen angehörten. Er vermutete auch, daß die erste Gruppe eine willkommene legitime Fassade für die zweite abgab, die die Sportanlagen so gut wie nie in Anspruch nahm, mit Ausnahme gelegentlicher Dampfbäder.
Die zur zweiten Gruppe Gehörigen hielten sich vorwiegend in der Bar oder in den Räumen des zweiten Stocks auf. Am zahlreichsten waren sie am späten Abend zugegen, wenn die nach sportlicher Betätigung suchenden Mitglieder selten im Club anzutreffen waren. Miles wurde klar, daß Nolan Wainwright sich auf dieses zweite Element bezogen hatte, als er die Doppelte Sieben einen »Ganoventreff« genannt hatte.
Noch etwas anderes merkte Miles Eastin sehr bald, nämlich daß die oberen Räume für illegale Karten- und Würfelspiele mit hohen Einsätzen benutzt wurden. Es dauerte eine Woche, bis einige der nächtlichen Stammgäste sich an ihn gewöhnt hatten und ihm ohne Mißtrauen begegneten, zumal Jules LaRocca ihnen versichert hatte, daß er »okay« sei, »ein Kerl, der die Schnauze hält«.
Wenig später, immer im Bestreben, sich nützlich zu machen, begann Miles mitzuhelfen, wenn Getränke und Sandwiches in den zweiten Stock getragen werden mußten. Beim ersten Mal, als er das tat, nahm einer von sechs stämmigen Männern, die draußen vor den Spielzimmern standen und offensichtlich dort Wache hielten, ihm das Tablett ab und trug es hinein. Aber am nächsten Abend und an den folgenden durfte er die Räume betreten, in denen gespielt wurde. Miles machte sich auch nützlich, indem er unten Zigaretten kaufte und sie dem hinaufbrachte, der gerade welche brauchte, einschließlich der Wächter.
Er wußte, daß man ihn mit Wohlwollen zu betrachten begann.
Hauptsächlich wegen seiner allgemeinen Hilfsbereitschaft. Aber auch, weil er trotz aller Sorgen und Gefahren etwas von seiner alten gutgelaunten Munterkeit zurückgewonnen hatte. Und ein dritter Grund war, daß Jules LaRocca, der überall an der Peripherie herumzuflitzen schien, zu Miles' Gönner und Förderer geworden war, auch wenn er Miles manchmal das Gefühl verlieh, in einem Schmierentheater mitzuwirken.
Was LaRocca und seine Genossen immer wieder faszinierte, das war Miles Eastins Kenntnis des Geldes und seiner Geschichte. Besonders beliebt war die Saga des im Regierungsauftrag gedruckten Falschgelds, die Miles im Gefängnis zum ersten Mal erzählt hatte. Während der ersten Wochen im Club mußte er sie, von LaRocca aufgefordert, mindestens ein dutzendmal wiederholen. Sie wurde immer mit gläubigem Kopfnicken und Bemerkungen wie »verfluchte Heuchlerbande« und »gottverdammte Gangster, die da oben« begleitet.
Um seinen Vorrat an Geschichten zu ergänzen, ging Miles eines Tages zu dem Wohnblock, in dem er vor seiner Gefängnisstrafe gewohnt hatte, und holte seine Nachschlagebücher. Das meiste von dem wenigen, was er außerdem besessen hatte, war längst verkauft, um rückständige Miete zu bezahlen, aber der Hausmeister hatte die Bücher verwahrt, und er gab sie Miles wieder. Früher hatte Miles eine Münzen- und Banknotensammlung besessen, sie dann aber verkauft, als er tief in Schulden steckte. Eines Tages, hoffte er, würde er wieder sammeln können, wenn das auch in weiter Ferne liegen mochte.
Nun wieder in der Lage, in seinen Büchern blättern zu können, die er in seiner Kammer im dritten Stock verwahrte, erzählte Miles seinen lauschenden Zuhörern von selteneren Formen des Geldes. Die schwerste aller Währungen, berichtete er, war das mühlsteinähnliche Geld, das bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges auf der Pazifik-Insel Jap im Umlauf war. Die meisten steinernen Scheiben aus Korallenkalk, erklärte er, hatten einen Durchmesser von dreißig Zentimetern, aber es gab auch welche mit einem Durchmesser von zwei Meter sechzig; solche mußten, wenn sie für einen Kauf benötigt wurden, an einem Pfahl hängend transportiert werden. »Was is' mit Wechselgeld?« fragte einer unter allgemeinem Gelächter, und Miles versicherte ihm, daß auch auf Jap herausgegeben wurde -in kleineren Steinscheiben.
Das leichteste Geld dagegen, belehrte er sie, waren seltene Federn, die auf den Neuen Hebriden benutzt wurden. Außerdem war jahrhundertelang Salz als Zahlungsmittel verwendet worden, vor allem in Äthiopien, und die Römer entlohnten damit ihre Arbeiter; das Wort »Salär« leite sich daher ab. Und auf Borneo, erzählte Miles den anderen, galten noch im neunzehnten Jahrhundert menschliche Schädel als gesetzliche Währung.
Aber keine Sitzung dieser Art endete, ohne daß die Unterhaltung sich wieder der Falschmünzerei zuwandte.
Nach einem solchen Gespräch nahm ein vierschrötiger Chauffeur und Leibwächter, der im Club herumlungerte, während sein Boss oben Karten spielte, Miles beiseite.
»Hör mal, Junge, du quatschst immer so große Töne von Falschgeld. Guck dir das hier mal an.« Damit hielt er ihm eine saubere, knisternd frische Zwanzig-Dollar-Note hin.
Miles nahm den Geldschein und betrachtete ihn genau. Die Situation war nicht neu für ihn. Früher, in der First Mercantile American Bank, pflegte man ihm wegen seiner Spezialkenntnisse alle verdächtigen Scheine zu zeigen.
Der stämmige Mann grinste. »Ziemlich gut, was?«
»Wenn das 'ne Fälschung ist«, sagte Miles, »dann ist es die beste, die mir je unter die Augen gekommen ist.«
»Willste 'n paar kaufen?« Aus einer Innentasche zog der Leibwächter neun weitere Zwanziger hervor. »Gib mir vierzig echte Eier, Junge, und die ganzen zweihundert gehör'n dir.«
Das war so ungefähr der gängige Tarif, wußte Miles, für Blüten von hoher Qualität. Er sah auch sofort, daß die anderen Scheine ebenso gut waren wie der erste.
Schon wollte er das Angebot ausschlagen, dann zögerte er. Er hatte keinerlei Absicht, Falschgeld in Umlauf zu setzen, aber ihm fiel ein, daß er hier etwas in die Hand bekam, was er Wainwright schicken konnte.
»Wart mal«, sagte er zu dem vierschrötigen Mann und ging nach oben in seine Kammer, wo er etwas mehr als vierzig Dollar beiseite gebracht hatte. Ein Teil davon war der Rest von Wainwrights fünfzig Dollar; das übrige stammte aus Trinkgeldern, die Miles in den Spielzimmern bekommen hatte. Er nahm das Geld, zum größten Teil kleine Scheine, und tauschte es unten gegen die zweihundert gefälschten ein. Später an diesem Abend versteckte er das Falschgeld in seiner Kammer.
Am nächsten Tag bemerkte Jules LaRocca grinsend: »Hab' gehört, daß du 'n kleines Geschäft gemacht hast.« Miles saß an seinem Buchhalterschreibtisch in einem der Büros des zweiten Stocks.
»'n kleines«, gab er zu.
LaRocca schob seinen Schmerbauch näher heran und senkte die Stimme. »Willste 'n bißchen was Größeres machen?«
Miles sagte mit Vorsicht: »Kommt drauf an.«
»Wie wär's mit 'ner Tour nach Louisville? 'n bißchen von dem Zeug transportieren, das du gestern abend gekauft hast.«
Miles spürte, wie sich sein Magen zusammenzog; wenn er sich darauf einließ und man ihn schnappte, würde er nicht nur wieder in den Knast zurückwandern, sondern für sehr viel längere Zeit als beim ersten Mal, wie er genau wußte. Aber andererseits, wie sollte er jemals etwas in Erfahrung bringen und das Vertrauen der anderen in diesem Haus erwerben, wenn er jedem Risiko aus dem Weg ging?
»Kinderleicht, brauchst nur 'n Auto von hier nach da steuern. Zwei Hunderter springen dabei raus.«
»Und wenn sie mich anhalten? Ich hab' Bewährung und darf »'n Führerschein is' doch kein Problem, wenn du 'n Foto hast - von vorn, Kopf und Schultern.«
»Hab' ich nicht, kann ich aber beschaffen.«
»Na, dann aber fix.«
In seiner Mittagspause ging Miles zu einer Bushaltestelle in der Stadt und holte sich ein Automatenfoto. Noch am selben Nachmittag gab er es LaRocca.
Zwei Tage später, als Miles wieder bei der Arbeit saß, legte eine Hand lautlos ein kleines rechteckiges Papier auf das Buch. Staunend sah er, daß es ein bundesstaatlicher Führerschein war, komplett mit dem Foto, das er geliefert hatte.
Als er sich umwandte, stand LaRocca grinsend hinter ihm. »Der Service is' besser als bei der Behörde, was?«
Ungläubig sagte Miles: »Willst du etwa behaupten, das hier is' 'ne Fälschung?«
»Kannste 'n Unterschied seh'n?«
»Nee, kann ich nicht.« Er kniff die Augen zusammen und betrachtete den Führerschein, der sich in nichts von einem amtlichen Papier zu unterscheiden schien. »Wo haste den denn her?«
»Kann dir Wurst sein.«
»Nee«, sagte Miles, »das würd' ich schon gern wissen. Du weißt doch, daß mich solche Sachen interessieren.«
LaRoccas Gesicht verdüsterte sich; zum ersten Mal zeigte sich Mißtrauen in seinen Augen. »Warum willste das wissen?«
»Interessiert mich. Hab' dir doch gesagt, warum.« Miles hoffte, daß man ihm seine plötzliche Nervosität nicht anmerkte.
»Es gibt Fragen, die sind verdammt unklug. Wenn einer zuviel Fragen stellt, fangen die Leute an, sich zu wundern. So was kann verdammt übel ausgehn.«
Miles hielt den Mund. LaRocca beobachtete ihn. Dann, schien es, war der Moment des Mißtrauens vorbei.
»Morgen abend geht's los«, teilte Jules LaRocca ihm mit. »Du kriegst Bescheid, was du zu tun hast und wann.«
Am frühen Abend des nächsten Tages wurden ihm seine Instruktionen überbracht - wieder von dem ewigen Boten LaRocca, der Miles ein Paar Autoschlüssel gab, einen Parkschein von einem städtischen Parkplatz und ein Flugticket. Miles sollte den Wagen - einen kastanienbraunen Chevrolet Impala - vom Parkplatz abholen und ihn noch in der Nacht nach Louisville fahren. Dort sollte er ihn auf dem Parkplatz des Flughafens Louisville abstellen. Parkschein und Autoschlüssel sollte er unter dem Fahrersitz verstecken. Alle Fingerabdrücke sollte er sorgfältig abwischen. Mit einer Morgenmaschine sollte er zurückfliegen.
Die schlimmsten Minuten für Miles kamen gleich zu Anfang, als er den Wagen gefunden hatte und ihn vom städtischen Parkplatz herunterfuhr. Nervös fragte er sich: Ließ die Polizei den Chevrolet beobachten? Vielleicht stand der, der den Wagen geparkt hatte, unter Verdacht, vielleicht war man ihm bis dorthin gefolgt. Wenn ja, dann würde sich das Netz in diesem Augenblick höchstwahrscheinlich zusammenziehen. Miles wußte, daß der Auftrag mit einem größeren Risiko verbunden sein mußte, sonst hätte man sich einen anderen als Kurier ausgesucht. Obwohl man ihm nichts dergleichen mitgeteilt hatte, nahm er an, daß sich das Falschgeld - wahrscheinlich eine ganze Menge - im Kofferraum befand.
Doch es passierte nichts. Dennoch beruhigte er sich erst, als er den Parkplatz weit hinter sich gelassen hatte und sich der Stadtgrenze näherte.
Ein- oder zweimal auf der Fernstraße, als ihm Streifenwagen der Polizei des Bundesstaates begegneten, schlug sein Herz schneller, aber niemand hielt ihn an, und er erreichte Louisville
kurz vor Morgengrauen nach einer ereignislosen Fahrt.
Nur eins geschah, was nicht im Plan vorgesehen war. Ungefähr fünfzig Kilometer vor Louisville verließ Miles die Fernstraße und öffnete den Kofferraum des Wagens. Im Licht der Taschenlampe sah er zwei schwere Koffer, beide gut verschlossen. Er erwog kurz den Gedanken, eins der Schlösser aufzusprengen, doch siegte die Vernunft - es wäre viel zu gefährlich gewesen. So schloß er den Kofferraum wieder, notierte sich nur das Kennzeichen des Impala und fuhr weiter.
Ohne Schwierigkeit fand er den Flughafen Louisville, und nachdem er den Rest seiner Anweisungen befolgt hatte, ging er an Bord eines Flugzeuges und war kurz vor zehn Uhr vormittags wieder im Club. Niemand fragte ihn, wo er gewesen sei.
Obwohl sich bei ihm der mangelnde Schlaf bemerkbar machte, gelang es Miles, seine Arbeit zu erledigen. Am Nachmittag erschien LaRocca, strahlend, im Mund eine dicke Zigarre.
»Das war 'n sauberer Job, Milesy. Alle sind zufrieden.«
»Na prima«, sagte Miles. »Wann krieg' ich die zweihundert Dollar?«
»Haste schon gekriegt. Ominsky hat sie mit deinen Schulden verrechnet.«
Miles seufzte. Darauf hätte er auch allein kommen können, dachte er, aber es war schon etwas grotesk, soviel riskiert zu haben, zum alleinigen Nutzen des Russen. »Wieso hat Ominsky das gewußt?« erkundigte er sich.
»Gibt nich' viel, was der nich' weiß.«
»Eben hast du gesagt, daß alle zufrieden sind. Wer ist das, >alle Bei einem Job wie dem von gestern weiß ich ganz gern, für wen ich arbeite.«
»Hab' dir ja gesagt, es ist unklug, nach gewissen Dingen zu fragen.«
»Mag sein.« Es war klar, daß er nicht mehr erfahren würde, und er zwang sich, LaRocca zuzulächeln, obwohl Miles' sonstige Fröhlichkeit an diesem Tag in Bedrückung umgeschlagen war. Die Nachtfahrt war anstrengend gewesen, und trotz der ungeheuren Risiken, die er auf sich genommen hatte, war, wie er sich eingestehen mußte, wenig Neues dabei herausgekommen.
Etwa achtundvierzig Stunden später, noch zerschlagen und mutlos, teilte er seine Befürchtungen und Bedenken Juanita mit.
Schon zweimal hatten Eastin und Juanita sich in dem Monat, in dem er jetzt im Fitness-Club Doppelte Sieben arbeitete, getroffen.
Das erste Mal - wenige Tage nach Juanitas abendlicher Fahrt mit Nolan Wainwright und ihrer Zusage, als Zwischenträger zu fungieren - waren beide verlegen und unsicher gewesen. In Juanitas Wohnung war zwar prompt ein Telefon angeschlossen worden, wie Wainwright versprochen hatte, aber Miles hatte nichts davon gewußt und war unangemeldet gekommen, spät abends, nachdem er mit dem Bus hinausgefahren war. Nach einer vorsichtigen Inspektion durch die einen Spaltbreit geöffnete Wohnungstür hatte Juanita die Sicherheitskette abgenommen und ihn eingelassen.
»Hallo«, sagte Estela. Das kleine dunkelhaarige Kind - eine Miniaturausgabe der Mutter - sah von einem Malbuch auf und musterte Miles mit großen feuchten Augen. »Du bist der dünne Mann, der schon mal hier war. Du bist jetzt dicker.«
»Ich weiß«, sagte Miles. »Ich habe Zauberfutter für Riesen gegessen.«
Estela kicherte, aber Jaanita runzelte die Stirn. Er glaubte, sich entschuldigen zu müssen: »Ich hatte keine Möglichkeit, mich anzumelden. Aber Mr. Wainwright sagte, daß Sie mich erwarten.«
»Der Heuchler!«
»Mögen Sie ihn nicht?«
»Ich kann ihn nicht ausstehen.«
»Den Weihnachtsmann stell' ich mir auch anders vor«, sagte Miles. »Aber daß ich ihn nicht ausstehen könnte, wäre zuviel gesagt. Er tut wohl auch nur seine Arbeit.«
»Dann soll er es doch machen. Nicht andere ausnutzen.«
»Wenn Ihnen das so nahegeht, warum haben Sie dann zugestimmt... ?«
Juanita fauchte ihn an: »Glauben Sie, das habe ich mich nicht auch gefragt? Maldito sea el dia que lo conoci. Ich muß verrückt gewesen sein, ihm diese Zusage zu geben, und ich hab' es auch schon oft bereut.«
»Kein Grund zu bereuen. Wer sagt denn, daß Sie es nicht rückgängig machen können?« Miles sprach mit sanfter Stimme. »Ich werde es Wainwright schon erklären.« Er ging einen Schritt zur Tür hin.
Juanita sah ihn mit blitzenden Augen an. »Und Sie? An wen wollen Sie Ihre Mitteilungen weitergeben?« Außer sich vor Ärger schüttelte sie den Kopf. »Sie müssen den Verstand verloren haben, sich auf so eine Dummheit einzulassen.«
»Nein«, sagte Miles. »Für mich war das eine Chance; vielleicht die einzige Chance, aber es gibt keinen Grund, Sie da hineinzuziehen. Als ich das vorschlug, hatte ich es nicht richtig überlegt. Es tut mir leid.«
»Mammi«, sagte Estela, »warum bist du so böse?«
Juanita griff nach ihrer Tochter und schloß sie in die Arme. »No te preocupes, mi cielo. Ich bin böse auf das Leben, mein Kleines. Auf Leute, die andern etwas antun.« Unvermittelt sagte sie zu Miles: »Setzen Sie sich schon.«
»Meinen Sie das wirklich?«
»Ob Sie sich setzen sollen? Ich weiß nicht, ob ich das wirklich meine. Nicht mal das weiß ich. Aber setzen Sie sich!«
Er gehorchte.
»Sie haben Temperament, Juanita, das gefällt mir.« Miles lächelte, und einen Augenblick lang, dachte sie, sah er so aus, wie er früher in der Bank ausgesehen hatte. Er fuhr fort: »Aber das ist nicht das einzige, was mir an Ihnen gefällt. Ehrlich gesagt, ich hab's gemacht, um Sie wiederzusehen.«
»Na, das haben Sie ja nun.« Juanita zuckte die Achseln. »Und das wird wohl noch häufiger geschehen. Also her mit Ihrem Geheimagenten-Bericht, und ich werd' ihn Mr. Wainwright weitergeben, der wie eine Spinne im Netz hockt und auf Beute lauert.«
»Mein Bericht ist, daß es nichts zu berichten gibt. Jedenfalls noch nicht.« Miles erzählte ihr vom Fitness-Club Doppelte Sieben, wie er aussah und roch, und er sah, wie sie angewidert die Nase rümpfte. Er beschrieb ihr auch seine Begegnung mit Jules LaRocca, dann das Treffen mit dem Kredithai, dem Russen Ominsky, und seiner eigenen neuen Aufgabe als Buchhalter des Fitness-Clubs. Zu dem Zeitpunkt ihrer Begegnung hatte Miles erst ein paar Tage in der Doppelten Sieben gearbeitet, und das war alles, was er wußte. »Aber ich bin drin«, versicherte er Juanita. »Und das wollte Mr. Wainwright.«
»Reinkommen ist manchmal leichter als wieder rauskommen«, sagte sie. »Denken Sie an einen Hummerkorb.«
Estela hatte mit ernster Miene zugehört. Jetzt fragte sie Miles: »Kommst du wieder?«
»Ich weiß nicht.« Er sah Juanita fragend an, die sie beide musterte und dann seufzte.
»Ja, amorcito, ja, er kommt wieder.«
Juanita ging in das Schlafzimmer, dann kam sie mit den beiden Umschlägen zurück, die Nolan Wainwright ihr anvertraut hatte. Sie gab sie Miles. »Die sind für Sie.«
Der größere Umschlag enthielt Geld, der andere die Keycharge-Kreditkarte auf den erfundenen Namen H. E. LYNCOLP. Sie erklärte ihm den Zweck der Karte - ein Signal, um Hilfe zu rufen.
Miles steckte die Kreditkarte aus Plastik ein, schob aber das Geld wieder in den ersten Umschlag und gab ihn Juanita zurück. »Behalten Sie das. Wenn ich damit erwischt werde, könnte jemand Verdacht schöpfen. Kaufen Sie sich was dafür, für sich und Estela. Das schulde ich Ihnen.«
Juanita zögerte. Dann sagte sie mit sanfterer Stimme als bisher: »Ich werde es für Sie aufheben.«
Am nächsten Tag, in der First Mercantile American Bank, hatte Juanita Wainwright über Haustelefon angerufen und seine Nachricht weitergegeben. Sie achtete darauf, weder sich selbst noch Miles, noch den Fitness-Club Doppelte Sieben mit Namen zu nennen. Wainwright hörte sich an, was sie zu sagen hatte, bedankte sich, und das war alles.
Die zweite Begegnung zwischer Juanita und Miles fand anderthalb Wochen später statt, am Samstag nachmittag. Dieses Mal hatte Miles vorher angerufen, und als er kam, schienen Juanita und Estela sich beide zu freuen. Sie wollten gerade einkaufen, und er kam mit. Die drei sahen sich auf einem Straßenmarkt um, wo Juanita polnische Wurst und Weißkohl kaufte. »Das ist für unser Abendessen«, erklärte sie. »Bleiben Sie?«
Er würde sehr gern bleiben, versicherte er ihr und fügte hinzu, daß er erst spät abends wieder im Fitness-Club zu sein brauche, eigentlich erst am nächsten Morgen.
Während sie nebeneinander über die Straße gingen, sagte Estela plötzlich: »Ich mag dich.« Sie ließ ihre winzige Hand in seine Hand gleiten, und da blieb sie. Juanita lächelte, als sie es bemerkte.
Während des ganzen Abendessens herrschte freundschaftliche Stimmung zwischen ihnen. Dann ging Estela zu Bett, nachdem sie Miles einen Gutenachtkuß gegeben hatte, und als er mit Juanita allein war, teilte er ihr mit, was er für Nolan Wainwright hatte. Sie saßen, Seite an Seite, auf der Schlafcouch. Als er fertig war, sah sie ihn an. »Wenn Sie wollen, können Sie heute nacht hierbleiben.«
»Das letzte Mal, als ich über Nacht geblieben bin, haben Sie da drinnen geschlafen.« Er zeigte auf das Schlafzimmer.
»Dieses Mal werde ich hier bleiben. Estela schläft fest. Wir werden ungestört sein.«
Er streckte die Arme nach Juanita aus, und sie kam ihm ungeduldig entgegen. Ihre Lippen, leicht geöffnet, waren warm, feucht und sinnlich, wie ein Vorgeschmack auf noch süßere Dinge, die kommen sollten. Ihre Zunge tanzte und erfüllte ihn mit Entzücken. Sie an sich drückend, konnte er fühlen, wie ihr Atem schneller ging und der kleine, schlanke Körper der Mädchenfrau auf seine Berührung reagierte und vor aufgestauter Leidenschaft bebte. Als sie sich fester aneinanderpreßten und seine Hände sie zu erkunden begannen, seufzte Juanita tief, die Wogen des aufsteigenden Begehrens auskostend, in Vorfreude auf die kommende Ekstase. Lange war es her, seit ein Mann sie genommen hatte. Sie gab zu verstehen, daß sie erregt war, ungeduldig, voller Erwartung. Eilig richtete sie die Bettcouch her.
Was dann folgte, war eine Katastrophe. Miles hatte Juanita mit all seinen Gedanken und - wie er glaubte - mit seinem Körper gewollt. Aber als der Augenblick kam, in dem ein Mann sich beweisen muß, ließ ihn sein Körper im Stich. Verzweifelt strengte er sich an, konzentrierte sich, schloß die Augen und spannte seinen Willen an, aber es änderte sich nichts. Was das glühende, gezückte Schwert eines jungen Mannes hätte sein sollen, war schlaff und nutzlos. Juanita versuchte, ihn zu beruhigen und ihm zu helfen. »Gräme dich nicht, Miles, Liebster, und hab Geduld. Laß mich helfen, und es wird gehen.«
Sie versuchten und sie versuchten es noch einmal. Am Ende hatte alles keinen Zweck. Miles lag ausgestreckt auf dem Rücken, er schämte sich und war den Tränen nahe. Er wußte und war tief unglücklich darüber, daß seine Impotenz durch die Erinnerung an seine Homosexualität im Gefängnis verursacht war. Er hatte geglaubt und gehofft, daß sie ihn bei einer Frau nicht hindern würde, aber sie hatte es getan. Gebrochen gestand er sich ein, daß nun das eingetreten war, was er gefürchtet hatte: Er war kein Mann mehr.
Müde, unglücklich, unbefriedigt schliefen sie endlich ein.
In der Nacht wachte Miles auf, warf sich eine Zeitlang ruhelos hin und her und stand dann auf. Juanita hörte ihn und knipste eine Lampe neben der Bettcouch an. »Was ist denn?« flüsterte sie.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Und konnte nicht schlafen.«
»Nachgedacht - über was?«
Und dann erzählte er es ihr - aufrecht sitzend, den Kopf halb abgewandt, um Juanita nicht in die Augen sehen zu müssen; erzählte ihr von der totalen Unerbittlichkeit seines Erlebnisses im Gefängnis, beginnend bei der Massenvergewaltigung; wie er dann, aus Selbstschutz, das Verhältnis mit Karl angefangen hatte, als dessen »Freundin«, davon, wie er die Zelle mit dem riesigen schwarzen Mann geteilt hatte; von dem Andauern der Homosexualität, wie er, Miles, begonnen hatte, es zu genießen. Er sprach von seinem Gefühlszwiespalt gegenüber Karl, an dessen Freundlichkeit und Zartheit Miles sich noch erinnerte, und zwar mit... Zuneigung?... Liebe? Auch jetzt war er sich darüber noch nicht im klaren.
Hier angelangt, fiel Juanita ihm ins Wort. »Nicht weiter! Ich habe genug gehört. Mir wird übel.«
»Was meinst du, wie ich mich fühle?«
»No quiero saber. Ich weiß es nicht, und es ist mir gleich.« Alles Entsetzen, der ganze Ekel, den sie empfand, lag in ihrer Stimme.
Sobald es hell war, zog er sich an und ging.
Zwei Wochen später. Wieder ein Samstagnachmittag - die beste Zeit, wie Miles festgestellt hatte, um sich unbemerkt aus dem Fitness-Club davonzumachen. Ihm steckte die Müdigkeit seiner nervenzermürbenden Fahrt nach Louisville von vor zwei Tagen immer noch in den Knochen, und er war entmutigt über das Fehlen jedes Fortschritts.
Er hatte sich auch Gedanken darüber gemacht, ob er wieder zu Juanita gehen sollte; er fragte sich, ob sie ihn überhaupt wiedersehen mochte. Aber dann hatte er sich gesagt, daß mindestens noch ein Besuch nötig sei, und als er kam, war sie sachlich und nüchtern, als habe sie das, was letztesmal geschehen war, überwunden und vergessen.
Sie hörte seinen Bericht an, dann erzählte er ihr von seinen Zweifeln. »Ich kann einfach nichts erfahren, was wichtig wäre. Okay, ich mache also mein Geschäft mit Jules LaRocca und dem Kerl, der mir die gefälschten Zwanziger verkauft hat, aber die beiden sind kleine Fische. Und wenn ich LaRocca Fragen stelle - zum Beispiel, wo er den gefälschten Führerschein her hat -, dann klappt er den Mund zu und wird mißtrauisch. Ich weiß heute ebensowenig wie am ersten Tage, wer hinter den Fälschungen steckt, noch weiß ich, was in der Doppelten Sieben eigentlich vor sich geht.«
»Man kann in einem Monat nicht alles erfahren«, sagte Juanita.
»Vielleicht gibt es gar nichts zu erfahren - jedenfalls nicht das, was Wainwright wissen will.«
»Vielleicht nicht. Aber dann ist das nicht deine Schuld. Außerdem ist es möglich, daß du mehr entdeckt hast, als du selber weißt. Denk an das Falschgeld, das du mir gegeben hast, an die Nummer des Autos, mit dem du gefahren bist...«
»Was wahrscheinlich gestohlen war.«
»Das soll gefälligst Mr. Sherlock Holmes Wainwright feststellen.« Ein Gedanke schoß Juanita durch den Kopf. »Was ist mit deinem Flugschein? Den sie dir für die Rückreise gegeben haben?«
»Den habe ich benutzt.«
»Es gibt doch immer eine Kopie, die man behält.«
»Vielleicht habe ich...« Miles fühlte in seiner Jackentasche nach; es war derselbe Anzug, den er auch auf der Fahrt nach Louisville getragen hatte. Der Umschlag von der Fluggesellschaft war da, die Flugschein-Durchschrift war darin.
Juanita nahm beides. »Vielleicht kann sich irgend jemand daran erinnern. Und ich werde deine vierzig Dollar wiederbeschaffen, die du für das gefälschte Geld ausgelegt hast.«
»Du sorgst gut für mich.«
»iPor que no? Das ist anscheinend auch nötig.«
Estela, die eine Spielgefährtin in einer Nachbarwohnung besucht hatte, kam herein. »Hallo«, sagte sie, »bleibst du wieder bei uns?«
»Heute nicht«, sagte er zu ihr. »Ich gehe bald.«
Juanita fragte mit scharfer Stimme: »Warum ist das nötig?«
»Kein besonderer Grund. Ich dachte bloß...«
»Dann wirst du mit uns zu Abend essen. Estela wird sich freuen.«
»O ja«, sagte Estela. Dann setzte sie hinzu: »Liest du mir eine Geschichte vor?«
Als er nickte, holte sie ein Buch und ließ sich zufrieden auf seinem Knie nieder.
Nach dem Abendessen, bevor Estela gute Nacht sagte und zu Bett ging, las er ihr noch ein Stück vor.
»Du bist ein lieber Mensch, Miles«, sagte Juanita, als sie aus dem Schlafzimmer herauskam und die Tür hinter sich schloß. Während sie Estela zu Bett brachte, war er aufgestanden, um zu gehen, aber sie sagte mit einer Handbewegung: »Nein, bleibe.
Ich möchte dir etwas sagen.«
Wie schon einmal, setzten sie sich nebeneinander auf die Couch im Wohnzimmer. Juanita sprach langsam, überlegte jedes Wort.
»Letztes Mal, als du gegangen warst, habe ich die bösen Dinge bereut, die ich zu dir gesagt habe. Man soll nicht vorschnell richten, und das habe ich getan. Ich weiß, daß du im Gefängnis gelitten hast. Ich war nicht da, aber ich kann mir vorstellen, wie schlimm es war, und wie soll man wissen - wenn man es nicht erlebt hat -, was man selber tun würde? Was den Mann angeht, von dem du erzählt hast, Karl, wenn er freundlich war, wo sonst so vieles grausam war, dann sollte das das wichtigste sein.«
Juanita hielt inne, dachte nach, fuhr dann fort: »Für eine Frau ist es schwer zu verstehen, wie Männer einander lieben können, so, wie du es gesagt hast, und wie sie miteinander machen können, was ihr gemacht habt. Aber ich weiß, es gibt Frauen, die sich auf diese Weise lieben, ebenso wie es solche Männer gibt, und wer weiß, vielleicht ist solche Liebe besser als gar keine, besser als Haß. Deshalb denke bitte nicht mehr an die verletzenden Worte, die ich gesagt habe, und behalte deinen Karl in Erinnerung, gib dir selbst gegenüber ruhig zu, daß du ihn geliebt hast.« Sie hob den Blick und sah Miles in die Augen. »Du hast ihn doch geliebt, nicht wahr?«
»Ja«, sagte er; seine Stimme war leise. »Ich habe ihn geliebt.«
Juanita nickte. »Dann ist es besser, wenn man es ausspricht. Vielleicht wirst du jetzt andere Männer lieben. Ich weiß es nicht. Ich verstehe nichts von diesen Dingen - nur daß Liebe besser ist, wo man sie auch findet.«
»Danke, Juanita.« Miles sah, daß sie weinte, und er merkte, daß auch sein Gesicht tränennaß war.
Lange Zeit sagten sie nichts, horchten auf das Rauschen des Samstagabendverkehrs und auf Stimmen, die von der Straße hereinkamen. Dann begannen sie zu sprechen - als Freunde, einander näher, als sie es je zuvor gewesen waren. Sie redeten weiter, sie vergaßen die Zeit, und sie vergaßen, wo sie waren; sie sprachen bis tief in die Nacht, von sich selbst, von ihren Erlebnissen, von Lehren, die sie eingesteckt hatten, von alten Träumen, gegenwärtigen Hoffnungen, von Zielen, die sie vielleicht noch erreichen könnten. Sie sprachen, bis Müdigkeit ihre Stimmen überwältigte. Dann, noch immer nebeneinander sitzend, einander bei der Hand haltend, versanken sie langsam in Schlaf.
Miles erwachte als erster. Sein Körper war verkrampft, er saß unbequem... Aber es gab etwas anderes, was ihn in Aufregung versetzte.
Zart weckte er Juanita, bettete sie von der Couch auf den Teppich, auf den er Kissen für ihren Kopf gelegt hatte. Sanft und liebevoll zog er sie aus, dann sich selbst, und danach küßte er sie, umarmte sie und legte sich ruhig und selbstsicher auf sie, stieß kraftvoll vor, drang beseligend ein, während Juanita ihn umfing, sich an ihn klammerte und vor Freude laut aufschrie.
»Ich liebe dich, Miles! Carino mio, ich liebe dich!«
Da wußte er, daß er durch sie seine Männlichkeit wiedergefunden hatte.
»Ich habe zwei Fragen an Sie«, sagte Alex Vandervoort. Er sprach weniger scharf und konzentriert als gewöhnlich; seine Gedanken waren noch immer bei dem, was er gerade gelesen hatte, und er fühlte sich wie betäubt. »Erstens, wie in aller Welt haben Sie all diese Informationen zusammengetragen? Zweitens, wie zuverlässig ist das alles?«
»Wenn es Ihnen recht ist«, sagte Vernon Jax, »möchte ich Ihre Fragen in umgekehrter Reihenfolge beantworten.«
Es war später Nachmittag, und sie befanden sich in Alex' Büro-Suite in der Zentrale der FMA. Draußen war es still. Die meisten Angestellten des sechsunddreißigsten Stockwerks waren schon heimgegangen.
Der Privatdetektiv, den Alex vor einem Monat beauftragt hatte, eine Untersuchung der Supranational Corporation vorzunehmen - eine »Schnüffelei«, wie sie beide zugegeben hatten -, saß gelassen auf seinem Stuhl und las eine Nachmittagszeitung, während Alex den siebzig Seiten umfassenden Bericht mit fotokopierten Dokumenten als Anhang studierte, den Jax persönlich vorgelegt hatte.
An diesem Tag wirkte Vernon Jax' äußere Erscheinung noch weniger eindrucksvoll als beim letzten Mal, wenn das überhaupt noch möglich war. Der blankgescheuerte blaue Anzug, den er trug, hätte der Heilsarmee gespendet werden können - und sie hätte ihn nicht genommen. Seine Socken waren auf die Fußgelenke gerutscht, über Schuhe, die noch ungepflegter waren als beim letzten Mal. Was auf seinem Schädel noch an Haaren vorhanden war, sträubte sich unordentlich wie ein ausgedienter Topfkratzer. Aber es bestand kein Zweifel daran - was Jax an Eleganz der Kleidung fehlte, machte er durch Geschicklichkeit im Erkunden wieder wett.
»Zunächst also die Zuverlässigkeit«, begann er. »Wenn Sie mich fragen, ob man die von mir aufgeführten Tatsachen in ihrer gegenwärtigen Form als Beweis vor Gericht anführen könnte, lautet die Antwort: Nein. Aber ich bin überzeugt, daß die Information insgesamt authentisch ist, und ich habe nichts aufgenommen, was nicht durch Nachprüfung bei mindestens zwei, in einigen Fällen drei guten Quellen abgesichert ist. Noch eins, mein Ruf, den Dingen bis auf den Grund zu gehen, ist der wichtigste Aktivposten in meinem Geschäft. Es ist ein guter Ruf. Ich habe die Absicht, ihn mir zu erhalten.
Nun zu der Frage, wie ich das mache. Diese Frage wird mir von den meisten meiner Kunden gestellt, und Sie haben wohl auch ein Recht auf eine Erklärung, wenn ich auch einiges für mich behalten werde, Dinge, die in die Rubrik Geschäftsgeheimnis und Schutz der Informanten gehören.
Ich habe zwanzig Jahre lang für das US-Finanzministerium gearbeitet, die meiste Zeit als Steuerfahnder, und ich habe mir meine Verbindungen bewahrt, nicht nur dort, sondern auch an vielen anderen Stellen. Die meisten wissen es nicht, Mr. Vandervoort, aber zur Arbeit von Wirtschaftsdetektiven gehört es, untereinander vertrauliche Informationen auszutauschen. Man hilft diese Woche einem Kollegen, und früher oder später hat er etwas, was man selber braucht. So baut man Soll und Haben auf, und die Auszahlung - in guten Tips und Nachrichten - beruht auf Gegenseitigkeit. Wenn Sie mir einen Auftrag erteilen, verkaufe ich Ihnen also nicht nur mein wirtschaftliches Wissen - das ich übrigens für recht solide halte -, sondern ein ganzes Netz von Kontakten. Darunter etliche, über die Sie sich wundern würden.«
»Für heute hab' ich mich schon genug gewundert«, sagte Alex. Er tippte mit dem Finger auf den Bericht.
»Auf die Art habe ich mir eine Menge von dem verschafft, was da drinsteht«, fuhr Jax fort. »Der Rest war mühsame, langweilige Kleinarbeit, Geduld und die Fähigkeit zu wissen, welchen Stein man umdrehen muß.«
»Aha.«
»Es gibt da noch einen Punkt, den ich gern klarstellen möchte, Mr. Vandervoort, nämlich das, was Sie wohl >gepflegte Erscheinung< nennen würden. Ich habe bemerkt, wie Sie mich bei unseren beiden Begegnungen gemustert haben, und was Sie gesehen haben, hat Ihnen nicht besonders gefallen. Aber auch das gehört mit zu meinem Geschäft. Jemand, der unauffällig und ein wenig abgerissen aussieht, wird von denjenigen, deren Angelegenheiten er zu erforschen versucht, höchstwahrscheinlich kaum bemerkt oder ernstgenommen. Es hat auch noch einen anderen Vorteil, denn die Leute, mit denen ich rede, halten mich für zu unwichtig, um mir gegenüber besonders auf der Hut zu sein. Aber ich darf Ihnen versichern: Laden Sie mich zur Hochzeit Ihrer Tochter ein, und ich werde ebenso gepflegt erscheinen wie jeder andere Gast.«
»Sollte ich mal eine Tochter haben«, sagte Alex, »werde ich daran denken.«
Als Jax gegangen war, nahm er sich den schockierenden Bericht noch einmal vor. Er strotzte von Dingen, dachte er, die sich schwerwiegend auf die First Mercantile American Bank auswirken konnten. Das mächtige Bauwerk der Supranational Corporation - SuNatCo - krachte in allen Fugen und war im Begriff einzustürzen.
Lewis D'Orsey, erinnerte Alex sich, hatte von Gerüchten gesprochen, in denen es um »hohe, nicht gemeldete Verluste« ging, um »bedenkliche Buchungspraktiken innerhalb der Tochtergesellschaften« und darum, daß »Big George Quartermain auf der Suche nach einer Subvention a la Lockheed« sei. Vernon Jax hatte das alles bestätigt, und er hatte noch viel, viel mehr entdeckt.
Es war zu spät, um heute noch etwas zu tun, sagte Alex sich. Er hatte die ganze Nacht, um sich zu überlegen, welchen Gebrauch er von den Informationen machen sollte.
Über Jerome Pattertons ständig leicht gerötetes Gesicht breitete sich ein dunkleres Rot. Er protestierte: »Verdammt noch mal! Um so etwas können Sie mich nicht bitten, das ist einfach lächerlich.«
»Das ist keine Bitte.« In Alex Vandervoorts Stimme klang der Zorn mit, der seit dem Vorabend in ihm schwelte. »Ich verlange von Ihnen - tun Sie es!«
»Bitten, verlangen - wo ist da der Unterschied? Sie muten mir zu, willkürlich, ohne handfesten Grund zu handeln.«
»Ich werde Ihnen später Gründe in Hülle und Fülle nennen. Gute Gründe. Jetzt haben wir dazu keine Zeit.«
Sie befanden sich in der Präsidenten-Suite der FMA, wo Alex seit dem Morgen gewartet hatte, bis Patterton erschien.
»Die New Yorker Börse ist bereits seit fünfzig Minuten geöffnet«, sagte Alex warnend. »Diese Zeit haben wir schon verloren. Und wir verlieren noch mehr, weil Sie der einzige sind, der die Treuhandabteilung anweisen kann, jede Supranational-Aktie abzustoßen, die wir besitzen.«
»Ich denke nicht daran!« Pattertons Stimme wurde lauter. »Und zum Teufel noch mal, wer sind Sie denn eigentlich? Was bilden Sie sich ein, Sie kommen hier hereinmarschiert, geben Befehle...«
Alex warf einen Blick über die Schulter. Die Bürotür stand offen. Er ging hinüber, machte sie zu, kam dann zurück.
»Ich werde Ihnen sagen, wer ich bin, Jerome. Ich bin derjenige, der Sie, der das Direktorium vor einer umfangreichen Beteiligung an SuNatCo gewarnt hat. Ich habe gegen Aktienkäufe durch die Treuhandabteilung Einspruch erhoben, aber niemand wollte auf mich hören - Sie auch nicht. Jetzt bricht Supranational zusammen.« Alex beugte sich über den Schreibtisch und schlug hart mit der Faust auf die Platte. Seine Augen sprühten, sein Gesicht war dicht vor Pattertons. »Begreifen Sie denn nicht? Supranational kann unsere Bank mit sich reißen!«
Patterton hatte seine Festigkeit verloren. Schwer ließ er sich in seinen Schreibtischsessel fallen. »Aber ist SuNatCo wirklich in Gefahr? Sind Sie sicher?«
»Wenn ich nicht sicher wäre, meinen Sie, ich wäre hier und würde mich so aufführen? Begreifen Sie denn nicht, daß ich Ihnen die Chance gebe, wenigstens etwas zu retten, ehe die Katastrophe hereinbricht?« Alex zeigte auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist schon eine Stunde seit Markteröffnung vergangen. Jerome, nehmen Sie das Telefon, geben Sie die Anweisung!«
Das Gesicht des Bankpräsidenten zuckte nervös. Stärke oder Entschlußfreudigkeit gehörten nicht zu seinen hervorragenden Eigenschaften, und er reagierte eher auf Situationen, anstatt sie zu schaffen. Energischen Forderungen gegenüber wurde er schwankend, wie auch jetzt wieder.
»Um Gottes willen, Alex, um Ihretwillen, ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.« Patterton griff nach einem der beiden Telefone neben seinem Schreibtisch, zögerte, nahm dann den Hörer auf.
»Verbinden Sie mich mit Mitchell, Treuhand... Nein, ich bleibe dran... Mitch? Jerome hier. Hören Sie genau zu. Geben Sie sofort Verkaufsorder für alle Supranational-Aktien, die wir besitzen... Ja, verkaufen. Bis auf die letzte Aktie.« Patterton lauschte, dann entgegnete er ungeduldig: »Natürlich weiß ich, wie sich das auf den Markt auswirken wird, und ich weiß auch, daß der Kurs sowieso gefallen ist. Ich habe die gestrige Notierung gesehen. Wir nehmen einen Verlust hin. Trotzdem verkaufen... Ja, ich weiß, es ist gegen jede Regel.« Er suchte Alex' Blick, wie um sich zu vergewissern.
Die Hand, die den Hörer hielt, zitterte, als er sagte: »Uns bleibt keine Zeit, um Sitzungen abzuhalten. Tun Sie es also! Vergeuden Sie keine...« Patterton zog eine Grimasse, während er zuhörte. »Ja, ich übernehme die Verantwortung.«
Als er den Hörer aufgelegt hatte, schenkte Patterton sich ein Glas Wasser ein und trank. Dann sah er Alex an. »Sie haben gehört, was ich gesagt habe. Die Kurse sind schon gefallen. Unsere Verkäufe werden sie weiter drücken. Wir machen Verlust, aber kräftig.«
»Sie irren sich«, korrigierte Alex ihn. »Unsere Treuhandkunden - Menschen, die uns vertraut haben - werden den Verlust machen. Und es wäre noch viel schlimmer, wenn wir gewartet hätten. Auch jetzt sind wir noch nicht aus dem Schneider. Es kann gut sein, daß die Börsenaufsicht die Verkäufe in einer Woche für unzulässig erklärt.«
»Für unzulässig? Wieso?«
»Wenn sie sich zum Beispiel auf den Standpunkt stellt, daß wir über interne Informationen verfügten, die wir hätten melden müssen, was dann zur Einstellung des Handels mit diesen Papieren geführt hätte.«
»Was für Informationen denn?«
»Daß Supranational vor dem Bankrott steht.«
»Mein Gott!« Patterton stand auf und wandte sich ab. »SuNatCo! Mein Gott, SuNatCo!« Mit einem Ruck drehte er sich wieder zu Alex um und fragte mit überkippender Stimme: »Was ist mit unserem Kredit? Fünfzig Millionen.«
»Ich habe nachgesehen. Fast der volle Kreditbetrag ist abgerufen.«
»Das Ausgleichskonto?«
»Auf dem steht nicht mehr ganz eine Million.«
Es entstand ein Schweigen. Patterton seufzte tief; er war plötzlich ganz ruhig geworden. »Sie sagten, Sie hätten gute Gründe. Offensichtlich wissen Sie etwas. Es ist wohl besser, Sie sagen mir alles.«
»Vielleicht ist es einfacher, wenn Sie dies hier lesen.« Alex legte den Jax-Bericht auf den Schreibtisch des Präsidenten.
»Das lese ich später«, sagte Patterton. »Jetzt sagen Sie mir, was das ist und was darin steht.«
Alex erzählte ihm von den Gerüchten um Supranational, die Lewis D'Orsey weitergegeben hatte, und von seiner Entscheidung, einen Privatfahnder zu beauftragen - Vernon Jax.
»Was Jax berichtet, paßt insgesamt zusammen«, erklärte Alex. »Gestern abend und heute morgen habe ich herumtelefoniert und verschiedene seiner Einzelfeststellungen bestätigt gefunden. Es stimmt alles. Tatsächlich hätte jeder, der nur geduldig genug nachgeforscht hätte, mehr oder weniger das gleiche entdecken können wie er - nur hat es eben keiner getan, oder besser, niemand hat bis jetzt die einzelnen Stücke zusammengesetzt. Darüber hinaus hat Jax vertrauliche Informationen beschafft, und zwar auch Dokumente, ich nehme an, durch... «
Patterton unterbrach ihn unwillig. »Schon gut, schon gut. Das will ich alles gar nicht wissen. Kommen Sie endlich zum Kern.«
»Den kann ich Ihnen in fünf Wörtern geben: Supranational hat kein Geld mehr. In den letzten drei Jahren hat der Konzern enorme Verluste gehabt und nur noch von Prestige und Kredit gelebt. Er hat Riesensummen aufgenommen, um Schulden bezahlen zu können; dann wurde noch mehr Geld aufgenommen, um die Schulden zu bezahlen; dann wurde weiter geborgt und so weiter. Denen fehlt bares Geld.«
Patterton wandte ein: »Aber SuNatCo hat erstklassige Erträge gemeldet, Jahr um Jahr, und immer ist Dividende ausgeschüttet worden.«
»Wie es jetzt scheint, sind die letzten paar Dividenden von geborgtem Geld bezahlt worden. Der Rest ist frisierte Bilanz. Wir wissen ja alle, wie so etwas gemacht wird. Es gibt viele große und berühmte Firmen, die nach solchen Methoden arbeiten.«
Der Bankpräsident wog das eben Gehörte ab und erklärte dann düster: »Es gab mal eine Zeit, da die Unterschrift eines Wirtschaftsprüfers auf der Jahresbilanz absolute Integrität bedeutete. Das ist wohl vorbei.«
»Hier« - Alex berührte den Bericht, der auf dem Schreibtisch zwischen ihnen lag - »haben Sie Beispiele für das, wovon wir reden. Am schlimmsten treibt es Horizon Land Development. Das ist eine SuNatCo-Tochter.«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Dann wissen Sie vielleicht auch, daß Horizon weiten Grundbesitz in Texas, Arizona, Kanada hat. Das meiste ist entlegen, vielleicht wird bis zur Erschließung noch ein Menschenalter vergehen. Was aber macht Horizon? Die verkaufen an Spekulanten, akzeptieren kleine Anzahlungen mit allen möglichen Vorbehaltsklauseln und verschieben die volle Bezahlung auf ferne Zukunft. Bei zwei Geschäften wird die letzte Zahlung des Gesamtpreises von achtzig Millionen Dollar in vierzig Jahren fällig - wir sind dann schon ein gutes Stück im einundzwanzigsten Jahrhundert. Vielleicht kommt es nie zu diesen Zahlungen. In den Bilanzen von Horizon und Supranational werden diese achtzig Millionen aber als laufende Einnahmen ausgewiesen. Das sind nur zwei dieser Geschäfte. Davon gibt's mehr, nur kleinere, aber genauso chinesisch in der Buchführung. Und was in einer SuNatCo-Tochter passiert, ist von anderen nachgemacht worden.«
Alex machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Das hat natürlich alles zusammen dazu geführt, daß auf dem Papier ein großartiges Bild entsteht, so daß der Börsenkurs der Supranational-Aktien - völlig wirklichkeitsfremd - in die Höhe geschossen ist.«
»Irgend jemand hat da ein Vermögen gemacht«, sagte Patterton mit saurer Miene. »Leider aber nicht wir. Haben wir eine Vorstellung von der Höhe der Summen, die SuNatCo aufgenommen hat?«
»Ja. Jax scheint es gelungen zu sein, einen Blick auf etliche Steuerpapiere zu werfen, aus denen Zinsabschreibungen hervorgehen. Er schätzt die kurzfristige Verschuldung, Tochtergesellschaften inbegriffen, auf eine Milliarde Dollar. Davon sind allem Anschein nach fünfhundert Millionen Dollar Bankkredite. Der Rest sind im wesentlichen Schuldscheine mit 90 Tagen Laufzeit, finanziert nach dem Roll-over-Prinzip.«
Die verzinslichen Schuldscheine waren, wie beide Männer wußten, nur durch den guten Ruf des Borgenden gedeckt. Das Roll-over bedeutete, daß man neue Schuldscheine ausstellt, um ältere - zuzüglich der fällig gewordenen Zinsen - einlösen zu können.
»Ihr Kreditlimit ist fast erreicht«, sagte Alex. »Jedenfalls ist Jax dieser Meinung. Ich selbst habe Bestätigung dafür gefunden, daß die Käufer von kurzfristigen Schuldscheinen anfangen, vorsichtig und mißtrauisch zu werden.«
Patterton sagte nachdenklich: »Auf die Weise ist Penn Central zusammengebrochen. Alle Welt glaubte, daß die Eisenbahn Spitzenwerte ausgab - die sichersten Papiere, die man überhaupt kaufen und besitzen konnte, vergleichbar mit IBM und General Motors. Plötzlich, eines schönen Tages, war Penn Central in der Hand des Konkursverwalters, aus, erledigt.«
»Und dem kann man seither noch ein paar weitere berühmte Namen hinzufügen«, warf Alex ein.
Beide hatten denselben Gedanken: Würde nach Supranational auch die First Mercantile American Bank auf dieser Liste stehen?
Pattertons robustes, sonst immer leicht gerötetes Gesicht war bleich. Fast beschwörend fragte er Alex: »Wo stehen wir jetzt?« Jede Führerpose war dahin. Der Bankpräsident suchte Rat und Hilfe bei dem jüngeren Mann.
»Sehr viel hängt davon ab, wie lange sich Supranational noch über Wasser hält. Behaupten sie sich noch einige Monate lang, könnte es sein, daß wir mit unseren heutigen Verkäufen ihrer Aktien durchkommen, und vielleicht wird dann auch der Verstoß gegen das Reserve-Bank-Gesetz bei der Kreditvergabe nicht allzu genau untersucht. Kommt der Zusammenbruch schnell, sind wir ernstlich in Schwierigkeiten - bei der Börsenaufsicht, weil wir nicht bekanntgeben, was wir wissen, bei der Bankenaufsichtsbehörde wegen Treuhandmißbrauchs und wegen des Kredits bei der Bundes-Reserve-Bank. Außerdem blüht uns, daran brauche ich Sie wohl nicht zu erinnern, der direkte Verlust von fünfzig Millionen Dollar, und Sie wissen selbst, was das für die Gewinnrechnung dieses Jahres bedeutet; die Aktionäre werden wutentbrannt irgend jemandes Kopf fordern. Und außerdem kann es zu Prozessen gegen einzelne Direktoren kommen.«
»Mein Gott!« murmelte Patterton. »Ach du lieber Gott!« Er zog ein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht und die eiförmige Kuppel seines Schädels.
Unbarmherzig fuhr Alex fort: »Noch etwas dürfen wir nicht vergessen - das öffentliche Aufsehen. Geht Supranational unter, dann wird es alle möglichen Untersuchungen geben. Aber schon vorher wird die Presse Wind von der Sache bekommen und ihre eigenen Recherchen anstellen. Einige Wirtschaftsjournalisten sind sehr gut darin. Wenn erst einmal Fragen gestellt werden, dann wird unsere Bank kaum der Aufmerksamkeit entgehen, das Ausmaß unserer Verluste wird bekannt und veröffentlicht. Nachrichten von der Sorte sind geeignet, Bankkunden zu beunruhigen. Es könnte dazu kommen, daß erhebliche Beträge abgehoben werden.«
»Sie meinen einen Run auf die Schalter? Das ist undenkbar! «
»Nein, keineswegs. Woanders ist das auch passiert. Denken Sie an Franklin in New York. Wenn Sie Geld auf der Bank haben, dann interessiert Sie nur eins, nämlich ob Ihr Geld sicher ist. Wenn Sie daran zweifeln, dann heben Sie es ab - und zwar schnell.«
Patterton trank noch einen Schluck Wasser, dann ließ er sich in einen Sessel fallen. Er sah womöglich noch bleicher aus als bisher.
»Ich schlage vor«, sagte Alex, »daß Sie sofort den finanzpolitischen Ausschuß einberufen und daß wir uns in den nächsten Tagen darauf konzentrieren, ein Höchstmaß an Liquidität sicherzustellen. Dann sind wir vorbereitet, wenn es plötzlich zu Barabhebungen kommt.«
Patterton nickte. »Gut.«
»Davon abgesehen, können wir nicht viel mehr tun als beten.« Zum ersten Mal, seit er hereingekommen war, lächelte Alex. »Darauf sollten wir vielleicht Roscoe ansetzen.«
»Roscoe!« sagte Patterton, als sei ihm plötzlich alles wieder eingefallen. »Er hat die Supranational-Zahlen geprüft, den Kredit empfohlen, uns versichert, daß alles ganz großartig sei.«
»Roscoe stand nicht allein«, erinnerte Alex ihn. »Sie und das Direktorium haben ihn unterstützt. Und viele andere haben die Zahlen geprüft und sind zu dem gleichen Schluß gelangt.«
»Sie nicht.«
»Ich hatte ein ungutes Gefühl - allgemeines Mißtrauen. Aber ich hatte keine Ahnung davon, daß SuNatCo derartig in der Tinte sitzt.«
Patterton nahm wieder das Telefon, das er vorhin benutzt hatte. »Bitten Sie Mr. Heyward herzukommen.« Eine Pause, dann sagte Patterton bissig: »Es ist mir egal, und wenn der liebe Gott bei ihm ist. Ich brauche ihn jetzt.« Er knallte den Hörer auf die Gabel und wischte sich wieder das Gesicht.
Die Bürotür wurde leise geöffnet, und Heyward kam herein.
Er sagte: »Guten Morgen, Jerome«, Alex nickte er nur kühl zu.
Patterton sagte grollend: »Machen Sie die Tür zu.«
Heyward machte ein überraschtes Gesicht und tat es. »Man hat mir gesagt, es sei dringend. Wenn es nicht so dringend ist, dann würde ich... «
»Sagen Sie ihm, was mit Supranational los ist, Alex«, forderte Patterton.
Heywards Gesicht erstarrte.
Ruhig und sachlich wiederholte Alex die Substanz des Jax-Berichts. Sein Zorn der letzten Nacht und dieses Morgens -Zorn über die kurzsichtige Torheit und die Gier, die die Bank an den Rand des Ruins gebracht hatten - war jetzt verflogen. Er empfand nur noch Trauer darüber, daß so vieles verlorengehen, soviel Anstrengung vergeblich gewesen sein sollte. Mit Bedauern dachte er daran, wie andere, lohnende Projekte zurückgeschraubt worden waren, um Geld für den Supranational-Kredit freizumachen. Wenigstens, dachte er, war Ben Rosselli dieser Augenblick erspart geblieben.
Roscoe Heywards Haltung überraschte ihn. Alex hatte Feindseligkeit erwartet, vielleicht laute Empörung. Nichts davon. Statt dessen hörte Heyward still zu, warf hier und da eine Frage ein, enthielt sich aber jeden Kommentars. Alex konnte sich des Verdachts nicht erwehren, daß alles, was er sagte, nur andere Informationen bestätigte und stützte, die Heyward selbst schon erhalten oder erraten hatte.
Stille senkte sich herab, als Alex fertig war.
Patterton, der einiges von seinem alten Schwung wiedergefunden hatte, sagte: »Wir berufen für heute nachmittag eine Sitzung des finanzpolitischen Ausschusses ein, um die Liquidität zu erörtern. Sie, Roscoe, setzen sich inzwischen mit Supranational in Verbindung, um festzustellen, ob wir von unserem Kredit noch etwas retten können, und wenn ja, wieviel.«
»Es ist ein sofort fälliger Kredit«, sagte Heyward. »Wir können ihn jederzeit kündigen.«
»Dann tun Sie es jetzt. Kündigen Sie ihn heute mündlich, lassen Sie die schriftliche Kündigung folgen. Es besteht zwar kaum die Hoffnung, daß SuNatCo über fünfzig Millionen Dollar in bar verfügt; nicht mal eine gesunde Firma hat soviel Geld in der Kasse. Aber vielleicht haben sie etwas, wenn ich auch keine große Hoffnung habe. Wie dem auch sei, wir setzen den Apparat in Bewegung.«
»Ich rufe sofort George Quartermain an«, sagte Heyward. »Darf ich den Bericht mitnehmen?«
Patterton sah Alex an.
»Ich habe nichts dagegen«, sagte Alex, »aber ich schlage vor, daß wir davon keine Kopien anfertigen. Je weniger Leute davon wissen, um so besser.«
Heyward nickte zustimmend. Er wirkte ruhelos, ängstlich darauf bedacht, endlich wegzukommen.
Alex Vandervoorts Vermutung, daß Roscoe Heyward schon über gewisse eigene Informationen verfügte, war zu einem Teil richtig gewesen. Heyward waren Gerüchte zu Ohren gekommen, daß Supranational Sorgen habe, und er hatte in den letzten Tagen erfahren, daß SuNatCos Schuldscheine zum Teil auf Widerstand bei den Käufern trafen. Heyward hatte auch an einer Supranational-Direktoriumssitzung teilgenommen - seiner ersten - und gespürt, daß die Informationen, die man den Mitgliedern vorlegte, weder vollständig noch offen waren. Aber er, als »der Neue«, hatte auf Fragen verzichtet und sich statt dessen vorgenommen, später genauer zu sondieren. In der Folgezeit nach der Sitzung hatte er ein Absacken des Supranational-Kurses beobachtet und schon selber am Vortag beschlossen, der Treuhandabteilung der Bank zu empfehlen, vorsichtshalber die Supranational-Aktien abzubauen. Unglücklicherweise hatte er seine Absicht noch nicht in die Tat umgesetzt, als Patterton ihn an diesem Morgen zu sich rief. Aber aus allem, was Heyward gehört oder vermutet hatte, war nicht zu schließen gewesen, daß die Lage so dringlich oder so katastrophal war, wie es in dem Bericht, den Vandervoort vorgelegt hatte, dargestellt wurde.
Aber nachdem er die Substanz des Berichts gehört hatte, stellte Heyward sie nicht in Frage. So düster und beunruhigend der Bericht auch war, sein Instinkt sagte ihm doch, daß - wie Vandervoort es ausgedrückt hatte - alles zusammenpaßte.
Das war auch der Grund, warum Heyward während der Dreierkonferenz meistens geschwiegen hatte, denn er wußte, daß es - im jetzigen Stadium - kaum etwas zu sagen gab. Aber sein Verstand war aktiv, Alarmsignale blitzten auf, während er Gedanken abwog, Eventualitäten, mögliche Fluchtwege für sich selbst. Es galt, verschiedene Maßnahmen rasch einzuleiten, allerdings mußte er zunächst einmal seinen persönlichen Informationsstand vervollständigen, indem er den Jax-Bericht studierte. Wieder in seinem Büro angelangt, besprach Heyward mit seinem Besucher in aller Eile die noch verbliebenen Punkte, dann setzte er sich zum Lesen.
Ihm wurde sehr bald klar, daß Alex Vandervoort die wesentlichen Punkte des Berichts und die dokumentarischen Beweise korrekt zusammengefaßt hatte. Nicht erwähnt hatte Vandervoort einige Details, wie zum Beispiel Big George Quartermains Vorstoß in Washington um eine staatliche Bürgschaft für Kredite, die Supranational liquide erhalten sollten. Der Wunsch nach einem derartigen Kredit war an Kongreßmitglieder herangetragen worden, an das Handelsministerium und an das Weiße Haus. Einmal, so hieß es in dem Bericht, habe Quartermain den Vizepräsidenten Byron Stonebridge auf die Bahamas eingeladen, um ihn als Fürsprecher für den Kreditgedanken zu gewinnen. Später habe Stonebridge diese Möglichkeit auf Kabinettsebene zur Sprache gebracht, wäre aber damit auf Ablehnung gestoßen. Voller Bitterkeit dachte Heyward an den späten Abend auf den Bahamas zurück, wo er Big George und den Vizepräsidenten, ins Gespräch vertieft, im Garten des Hauses hatte Spazierengehen sehen. Jetzt wußte er, worüber die beiden gesprochen hatten. Und während der Washingtoner politische Apparat am Ende eine seiner klügeren Entscheidungen getroffen und einen Kredit für Supranational abgelehnt hatte, gewährte die First Mercantile American Bank - auf Roscoes Drängen - ihn mit Eifer. Big George hatte sich als Meister geschickter Verhandlungstaktik erwiesen. Heyward hörte ihn noch, wie er sagte: Wenn fünfzig Millionen mehr sind, als ihr aufbringen könnt, dann vergessen wir die ganze Sache eben. Dann geb' ich's der Chase. Es war ein uralter Hochstaplertrick, und Heyward - der durchtriebene, erfahrene Banker - war darauf hereingefallen.
Ein Gutes war allerdings dabei. Der Hinweis auf die Reise des Vizepräsidenten nach den Bahamas enthielt keine Details, offenbar wußte man nur wenig über diesen Ausflug. Und zu Heywards großer Erleichterung war in dem Bericht auch mit keinem Wort die Rede von Q-Investments.
Heyward fragte sich, ob Jerome Patterton sich wohl an den zusätzlichen Kredit in Höhe von insgesamt zwei Millionen Dollar erinnerte, den die FMA den Q-Investments gewährt hatte, der privaten Spekulantengruppe, an deren Spitze Big George stand. Wahrscheinlich nicht. Auch Alex Vandervoort hatte keine Kenntnis davon, wenn er es auch bald erfahren würde. Aber eins durfte er auf keinen Fall erfahren, daß Heyward die »Bonus«-Anteile an Q-Investments akzeptiert hatte. Er wünschte sich jetzt inbrünstig, daß er sie damals, wie ursprünglich beabsichtigt, an Quartermain zurückgeschickt hätte. Nun, dafür war es jetzt zu spät, aber er konnte wenigstens die Anteilscheine aus seinem Stahlschließfach nehmen und damit den Reißwolf füttern. Das wäre am sichersten. Glücklicherweise waren die Scheine nicht auf seinen Namen, sondern auf den eines Strohmannes registriert.
Heyward wurde sich bewußt, daß er für den Augenblick die zwischen ihm und Alex Vandervoort bestehende Rivalität ganz ignorierte und sich statt dessen aufs Überleben konzentrierte. Er gab sich keinen Illusionen darüber hin, was der Kollaps von Supranational für sein eigenes Renommee in der Bank und im Direktorium bedeuten würde. Ein Aussätziger würde er sein -ihm allein würde jeder die Schuld geben. Vielleicht aber war es auch jetzt, bei raschem Handeln und einigem Glück, noch nicht zu spät. Gelang es, die Kreditsumme wieder hereinzuholen, könnte er sogar als Held dastehen.
Als allererstes mußte er mit Supranational Kontakt aufnehmen. Er gab seiner Sekretärin, Mrs. Callaghan, Anweisung, ihn mit G. G. Quartermain zu verbinden.
Mehrere Minuten verstrichen, dann meldete sie: »Mr. Quartermain ist nicht im Lande. Sein Büro weiß nicht genau, wo er sich aufhält. Weitere Auskünfte werden verweigert.«
Das war ein ungünstiger Anfang, und Heyward sagte barsch: »Dann geben Sie mir Inchbeck.« Seit ihrer ersten Begegnung auf den Bahamas hatte er mehrere Gespräche mit Stanley Inchbeck, dem Finanzdirektor von Supranational, geführt.
Inchbecks Stimme mit ihrem nasalen New Yorker Akzent drang forsch aus dem Hörer. »Roscoe, was kann ich für Sie tun?«
»Ich versuche, George zu erreichen. Ihre Leute scheinen nicht... «
»Er ist in Costa Rica.«
»Ich möchte ihn sprechen. Haben Sie seine Nummer?«
»Nein. Er hat Anweisung hinterlassen, daß er nicht angerufen werden möchte.«
»Es ist aber dringend.«
»Dann sagen Sie's mir.«
»Na gut. Wir kündigen unseren Kredit. Ich teile es Ihnen hiermit mündlich mit, die formgerechte schriftliche Kündigung folgt heute abend mit der Post.«
Es herrschte Schweigen. Schließlich sagte Inchbeck: »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Es ist mein voller Ernst.«
»Aber warum?«
»Ich meine, das können Sie sich denken. Außerdem möchten Sie doch wohl nicht, daß ich Ihnen die Gründe am Telefon nenne.«
Inchbeck schwieg - was an sich schon bedeutungsvoll war.
Dann protestierte er: »Das ist ebenso lächerlich wie unvernünftig. Erst letzte Woche hat Big George zu mir gesagt, er sei damit einverstanden, wenn ihr den Kredit um fünfzig Prozent aufstockt.«
Diese Kühnheit grenzte geradezu an Unverschämtheit, dachte Heyward verblüfft, bis ihm einfiel, daß Kühnheit sich schon einmal ausgezahlt hatte - für Supranational. Das sollte jetzt ein Ende haben.
»Wenn der Kredit prompt zurückgezahlt wird«, sagte Heyward, »würden wir alle zu unserer Kenntnis gelangten Informationen vertraulich behandeln. Das kann ich garantieren.«
Jetzt ging es nur noch darum, dachte er, ob Big George, Inchbeck und wer sonst noch die Wahrheit über SuNatCo kennen mochte, bereit waren, Zeit zu kaufen. Waren sie dazu bereit, dann war die FMA möglicherweise im Vorteil gegenüber anderen Gläubigern.
»Fünfzig Millionen Dollar!« sagte Inchbeck. »Soviel halten wir nicht flüssig.«
»Unsere Bank wäre mit einer Serie von Zahlungen einverstanden, vorausgesetzt, sie folgen rasch aufeinander.« In Wirklichkeit lautete die Frage natürlich: Woher sollte SuNatCo bei ihrem gegenwärtigen Geldmangel die fünfzig Millionen nehmen? Heyward merkte, daß er vor Nervosität, Spannung und Hoffnung schwitzte.
»Ich werde mit Big George sprechen«, sagte Inchbeck. »Aber es wird ihm nicht gefallen.«
»Wenn Sie mit ihm sprechen, sagen Sie ihm, daß ich auch unseren Kredit für Q-Investments erörtern möchte.«
Als Heyward auflegte, meinte er Inchbeck stöhnen zu hören, aber ganz sicher war er nicht.
In der Stille seines Büros lehnte Roscoe Heyward sich in seinem gepolsterten Drehstuhl zurück und ließ die aufgestaute Hochspannung langsam abklingen. Was in der letzten Stunde geschehen war, hatte ihn wie ein Keulenschlag getroffen. Jetzt setzte die Reaktion ein, und er fühlte sich niedergeschlagen und verlassen. Am liebsten hätte er sich eine Zeitlang von dem allem zurückgezogen. Hätte er wählen können, dann wüßte er schon, wessen Gesellschaft er jetzt brauchte. Avrils. Aber seit ihrem letzten Treffen hatte er nichts mehr von ihr gehört, und das lag schon mehr als einen Monat zurück. Früher hatte sie ihn immer angerufen, nie umgekehrt.
Einem Impuls folgend, schlug er ein Taschenbuch mit Adressen auf, das er stets bei sich trug, und suchte eine Telefonnummer, die er sich mit Bleistift notiert hatte. Es war Avrils Nummer in New York. Er zog den Amtsapparat zu sich heran und wählte die Nummer.
Er hörte es läuten, dann kam Avrils weiche, angenehme Stimme: »Hallo.« Sein Herz machte einen Sprung, als er sie hörte.
»Hallo, Rossie«, sagte sie, als er seinen Namen genannt hatte.
»Es ist ziemlich lange her, seit wir uns zum letztenmal gesehen haben, Liebes. Ich hab' mich gefragt, wann ich wohl mal wieder von dir höre.«
Er spürte, daß sie zögerte. »Aber Rossie, Süßer, du stehst nicht mehr auf der Liste.«
»Auf welcher Liste?«
Wieder Unsicherheit. »Das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen.«
»Doch, bitte, sag's mir. Es bleibt natürlich unter uns.«
»Na gut, es ist eine sehr vertrauliche Liste, die Supranational aufstellt über Leute, die auf Firmenkosten bewirtet werden können.«
Er hatte plötzlich das Gefühl, daß eine Schlinge langsam zugezogen wurde. »Wer bekommt die Liste?«
»Keine Ahnung. Ich weiß, daß wir Mädchen sie bekommen. Wer sie sonst noch sieht, weiß ich nicht.«
Er hielt inne, dachte nervös nach und sagte sich: Was geschehen war, war geschehen. Vielleicht sollte er froh sein, daß er jetzt auf keiner solchen Liste mehr stand, aber er ertappte sich bei der Frage - mit einem Stich Eifersucht -, wer wohl darauf stehen mochte. Jedenfalls hoffte er, daß alte Exemplare sorgfältig vernichtet wurden. Laut fragte er: »Bedeutet das, daß du nicht mehr herkommen kannst, um dich mit mir zu treffen?«
»Nicht unbedingt. Aber wenn ich käme, müßtest du die Kosten übernehmen, Rossie.«
»Wieviel wäre das?« Und als er diese Frage stellte, kamen ihm Zweifel, ob das wirklich er selbst war, der hier sprach.
»Da wäre mein Flug von New York«, sagte Avril sachlich. »Dann die Hotelrechnung. Und für mich - zweihundert Dollar.«
Heyward fiel ein, daß er sich schon einmal gefragt hatte, wieviel Supranational wohl für ihn ausgegeben hatte. Jetzt wußte er es. Er nahm den Hörer vom Ohr und rang innerlich mit sich: Vernunft gegen Verlangen; Gewissen gegen die Kenntnis, wie es war, mit Avril allein zu sein. Es war auch mehr Geld, als er sich leisten konnte. Aber es verlangte ihn nach ihr. Sehr heftig sogar.
Er nahm den Hörer wieder ans Ohr. »Wann könntest du frühestens hier sein?«
»Dienstag nächster Woche.«
»Eher nicht?«
»Leider nein, Süßer.«
Er wußte, daß er töricht handelte, daß er bis Dienstag Schlange stehen mußte hinter anderen Männern, die, aus welchen Gründen auch immer, größere Priorität hatten als er. Aber er konnte nicht anders. »Also gut. Dienstag.«
Sie vereinbarten, daß sie im Columbia Hilton buchen und ihn von dort anrufen würde.
Heyward begann, die Süße, die da kommen sollte, im voraus zu kosten.
Er dachte an das andere, was er zu tun hatte - er mußte seine Q-Investments-Anteilscheine vernichten.
Mit dem Expreß-Lift fuhr er vom sechsunddreißigsten Stock hinunter in die Halle, dann ging er durch den Tunnel zur benachbarten Cityfiliale. Es dauerte nur fünf Minuten, bis er vor seinem persönlichen Stahlschließfach stand und die vier Scheine herausnahm, jeder gut für fünfhundert Anteile. Er nahm sie wieder mit nach oben, wo er sie persönlich in den Reißwolf tun wollte.
In seinem Büro angelangt, kamen ihm andere Gedanken. Als er das letzte Mal nachgeprüft hatte, waren die Anteile zwanzigtausend Dollar wert gewesen. Handelte er übereilt? Wurde es erforderlich, so konnte er die Scheine schließlich jederzeit in wenigen Augenblicken vernichten.
Er änderte seinen Entschluß und verschloß sie in einer Schublade, in der er auch andere Privatpapiere aufbewahrte.
Die große Chance kam, als Miles Eastin sie am allerwenigsten erwartete.
Noch vor zwei Tagen, frustriert und deprimiert, überzeugt davon, daß seine Leibeigenschaft im Fitness-Club Doppelte Sieben zu nichts anderem führen würde als zu seiner tiefen Verstrickung in das Verbrechen, hatte der Schatten des Gefängnisses schwer auf ihm gelastet. Miles hatte Juanita von seiner Niedergeschlagenheit erzählt, und diese Grundstimmung war, wenn auch für kurze Zeit durch ihre Liebe gemildert, geblieben.
Am Samstag war er zu Juanita gegangen. Am späten Montagabend hatte Nate Nathanson, Clubmanager der Doppelten Sieben, Miles zu sich kommen lassen; er hatte wie üblich geholfen, Getränke und Sandwiches zu den Karten- und Würfelspielern im zweiten Stock zu tragen.
Als Miles das Büro des Managers betrat, waren außer ihm noch zwei Personen anwesend. Der eine war der Wucherer, der Russe Ominsky. Der andere war ein untersetzter Mann mit groben Gesichtszügen, den Miles schon mehrfach im Club gesehen hatte; hin und wieder hatte er seinen Namen gehört: Tony Bär Marino. Der Name »Bär« schien angemessen. Marino war von schwerer, mächtiger Gestalt, mit lockeren Bewegungen und einer unterschwelligen Wildheit in seinem Wesen. Daß Tony Bär Autorität besaß, war offensichtlich, schon aus der Unterwürfigkeit, mit der ihn alle behandelten. Traf er vor der Doppelten Sieben ein, dann stets in einer Cadillac-Limousine mit Chauffeur und einem Begleiter - beide offensichtlich Leibwächter.
Nathanson wirkte nervös, als er das Wort ergriff. »Miles, ich habe Mr. Marino und Mr. Ominsky berichtet, wie nützlich Sie sich hier gemacht haben. Sie möchten, daß Sie für...«
Ominsky befahl dem Manager kurz angebunden: »Warten Sie draußen.«
»Ja, Sir.« Nathanson verschwand eilig.
»Da sitzt ein alter Knacker draußen in einem Auto«, wandte sich Ominsky an Miles. »Lassen Sie sich von Mr. Marinos Leuten helfen. Tragen Sie ihn herein, aber sorgen Sie dafür, daß niemand ihn sieht. Bringen Sie ihn hinauf in eins der Zimmer in der Nähe von Ihrem. Sorgen Sie dafür, daß er da bleibt. Lassen Sie ihn nicht länger allein, als Sie unbedingt müssen, und schließen Sie ihn ein, wenn Sie weggehen. Sie sind mir dafür verantwortlich, daß er dieses Haus nicht verläßt.«
Voller Unbehagen fragte Miles: »Soll ich ihn mit Gewalt hier festhalten?«
»Sie werden keine Gewalt anwenden müssen.«
»Der Alte weiß, wie es steht. Er wird keine Schwierigkeiten machen«, sagte Tony Bär. Es war überraschend, daß jemand von seiner Körpermasse eine Falsettstimme hatte. »Wohlgemerkt, er ist wichtig für uns, behandeln Sie ihn also anständig. Aber geben Sie ihm keinen Schnaps. Er wird welchen verlangen. Geben Sie ihm keinen Tropfen. Kapiert?«
»Ich denke, doch«, sagte Miles. »Heißt das, was Sie sagen, daß er jetzt bewußtlos ist?«
»Er ist stockbesoffen«, erwiderte Ominsky. »Er säuft seit einer Woche. Ihr Job ist es, für ihn zu sorgen und ihn trockenzulegen. Solange er hier ist - drei, vier Tage -, kann Ihre andere Arbeit warten.« Er fügte hinzu: »Machen Sie's gut, kriegen Sie wieder einen Pluspunkt.«
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Miles. »Hat der alte Mann einen Namen? Irgendwie muß ich ihn ja anreden.«
Die beiden anderen tauschten Blicke aus. Ominsky sagte: »Danny. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.«
Draußen vor der Doppelten Sieben spuckte Tony Bär Marinos
Leibwächter-Chauffeur angewidert auf den Fußweg: »Mein Gott! Der alte Furz stinkt wie ein Scheißhaus.«
Er, der zweite Leibwächter und Miles Eastin betrachteten die reglose Gestalt auf dem Rücksitz einer Dodge-Limousine, die am Bordstein geparkt war. Die rechte hintere Tür des Wagens stand offen.
»Ich werd' versuchen, ihn sauberzumachen«, sagte Miles. Auch sein Gesicht verzog sich, als ihm der Gestank von Erbrochenem in die Nase stieg. »Aber erstmal müssen wir ihn reinschaffen.«
Der zweite Leibwächter trieb zur Eile: »Verdammt noch mal! Dann mal los, damit wir's hinter uns haben.«
Zusammen griffen sie hinein und packten den Mann. In der schlecht beleuchteten Straße war von ihrer Last nicht mehr zu erkennen als wirres graues Haar, teigig hohle Wangen mit Bartstoppeln, geschlossene Augen und ein schlaffer, offener Mund, der zahnlose Kiefer zeigte. Die Kleider des Bewußtlosen waren beschmutzt und zerrissen.
»Ob der wohl abgekratzt ist?« überlegte der zweite Leibwächter laut, als sie die Gestalt aus dem Wagen hoben.
Genau in dem Augenblick, ausgelöst wahrscheinlich durch die Bewegung, schoß ein Strom gelber Flüssigkeit aus dem offenen Mund und ergoß sich über Miles.
Der Chauffeur und Leibwächter, der nichts abbekommen hatte, lachte glucksend. »Der is' nicht hin. Noch nicht.« Dann, als es Miles vor Übelkeit in der Kehle würgte: »Besser, es trifft dich als mich, Junge.«
Sie trugen die reglose Gestalt in den Club hinein und über eine Hintertreppe in den dritten Stock hinauf. Miles hatte einen Zimmerschlüssel mitgebracht und schloß eine Tür auf. Sie führte in eine Zelle, die seiner Kammer glich; die einzige Möblierung bestand aus einem schmalen Bett, einer Kommode, zwei Stühlen, einem Waschbecken und ein paar Regalen. Die Holzverschalung der Zelle endete einen Fuß unter der Decke und ließ einen Spalt frei. Miles warf einen Blick hinein, dann sagte er zu den beiden anderen: »Moment mal.« Während sie warteten, rannte er nach unten und holte ein Gummilaken aus der Sporthalle. Zurückgekehrt, breitete er es über das Bett. Sie luden den alten Mann darauf ab.
»Da, der gehört dir nun allein, Milesy«, sagte der Chauffeur. »Los, raus hier, bevor ich auch noch kotzen muß.«
Miles bezwang seinen Widerwillen und entkleidete den alten Mann, dann, während er noch in tiefem, bewußtlosem Schlaf auf dem Gummilaken lag, wusch Miles ihn mit einem Schwamm. Als das getan war, entfernte er mit einigem Heben und Zerren das Gummilaken und packte die jetzt saubere, weniger übelriechende Gestalt ins Bett. Während der Prozedur stöhnte der alte Mann, und einmal rebellierte sein Magen, aber dieses Mal rann ihm nur ein Speichelfaden aus dem Mund, den Miles wegwischte. Als Miles ihn mit Laken und Decke zugedeckt hatte, schien der alte Mann zur Ruhe zu kommen.
Als er ihn auszog, hatte Miles die Kleider auf den Boden der Kammer fallen lassen. Nun raffte er sie zusammen und begann, sie in zwei Plastiktüten zu stopfen, um sie am nächsten Tag in die Reinigung und in die Wäsche zu geben. Dabei leerte er alle Taschen. Eine Manteltasche enthielt ein künstliches Gebiß. In anderen Taschen fand er verschiedene Gegenstände - einen Kamm, eine Brille mit dicken Gläsern, ein Etui mit goldenem Füller und Drehbleistift, mehrere Schlüssel an einem Ring und -sie steckten in einer Innentasche - drei Keycharge-Kreditkarten und eine dick mit Geld vollgestopfte Brieftasche.
Miles nahm die Zähne, spülte sie ab und tat sie in ein Glas Wasser, das er neben das Bett stellte. Daneben legte er die Brille. Dann untersuchte er die Bankkredit-Karten und die Brieftasche.
Die Kreditkarten waren auf die Namen Fred W. Riordan, R. K. Bennett und Alfred Shaw ausgestellt. Jede Karte trug auf der Rückseite eine Unterschrift, aber trotz der unterschiedlichen Namen war es in jedem Falle dieselbe Handschrift. Miles drehte die Karten wieder um und sah sich die Gültigkeitsdaten an, aus denen hervorging, daß alle drei Karten nicht abgelaufen waren. Soweit er es beurteilen konnte, waren sie echt.
Er wandte seine Aufmerksamkeit der Brieftasche zu. In einem Klarsichtfach steckte ein Führerschein, ausgestellt von der Verkehrsbehörde des Bundesstaates. Der Kunststoff des Brieftaschenfachs war vergilbt und kaum noch durchsichtig, deshalb nahm Miles den Führerschein heraus, entdeckte darunter einen zweiten und unter dem einen dritten. Die Namen auf den Führerscheinen waren dieselben wie auf den Kreditkarten, aber die Paßfotos auf allen drei Führerscheinen, die Kopf und Schultern zeigten, waren alle von derselben Person. Er sah genauer hin. Die Bilder waren zu verschiedenen Zeiten aufgenommen, aber sie zeigten zweifellos alle den alten Mann, der jetzt auf dem Bett lag.
Miles nahm das Geld aus der Brieftasche, um es zu zählen. Er hatte vor, Nate Nathanson zu bitten, die Kreditkarten und die Brieftasche in den Tresor des Clubs zu legen, aber vorher wollte er wissen, wieviel er ihm übergab. Die Summe war unerwartet groß - fünfhundertzwölf Dollar, davon etwa die Hälfte in neuen Zwanzig-Dollar-Noten. Die Zwanziger ließen ihn stutzen. Miles sah sich mehrere davon genau an und fühlte die Textur des Papiers mit den Fingerspitzen. Dann warf er dem alten Mann auf dem Bett einen Blick zu, aber er schlief anscheinend tief. Leise verließ Miles den Raum und ging über den Korridor des dritten Stocks zu seiner eigenen Kammer. Augenblicke später kehrte er mit einer Leuchtlupe zurück und betrachtete noch einmal die Zwanzig-Dollar-Scheine. Seine Ahnung war richtig. Es handelte sich um Fälschungen, und zwar von der gleichen hohen Qualität wie die anderen, die er vor einer Woche hier in der Doppelten Sieben gekauft hatte.
Er überlegte. Das Geld, oder richtiger, die Hälfte des Geldes war gefälscht. Das galt offensichtlich auch für die drei Führerscheine; wahrscheinlich stammten sie aus derselben Quelle wie Miles' eigener gefälschter Führerschein, den ihm Jules LaRocca vorige Woche gegeben hatte. War es dann nicht auch zu vermuten, daß die Kreditkarten ebenfalls gefälscht waren? Vielleicht war er jetzt doch dem Ursprung der falschen Keycharge-Karten nahe, den Nolan Wainwright so dringend suchte. Miles' Aufregung wuchs, gleichzeitig mit seiner Nervosität, die sein Herz hämmern ließ.
Er mußte sich die neu erlangten Informationen notieren. Auf ein Papierhandtuch schrieb er die Einzelangaben von den Kreditkarten und Führerscheinen ab, gelegentlich sich durch einen Blick vergewissernd, daß die Gestalt auf dem Bett sich nicht rührte.
Wenig später knipste Miles das Licht aus, verschloß die Tür von außen und nahm Brieftasche und Kreditkarten mit nach unten.
Er schlief unruhig in dieser Nacht, bei nur angelehnter Tür, sich seiner Verantwortung für den Bewohner der Zelle jenseits des Korridors bewußt. Miles verbrachte auch einige Zeit damit, Vermutungen über Rolle und Identität des alten Mannes anzustellen, den er in Gedanken Danny zu nennen begann. In welcher Beziehung stand Danny zu Ominsky und Tony Bär Marino? Warum hatten sie ihn hierher geschafft? Tony Bär hatte erklärt: Er ist wichtig für uns. Warum?
Miles wachte auf, als es hell wurde, und warf einen Blick auf die Uhr: 6.45 Uhr. Er stand auf, wusch sich rasch, rasierte sich, zog sich an. Kein Laut kam von jenseits des Korridors. Er ging hinüber, steckte leise den Schlüssel ins Schloß und warf einen Blick hinein. Danny hatte sich im Schlaf herumgedreht, aber er schlief noch, sanft schnarchend. Miles raffte die Plastiktüten mit Kleidung zusammen, schloß wieder ab und ging nach unten.
Zwanzig Minuten später war er wieder da mit einem Frühstückstablett - starker Kaffee, Toast und Rühreier.
»Danny!« Miles packte den alten Mann an der Schulter und schüttelte ihn. »Danny, wach auf!«
Keine Reaktion. Miles versuchte es noch einmal. Endlich öffneten sich mißtrauisch zwei Augen, inspizierten ihn, schlossen sich dann wieder fest. »Geh weg«, murmelte der alte Mann. »Geh weg. Bin noch nicht reif für die Hölle.«
»Ich bin nicht der Teufel«, sagte Miles. »Ich bin dein Freund. Tony Bär und Russe Ominsky haben gesagt, ich soll für dich sorgen.«
Wäßrige Augen öffneten sich wieder. »Die Ausgeburten von Sodom haben mich gefunden, was? Mußte ja so kommen. Finden einen immer.« Das Gesicht des alten Mannes verzog sich vor Schmerzen. »Jesses! Mein armer Schädel!«
»Ich hab' Kaffee gebracht. Laß mal sehen, ob der hilft.« Miles legte einen Arm um Dannys Schultern, half ihm, sich aufzurichten, trug dann den Kaffee zu ihm. Der alte Mann nahm einen kleinen Schluck und zog eine Grimasse.
Plötzlich schien er hellwach zu sein. »Hör mal, mein Sohn. Was mich aufmöbelt, weiß ich. Ein Schluck von dem, was mich umgehauen hat. Jetzt nimmst du 'n bißchen Geld...« Er sah sich suchend um.
»Dein Geld ist sicher«, sagte Miles. »Es liegt im Club-Safe. Ich hab's gestern abend unten abgegeben.«
»Das hier die Doppelte Sieben?«
»Ja.«
»Haben mich schon mal hergeschafft. Na, da weißt du ja, daß ich zahlen kann, mein Sohn, also spring mal schnell an die Bar... «
Miles sagte mit fester Stimme: »Nix spring mal. Weder für dich noch für mich.«
»Es wird dein Schaden nicht sein.« Die alten Augen blitzten schlau. »Sagen wir, vierzig Dollar für die Flasche. Na, was meinste?«
»Tut mir leid, Danny. Ich habe meine Vorschriften.« Miles wog ab, was er jetzt sagen sollte, dann tat er den Sprung ins kalte Wasser. »Außerdem - wenn ich mit den Zwanzigern von dir zahle, könnten sie mich verhaften.«
Es war, als hätte er eine Pistole abgedrückt: Danny schoß kerzengerade in die Höhe, sein Gesicht drückte höchste Unruhe und Mißtrauen aus. »Wer hat dir erlaubt, das...« Er hielt inne, stöhnte auf, verzog das Gesicht und preßte eine Hand an den schmerzenden Schädel.
»Irgend jemand mußte ja das Geld zählen. Also hab' ich's getan.«
Mit schwacher Stimme sagte der alte Mann: »Das sind gute Zwanziger.«
»Na klar«, stimmte Miles ihm zu. »So ziemlich die besten, die ich je gesehen habe. Fast so gut wie die von der staatlichen Münzdruckerei.«
Danny schlug die Augen zu ihm auf. Erwachendes Interesse mischte sich mit Argwohn. »Woher verstehste denn was davon?«
»Bevor ich in den Knast kam, hab' ich für eine Bank gearbeitet.«
Schweigen. Dann fragte der alte Mann: »Warum warste denn im Knast?«
»Unterschlagung. Vorzeitig entlassen, zur Bewährung.«
Danny entspannte sich sichtlich. »Na, da biste wohl in Ordnung. Sonst würdste ja auch nicht für Tony Bär und den Russen arbeiten.«
»Stimmt«, sagte Miles. »Ich bin in Ordnung. Jetzt müssen wir nur noch dich in Ordnung bringen. Nun gehen wir erst mal ins Dampfbad.«
»Ich brauch' keinen Dampf. Ich brauch' 'n Schnaps. Nur einen einzigen, mein Sohn«, flehte Danny. »Ich schwöre, das ist alles. Du wirst doch 'nem alten Mann den kleinen Gefallen nich' ausschlagen.«
»Wir schwitzen was von dem aus, was du schon getrunken hast. Dann kannst du dir die Finger ablecken.«
Der alte Mann stöhnte. »Herzlos! Herzlos!«
Es war beinahe so, als habe er ein Kind zu versorgen. Den nur halb ernstgemeinten Protest ignorierend, wickelte Miles den alten Mann in einen Bademantel und führte ihn die Treppen hinab, dann begleitete er ihn durch eine Reihe von Dampfräumen, rieb ihn mit Handtüchern ab und half ihm schließlich auf einen Massagetisch, wo Miles selbst ihn tüchtig und ziemlich geschickt bearbeitete und abrieb. So früh am Tage waren Sporthalle und Dampfräume wie ausgestorben, und von den Club-Angestellten waren erst wenige da. Kein anderer Mensch war zu sehen, als Miles den alten Mann wieder die Treppen hinauf begleitete.
Miles bezog das Bett mit frischen Laken, und Danny, inzwischen beruhigt und gehorsam, kletterte hinein. Fast im selben Augenblick schlief er ein, wenn auch heute, im Gegensatz zu gestern abend, ruhevoll, fast engelhaft. Seltsamerweise hatte Miles, ohne ihn eigentlich zu kennen, schon eine Zuneigung zu dem alten Mann gefaßt. Während er schlief, stopfte Miles ihm behutsam ein Handtuch unter den Kopf und rasierte ihn.
Später an diesem Vormittag, während er in seiner Kammer auf der anderen Seite des Korridors in einem Buch las, nickte Miles ein.
»He, Milesy! Baby, raus mit dir, du fauler Arsch!« Die schnarrende Stimme gehörte Jules LaRocca.
Aufgeschreckt fuhr Miles hoch und sah die vertraute Schmerbauchgestalt im Türrahmen. Miles streckte die Hand aus, suchte den Schlüssel für die Zelle auf der anderen Seite des Korridors. Erleichtert fand er ihn, wo er ihn gelassen hatte.
»Hab' da 'n paar Fetzen für den alten Penner«, sagte LaRocca. Er trug einen Pappkoffer in der Hand. »Ominsky sagt, ich sollse dir geben.«
LaRocca, der allgegenwärtige Bote.
»Okay.« Miles reckte sich und ging zu einem Waschbecken, wo er sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Dann öffnete er, gefolgt von LaRocca, die Tür gegenüber. Als die beiden hereinkamen, richtete Danny sich vorsichtig auf. Er war noch immer schlapp und bleich, aber es schien ihm jetzt besserzugehen als bei seiner Ankunft. Er hatte das Gebiß im Mund und die Brille auf der Nase.
»Du alter Penner, zu nichts biste zu gebrauchen!« sagte LaRocca. »Allen machste immer bloß Ärger.«
Danny richtete sich steiler auf und betrachtete seinen Ankläger mit Widerwillen. »Ich bin nich' 'n bißchen unnütz. Wie du und andere genau wissen. Was den Sprit angeht, na, jeder hat seine kleine Schwäche.« Er zeigte auf den Koffer. »Wenn du mir meine Sachen bringst, tu, was man dir gesagt hat, und häng sie auf.«
LaRocca machte das überhaupt nichts aus. Er grinste. »Hörst dich ja wieder ganz fidel an, du alter Furz. Scheint, daß Milesy dich wieder hingekriegt hat.«
»Jules«, sagte Miles, »bleibst du mal so lange hier, bis ich 'ne Höhensonne von unten geholt hab'? Ich glaube, die wird Danny guttun.«
»Na klar.«
»Aber erst mal möchte ich 'n Wort mit dir reden.« Miles machte eine Kopfbewegung, und LaRocca folgte ihm nach draußen.
Leise fragte Miles: »Jules, was hat das alles zu bedeuten? Wer ist das?«
»Nur 'n alter Penner. Gelegentlich haut er ab, macht 'ne Sauftour. Dann muß irgend jemand ihn suchen und die alte Schnapsdrossel austrocknen.«
»Warum? Und von wo haut er ab?«
LaRocca hielt inne, die Augen wieder voller Argwohn wie vor einer Woche. »Du fragst einfach zuviel, Junge. Was haben Tony Bär und Ominsky dir gesagt?«
»Nix, nur daß der alte Mann Danny heißt.«
»Wenn se dir mehr sagen wollen, dann werden sie's tun. Ich nich'.«
Als LaRocca gegangen war, stellte Miles eine Höhensonne in der Zelle auf und setzte Danny für einige Zeit darunter. Den Rest des Tages lag der alte Mann schweigend wach oder döste vor sich hin. Am frühen Abend brachte Miles das Abendessen von unten, das Danny zum größten Teil aß - seine erste volle Mahlzeit seit seiner Ankunft vor vierundzwanzig Stunden.
Am nächsten Morgen - Mittwoch - wiederholte Miles die Dampfraum- und Höhensonnenbehandlung, und später spielten die beiden Schach. Der alte Mann hatte einen raschen, scharfen Verstand, und sie waren ebenbürtige Gegner. Danny war inzwischen freundlich und gelöst, und er ließ keinen Zweifel daran, daß Miles' Gesellschaft und seine Fürsorge ihm angenehm waren.
Am zweiten Nachmittag wurde der alte Mann gesprächig. »Gestern hat mir der alte Schleicher LaRocca erzählt, daß du 'ne Menge von Geld verstehst.«
»Das sagt er jedem.« Miles berichtete ihm von seinem Hobby und dem Interesse, das er damit im Gefängnis erregt hatte.
Danny stellte weitere Fragen, dann erklärte er: »Wenn's dir nichts ausmacht, möchte ich mein eignes Geld wiederhaben, jetzt.«
»Ich hol's dir. Aber ich muß dich wieder einschließen.«
»Falls du dir wegen dem Schnaps Gedanken machst, vergiß es. Für diesmal bin ich drüber weg. So 'ne Pause, dann hab' ich's gepackt. Kann Monate dauern, bis ich wieder einen Schluck nehme.«
»Freut mich.« Trotzdem schloß Miles die Tür ab.
Als er sein Geld hatte, breitete Danny es auf dem Bett aus, dann sortierte er es in zwei Haufen. Die neuen Zwanziger lagen auf dem einen, die anderen, meist schmutzige Scheine verschiedener Größe, kamen auf den anderen. Aus der zweiten Gruppe wählte Danny drei Zehn-Dollar-Scheine aus und gab sie Miles. »Dafür, daß du an ein paar Kleinigkeiten gedacht hast, Junge - wie an meine Zähne, das Rasieren, die Höhensonne. Vielen Dank dafür.«
»Hör mal, das ist aber nicht nötig.«
»Nimm's. Übrigens sind die alle echt. Jetzt sag mir mal eins.«
»Wenn ich kann.«
»Wie hast du gemerkt, daß die Zwanziger da hausgemacht sind?«
»Hab' ich nicht sofort gemerkt. Aber mit dem Vergrößerer sieht man, daß ein paar Linien auf Andrew Jacksons Porträt verwaschen aussehen.«
Danny nickte weise. »Das ist eben der Unterschied zwischen Stahlstich, den die Regierung benutzt, und einer Foto-OffsetPlatte. Allerdings kann ein Offset-Mann der Spitzenklasse dem Original verdammt nahekommen.«
»Wie in diesem Fall«, sagte Miles. »Andere Teile der Scheine sind so gut wie perfekt.«
Auf dem Gesicht des alten Mannes lag ein schwaches Lächeln. »Was hältst du von dem Papier?«
»Das hat mich reingelegt. Gewöhnlich fühlt man einen Danny sagte leise: »Vierundzwanzig Pfund Coupon Bond. Hundert Prozent Baumwollfaser. Die Leute denken immer, man kann das richtige Papier nicht kriegen. Is' nicht wahr. Man muß sich nur umsehen danach.«
»Wenn du dich so dafür interessierst«, sagte Miles, »ich hab' drüben ein paar Bücher über Geld. Ich denk' da an eins, veröffentlicht vom amerikanischen Secret Service.«
»Du meinst wohl >Know Your Money< was?« Als Miles überrascht aufsah, lachte der alte Mann in sich hinein. »Das ist das Handbuch der Fälscher. Steht genau drin, worauf man achten muß, wenn man wissen will, ob ein Schein falsch ist. Führt alle Fehler auf, die von Fälschern gemacht werden. Ist sogar illustriert!«
»Ja«, nickte Miles. »Ich weiß.«
Danny gluckste und kicherte weiter. »Und die Regierung verschenkt es! Man schreibt nach Washington - und schon schicken sie's einem. Hat mal einen Klasse-Fälscher gegeben, der hieß Mike Landress, hat auch ein Buch geschrieben. Steht drin, daß jeder Fälscher >Know Your Money< besitzen sollte.«
»Landress ist geschnappt worden«, erinnerte Miles ihn.
»Weil er mit Dummköpfen gearbeitet hat. Die hatten keine Organisation.«
»Du weißt ja 'ne ganze Menge.«
»'n bißchen schon.« Danny machte eine Pause, nahm einen von den echten Scheinen auf, dann einen von den gefälschten und verglich sie. Was er sah, freute ihn; er grinste. »Hast du schon gewußt, Junge, daß amerikanisches Geld leichter nachzudrucken ist als irgendeine andere Währung der Welt? Tatsache ist, man hat es so entworfen, daß die Graveure im vorigen Jahrhundert es mit den Werkzeugen, die sie hatten, nicht nachmachen konnten. Aber inzwischen gibt's Multilith-Maschinen und Foto-Offset mit hoher Auflösung, so daß ein guter Mann heutzutage mit entsprechender Ausrüstung, Geduld und einigem Ausschuß Dinger herstellen kann, die nur der Fachmann als Blüten erkennt.«
»Davon hab' ich schon gehört«, sagte Miles. »Aber viel kann da doch nicht los sein.«
»Das will ich dir sagen.« Danny schien die Sache Spaß zu machen; offensichtlich war er bei seinem Lieblingsthema. »Kein Mensch weiß genau, wie viele Blüten jedes Jahr gedruckt und nicht entdeckt werden, aber es ist ein Haufen. Die Regierung meint, dreißig Millionen Dollar, wobei ein Zehntel davon in Umlauf kommt. Aber das sind Regierungszahlen, und bei allen Zahlen, die die Regierung nennt, weiß man nur eins ganz genau, nämlich daß sie entweder zu hoch oder zu niedrig sind, je nachdem, was die da oben gerade beweisen wollen. In diesem Fall wollen sie eine möglichst niedrige Zahl. th schätze, in jedem Jahr siebzig Millionen, vielleicht sogar an die hundert.«
»Mag wohl sein«, sagte Miles. Er dachte daran, wieviel Falschgeld in der Bank entdeckt worden war und wieviel mehr keinem Menschen aufgefallen sein mochte.
»Weißt du, welches Geld am schwersten nachzumachen ist?«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Ein Traveller-Scheck vom American Express. Weißte, warum?«
Miles schüttelte den Kopf.
»Der ist in Zyan-Blau gedruckt, und das für eine Offset-Platte zu fotografieren, ist so gut wie unmöglich. Kein Mensch, der auch nur ein bißchen Ahnung hat, versucht das. Reine Zeitverschwendung. Deshalb ist ein Amex-Scheck sicherer als amerikanisches Geld.«
»Es gibt Gerüchte«, sagte Miles, »daß es bald neues amerikanisches Geld geben soll in verschiedenen Farben für die verschiedenen Werte - wie in Kanada.«
»Das ist mehr als 'n Gerücht«, sagte Danny. »Is' Tatsache. Viel von dem bunten Geld ist schon gedruckt und eingelagert vom Finanzministerium. Wird schwerer nachzumachen sein als alles, was bisher gemacht worden ist.« Er lächelte spitzbübisch. »Aber das alte Zeug reicht noch für 'ne ganze Weile. Vielleicht so lange, wie ich lebe.«
Miles saß schweigend da und verdaute, was er gehört hatte. Am Ende sagte er: »Du hast mich was gefragt, Danny, und ich hab' geantwortet. Jetzt hätt' ich mal 'ne Frage an dich.«
»Ich sage nicht, daß ich antworte. Aber versuchen kannst du's.«
»Wer bist du, und was bist du?«
Der alte Mann grübelte nach, ein Daumen strich über sein Kinn, während er Miles abschätzend musterte. Was er dachte, spiegelte sich zum Teil auf seinem Gesicht: Ein Zwang zur Offenheit kämpfte gegen Vorsicht; Stolz mischte sich mit Verschwiegenheit. Mit einem Ruck entschloß Danny sich. »Ich bin 73 Jahre alt«, sagte er, »und ich bin Meister in meinem Handwerk. Bin mein ginzes Leben lang Drucker gewesen. Bin noch immer der beste. Das Drucken ist nicht nur ein Handwerk, es ist eine Kunst.« Er zeigte auf die Zwanzig-Dollar-Scheine, die noch immer auf dem Bett ausgebreitet waren. »Die sind mein Werk. Ich habe die Fotoplatten gemacht. Ich hab' sie gedruckt.«
»Und die Führerscheine und die Kreditkarten?« fragte Miles.
»Verglichen mit dem Drucken von Geld«, sagte Danny, »sind die Dinger leicht wie in 'ne Tonne pissen. Aber, ja - ich hab' die alle gemacht.«
Fiebernd vor Ungeduld wartete Miles auf eine Gelegenheit, das, was er erfahren hatte, Nolan Wainwright mitzuteilen, über Juanita. Zu seinem Ärger erwies es sich aber als unmöglich, die Doppelte Sieben zu verlassen, und das Risiko, so wichtige Dinge über das Telefon des Fitness-Clubs mitzuteilen, schien ihm viel zu groß.
Am Donnerstag morgen - dem Tag nach Dannys offenherzigen Enthüllungen - hatte sich der alte Mann anscheinend ganz von seiner alkoholischen Orgie erholt. Er genoß Miles' Gesellschaft offensichtlich, und sie spielten weiter Schach. Auch ihre Gespräche gingen weiter, allerdings war Danny mehr auf der Hut als am Tag zuvor.
Nicht klar war, ob Danny seinen Aufbruch nach Belieben beschleunigen konnte. Selbst wenn er es gekonnt hätte, so zeigte er keinerlei Neigung dazu und schien - jedenfalls vorläufig -mit seiner Internierung in der Zelle des dritten Stocks ganz zufrieden.
In ihren späteren Gesprächen, am Mittwoch und am Donnerstag, versuchte Miles, mehr über Dannys Fälschertätigkeit zu erfahren, und er schnitt andeutungsweise sogar die entscheidende Frage nach dem Sitz des Hauptquartiers an. Aber Danny vermied geschickt jede weitere Diskussion über dieses Thema, und Miles' Instinkt sagte ihm, daß der alte Mann einen Teil seiner früheren Offenheit schon bereute. Er dachte an Wainwrights Rat - nichts überstürzen, immer mit Geduld -, und er nahm sich vor, sein Glück nicht zu strapazieren.
Bei all seiner Hochstimmung bedrückte ihn ein Gedanke. Jedes bißchen von dem, was er entdeckt hatte, bedeutete garantiert die Verhaftung und Verurteilung von Danny. Miles mochte den alten Mann, und er bedauerte das, was kommen mußte. Aber, so sagte er sich, es war auch der einzige Weg, der zu seiner eigenen Rehabilitierung führte.
Ominsky, der Kredithai, und Tony Bär Marino hatten beide etwas mit Danny zu tun, aber unklar war noch immer die genaue Art ihrer Beziehungen. Um den Russen Ominsky oder Tony Bär machte Miles sich nicht die geringsten Gedanken, aber Angst packte ihn mit eisigen Fingern bei dem Gedanken daran, daß sie von seiner eigenen Spitzelrolle erfahren könnten - und irgendwann, dachte er, würden sie es wohl erfahren müssen.
Am späten Donnerstagnachmittag tauchte Jules LaRocca wieder auf. »Soll dir was von Tony sagen. Schickt morgen früh 'ne Karre für dich.«
Danny nickte, aber Miles fragte: »'ne Karre? Wo soll die ihn denn hinbringen?«
Danny und LaRocca warfen ihm beide einen scharfen Blick zu, ohne zu antworten, und Miles wünschte, er hätte diese Frage nicht gestellt.
In der Nacht beschloß Miles, ein einigermaßen akzeptables Risiko einzugehen, und rief Juanita an. Er wartete, bis er Danny kurz vor Mitternacht in seine Zelle eingeschlossen hatte, dann ging er die Treppe hinunter, um ein Münztelefon im Erdgeschoß des Clubs zu benutzen. Miles steckte zehn Cent in den Schlitz und wählte Juanitas Nummer. Nach dem ersten Läuten sagte sie mit leiser Stimme: »Hallo.«
Der Münzapparat hing an der Wand neben der Bar, und Miles flüsterte, damit niemand verstehen konnte, was er sagte: »Du weißt, wer hier spricht. Also keine Namen.«
»Ja«, sagte Juanita.
»Sag unserem gemeinsamen Freund, daß ich hier was Wichtiges entdeckt habe. Es ist wirklich wichtig. Fast alles, was er wissen wollte. Mehr kann ich nicht sagen, aber ich komme morgen abend zu dir.«
»Gut.«
Miles hängte ein. Im selben Augenblick schaltete sich ein im Keller des Clubs verborgenes Tonbandgerät, das sich beim Abheben des Hörers vom Haken automatisch eingeschaltet hatte, ebenso automatisch wieder ab.
Einige Zeilen aus der Schöpfungsgeschichte zuckten wie Schleichwerbung in Abständen durch Roscoe Heywards Kopf: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen. Denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.
In den letzten Tagen hatte Heyward über die Frage gegrübelt: War sein unerlaubtes sexuelles Verhältnis mit Avril, das in jener unvergeßlichen Mondnacht auf den Bahamas begonnen hatte, zu seinem eigenen Baum des Bösen geworden, von dem er eines Tages die bitterste aller Früchte ernten würde? Und war all das Widrige, das jetzt geschah - die plötzliche, alarmierende Schwäche von Supranational, die seine eigenen Hoffnungen in der Bank zunichte machen konnte -, vielleicht von Gott als Strafe für ihn persönlich gewollt?
Anders herum: Wenn er nun entschlossen und sofort jede Verbindung zu Avril abbrach, wenn er sie aus seinen Gedanken tilgte, würde Gott ihm dann vergeben? Würde er zum Lohn die Supranational wieder stärken und damit das Glück seines Dieners, Roscoe, wiederherstellen? Er gedachte Nehemias... aber Du, mein Gott, vergabest und warest gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Barmherzigkeit... und glaubte, daß Gott vielleicht vergeben würde.
Betrüblicherweise konnte man dessen nicht sicher sein.
Gegen eine Trennung von Avril fiel auch die Tatsache ins Gewicht, daß sie am Dienstag in der Stadt sein würde, wie sie es in der vorigen Woche besprochen hatten. Von seinen derzeitigen Sorgen fast erdrückt, sehnte Heyward sich nach ihr.
Den ganzen Montag über, und auch noch am Dienstag vormittag in seinem Büro, schwankte er; noch konnte er sie in New York anrufen und die Verabredung absagen. Aber dann hatte er den Dienstagmorgen halb verstreichen lassen, und nun war es zu spät dazu, denn er kannte die Flugpläne von New York, und erleichtert sagte er sich, daß es nichts mehr zu ändern gab.
Avril rief am späten Nachmittag an, über den Apparat direkt auf seinem Schreibtisch, dessen Nummer nicht im Buch stand. »Hallo, Rossie! Ich bin im Hotel. Suite 432. Der Champagner steht auf Eis - aber ich bin heiß für dich.«
Hätte er doch ein Zimmer vorgeschlagen, keine Suite, sagte er sich, als er an die Rechnung dachte. Aus dem gleichen Grund kam ihm Champagner unnötig und extravagant vor, und er fragte sich, ob es ungehörig wäre, wenn er ihr vorschlug, ihn zurückgehen zu lassen. Doch, ja, das wäre es wohl.
»Ich bin gleich bei dir, meine Liebe«, sagte er.
Ein wenig sparte er dann doch, indem er sich von einem chauffeurgesteuerten Wagen der Bank zum Columbia Hilton bringen ließ. »Sie brauchen nicht zu warten«, sagte Heyward zu dem Fahrer.
Als er die Suite 432 betrat, legten sich ihre Arme sofort um ihn, und hungrig gruben sich die vollen Lippen in seinen Mund. Er hielt sie ganz fest, und sein Körper reagierte sofort mit jener Erregung, die er nun schon kannte und nach der es ihn verlangte. Durch den Stoff seiner Hose konnte er Avrils lange, schlanke Schenkel und Beine fühlen, die sich bewegten und sich an ihn drängten, ihn aufreizten, sich zurückzogen, dann verheißungsvoll wieder da waren, bis sein ganzes Wesen auf ein paar Quadratzentimeter seines Körpers konzentriert schien. Dann, nach einigen Augenblicken, machte Avril sich von ihm frei, berührte seine Wange und zog sich zurück.
»Rossie, warum bringen wir das Geschäftliche nicht erst einmal hinter uns? Dann können wir uns entspannen, ohne Sorgen.«
Dieser plötzliche Übergang versetzte ihm einen Stoß. Ging das eigentlich immer so - erst das Geld vor der Erfüllung? überlegte er. Aber es war wohl vernünftig. Ließ man das bis nachher, konnte der Kunde, gesättigt und befriedigt, womöglich abgeneigt sein zu zahlen.
»In Ordnung«, sagte er. Er hatte zweihundert Dollar in einen Umschlag getan; den gab er Avril. Sie nahm das Geld heraus und begann, es zu zählen. »Traust du mir nicht?« fragte er etwas gekränkt.
»Die Frage könnte ich dir zurückgeben«, sagte Avril. »Angenommen, ich trage Geld auf eure Bank und zahle es ein, ist da nicht jemand, der es nachzählt?«
»Aber sicher.«
»Siehst du, Rossie, und jeder Mensch hat ebensoviel Recht wie die Bank, aufzupassen und an seine Interessen zu denken.« Sie zählte zu Ende und sagte pointiert: »Das sind die zweihundert für mich. Da wären dann noch der Flugschein, die Taxis, zusammen hundertzwanzig; die Suite kostet fünfundachtzig; Champagner und Trinkgeld machen fünfundzwanzig. Sagen wir doch einfach noch zweihundertfünfzig. Da wäre dann alles inklusive.«
Erschlagen von der Höhe der Summe, wandte er ein: »Das ist eine Menge Geld.«
»Ich bin eine Menge Frau. Das ist nicht mehr als das, was Supranational ausgegeben hat, als die noch bezahlten, und da hattest du anscheinend nichts dagegen. Außerdem, wenn du das Beste willst, wird's teuer.«
Ihre Stimme drückte Sachlichkeit und Direktheit aus, und er begriff, daß er hier eine andere Avril kennenlernte, schärfer und härter als das schmiegsam nachgebende Geschöpf, das er gerade im Arm gehabt hatte und das so begierig war zu erfreuen. Zögernd nahm Heyward zweihundertfünfzig Dollar aus seiner Brieftasche und gab sie ihr.
Avril steckte den vollen Betrag in ein inneres Abteil ihrer Handtasche. »So! Das Geschäftliche wäre also erledigt. Jetzt können wir uns der Liebe widmen.«
Sie wandte sich ihm zu und küßte ihn heftig, und gleichzeitig ließ sie ihre langen, geschickten Finger leicht durch sein Haar gleiten. Sein Hunger nach ihr, der einen kurzen Moment lang verdrängt worden war, lebte wieder auf.
»Rossie, Süßer«, flüsterte Avril, »als du hereinkamst, hast du müde und sorgenvoll ausgesehen.«
»Ich habe in letzter Zeit einige Sorgen in der Bank gehabt.«
»Dann werden wir dich auflockern. Du wirst erst mal ein wenig Champagner kriegen, dann kannst du mich haben.« Geschickt öffnete sie die Flasche, die in einem Eiskübel gestanden hatte, und schenkte zwei Gläser voll. Sie tranken langsam, und Heyward verzichtete dieses Mal darauf, sein Abstinenzlertum zu erwähnen. Bald begann Avril, ihn und sich selbst zu entkleiden.
Als sie im Bett lagen, hörte sie nicht auf, ihm ins Ohr zu flüstern, Liebevolles, Ermutigendes... »Oh, Rossie! Du bist so groß und stark!«... »Was für ein Mann du bist!«... »Langsam, Liebster; langsam«... »Du hast uns ins Paradies gebracht«... »Ach, wenn's doch ewig so bleiben könnte!«
Sie besaß nicht nur die Fähigkeit, ihn physisch zu erwecken, sondern ihm auch das Gefühl zu geben, mehr Mann zu sein als je zuvor. Niemals hatte er sich in allen seinen flüchtigen Vereinigungen mit Beatrice etwas von diesem überwältigenden Gefühl träumen lassen, das ihn in jeder Hinsicht zu vollkommener Erfüllung führte.
»Fast sind wir da, Rossie«... »Sag mir, wann«... »Ja, Liebling! Oh, bitte, ja!«
Vielleicht war ein Teil ihrer Reaktionen gespielt; er hatte den Verdacht, daß es so war, aber es war nicht mehr wichtig. Wichtig war die tiefe, reiche, freudige Sinnlichkeit, die er durch sie in sich entdeckt hatte.
Das Crescendo verklang. Es würde ihm, dachte Roscoe Heyward, als eine weitere exquisite Erinnerung verbleiben. Jetzt lagen sie, in süßer Erschöpfung, da, während sich draußen vor dem Hotel die Dämmerung des frühen Abends in Dunkelheit verwandelte und die Lichter der Stadt aufblitzten. Avril rührte sich als erste. Barfuß ging sie vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer der Suite und kehrte mit gefüllten Champagnergläsern zurück, die sie langsam austranken, während sie im Bett saßen und miteinander sprachen.
Nach einer Weile sagte Avril: »Rossie, ich möchte dich um Rat fragen.«
»Worum geht's denn?« Welches mädchenhafte Geheimnis würde er jetzt erfahren?
»Soll ich meine Supranational-Aktien verkaufen?«
Aufgeschreckt fragte er: »Hast du viele?«
»Fünfhundert Aktien. Ich weiß, für dich ist das nicht viel. Aber für mich - ungefähr ein Drittel meiner Ersparnisse.«
Rasch rechnete er aus, daß Avrils »Ersparnisse« annähernd siebenmal so groß waren wie seine eigenen.
»Was hast du über SuNatCo gehört? Warum fragst du?«
»Erstens haben die die Spesen gedrosselt, und man hat mir gesagt, daß sie knapp bei Kasse sind und Rechnungen nicht bezahlen. Ein paar von den anderen Mädchen haben den Rat bekommen, ihre Aktien zu verkaufen, aber ich hab' meine bisher behalten, weil sie viel weniger bringen, als ich damals für sie bezahlt habe.«
»Hast du Quartermain schon gefragt?«
»Seit einiger Zeit hat keiner von uns ihn mehr gesehen. Mondstrahl... Du erinnerst dich an Mondstrahl?«
»Ja.« Heyward fiel ein, daß Big George angeboten hatte, ihm das exquisite japanische Mädchen aufs Zimmer zu schicken. Er fragte sich, wie es wohl gewesen wäre.
»Mondstrahl sagt, Georgie wäre nach Costa Rica gefahren und würde da vielleicht bleiben. Und sie sagt, er habe eine Menge seiner eigenen SuNatCo verkauft, bevor er abfuhr.«
Warum hatte er Avril nicht schon vor Wochen als Informationsquelle angezapft?
»An deiner Stelle«, sagte er, »würde ich die Aktien morgen verkaufen. Auch mit Verlust.«
Sie seufzte. »Es ist schwer genug, Geld zu verdienen. Noch schwerer ist es, es auch zu behalten.«
»Meine Liebe, soeben hast du eine fundamentale wirtschaftliche Wahrheit formuliert.«
Ein Schweigen trat ein, dann sagte Avril: »Ich werde dich immer als einen netten Mann in Erinnerung behalten, Rossie.«
»Danke. Ich werde auch auf besondere Weise an dich denken.«
Sie streckte ihre Arme nach ihm aus. »Noch mal versuchen?«
Er schloß die Augen vor Behagen, während sie ihn liebkoste. Sie tat es, wie immer, meisterhaft. Er dachte: Beide fanden sie sich damit ab, daß dies ihre letzte Begegnung sein würde. Ein Grund dafür war praktischer Natur: Er konnte sich Avril nicht mehr leisten. Darüber hinaus aber war da ein Gefühl sich regender Ereignisse, bevorstehender Veränderungen, einer Krise, die dem Höhepunkt zustrebte. Wer wußte schon, was danach sein würde?
Kurz bevor sie einander liebten, dachte er an seine Bedenken von vorhin wegen Gottes Zorn. Nun, vielleicht würde Gott - der Vater Christi, der die Schwäche des Menschen erkannte, der mit Sündern ging und sprach und der mit Dieben starb - verstehen. Vergeben und die Wahrheit verstehen - daß Roscoe Heyward einige wenige süße Augenblicke seines größten Glücks der Gesellschaft einer Hure verdankte.
Als er das Hotel verließ, kaufte Heyward eine Abendzeitung. Eine zweispaltige Schlagzeile auf der ersten Seite weckte seine Aufmerksamkeit:
Sorge um Supranational Corp.
Wie liquide ist der globale Riese?
Es gelangte nie ans Tageslicht, welches spezifische Ereignis, wenn es ein solches überhaupt gab, den endgültigen Zusammenbruch von Supranational ausgelöst hatte. Vielleicht war es ein geringfügiger Zwischenfall. Vielleicht hatte aber auch eine Anhäufung von vielen die allmähliche Verlagerung des Gleichgewichts bewirkt, wie eine wachsende Belastung des Unterbaus plötzlich ein Dach zum Einsturz bringt.
Wie bei jedem wirtschaftlichen Debakel, bei dem es um eine große Aktiengesellschaft geht, waren schon Wochen und Monate vorher einzelne Zeichen der Schwäche sichtbar geworden. Aber nur Beobachter mit schärfstem Blick für das Kommende, wie Lewis D'Orsey, erkannten Zusammenhänge und ließen wenigen Bevorzugten Warnungen zukommen Eingeweihte - einschließlich Big George Quartermain, der, wie man später erfuhr, den größten Teil seiner Aktien auf dem absoluten SuNatCo-Scheitelpunkt durch einen Strohmann verkauft hatte - waren früher gewarnt als andere und stiegen rechtzeitig aus. Andere, die einen Tip von Vertrauensleuten bekommen hatten oder von Freunden, die sich für einen erwiesenen Dienst revanchierten, erhielten ähnliche Informationen und taten in aller Stille das gleiche.
Als nächste in der Reihe kamen Leute wie Alex Vandervoort - für die First Mercantile American Bank handelnd -, die vertrauliche Informationen erlangten und schnellstens alles, was sie an SuNatCo-Aktien besaßen, abstießen in der Hoffnung, daß man ihre Handlungsweise in zu erwartender späterer Konfusion nicht untersuchen werde. Andere Institutionen - Banken, Anlageberatungsfirmen, Investmentfonds - sahen die Aktienkurse rutschen, und da sie wußten, wie das System der Eingeweihten funktioniert, erkannten sie sehr bald die Lage und folgten nach.
Es gab Bundesgesetze gegen Aktienhandel aufgrund vertraulicher Informationen - auf dem Papier. In der Praxis wurde täglich gegen Gesetze dieser Art verstoßen, und es war weitgehend unmöglich, ihre Beachtung zu erzwingen. Gelegentlich, in einem flagranten Fall oder als Weißwäscherei, wurde auch Anklage erhoben, und es gab eine lächerlich geringe Geldstrafe. Aber selbst das war selten.
Individuelle Anleger - das große hoffende, vertrauende, naive, geprügelte, nach Strich und Faden betrogene Publikum -waren wie üblich die letzten, die erfuhren, daß etwas nicht stimmte.
Die erste öffentliche Ankündigung, daß SuNatCo in Schwierigkeiten sei, war in einem AP-Agenturbericht enthalten, der von Nachmittagszeitungen gedruckt wurde - es war der Bericht, den Roscoe Heyward beim Verlassen des Columbia Hilton sah. Am nächsten Morgen hatte die Presse ein paar zusätzliche Einzelheiten herausgeholt, und in den Morgenzeitungen, auch in »The Wall Street Journal«, erschienen ausführlichere Berichte. Aber die Einzelheiten waren immer noch recht mager, und vielen Leuten fiel es schwer zu glauben, daß etwas so beruhigend Ansehnliches wie die Supranational Corporation ernstlich in Schwierigkeiten sein sollte.
Ihr Vertrauen sollte bald erschüttert werden.
An jenem Morgen um 10.00 Uhr eröffneten SupranationalAktien an der New Yorker Börse nicht, wie üblich, zusammen mit den übrigen Werten. Als Grund wurde »AuftragsUnausgeglichenheit« genannt. Das bedeutete, daß der SuNatCo-Händler so mit Verkaufsorders überschwemmt wurde, daß ein geordneter Markt in diesen Aktien nicht mehr aufrechterhalten werden konnte.
Der Handel mit SuNatCo eröffnete wieder um 11.00 Uhr, als eine große Kauforder für 52000 Aktien über den Ticker kam.
Aber inzwischen war die Aktie, die einen Monat vorher mit 48 1/2 gehandelt wurde, auf 19 gesunken. Am Nachmittag, als die Schlußglocke ertönte, stand sie auf 10.
Wahrscheinlich hätte die New Yorker Börse am nächsten Tag den Handel wieder eingestellt, wenn ihr die Entscheidung nicht über Nacht aus den Händen genommen worden wäre. Die Börsenaufsicht gab bekannt, daß sie die Angelegenheit Supranational untersuche und daß jeder Handel mit SuNatCo-Aktien bis zum Abschluß der Untersuchung suspendiert sei.
Es folgten nun fünfzehn bange Tage für die noch verbliebenen SuNatCo-Aktionäre und -Gläubiger, deren Investierungen und Kredite insgesamt mehr als fünf Milliarden Dollar ausmachten. Unter den Wartenden - aufgeschreckt, nervös und nägelkauend - waren die leitenden Angestellten und Direktoren der First Mercantile American Bank.
Supranational hielt sich nicht, wie Alex Vandervoort und Jerome Patterton es gehofft hatten, noch mehrere Monate über Wasser. Deshalb bestand die Möglichkeit, daß späte Transaktionen in SuNatCo-Aktien - einschließlich des großen Blockverkaufs durch die FMA-Treuhandabteilung - für ungültig erklärt würden. Dazu konnte es auf zweierlei Weise kommen -entweder durch Anordnung der Börsenaufsicht nach einer Beschwerde oder dadurch, daß die Aktienkäufer gerichtliche Schritte einleiteten mit der Begründung, die FMA habe den wahren Zustand von Supranational gekannt, dieses Wissen jedoch nicht publiziert, als die Aktien verkauft wurden. Kam es dazu, dann würde das für die Treuhand-Kunden einen noch größeren Verlust bedeuten als der, dem sie ohnehin entgegensahen, und es war so gut wie sicher, daß die Bank dann wegen Vertrauensmißbrauchs haftbar gemacht werden konnte.
Es gab noch eine andere Möglichkeit, auf die man sich gefaßt machen mußte - und sie war sogar noch wahrscheinlicher. Der Fünfzig-Millionen-Dollar-Kredit der First Mercantile American an die SuNatCo könnte als Totalverlust vollständig abgeschrieben werden. Kam es dazu, so würde die Bank zum ersten Mal in der Geschichte der FMA einen substantiellen Betriebsverlust für das Jahr erleiden. Das warf die Wahrscheinlichkeit auf, daß die eigene Dividende der FMA an ihre Aktionäre nächstes Mal würde ausfallen müssen. Auch das wäre dann das erste Mal.
Niedergeschlagenheit und Ungewißheit durchdrang die höheren Ratsgremien der Bank.
Vandervoort hatte prophezeit, daß die Presse bei Bekanntwerden der Supranational-Geschichte darüber berichten, eigene Recherchen anstellen würde und daß die First Mercantile American hineingezogen werden würde. Auch damit sollte er recht behalten.
Reporter, in den letzten Jahren motiviert vom Beispiel der Watergate-Helden der »Washington Post«, Bernstein und Woodward, bohrten mit aller Beharrlichkeit nach. Ihre Mühen hatten Erfolg. Innerhalb weniger Tage hatten die Journalisten Quellen innerhalb und außerhalb der Supranational erschlossen, und es begannen enthüllende Berichte über Quartermains trickreiche Machenschaften zu erscheinen und über die trübe »chinesische Buchführung« des Konzerns. Auch die erschreckend hohe Verschuldung der SuNatCo wurde aufgedeckt. Und es kamen andere finanzielle Dinge ans Licht, darunter der Fünfzig-Millionen-Dollar-Kredit von der FMA.
Als der Dow Jones-Nachrichtendienst den ersten Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen FMA und Supranational über den Draht schickte, verlangte Dick French, der Chef der Public Relations-Abteilung der Bank, eine Konferenz auf höchster Ebene, die auch hastig einberufen wurde. Zugegen waren Jerome Patterton, Roscoe Heyward, Alex Vandervoort und der stämmige French selbst, der wie üblich eine nicht angezündete Zigarre im Mundwinkel hielt.
Sie bildeten eine ernste Gruppe - Patterton ingrimmig und bedrückt wie schon seit Tagen; Heyward erschöpft, zerstreut und mit Zeichen nervöser Anspannung; und Alex voll inneren Zorns darüber, daß er in eine Katastrophe verwickelt war, die er vorausgesagt hatte und die sich nicht hätte ereignen müssen.
»In einer Stunde, und vielleicht schon eher«, begann der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständige Vizepräsident, »werden sie mich bestürmen, um Einzelheiten über unsere Geschäfte mit SuNatCo zu erfahren. Ich möchte wissen, welche offizielle Position wir beziehen und welche Antworten ich geben soll.«
»Sind wir verpflichtet, darauf zu antworten?« erkundigte sich Patterton.
»Nein«, sagte French. »Aber es ist auch niemand verpflichtet, Harakiri zu begehen.«
»Warum nicht zugeben, daß Supranational in unserer Schuld steht«, schlug Roscoe Heyward vor, »und damit basta?«
»Weil wir es nicht mit Einfaltspinseln zu tun haben. Unter den Fragestellern werden auch erfahrene Wirtschaftsjournalisten sein, die etwas von Bankgesetzen verstehen. Deshalb wird ihre zweite Frage lauten: Wie kommt es, daß Ihre Bank einen so großen Teil vom Geld ihrer Anleger einem einzigen Schuldner gegeben hat?«
Heyward fuhr dazwischen: »Es hat sich nicht um einen einzigen Schuldner gehandelt. Der Kredit war auf Supranational und fünf Tochtergesellschaften verteilt.«
»Wenn ich etwas sage«, entgegnete French, »dann möchte ich gern den Anschein erwecken, als ob ich selber daran glaube.« Er nahm die Zigarre aus dem Mund, legte sie hin und griff nach einem Notizblock. »Okay, nun zu den Einzelheiten. Es wird ohnehin alles herauskommen, aber wir stehen sehr viel schlechter da, wenn wir es schmerzhaft machen wie beim Zahnziehen.«
»Bevor wir weitermachen«, sagte Heyward, »muß ich Sie daran erinnern, daß wir nicht die einzige Bank sind, der Supranational Geld schuldet. Da gibt es noch die First National City, die Bank of America und die Chase Manhattan.«
»Aber die stehen alle an der Spitze von Konsortien«, hielt ihm Alex entgegen. »Deshalb teilen sie sich einen eventuellen Verlust mit anderen Banken. Soweit uns bekannt ist, sind wir die Bank mit der höchsten individuellen Belastung.« Es erschien ihm überflüssig hinzuzufügen, daß er alle, die es anging, einschließlich des Direktoriums, warnend darauf hingewiesen hatte, daß eine derartige Konzentration des Risikos gefährlich für FMA und möglicherweise ungesetzlich war. Aber der bittere Gedanke ließ sich nicht beiseite schieben.
Sie hämmerten schließlich eine Erklärung zurecht, in der die tiefe finanzielle Verstrickung der First Mercantile American mit Supranational zugegeben und einer gewissen Besorgnis Ausdruck verliehen wurde. In der Erklärung war dann die Rede von der Hoffnung, daß es zu einem Wandel in dem kränkelnden Konzern kommen möge, vielleicht unter einem neuen Management, worauf die FMA dringen werde, und zu einer Verringerung etwaiger Verluste. Das war eine vage Hoffnung, und jeder wußte es.
Dick French wurde mit einiger Bewegungsfreiheit ausgestattet, diese Erklärung notfalls zu erläutern, und es wurde beschlossen, daß er der alleinige Sprecher der Bank bleiben solle.
French sprach noch eine Warnung aus. »Die Presse wird versuchen, Kontakt zu jedem einzelnen von Ihnen aufzunehmen. Wenn Sie Wert darauf legen, daß unser Standpunkt konsequent dargelegt wird, verweisen Sie alle Anrufer und Besucher an mich, und sorgen Sie dafür, daß Ihre Mitarbeiter sich ebenso verhalten.«
Am selben Tag überprüfte Alex Vandervoort Verfahrenspläne für den Notfall, die er für die Bank ausgearbeitet hatte und die unter genau beschriebenen Umständen in Kraft treten sollten.
»Es hat etwas ganz entschieden Morbides an sich«, erklärte Edwina D'Orsey, »wie sich die Aufmerksamkeit auf eine Bank konzentriert, die in Schwierigkeiten ist.«
Sie hatte in Zeitungen geblättert, die in der Besprechungsecke von Alex Vandervoorts Büro in der Zentrale der FMA ausgebreitet lagen. Es war ein Donnerstag, der Tag nach der Presseerklärung von Dick French.
Das Lokalblatt »Times-Register« hatte seinem Hauptaufmacher die Schlagzeile gegeben:
BANKINSTITUT UNSERER STADT GEHT IM GEFOLGE DES SUNATCO-DEBAKELS RIESIGEM VERLUST ENTGEGEN
Zurückhaltender teilte die »New York Times« ihren Lesern mit:
FMA-BANK ERKLÄRT SICH FÜR GESUND TROTZ SORGEN MIT EINEM GROSSKREDIT
Auch die Fernsehnachrichten vom Vorabend und von diesem Morgen hatten sich mit dem Thema befaßt.
Teil aller Berichte war eine hastig abgegebene Versicherung der Bundes-Reserve-Bank, daß die First Mercantile American Bank liquide sei und die Einleger keinen Grund zur Beunruhigung hätten. Dessenungeachtet stand FMA jetzt auf der »Problemliste« der Reserve-Bank, und an diesem Morgen war in aller Stille eine Gruppe von Prüfern von der Bundes-Reserve-Bank eingerückt - ganz offensichtlich die erste derartige Gruppe, entsandt von den verschiedenen Aufsichtsbehörden.
Tom Straughan, der Volkswirtschaftler der Bank, antwortete auf Edwinas Bemerkung. »Was die Aufmerksamkeit wachruft, wenn eine Bank in Schwierigkeiten gerät, hat im Grunde nichts mit Morbidität zu tun. Ich glaube, es ist hauptsächlich Angst. Angst unter den Konteninhabern, daß die Bank ihre Schalter schließen muß und sie ihr Geld verlieren. Auch eine allgemeinere Angst, daß, wenn eine Bank pleite geht, andere davon mitgerissen werden könnten und das ganze System auseinanderbricht.«
»Ich habe auch Angst«, sagte Edwina, »und zwar vor den Auswirkungen dieser vielen Artikel.«
»Mir ist nicht minder unbehaglich zumute«, pflichtete Alex Vandervoort bei. »Deshalb müssen wir weiter ganz genau beobachten, welche Auswirkungen sich zeigen.«
Alex hatte für die Mittagsstunde eine strategische Besprechung einberufen. Zur Teilnahme waren auch diejenigen Abteilungsleiter gerufen worden, die für die Verwaltung der Filialen zuständig waren, denn alle waren sich im klaren darüber, daß sich schwindendes Vertrauen zur FMA zuerst in den Filialen bemerkbar machen würde. Tom Straughan hatte schon gemeldet, daß am vergangenen Spätnachmittag wie auch an diesem Morgen mehr Geld als üblich abgehoben und weniger als üblich eingezahlt wurde, aber noch war es zu früh, um eine klare Tendenz erkennen zu können. Beruhigenderweise hatte es unter den Kunden der Bank kein Zeichen einer Panik gegeben, obwohl die Vorsteher aller vierundachtzig FMA-Filialen Anweisung hatten, auch die geringfügigste Beobachtung dieser Art sofort zu melden. Jede Bank lebt von ihrem Ruf und von dem Vertrauen anderer - empfindliche Pflanzen, die unter Mißgeschick und ungünstiger Publizität welken können.
Auf der mittäglichen Konferenz sollte unter anderem sichergestellt werden, daß Maßnahmen, die im Falle einer plötzlichen Krise ergriffen werden mußten, von allen klar verstanden wurden und daß die Nachrichtenwege funktionierten. Das war allem Anschein nach der Fall.
»Das war's fürs erste«, sagte Alex zu der Gruppe. »Wir treffen uns morgen zur gleichen Zeit.«
Dazu sollte es nicht mehr kommen.
Am nächsten Morgen um 10.15 Uhr, am Freitag, rief der Vorsteher der Filiale Tylersville, dreißig Kilometer weiter im Norden, die Hauptverwaltung der First Mercantile American an und wurde sofort mit Alex Vandervoort verbunden.
Als der Vorsteher, Fergus W. Gatwick, sich gemeldet hatte, fragte Alex ohne Umschweife: »Was ist passiert?«
»Ein Run auf die Schalter, Sir, Die Filiale ist gerammelt voll -mehr als hundert von unseren Stammkunden, sie stehen Schlange mit Sparbüchern und Scheckbüchern, und es kommen immer mehr. Sie heben alles ab, lösen die Konten auf, verlangen alles bis auf den letzten Dollar.« Die Stimme des Filialleiters klang zutiefst besorgt, obwohl man dem Mann anmerkte, daß er sich um Ruhe bemühte.
Alex lief es kalt über den Rücken. Ein Run auf die Schalter war der Alptraum jedes Bankers; und genau das hatten Alex und andere in der Geschäftsleitung in den letzten Tagen am meisten gefürchtet. Werden die Schalter gestürmt, so bedeutet das öffentliche Panik, Massenangst, totalen Vertrauensverlust. Schlimmer noch, verbreitete sich erst einmal die Nachricht von einem Sturm auf eine einzelne Filiale, so konnten andere im Filialsystem davon wie von einem großen Buschfeuer erfaßt werden, das niemand löschen konnte und das sich zu einer Katastrophe ausweitete. Kein Geldinstitut - auch das größte und solideste nicht - konnte je liquide genug sein, um die Mehrheit seiner Einleger auszuzahlen, wenn alle zugleich auf Barzahlung bestanden. Legte sich der Run nicht, würden die Bargeldreserven bald erschöpft sein, und FMA müßte ihre Tore schließen, vielleicht für immer.
Anderen Banken war das schon widerfahren. Trafen eine schlechte Geschäftsführung, ungünstige Termine und reines Pech zusammen, so konnte es überall geschehen.
Zunächst kam es, wie Alex wußte, darauf an, denjenigen, die ihr Geld abheben wollten, zu versichern, daß sie es erhalten würden. Zweitens galt es, den Ausbruch einzudämmen.
Seine Anweisungen an den Filialleiter in Tylersville waren knapp und scharf. »Fergus, Sie und alle Ihre Leute haben sich so zu verhalten, als geschehe nichts Ungewöhnliches. Zahlen Sie ohne zu fragen alles aus, was die Leute verlangen und auf ihren Konten haben. Und laufen Sie nicht mit besorgtem Gesicht herum. Seien Sie aufgeräumt und guter Dinge.«
»Das wird mir nicht leichtfallen, Sir. Ich will's versuchen.«
»Versuchen genügt nicht. In diesem Augenblick ruht das Schicksal unserer ganzen Bank auf Ihren Schultern.«
»Ja, Sir.«
»Wir schicken Ihnen Hilfe, so schnell wir können. Wie sieht's mit Ihren Barbeständen aus?«
»Wir haben ungefähr hundertundfünfzigtausend Dollar im Tresor«, sagte Gatwick. »Meiner Schätzung nach halten wir so, wie's jetzt läuft, eine Stunde aus, viel länger nicht.«
»Sie werden Geld bekommen«, versicherte Alex ihm. »Holen Sie inzwischen alles Geld, das Sie haben, aus dem Tresorraum, und stapeln Sie es auf Schreibtischen und Regalen auf, wo jeder es sehen kann. Mischen Sie sich dann unter Ihre Kunden. Sprechen Sie mit ihnen. Versichern Sie ihnen, daß unsere Bank in bester Verfassung ist, trotz der Sachen, die sie gelesen haben, und sagen Sie ihnen, daß jeder sein Geld bekommen wird.«
Alex legte auf. Über einen anderen Apparat rief er sofort Straughan an.
»Tom«, sagte Alex, »in Tylersville ist die Bombe hochgegangen. Die Filiale braucht Hilfe und Bargeld -schleunigst. Setzen Sie Notstandsplan Eins in Gang.«
Die Stadtgemeinde Tylersville war, ähnlich wie manche Menschen, vollauf damit beschäftigt, zu sich selbst zu finden. Es war ein neuer Vorort - eine Mischung aus geschäftiger Marktstadt und Farmland, das jetzt zum Teil von der vorrückenden Stadt verschlungen wurde, aber noch war genug von der ursprünglichen Substanz vorhanden, um der vorstädtischen Gleichförmigkeit Widerstand entgegenzusetzen.
Die Bevölkerung war ein Gemisch aus alt und neu - aus konservativen, tief verwurzelten Farmer- und ortsansässigen Gewerbefamilien und frisch zugewanderten Pendlern, darunter vielen, die angewidert waren von den verrottenden sittlichen Werten der Stadt, die sie verlassen hatten, und die nun - mitsamt ihren wachsenden Familien - ein wenig das friedliche, ländliche Leben genießen wollten, bevor auch das verschwand. Das Ergebnis war eine unwahrscheinliche Verbindung von echten und freiwillig rückverpflanzten Landbewohnern, die dem Big Business und allen großstädtischen Machenschaften mißtrauten, und ganz besonders den Umtrieben großer Banken.
Einzigartig war auch, im Fall des Runs auf die Schalter in Tylersville, die Rolle eines geschwätzigen Postboten. Den ganzen Donnerstag über hatte er beim Verteilen von Briefen und Päckchen das Gerücht verbreitet: »Haben Sie schon gehört, daß die First Mercantile American Bank pleite geht? Ich habe mir sagen lassen, daß jeder, der da Geld liegen hat und es bis morgen nicht abhebt, alles verliert.«
Nur wenige, die den Postboten hörten, glaubten ihm ohne Vorbehalt. Aber die Geschichte breitete sich aus, wurde von Nachrichten einschließlich der Abendnachrichten des Fernsehens mit neuer Nahrung versorgt. Über Nacht wuchs unter der Landbevölkerung, den kleinen Geschäftsleuten, den Handwerkern und den Zugewanderten die Unruhe, so daß am Freitag morgen alle denselben Gedanken hatten: Warum etwas riskieren? Wir holen unser Geld jetzt.
Jede Kleinstadt hat ihren eigenen Buschtelegraphen. Die Entscheidung der Leute sprach sich rasch herum, und als der Vormittag halb herum war, machten sich immer mehr Leute auf den Weg zur FMA-Filiale.
So werden aus kleinen Fäden große Gobelins gewoben.
In der FMA-Zentrale gab es etliche, die kaum jemals von Tylersville gehört hatten; jetzt hörten sie davon. Sie sollten noch mehr hören, während Alex Vandervoorts Notstandsplan Eins wie vorgesehen ablief.
Auf Anweisung von Tom Straughan wurde zunächst der
Computer der Bank zu Rate gezogen. Ein Programmierer tippte auf einer Tastatur die Frage: Wie hoch ist die Summe der Sparund Giro-Einlagen der Filiale Tylersville? Die Antwort war augenblicklich da - und sie entsprach dem Stand der letzten Minute, denn die Filiale war direkt mit dem Computer verbunden.
SPAREINLAGEN......... 26 170 627,54 DOLLAR
GIRO-EINLAGEN........ 15 042 767,18 DOLLAR
SUMME ..........41 213 394,72 DOLLAR
Der Computer wurde dann angewiesen: Abzuziehen von dieser Summe sind der Betrag auf ruhenden Konten sowie die städtischen Einlagen. (Man durfte davon ausgehen, daß diese Gruppen auch während eines Runs auf die Schalter nicht angetastet wurden.)
Der Computer antwortete:
RUHEND & STÄDTISCH . . 21 430 964,61 DOLLAR
SALDO................. 19 782 430,11 DOLLAR
Mehr oder weniger zwanzig Millionen Dollar, die die Einleger im Gebiet von Tylersville abheben konnten und abheben würden.
Ein Untergebener Straughans hatte schon den Bargeldtresor alarmiert, eine unterirdische Festung unter dem FMA-Tower. Der Chef des Zentraltresors erhielt jetzt Anweisung: »Zwanzig Millionen Dollar an die Filiale Tylersville - Blitzauftrag!«
Das war mehr, als wahrscheinlich benötigt würde, aber ein Zweck, der damit erreicht werden sollte - laut Beschluß der von Alex Vandervoorts Gruppe aufgestellten Vorausplanung -, war eine Demonstration der Stärke, vergleichbar dem Hissen der Flagge. Oder, wie Alex es ausdrückte: »Wer einen Brand löschen will, muß mehr Wasser parat haben, als er braucht.«
Im Laufe der letzten achtundvierzig Stunden war - in Erwartung dessen, was jetzt geschah - der normale Geldvorrat im Zentraltresor durch Sonderabruf von der Bundes-Reserve-Bank vergrößert worden. Die Reserve-Bank war über die Notstandspläne der FMA unterrichtet worden und hatte sie gebilligt.
Ein Midasschatz in Noten und Münzen, schon gezählt und in Säcken mit Etiketten verpackt, wurde auf gepanzerte Fahrzeuge verladen, während ein Aufgebot an bewaffneten Wächtern die Laderampe auf und ab patrouillierte. Insgesamt würden es sechs Panzerfahrzeuge sein, etliche über Funk von anderen Aufgaben abberufen, und jedes einzelne würde die Strecke für sich mit Polizei-Eskorte zurücklegen - eine Vorsichtsmaßnahme, die man wegen der ungewöhnlichen Menge an Bargeld getroffen hatte. Aber nur drei Panzerwagen sollten Geld an Bord haben. Die anderen würden leer sein - Attrappen -, eine zusätzliche Schutzmaßnahme gegen Raub.
Zwanzig Minuten nach dem Anruf des Filialleiters war das erste gepanzerte Fahrzeug startbereit, und wenig später suchte es sich seinen Weg durch den Stadtverkehr nach Tylersville.
Schon vorher war anderes Bankpersonal mit Privatwagen und Banklimousinen unterwegs.
Edwina D'Orsey befand sich in der Spitzengruppe. Sie sollte die jetzt angelaufene Stützaktion leiten.
Edwina verließ sofort ihren Schreibtisch in der Cityfiliale; sie nahm sich nur die Zeit, ihren ersten Stellvertreter zu unterrichten und drei Angestellte auszuwählen, die sie begleiten sollten -einen Kreditmann, Cliff Castleman, und zwei Kassiererinnen. Eine davon war Juanita Nunez.
Gleichzeitig wurden kleine Angestelltenkontingente von zwei anderen Stadtfilialen angewiesen, sich direkt nach Tylersville zu begeben und sich dort bei Edwina zu melden. Es gehörte zur Gesamtstrategie, keine Filiale in bedenklichem Maß von Personal zu entblößen für den Fall, daß es anderswo zu einem Run auf die Schalter kam. Für diesen Fall lagen andere Notstandspläne bereit, allerdings war die Zahl derjenigen, die gleichzeitig ins Werk gesetzt werden konnten, begrenzt - nicht mehr als zwei oder drei.
Das von Edwina angeführte Quartett marschierte im Eilschritt durch den Verbindungstunnel von der Cityfiliale zur FMA-Zentrale. Von der Eingangshalle des Hauptgebäudes nahmen sie einen Lift in die Kellergarage der Bank, wo ein Wagen des Fuhrparks sie erwartete. Cliff Castleman setzte sich ans Steuer.
Als sie einstiegen, sprintete Nolan Wainwright an ihnen vorbei zu seinem eigenen, dort geparkten Mustang. Der Sicherheitschef war über den Tylersville- Einsatz informiert worden, und weil es hier um zwanzig Millionen Dollar in bar ging, wollte er die Sicherungsmaßnahmen selbst überwachen. Nicht weit hinter ihm würde ein Kombi mit einem halben Dutzend bewaffneter Wächter folgen. Die städtische Polizei und ihre Kollegen vom Bundesstaat in Tylersville waren alarmiert.
Alex Vandervoort und Tom Straughan blieben, wo sie waren: in der FMA-Zentrale. Straughans Büro in der Nähe der Geldhandels-Zentrale war zum Befehlsstand geworden. Alex' Hauptsorge im sechsunddreißigsten Stock war es, das ganze übrige Filialsystem genau im Auge zu behalten und sofort Bescheid zu wissen, wenn neue Schwierigkeiten auftauchten.
Alex hatte Patterton auf dem laufenden gehalten, und jetzt wartete der Bankpräsident in höchster Spannung zusammen mit Alex. Beide Männer grübelten über die unausgesprochene Frage nach: Gelang die Eindämmung in Tylersville? Würde die First Mercantile American den Geschäftstag überstehen, ohne daß es an anderer Stelle zu neuen Runs auf die Schalter kam?
Fergus W. Gatwick, Leiter der Filiale Tylersville, hatte damit gerechnet, daß die paar noch verbleibenden Jahre bis zu seiner Pensionierung gemächlich und ohne Aufregung verstreichen würden. Er war in den Sechzigern, ein rundlicher Apfel von einem Mann, mit rosa Wangen, blauen Augen, grauen Haaren, ein freundlicher Rotarier. In seiner Jugend war er nicht ohne Ehrgeiz gewesen, aber den hatte er längst abgestreift, denn er war zu der klugen Einsicht gelangt, daß ihm im Leben eine Nebenrolle beschieden war; er war ein Gefolgsmann, der nie selbst neue Wege erschließen würde. Die Leitung einer kleinen Filiale entsprach seinen Fähigkeiten und Grenzen auf ideale Weise.
Er war immer glücklich gewesen in Tylersville, wo bisher nur eine Krise einen Schatten auf seine Amtsführung geworfen hatte. Vor wenigen Jahren mietete eine Frau mit einem eingebildeten Groll auf die Bank ein Stahlschließfach. In dem Fach deponierte sie einen in Zeitungspapier gewickelten Gegenstand und reiste dann, ohne eine Adresse zu hinterlassen, nach Europa ab. Nach wenigen Tagen zog ein ekelerregender Geruch durch die Bank. Anfangs hatte man Abwasserleitungen in Verdacht und inspizierte sie, ohne Erfolg, während der Gestank immer schlimmer wurde. Kunden beschwerten sich, Angestellten wurde übel. Am Ende konzentrierte sich der Verdacht auf die Stahlschließfächer, wo der fürchterliche Geruch am stärksten zu sein schien. Dann erhob sich die entscheidende Frage - welches Fach?
Fergus W. Gatwick, von der Pflicht gerufen, schnüffelte sich von Fach zu Fach vor und entschied sich schließlich für eines, in dessen unmittelbarer Nähe der üble Duft besonders stark war. Danach bedurfte es viertägiger rechtlicher Schritte, bis endlich ein gerichtlicher Befehl vorlag, der es der Bank gestattete, das Schließfach aufzubohren. Darin befanden sich die Überreste eines großen, einst frischen Seebarsches. Manchmal, auch jetzt noch in der Erinnerung, witterte Gatwick Spuren jenes ekelhaften Augenblicks.
Die Not dieses Tages aber, das wußte er, war weitaus ernster als ein Fisch in einem Schließfach. Er sah auf die Uhr. Eine Stunde und zehn Minuten waren vergangen, seit er die Hauptverwaltung angerufen hatte. Obwohl vier Kassierer stetig Geld ausgezahlt hatten, strömten immer mehr Menschen herein und drängten sich in der Bank.
»Mr. Gatwick!« Eine Kassiererin winkte ihn heran.
»Ja?« Er verließ den durch eine Schranke abgeteilten Bereich der Filialleitung, wo er normalerweise arbeitete, und ging zu ihr hinüber. Auf der anderen Seite des Schalters, am Kopf der wartenden Schlange, stand ein Geflügelfarmer, ein Stammkunde der Bank, den Gatwick gut kannte. Gutgelaunt sagte der Filialleiter: »Guten Morgen, Steve.«
Ihm antwortete ein kühles Kopfnicken, während die Kassiererin ihm wortlos zwei Schecks zeigte, gezogen auf zwei Konten. Der Geflügelmann hatte sie präsentiert. Sie beliefen sich zusammen auf eine Summe von 23000 Dollar.
»Sind gedeckt«, sagte Gatwick. Er nahm die Schecks und zeichnete sie beide ab.
Leise, aber auf der anderen Seite des Schalters noch hörbar, sagte die Kassiererin: »Wir haben nicht mehr genug Geld, um so viel auszuzahlen.«
Er hätte es natürlich wissen müssen. Seit Schaltereröffnung war unausgesetzt Bargeld abgeflossen, und viele große Summen waren abgehoben worden. Aber es war eine bedauerliche Bemerkung. Es erhoben sich jetzt zornig grollende Stimmen, und die Äußerung der Kassiererin ging von Mund zu Mund weiter. »Hören Sie sich das an! Die sagen, sie haben kein Geld.«
»Gott ist mein Zeuge!« Der Geflügelfarmer lehnte sich voller Zorn vor, und seine geballte Faust hämmerte auf den Schaltertisch. »Zahlen Sie die Schecks aus, Gatwick, oder ich komm' da rüber und schlag' die ginze gottverdammte Bank in Stücke!«
»Das ist durchaus nicht nötig, Steve. Drohungen und Gebrüll können Sie sich auch sparen.« Fergus W. Gatwick sprach jetzt auch mit lauter Stimme und versuchte, sich in der plötzlich bösartig gewordenen Szene Gehör zu verschaffen. »Meine Damen, meine Herren, wegen ungewöhnlich hoher Auszahlungen ist ein vorübergehender Mangel an Bargeld eingetreten, aber ich versichere Ihnen, daß sehr viel mehr Geld auf dem Wege hierher ist und bald eintreffen wird.«
Die letzten Worte gingen in zornigen Protesten unter. »Wie kann denn einer Bank das Geld ausgehen?«... »Sofort her mit dem Geld!«... »Sparen Sie sich den Schmus! Wo ist das Geld?«... »Wir kampieren hier, bis die Bank zahlt, was sie uns schuldet!«
Gatwick hob beide Arme. »Ich versichere Ihnen noch einmal... «
»Mich interessieren Ihre fadenscheinigen Versicherungen nicht.« Sprecherin war eine adrett gekleidete Frau, von der Gatwick wußte, daß sie noch nicht allzu lange hier wohnte. Sie sagte mit Nachdruck: »Ich will mein Geld jetzt haben.«
»Ganz richtig!« rief ein Mann, der hinter ihr stand. »Das wollen wir alle.«
Wieder andere drängten nach vorn, Stimmen wurden laut, auf den Gesichtern lagen Zorn und Angst. Irgend jemand warf eine Zigarettenschachtel, die Gatwick im Gesicht traf. Plötzlich, so wurde ihm klar, war aus einer Schar gewöhnlicher Bürger, von denen er viele gut kannte, ein feindseliger Mob geworden. Es war natürlich das Geld; Geld, das bei Menschen seltsame Dinge bewirkte, sie gierig machte, in Panik versetzte, sie manchmal zu Untermenschen werden ließ. Auch echte Furcht war da - die Möglichkeit, wie manche es sahen, alles zu verlieren, was sie besaßen, und damit ihre Sicherheit. Gewalt, vor Augenblicken noch undenkbar, hing jetzt fast greifbar in der Luft. Zum ersten Mal seit vielen Jahren empfand Gatwick körperliche Angst.
»Bitte!« rief er beschwörend. »Bitte, so hören Sie doch!« Seine Stimme ging im wachsenden Tumult unter.
Mit einem Schlag, unerwartet, verringerten sich Lärm und Geschrei. Draußen auf der Straße schien irgend etwas im Gange zu sein, und diejenigen, die ganz hinten standen, verrenkten sich die Hälse, um zu sehen, was es war. Dann flogen mit theatralischem Schwung die Außentore der Bank auf, und eine Prozession marschierte herein.
An der Spitze schritt Edwina D'Orsey. Ihr folgten Cliff Castleman und die beiden jungen Kassiererinnen, eine davon die zierliche Gestalt von Juanita Nunez. Dahinter schritt eine Phalanx von Sicherheitswächtern mit schweren Leinensäcken auf der Schulter, eskortiert von anderen, nach allen Seiten sichernden Wächtern mit gezogenem Revolver. Sechs weitere Angestellte, die von anderen Filialen eingetroffen waren, folgten den Wächtern im Gänsemarsch. Im Kielwasser dieser Schar -ein wachsamer, mißtrauischer Lordprotektor - kam Nolan Wainwright.
Edwinas klare Stimme hallte durch die überfüllte, jetzt nahezu lautlose Bank. »Guten Morgen, Mr. Gatwick. Es tut mir leid, daß wir so lange gebraucht haben, aber es herrschte dichter Verkehr. Ich habe gehört, daß Sie möglicherweise zwanzig Millionen Dollar brauchen. Etwa ein Drittel davon ist eben eingetroffen. Der Rest ist unterwegs.«
Während Edwina sprach, gingen Cliff Castleman, Juanita, die Wächter und die anderen weiter durch die abgeteilte Fläche für die Filialleitung, bis sie sich auf der anderen Seite der Schalter befanden. Zu der neu eingetroffenen Verstärkung gehörte ein Innenleiter, der sofort das Kommando über die Geldtransporte übernahm. Schon wurde reichlicher Nachschub an knisternden neuen Scheinen registriert, dann an Kassierer verteilt.
Die Menge in der Bank drängte sich um Edwina. Irgend jemand fragte: »Stimmt es? Habt ihr Geld genug, um allen auszuzahlen, was sie haben wollen?«
»Natürlich stimmt das.« Edwina schaute über die Menschen, die sich um sie drängten, und sprach jeden einzelnen an. »Ich bin Mrs. D'Orsey, und ich bin eine Vizepräsidentin der First Mercantile American Bank. Vielleicht haben Sie alle möglichen Gerüchte gehört, aber unsere Bank ist gesund, liquide, frei von Problemen, mit denen sie nicht fertig werden könnte. Wir haben reichliche Barreserven, um jeden Einleger auszuzahlen - hier in Tylersville und sonstwo auch.«
Die adrett gekleidete Frau, die vorhin ihre Stimme erhoben hatte, sagte: »Vielleicht stimmt das. Vielleicht sagen Sie es aber nur in der Hoffnung, daß wir es glauben. Wie dem auch sei, ich hebe mein Geld heute ab.«
»Das ist Ihr gutes Recht«, sagte Edwina.
Fergus W. Gatwick sah zu und war erleichtert, nicht mehr im Brennpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Er spürte auch, daß die häßliche Stimmung, die noch vor wenigen Augenblicken geherrscht hatte, abflaute; hier und da sah man auf den Gesichtern der Wartenden sogar ein Lächeln, als immer neue Massen von Geld eintrafen. Wenn auch die Atmosphäre weniger aufsässig war als zuvor, es blieb doch die Absicht, die sie alle hergeführt hatte. Die Auszahlungen gingen in raschem Tempo weiter, und es wurde klar, daß der Sturm auf die Schalter sich nicht gelegt hatte.
Währenddessen marschierten - wieder wie Cäsars Legionäre - die Wächter mit ihrer Eskorte zum zweiten Mal vo n den draußen wartenden Panzerfahrzeugen mit neuen, prall gefüllten Leinwandsäcken herein.
Niemand, der jenen Tag in Tylersville miterlebt hatte, vergaß je die ungeheure Menge Geldes, die am Ende öffentlich zur Schau gestellt war. Selbst diejenigen, die in der FMA arbeiteten, hatten noch nie so viel Geld auf einmal gesehen. Auf Edwinas Anweisung und nach Alex Vandervoorts Plan lag der größte Teil der zwanzig Millionen Dollar, herbeigebracht, um den Sturm auf die Schalter abzuwehren, offen da, wo jedermann es sehen konnte. Hinter den Schaltern war jeder Schreibtisch freigeräumt; aus anderen Räumen der Bank wurden zusätzlich Tische herangeschafft. Auf alle Tische wurden große Stapel
Noten und Münzen gehäuft, während die zur Verstärkung entsandten Angestellten trotz des geschäftigen Durcheinanders den Überblick über den ständig fließenden Gesamtbestand behielten.
Wie Nolan Wainwright später sagte, war das ganze Unternehmen »der Traum eines Bankräubers, der Alptraum des Sicherheitsmannes«. Erfuhren Räuber, was hier geschah, so erfuhren sie es glücklicherweise zu spät.
Edwina, ruhig, kompetent und höflich gegenüber Fergus W. Gatwick, überwachte alles.
Sie wies Cliff Castleman auch an, sich um neue Kreditgeschäfte zu bemühen.
Kurz vor Mittag - in der Bank drängten sich noch immer die Menschen, und die wartende Schlange draußen wurde länger -trug Castleman einen Stuhl mitten in die Halle und stellte sich darauf.
»Meine Damen und Herren«, rief er, »ich möchte mich Ihnen vorstellen. Ich bin ein Kreditbearbeiter aus der City, was nicht viel heißen will, außer, daß ich Vollmacht habe, höhere Kredite zu bewilligen, als normalerweise von dieser Filiale gewährt werden. Wenn also jemand von Ihnen daran gedacht hat, einen Kredit zu beantragen, und eine rasche Antwort haben möchte, jetzt ist die Zeit dafür. Ich werde mir anhören, was Sie zu sagen haben, und ich freue mich immer, wenn ich Leuten helfen kann, die irgendwelche Probleme haben. Mr. Gatwick, der gerade alle Hände voll mit anderen Dingen zu tun hat, war so freundlich, mir vorläufig seinen Schreibtisch zu überlassen, da finden Sie mich also. Ich hoffe, Sie kommen und reden mit mir.«
Ein Mann mit einem Bein in Gips rief: »Ich bin sofort da, sowie ich mein anderes Geld habe. Wenn diese Bank schon pleite geht, werde ich mir rasch noch einen Kredit schnappen. Brauch' ich dann nicht zurückzuzahlen.«
»Nichts geht hier pleite«, sagte Cliff Castleman. Er erkundigte sich: »Was haben Sie denn mit Ihrem Bein gemacht?«
»Bin im Dunkeln gestürzt.«
»So, wie Sie reden, tappen Sie immer noch im dunkeln. Dieser Bank geht's besser als Ihnen und mir. Und wenn Sie Geld pumpen, werden Sie's hübsch zurückzahlen, oder wir brechen Ihnen auch noch das andere Bein.«
Hier und da wurde gelacht, als Castleman wieder von seinem Stuhl herunterkletterte, und später schlenderten ein paar Leute hinüber zum Schreibtisch des Filialleiters, um über einen Kredit zu sprechen. Aber die Leute hörten nicht auf, ihr Geld abzuheben. Die Panik ließ nach, aber nichts, so schien es -weder eine Demonstration der Stärke noch Zusicherungen, noch auch angewandte Psychologie -, vermochte den Sturm auf die Schalter der Filiale Tylersville anzuhalten.
Am frühen Nachmittag schien es für die niedergeschlagenen Angestellten der FMA nur noch eine Frage zu geben: Wie lange noch, bis das Virus sich ausbreitete?
Alex Vandervoort, der mehrfach mit Edwina telefoniert hatte, fuhr am Nachmittag selbst nach Tylersville hinaus. Er war jetzt noch beunruhigter als am Morgen; da hatte er noch die Hoffnung gehabt, den Ansturm rasch stoppen zu können.
Seine Fortdauer bedeutete, daß sich die Panik übers Wochenende unter den Einlegern ausbreiten würde; der Run auf andere FMA-Filialen am Montag war gewiß.
Bisher war es an diesem Tag in einigen anderen Filialen zwar zu erheblichen Abhebungen gekommen, aber nirgendwo anders zu einer Situation, die mit Tylersville vergleichbar gewesen wäre. Offensichtlich konnte dieses Glück nicht mehr lange dauern.
Alex ließ sich von einem Chauffeur der Bank nach Tylersville hinausfahren, und Margot Bracken begleitete ihn. Margot war am Vormittag früher als erwartet mit einem Gerichtsverfahren fertig geworden und hatte mit Alex in der Bank zu Mittag gegessen. Auf seinen Vorschlag blieb sie da, und etwas von den Spannungen, die sich mittlerweile über den sechsunddreißigsten Stock des Verwaltungshochhauses ausgebreitet hatten, ging auf sie über.
In der Limousine lehnte Alex sich weit zurück und genoß die Pause der Entspannung, die, wie er wußte, nur kurz sein würde.
»Dieses Jahr war nicht leicht für dich«, sagte Margot.
»Merkt man es mir an?«
Sie beugte sich vor und ließ einen Zeigefinger sanft über seine Stirn gleiten. »Da sind ein paar Falten mehr. An den Schläfen bist du grauer geworden.«
Er zog eine Grimasse. »Auch älter.«
»Dann ist das der Preis, den wir dafür zahlen, unter Streß zu leben. Den zahlst du auch, Bracken.«
»Stimmt«, sagte Margot. »Wichtig wäre nur, ob es die Sache wirklich lohnt, einen Teil von uns selbst zu opfern.«
»Eine Bank zu retten lohnt ein bißchen persönliche Anstrengung«, sagte Alex mit Schärfe. »Jetzt, zum Beispiel, wenn wir unsere nicht retten, dann werden eine Menge Leute leiden, die es nicht verdient haben.«
»Und ein paar, die es verdient haben?«
»Bei einer Rettungsaktion versucht man, jeden zu bergen. Vergeltung hat Zeit bis später.«
Sie hatten fünfzehn der dreißig Kilometer bis Tylersville zurückgelegt.
»Alex, steht es wirklich so schlimm?«
»Wenn wir am Montag einen Run erleben, den wir nicht eindämmen können«, sagte er, »dann werden wir schließen müssen. Vielleicht bildet sich dann ein Konsortium anderer Banken, um uns auszulösen - wofür sie sich bezahlen lassen werden -, und danach werden sie die Reste auseinanderklauben, und irgendwann, meine ich, werden alle Einleger ihr Geld zurückbekommen. Die FMA aber wird als selbständige Firmeneinheit erledigt sein.«
»Das unglaublichste daran ist, daß es so plötzlich passieren kann.«
»Das macht deutlich«, sagte Alex, »was sehr viele Leute nicht ganz begriffen haben, Leute, die es wissen müßten. Banken und das Geldsystem, zu dem genommene und gegebene Darlehen gehören, gleichen einer hochempfindlichen Maschine. Spielt man tolpatschig daran herum, läßt man ein Teil der Maschinerie - durch Habsucht oder aus politischen Erwägungen oder einfach aus Dummheit - aus dem Gleichgewicht geraten, bringt man alle anderen Teile in Gefahr. Und hat man erst einmal das System gefährdet - oder eine einzelne Bank - und sickert die Sache nach draußen, was meistens geschieht, dann wird vermindertes öffentliches Vertrauen den Rest besorgen. Das erleben wir jetzt.«
»Nach allem, was du mir gesagt hast«, sagte Margot, »und nach allem, was ich sonst noch gehört habe, ist das, was deiner Bank jetzt passiert, auf Habgier zurückzuführen.«
Voller Bitterkeit sagte Alex: »Auf das und auf einen hohen Prozentsatz von Idioten in unserem Direktorium.« Er war offener als sonst, und es tat ihm gut.
Ein Schweigen breitete sich aus, bis Alex ausrief: »Mein Gott! Wie er mir fehlt.«
»Wer?«
»Ben Rosselli.«
Margot nahm seine Hand. »Ist denn diese Rettungsaktion, die du gestartet hast, nicht genau das, was Ben selbst unternommen hätte?«
»Vielleicht.« Er seufzte. »Nur - sie funktioniert nicht. Deshalb wünsche ich mir, daß Ben hier wäre.«
Der Chauffeur ließ die Trennscheibe zwischen dem Fahrersitz und seinen Passagieren herunter. Er sprach über die Schulter. »Wir sind gleich in Tylersville, Sir.«
»Viel Glück, Alex«, sagte Margot.
Schon aus einer größeren Entfernung konnten sie vor der Bank eine wartende Menschenschlange sehen. Immer neue Menschen kamen hinzu und stellten sich hinten an. Als die Limousine vor der Bank hielt, bremste auf der anderen Straßenseite quietschend ein Übertragungswagen, und mehrere Männer und ein junges Mädchen sprangen heraus. An der Seitenwand des Wagens stand in großen Lettern WTLC-TV. »Mein Gott!« sagte Alex. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
In der Bank sprach Alex, während Margot sich neugierig umsah, kurz mit Edwina und Fergus W. Gatwick und hörte von beiden, daß es wenig oder nichts gab, was man jetzt noch tun könnte. Es war wohl eine vergebliche Fahrt gewesen, gestand sich Alex ein, aber er hatte den Drang verspürt, selbst herauszukommen und mit den Wartenden zu sprechen. Größeren Schaden konnte er auch nicht mehr damit anrichten, und vielleicht würde es sogar etwas nützen. Er ging an einigen Reihen von Wartenden entlang, stellte sich hier und da mit ruhiger Stimme vor.
Mindestens zweihundert Menschen waren da, ein ansehnlicher Querschnitt durch Tylersville - alte und junge, Leute in den besten Jahren, einige wohlhabend, andere offensichtlich ärmer, Frauen mit kleinen Kindern, Männer in Arbeitskleidung, ein paar Leute sorgfältig gekleidet wie zu einem besonderen Anlaß. Die meisten waren freundlich, ein paar nicht, hier und da gab es Feindseligkeit. Fast alle zeigten sich mehr oder minder nervös. Erleichterung spiegelte sich in den Mienen derjenigen, die ihr Geld bekommen hatten und gingen. Eine ältere Frau sprach auf dem Weg zur Tür Alex an. Sie ahnte nicht, daß er leitender Angestellter der Bank war. »Gott sei Dank, daß das vorbei ist! Das war der schlimmste Tag, den ich bisher erlebt habe. Das sind meine Ersparnisse - alles, was ich habe.« Sie hielt ungefähr ein Dutzend Fünfzig-DollarScheine hoch. Andere gingen mit viel größeren oder kleineren Summen.
Der Eindruck, den Alex aus seinen Gesprächen mit verschiedenen Leuten gewann, war etwa so: Vielleicht war die First Mercantile American Bank gesund; vielleicht auch nicht. Aber das Geld auf einer Bank lassen, die vielleicht pleite ging, das wollte niemand riskieren. Die Berichterstattung, in der die FMA mit Supranational in Verbindung gebracht worden war, hatte ihr Werk getan. Jeder wußte, daß die First Mercantile American sehr wahrscheinlich eine gewaltige Summe Geldes verlieren werde, denn die Bank selbst gab es ja zu. Auf Einzelheiten kam es da nicht an. Und die wenigen Kunden, mit denen Alex sprach und dabei die Einlagenversicherung erwähnte, trauten diesem System auch nicht. Die von den Bundesbehörden vorgeschriebene Versicherungssumme war begrenzt, sagten einige der Leute, und man glaubte zu wissen, daß die verfügbaren Versicherungsgelder bei einem großen Bankkrach niemals ausreichen konnten.
Und Alex spürte, daß da noch etwas anderes, vielleicht noch Tiefergehendes war: Die Leute glaubten nicht mehr, was man ihnen sagte; sie hatten sich zu sehr daran ge wöhnt, daß man sie täuschte und belog. In jüngster Vergangenheit waren sie von ihrem Präsidenten belogen worden, von anderen Regierungsmitgliedern, von Politikern, Geschäftsleuten, Industriellen. Belogen von Arbeitgebern, von Gewerkschaften. Belogen in der Werbung. Belogen bei finanziellen Transaktionen, belogen in Marktberichten und Analysen, in Jahresberichten und »geprüften« Jahresbilanzen. Manches Mal belogen - durch Färbung oder Fortlassung - von den Nachrichtenmedien. Endlos war die Liste. Täuschung wir auf Täuschung gehäuft worden, bis die Lüge - oder bestenfalls Verzerrung und unvollständige Aufklärung - zum festen Bestandteil des Lebens geworden war.
Weshalb sollte man also Alex glauben, wenn er ihnen versicherte, daß die FMA kein sinkendes Schiff sei und daß ihr Geld - ließen sie es auf den Konten stehen - sicher war? Als die Stunden vergingen und der Nachmittag schwand, wurde deutlich, daß niemand ihm glaubte.
Am späten Nachmittag resignierte Alex. Was kommen mußte, würde kommen; für jeden einzelnen ebenso wie für große Gesellschaften, dachte er, kam einmal die Zeit, wo man sich mit dem Unvermeidlichen abfinden mußte. Ungefähr um diese Zeit - gegen 17.30 Uhr, als die Dunkelheit des Oktoberabends schon herabzusinken begann - kam Nolan Wainwright und berichtete von einer neuen Sorge, die sich in der Menge ausbreitete.
»Sie machen sich Gedanken«, sagte Wainwright, »weil wir um sechs schließen. Die Leute sagen sich, daß wir in der halben Stunde, die noch bleibt, nicht alle abfertigen können.«
Alex schwankte. Es wäre einfach, die Filiale Tylersville pünktlich und ordnungsgemäß zu schließen; es wäre legal, und niemand könnte ernstlich etwas dagegen einwenden. Ganz flüchtig schoß ihm der aus Zorn und Enttäuschung geborene rachsüchtige Gedanke durch den Kopf, dem Sinne nach den immer noch Wartenden zu sagen: Ihr habt mir nicht vertraut, schwitzt also bis Montag Blut und Wasser und schert euch zum Teufel, meinetwegen! Aber er zögerte; eine solche Haltung entsprach nicht seiner Natur, außerdem mußte er an die Bemerkung denken, die Margot über Ben Rosselli gemacht hatte. Was Alex jetzt tat, hatte sie gesagt, sei »genau das, was Ben selbst unternommen hätte«. Wie hätte Ben entschieden, angesichts der nahenden Schalterschluß-Zeit? Alex wußte es.
»Ich möchte etwas bekanntgeben«, sagte er zu Wainwright, nachdem er sich kurz mit Edwina besprochen und ihr einige Anweisungen gegeben hatte.
Alex arbeitete sich bis an den Eingang der Bank vor und stellte sich an einer Stelle auf, von der ihn diejenigen in der Bank und andere, die noch auf der Straße warteten, hören konnten. Er nahm wahr, daß Fernsehkameras auf ihn gerichtet waren. Dem ersten Fernsehteam hatte sich ein zweites von einem anderen Sender zugesellt, und vor einer Stunde hatte Alex für beide eine Erklärung abgegeben. Die Kamerateams harrten aus, und einer der Fernsehleute hatte verraten, daß sie zusätzliches Material für eine Magazinsendung am Wochenende drehten, denn »einen Run auf Bankschalter, das erlebt man nicht alle Tage«.
»Meine Damen und Herren« - Alex' Stimme war stark und klar; sie verschaffte sich mühelos Gehör -, »ich habe gehört, daß einige von Ihnen sich Sorgen machen wegen des heutigen Schalterschlusses. Das ist ganz unnötig. Im Namen der Geschäftsleitung unserer Bank gebe ich Ihnen mein Wort, daß wir hier in Tylersville geöffnet bleiben, bis wir Sie alle bedient haben.« Zufriedenes Stimmengemurmel wurde laut, hier und da klatschte jemand Beifall.
»Um eines jedoch möchte ich Sie alle dringend bitten.« Wieder verstummte das Gemurmel, die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich erneut auf Alex. Er fuhr fort: »Ich rate Ihnen mit allem Nachdruck, übers Wochenende keine großen Summen Geldes bei sich zu tragen oder zu Hause zu behalten. Es wäre in vieler Hinsicht unsicher. Deshalb empfehle ich Ihnen dringend, eine andere Bank aufzusuchen und dort einzuzahlen, was Sie hier abgehoben haben. Um Ihnen dabei zu helfen, telefoniert meine Kollegin Mrs. D'Orsey in diesem Augenblick mit anderen Banken in der näheren Umgebung und ersucht sie, die Schalter länger als üblich geöffnet zu halten und Ihnen zur Verfügung zu stehen.«
Wieder erhob sich beifälliges Gemurmel.
Nolan Wainwright trat zu Alex, flüsterte ihm kurz etwas zu, und Alex gab bekannt: »Ich erfahre soeben, daß zwei Banken bereits unserer Bitte entsprochen haben. Mit anderen werden wir noch Kontakt aufnehmen.«
Aus der Schar, die noch auf der Straße wartete, erhob sich eine Männerstimme: »Können Sie eine gute Bank empfehlen?«
»Ja«, sagte Alex. »Ich selbst würde die First Mercantile American wählen. Die kenne ich am besten, da weiß ich, daß ich am sichersten bin, und sie hat eine lange und ehrenhafte Tradition. Ich wünschte nur, daß Sie alle auch so denken.« Zum ersten Mal schwang ein Hauch von Emotion in seiner Stimme mit. Ein paar Menschen lächelten oder lachten ein wenig unsicher, aber die meisten Gesichter, die ihn beobachteten, waren ernst.
»Ich habe auch immer so gedacht«, meldete sich eine Stimme hinter Alex. Er wandte sich um. Gesprochen hatte ein alter Mann, wohl eher achtzig als siebzig, runzlig, weißhaarig, gebeugt, auf einen Stock gestützt. Aber die Augen des alten Mannes waren klar und scharf, seine Stimme fest. Neben ihm stand eine Frau etwa gleichen Alters. Beide waren ordentlich gekleidet, wenn auch etwas altmodisch und abgetragen. Die Frau hatte ein Einkaufsnetz in der Hand, das, wie jeder sehen konnte, Bündel von Geldscheinen enthielt. Sie waren gerade vom Schalter der Bank gekommen.
»Meine Frau und ich haben schon seit mehr als dreißig Jahren ein Konto bei der FMA«, sagte der alte Mann, »'n komisches Gefühl, es jetzt da wegzunehmen.«
»Warum tun Sie's dann?«
»Kann all die Gerüchte doch nicht einfach übergehen. Zuviel Rauch, irgendwo wird schon ein Funke Wahrheit sein.«
»Ein Funke Wahrheit ist da, und wir haben es zugegeben«, sagte Alex. »Wegen eines Kredits an die Supranational Corporation wird unsere Bank wahrscheinlich einen Verlust erleiden. Aber die Bank kann ihn tragen, und sie wird ihn tragen.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Wäre ich jünger, könnte ich noch arbeiten, würde ich's vielleicht riskieren und Ihnen glauben. Aber ich bin alt. Was da drin steckt« er zeigte auf das Einkaufsnetz -, »ist so ziemlich alles, was wir noch haben, bis wir sterben. Es ist auch so nicht viel. Die Dollars da reichen nicht halb so weit wie damals, als wir gearbeitet und sie verdient haben.«
»Ganz gewiß«, sagte Alex. »Die Inflation trifft gute Leute wie Sie am schwersten. Aber da hilft es Ihnen auch nichts, wenn Sie die Bank wechseln.«
»Ich will Sie mal was fragen, junger Mann. Wenn Sie an meiner Stelle wären, nehmen wir mal an, und das Geld da wäre Ihr Geld, würden Sie da nicht dasselbe tun wie ich?«
Alex spürte, daß andere sich näher heranschoben und zuhörten. Einen Kopf oder zwei entfernt sah er Margot. Und genau hinter ihr waren Lampen der Fernsehkameras eingeschaltet. Irgend jemand beugte sich mit einem Mikrofon vor.
»Ja«, gab er zu. »Ich glaub' schon.«
Der alte Mann schien überrascht. »Auf jeden Fall sind Sie ehrlich. Ich hab' eben gehört, wie Sie geraten haben, zu 'ner anderen Bank zu gehen, und das weiß ich zu schätzen. Ich denk', wir gehen und zahlen da unser Geld ein.«
»Warten Sie«, sagte Alex. »Haben Sie einen Wagen?«
»Nee. Wir wohnen gleich da hinten. Wir gehen zu Fuß.«
»Aber nicht mit dem Geld. Sie könnten überfallen werden. Ich lasse Sie zu einer anderen Bank fahren.« Alex winkte Nolan Wainwright heran und setzte ihn ins Bild. »Das hier ist unser Sicherheitschef«, sagte er zu dem alten Ehepaar.
»Ich fahre Sie selbst«, sagte Wainwright. »Macht mir nichts aus.«
Der alte Mann rührte sich nicht von der Stelle. Er sah von einem Gesicht zum anderen. »Das tun Sie für uns? Wo wir gerade unser Geld von Ihrer Bank abgehoben haben? Wenn wir Ihnen praktisch gesagt haben, daß wir Ihnen nicht mehr vertrauen?«
»Sagen wir, das gehört zu unserem Kundendienst. Außerdem«, sagte Alex, »wenn Sie dreißig Jahre bei uns waren, dann sollten wir uns als Freunde trennen.«
Noch immer hielt der alte Mann unsicher inne. »Vielleicht ist das nicht nötig. Ich möchte Ihnen noch eine Frage stellen, von Mann zu Mann.« Die klaren, scharfen, ehrlichen Augen betrachteten Alex mit festem Blick.
»Schießen Sie los.«
»Sie haben mir schon einmal die Wahrheit gesagt, junger Mann. Nun sagen Sie noch mal die Wahrheit, und denken Sie daran, was ich gesagt habe von meinem Alter und was die Ersparnisse da für uns bedeuten. Ist unser Geld in Ihrer Bank sicher? Absolut sicher?«
Man konnte die Sekunden zählen, während Alex die Frage in allen ihren Konsequenzen abwog. Er wußte, daß nicht nur das alte Ehepaar ihn gespannt ansah, sondern viele andere auch. Die allgegenwärtigen Fernsehkameras waren noch eingeschaltet. Aus den Augenwinkeln sah er Margot; auch sie war angespannt, auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der schwer zu deuten war. Er dachte an die Menschen, die hier waren, und an andere, anderswo, die von diesem Augenblick direkt betroffen würden; an diejenigen, die auf ihn bauten an Jerome Patterton, Tom Straughan, an das Direktorium, Edwina, andere; daran, was geschehen konnte, wenn die FMA zusammenbrach, von den weitreichenden und schädlichen Folgen, nicht nur hier in Tylersville, sondern weit darüber hinaus. Trotz alledem erhob sich Zweifel. Er zwang ihn nieder, dann antwortete er mit knapper und zuversichtlicher Stimme: »Ich gebe Ihnen mein Wort. Diese Bank ist absolut sicher.«
»Mein Gott noch mal, Freda«, sagte der alte Mann zu seiner Frau. »Sieht so aus, als ob wir uns unnötig den Kopf heiß gemacht haben. Komm, wir zahlen das verdammte Geld wieder ein.«
In allen nachträglichen Untersuchungen und Diskussionen der folgenden Wochen blieb eine Tatsache unangefochten: Der Run auf die Schalter in Tylersville war praktisch beendet, als der alte Mann und seine Frau sich umdrehten, in die FMA-Filiale zurückmarschierten und das Geld aus dem Einkaufsnetz wieder am Schalter einzahlten. Leute, die lange gewartet hatten, um ihr eigenes Geld abzuheben, und die das Gespräch zwischen dem alten Mann und dem Bankdirektor verfolgt hatten, vermieden es entweder, einander in die Augen zu sehen, oder, wenn sie das nicht taten, lächelten sie verlegen und gingen. Die Nachricht breitete sich rasch unter den Restlichen aus, die draußen und drinnen noch warteten; wie auf Kommando begannen sich die Warteschlangen aufzulösen, so schnell und so geheimnisvoll, wie sie sich gebildet hatten. Wie irgend jemand später sagte: Es war Herdeninstinkt, nur in umgekehrter Richtung. Als die wenigen, noch in der Bank verbliebenen Menschen abgefertigt waren, schloß die Filiale nur zehn Minuten später als normal an einem Freitagabend. Ein paar FMA-Leute in Tylersville und in der Zentrale hatten mit Sorge an den kommenden Montag gedacht. Ob die Menschen wiederkommen, der Ansturm wieder von neuem beginnen würde? Es zeigte sich, daß es dazu nicht kam.
Auch nirgendwo anders kam es am Montag zu einem Sturm auf die Schalter. Der Grund dafür - die meisten Analysen stimmten in diesem Punkt überein - war eine ausdrucksstarke, aufrichtige, rührende Szene zwischen einem alten Ehepaar und einem gutaussehenden, freimütigen Bank-Vizepräsidenten, wie sie in den Fernsehnachrichten am Wochenende ausgestrahlt wurde. Der Film, fertig geschnitten und redigiert, war so erfolgreich, daß verschiedene Sender ihn mehrfach verwendeten. Er erschien als ein Beispiel der menschlich unmittelbar anrührenden, wirkungsvollen Technik des cinéma vérité, die sich so vorzüglich für das Fernsehen eignet und von ihm so selten genutzt wird. Viele Menschen am Bildschirm waren bis zu Tränen gerührt.
Am Wochenende sah Alex Vandervoort den Fernsehfilm, behielt sich aber seinen eigenen Kommentar dazu vor. Ein Grund dafür war, daß er allein wußte, welche Gedanken ihn in dem alles entscheidenden Augenblick bewegt hatten, als ihm die Frage gestellt wurde: Ist unser Geld... absolut sicher? Ein anderer Grund war die Tatsache, daß Alex die Fallgruben und Probleme kannte, die noch auf dem Weg der FMA lagen.
Auch Margot sagte am Freitag abend wenig über den Vorfall; ebensowenig erwähnte sie ihn am Sonntag, als sie in Alex' Wohnung blieb. Es gab eine wichtige Frage, die sie stellen wollte, aber sie war klug genug zu spüren, daß jetzt nicht die Zeit dafür war.
Auch Roscoe Heyward gehörte zu den Direktoren der First Mercantile American, die die Fernsehübertragung sahen, wenn auch nicht in voller Länge. Heyward schaltete das Fernsehen ein, als er am Sonntag abend von einer Versammlung des Kirchenvorstands nach Hause kam, stellte den Apparat aber in wütender Eifersucht wieder ab, als er erst einen Teil der Übertragung gesehen hatte. Heyward hatte eigene Probleme, die ernst genug waren, und mochte sich nicht auch noch an Vandervoorts Erfolg erinnern lassen. Und ganz abgesehen von dem Run auf die Bank, würden in der kommenden Woche sehr wahrscheinlich mehrere Dinge an die Oberfläche gelangen, die Heyward mit großer Nervosität erfüllten.
Ein anderes Nachspiel entwickelte sich aus jenem Freitagabend in Tylersville. Es betraf Juanita Nunez.
Juanita hatte am Nachmittag gesehen, wie Margot Bracken eintraf. Sie hatte in letzter Zeit mehrmals den Gedanken erwogen, ob sie Margot aufsuchen und sie um Rat fragen solle oder nicht. Jetzt nahm sie sich vor, es zu tun. Aber aus verschiedenen Gründen war es Juanita lieber, nicht von Nolan Wainwright beobachtet zu werden.
Die Gelegenheit, auf die Juanita gewartet hatte, ergab sich kurz nach dem Ende des Sturms auf die Bank, als Wainwright damit beschäftigt war, die Sicherheitsvorkehrungen der Filiale für das Wochenende zu überprüfen, und die Anspannung dieses Tages bei den Angestellten abzuklingen begann. Juanita verließ den Schalter, an dem sie einem Kassierer der Filiale geholfen hatte, und ging zu dem abgeteilten Geschäftsleitungsbezirk hinüber. Dort saß Margot allein und wartete darauf, daß Alex Vandervoort gehen konnte.
»Miss Bracken«, begann Juanita leise, »Sie haben mal gesagt, daß ich zu Ihnen kommen darf, wenn ich Sorgen habe.«
»Ja, natürlich, Juanita. Haben Sie Probleme?«
Ihr kleines Gesicht legte sich in sorgenvolle Falten. »Ja, ich glaube schon.«
»Was ist das denn für ein Problem?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten wir dann woanders sprechen?« Juanita beobachtete Wainwright, der sich auf der anderen Seite der Bank in der Nähe des Tresors aufhielt. Er schien gerade ein Gespräch zu beenden.
»Dann kommen Sie in mein Büro«, sagte Margot. »Wann wäre es Ihnen am liebsten?«
Sie einigten sich auf Montag abend.
Die Tonbandspule aus dem Fitness-Club Doppelte Sieben hatte seit sechs Tagen auf dem Regal über dem Arbeitstisch gelegen.
Wizard Wong hatte mehrfach einen Blick auf das Tonband geworfen, es widerstrebte ihm auszulöschen, was darauf war, aber er hatte auch ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, die Information weiterzugeben. Heutzutage war es riskant, irgendein Telefongespräch aufzuzeichnen. Noch riskanter war es, die Aufnahme einem anderen vorzuspielen.
Marino aber, das wußte Wizard genau, würde einen Teil dieses Tonbands sehr gern hören, und für dieses Privileg würde er gut zahlen. Über Tony Bär Marino mochte man geteilter Meinung sein, aber niemand konnte ihm nachsagen, daß er für gute Dienste nicht gut zahlte, und das war einer der Gründe, die Wizard veranlaßten, gelegentlich für ihn zu arbeiten.
Marino war ein Berufsverbrecher, das wußte er. Wong war keiner.
Wizard (sein Vorname war in Wirklichkeit Wayne, aber alle, die ihn kannten, nannten ihn nur Wizard, Zauberer) war ein junger, hellwacher chinesischer Amerikaner der zweiten Generation. Er war außerdem Experte für Elektronik und Tontechnik, und sein Spezialgebiet war das Aufspüren elektronischer Abhörgeräte. Auf diesem Gebiet war er ein Genie, und das hatte ihm auch seinen Namen Wizard eingebracht.
Einer langen Liste von Kunden lieferte Wong die Garantie, daß es in ihren Büros und Wohnungen keine »Wanzen« gab, daß ihre Telefone nicht abgehört wurden, daß ihre Privatsphäre sicher war vor versteckter Elektronik. Überraschend oft entdeckte er heimlich installierte Abhörgeräte, und wenn ihm das gelang, waren seine Kunden stets sehr beeindruckt und dankbar. Trotz offizieller Versicherungen des Gegenteils -einschließlich einiger vor kurzem abgegebener Erklärungen des Präsidenten selbst -, ging das Abhören und Anzapfen in den Vereinigten Staaten weiter, es war weit verbreitet, und es florierte.
Großindustrielle sicherten sich Wongs Dienste. Desgleichen Bankiers, Zeitungsverleger, Präsidentschaftskandidaten, etliche berühmte Anwälte, die eine oder andere ausländische Botschaft, ein paar US-Senatoren, drei Gouverneure von Bundesstaaten und ein Richter am Obersten Gerichtshof. Dann gab es noch die Oberbonzen von der Gegenseite - der Patriarch einer MafiaFamilie, dessen Consiglieri und etliche führende Köpfe von nicht ganz dieser Größenordnung, und zu denen gehörte Tony Marino.
Seinen kriminellen Kunden machte Wizard Wong eines ganz klar: Mit ihren illegalen Umtrieben wollte er nichts zu tun haben; er verdiente seinen beachtlichen Lebensunterhalt streng innerhalb der Grenzen des Gesetzes. Er sah aber keinen Grund, ihnen seine Dienste vorzuenthalten, da das Abhören fast in jedem Falle illegal war und selbst Kriminelle das Recht hatten, sich mit gesetzlichen Mitteln zu schützen. Diese Grundregel wurde von allen respektiert und bewährte sich gut.
Dennoch gaben ihm seine Kunden aus der Welt des organisierten Verbrechens von Zeit zu Zeit zu verstehen, daß man brauchbare Informationen, die er im Zuge seiner Arbeit erlangte, wohl zu schätzen wissen und gut belohnen würde. Und gelegentlich hatte Wizard tatsächlich höchst interessante Informationen gegen Geld weitergegeben, denn auch er war nicht völlig gefeit gegen die älteste und einfachste aller Versuchungen - Habgier.
Diese Versuchung plagte ihn jetzt.
Vor anderthalb Wochen hatte Wizard Wong routinemäßig Marinos Räume und seine Telefone auf Wanzen untersucht.
Kontrolliert wurde dabei auch immer der Fitness-Club Doppelte Sieben, an dem Marino finanziell beteiligt war. Im Laufe der Überprüfung - die ergab, daß alles sauber war - vergnügte Wizard sich damit, für kurze Zeit eine der Leitungen des Clubs anzuzapfen, eine Übung, die er hier und da praktizierte, um, wie er sich einredete, seine technischen Fähigkeiten im Interesse seiner Kunden immer auf dem höchsten Stand zu halten. Dieses Mal suchte er sich ein Münztelefon im Erdgeschoß des Clubs aus. Für achtundvierzig Stunden stellte Wizard eine Verbindung zwischen einem im Keller der Doppelten Sieben versteckten Tonbandgerät und dem Münztelefon her; es war ein Gerät, das sich selbst ein- und ausschaltete, wenn das Telefon benutzt wurde.
Was er da tat, war ungesetzlich, aber Wizard redete sich ein, das spiele keine Rolle, da niemand außer ihm selbst das Tonband später je zu hören bekommen würde. Aber als er es abspielte, erregte vor allem ein Gespräch seine Aufmerksamkeit.
Jetzt, am Samstag nachmittag und allein in seinem Tonlabor, nahm er das Band von dem Regal über seinem Arbeitstisch, legte es auf ein Tonbandgerät und hörte sich den Teil des Bandes noch einmal an.
Eine Münze wurde eingeworfen, eine Nummer wurde gewählt. Das Geräusch des Wählens war deutlich zu vernehmen. Der Ton, der das Läuten anzeigte. Es läutete nur einmal.
Eine Frauenstimme (weich, mit leichtem Akzent): Hallo.
Eine männliche Stimme flüsternd): Du weißt, wer hier spricht. Also keine Namen.
Die Frauenstimme: Ja.
Die erste Stimme (noch immer im Flüsterton): Sag unserem gemeinsamen Freund, daß ich hier was Wichtiges entdeckt habe. Es ist wirklich wichtig. Fast alles, was er wissen wollte. Mehr kann ich nicht sagen, aber ich komme morgen abend zu dir.
Ein Klicken. Der Anrufer im Fitness-Club Doppelte Sieben hatte eingehängt.
Wizard Wong wußte nicht genau, warum er glaubte, daß Tony Bär Marino sich dafür interessieren würde. Sein Riecher sagte es ihm, und sein Riecher hatte sich schon oft bezahlt gemacht. Er faßte einen Entschluß, blätterte in einem privaten Notizbuch, ging ans Telefon und wählte eine Nummer.
Es stellte sich heraus, daß Tony Bär frühestens am späten Montagnachmittag Zeit für ihn hatte. Wizard traf eine Verabredung mit ihm und machte sich dann - weil er sich ja nun festgelegt hatte - daran, mehr Informationen aus dem Band herauszuholen. Er spulte das Band zurück, dann spielte er es aufmerksam noch etliche Male ab.
»Verfluchter Mist!« Tony Bär Marinos fleischige, kräftige Gesichtszüge verzerrten sich vor wilder Wut. Seine groteske Falsettstimme überschlug sich und kletterte noch höher als gewöhnlich. »Du hattest dieses gottverdammte Band, und dann haste eine Woche lang auf deinem gottverdammten Arsch gesessen, bevor du endlich zu mir kommst!«
»Ich bin Techniker, Mr. Marino«, verteidigte sich Wizard Wong. »Meistens gehen mich die Dinge, die ich höre, gar nichts an. Aber nach einer Zeit habe ich dann gedacht, daß die Sache hier vielleicht anders liegt.« In gewisser Beziehung war er erleichtert. Es hatte wenigstens keinen Wutanfall gegeben, weil er eine Leitung der Doppelten Sieben angezapft hatte.
»Nächstes Mal«, fauchte Marino, »denk gefälligst schneller!«
Heute war Montag. Sie befanden sich in dem Fuhrunternehmen, wo Marino ein Büro unterhielt, und zwischen ihnen, auf dem Schreibtisch, stand ein tragbares Tonbandgerät, das Wong gerade abgeschaltet hatte. Bevor er hergekommen war, hatte er den bedeutungsvollen Teil des ursprünglichen Tonbands auf eine Kassette überspielt und den Rest gelöscht.
Tony Bär Marino, in Hemdsärmeln in dem muffigen, überheizten Büro, wirkte physisch furchteinflößend wie immer. Er hatte die Schultern eines Preisboxers, kräftige Handgelenke und gewaltige Bizepsmuskeln. Er quoll über den Stuhl hinaus, auf dem er saß, aber das war kein Fett; zum größten Teil bestand er aus soliden Muskelsträngen. Wizard Wong versuchte, sich nicht einschüchtern zu lassen, weder von Marinos Masse noch von dem Ruf der Skrupellosigkeit, der ihm vorauseilte. Aber ob es nun an dem überhitzten Raum lag oder andere Gründe hatte, Wong begann zu schwitzen.
Er wandte ein: »Soviel Zeit habe ich gar nicht vergeudet, Mr. Marino. Ich habe noch ein paar andere Sachen herausgefunden, die Sie vielleicht gern wissen wollen.«
»Zum Beispiel?«
»Ich kann Ihnen die angerufene Nummer sagen. Sehen Sie, wenn man mit der Stoppuhr die Zeit der Scheibendrehung mißt, wie sie auf dem Band aufgezeichnet ist, und sie dann vergleicht... «
»Verschon mich mit dem Quatsch. Sag mir die Nummer.«
»Da ist sie.« Ein Zettel wurde über den Schreibtisch gereicht.
»Haste rausgekriegt, wem die gehört?«
»Also ehrlich, so eine Nummer aufzuspüren, das ist nicht leicht. Besonders wenn sie nicht im Telefonbuch steht. Zum Glück habe ich Verbindungen in der Telefongesellschaft... «
Tony Bär explodierte. Er hieb mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte, und es hörte sich an wie ein Schuß. »Spiel nicht mit mir herum, du kleines Mistvieh! Wenn du was weißt, dann raus damit!«
»Was ich sagen will«, fuhr Wizard beharrlich fort und schwitzte dabei noch mehr, »ist, daß es was kostet. Ich mußte meinem Verbindungsmann Geld geben.«
»Du hast dem verdammt viel weniger bezahlt, als du aus mir herausquetschen willst. Los, weiter!«
Wizards Anspannung ließ ein wenig nach. Er hatte herausgebracht, was er sagen wollte, und Tony Bär würde den verlangten Preis zahlen, denn beide wußten, daß sie einander auch später noch brauchen würden.
»Das Telefon gehört einer Mrs. J. Nunez. Sie wohnt in Forum East. Hier die Hausnummer und die Nummer ihrer Wohnung.« Wong reichte einen zweiten Zettel hinüber. Marino nahm ihn, warf einen Blick auf die Adresse, legte ihn dann auf den Tisch.
»Da ist noch was, was Sie vielleicht interessiert. In der Kartei steht, daß der Anschluß vor einem Monat als besonders eilige Sache gelegt worden ist. Normalerweise gibt es für Anschlüsse in Forum East eine lange Warteliste, aber dieser hat überhaupt nicht auf der Liste gestanden, und dann plötzlich stand er ganz vorn.«
Marinos Gesicht verzerrte sich noch mehr, zum Teil aus Ungeduld, zum Teil aus Wut über das, was er hörte. Hastig fuhr Wizard Wong fort: »Also, da hat jemand Dampf dahinter gemacht. Mein Kontaktmann sagt, daß es in der Korrespondenz der Telefongesellschaft eine Aktennotiz darüber gibt. Der da so gedrängt hat, der heißt Nolan Wainwright, und der ist Chef der Sicherheitsabteilung einer Bank - der First Mercantile American. Er hat gesagt, man brauche den Anschluß für dringende Bankangelegenheiten. Die Rechnungen gehen auch an die Bank.«
Zum ersten Mal seit Ankunft des Tontechnikers war Tony Bär aufgeschreckt. Flüchtig zeigte sich Überraschung auf seinem Gesicht, verschwand aber sofort wieder und wurde durch absolute Ausdruckslosigkeit ersetzt. Unter dieser Maske arbeitete sein Verstand, setzte das soeben Gehörte mit gewissen, ihm schon bekannten Tatsachen in Beziehung. Die Verbindung war der Name Wainwright. Marino erinnerte sich an den Versuch vor sechs Monaten, einen Spitzel einzuschleusen, einen Schleimscheißer namens Vic, der »Wainwright« gesagt hatte, als sie ihm die Eier zerquetscht hatten. Marino, der damals eine sehr aktive Rolle gespielt hatte, hatte schon von dem Bankbullen gehört.
Gab es jetzt einen neuen Spitzel? Wenn ja, dann konnte Tony Bär sich denken, worauf der angesetzt war, obwohl über den Club auch noch allerhand andere Geschäfte liefen, die er auf keinen Fall aufgedeckt sehen wollte. Tony Bär vergeudete keine Zeit mit Vermutungen. Die Stimme des Anrufers, ein Flüstern nur, war nicht zu identifizieren. Aber die andere Stimme - eine Frauenstimme - war jetzt bekannt; was man sonst noch wissen mußte, konnte man von ihr erfahren. Der Gedanke, daß die Frau vielleicht nicht mitspielen würde, kam ihm gar nicht; wenn sie Dummheiten machte, hatte man ja seine Möglichkeiten.
Marino zahlte Wong rasch aus und blieb nachdenklich sitzen. Er hatte immer Vorsicht walten lassen und wollte auch jetzt keine überstürzten Entscheidungen treffen, sondern wie üblich seine Gedanken ein paar Stunden lang auf kleiner Flamme garkochen lassen. Aber er hatte Zeit verloren, eine ganze Woche.
Später an diesem Abend rief er zwei Muskelmänner. Tony Bär gab ihnen eine Adresse in Forum East und einen Befehl. »Greift euch diese Nunez.«
»Wenn sich herausstellt, daß alles tatsächlich stimmt, was du mir eben gesagt hast«, versicherte Alex, »dann werde ich Nolan Wainwright persönlich den wuchtigsten Tritt in den Hintern verpassen, den er je bekommen hat.«
Margot fuhr ihn wütend an: »Natürlich stimmt das. Warum sollte Mrs. Nunez sich das ausdenken? Und wie könnte sie das überhaupt?«
»Richtig«, gab er zu, »ich glaube nicht, daß sie das könnte.«
»Ich will dir noch was sagen, Alex. Ich will mehr als nur den Kopf deines Mr. Wainwright auf einer Silberschüssel - oder seinen Hintern. Ich will viel mehr.«
Sie waren in Alex' Wohnung, wo Margot vor einer halben Stunde erschienen war, nach ihrem Gespräch mit Juanita Nunez, zu dem sie an diesem Montagabend mit ihr verabredet gewesen war. Was Juanita ihr berichtete, hatte sie zunächst mit Staunen, dann mit Empörung erfüllt. Nervös hatte Juanita über ihre vor einem Monat getroffene Vereinbarung berichtet, durch die sie zum Bindeglied zwischen Wainwright und Miles Eastin geworden war. Aber neuerdings, sagte Juanita, war ihr erst richtig bewußt geworden, auf welches Risiko sie sich eingelassen hatte, und ihre Angst nahm zu, vor allem wegen Estela. Mehrere Male war Margot Juanitas Bericht durchgegangen, hatte sie nach Einzelheiten befragt. Dann fuhr sie zu Alex.
»Ich wußte davon, daß Eastin untertaucht.« Alex' Gesicht drückte Sorge aus, wie so oft in letzter Zeit; er ging im Wohnzimmer auf und ab, in der Hand ein Glas Scotch, von dem er noch nicht getrunken hatte. »Nolan hat mir erzählt, was er vorhatte. Zuerst war ich dagegen, hab' nein gesagt, dann habe ich nachgegeben, weil seine Argumente überzeugend klangen. Aber ich schwöre dir, von einer Vereinbarung mit diesem
»Das glaub' ich gerne«, gab Margot zurück. »Weil er genau gewußt hat, daß du dein Veto einlegen würdest.«
»Weiß Edwina Bescheid?«
»Allem Anschein nach nicht.«
Verdrossen dachte Alex: Dann war Nolan also auch da aus der Reihe getanzt. Wie konnte er so kurzsichtig sein, mehr noch, so dumm? Aber es lag zum Teil auch daran, daß Abteilungschefs wie Wainwright oft nur ihre eigenen, begrenzten Ziele sahen, die größeren Zusammenhänge aber nicht beachteten.
Er hörte auf, hin- und herzumarschieren. »Vor einer Minute hast du was gesagt von >viel mehr wollen« Was soll das heißen?«
»Als erstes will ich sofortige Sicherheit für meine Mandantin und ihr Kind, und mit Sicherheit meine ich, daß man sie irgendwo unterbringt, wo sie außer Gefahr ist. Danach können wir über Entschädigung reden.«
»Deine Mandantin?«
»Ich habe Juanita empfohlen, einen Anwalt zu nehmen. Sie hat mich gebeten, sie zu vertreten.«
Alex grinste und nahm einen Schluck Whisky. »Du und ich, wir sind also jetzt Gegner, Bracken.«
»In dem Sinne sind wir es wohl.« Margots Stimme wurde weicher. »Nur, du weißt ja, daß ich unsere Privatgespräche nicht beruflich nutze.«
»Ja, das weiß ich. Deshalb will ich dir privat sagen, daß wir etwas für Mrs. Nünez tun werden - sofort, morgen. Wenn es bedeutet, daß wir sie eine Zeitlang aus der Stadt wegschicken müssen, um sicherzugehen, daß ihr nichts passiert, dann werde ich das genehmigen. Was die Entschädigung betrifft, so will ich mich da nicht festlegen, aber wenn ich die ganze Geschichte gehört habe und wenn alles mit dem übereinstimmt, was du mir erzählst und was sie sagt, dann werden wir das in Erwägung ziehen.«
Was Alex nicht erwähnte, war seine Absicht, Nolan Wainwright am nächsten Morgen kommen zu lassen und ihm zu befehlen, die gesamte Spitzelaktion sofort einzustellen. Ein Teil davon wären die Sicherheitsmaßnahmen für das Mädchen, wie er es Margot versprochen hatte; außerdem mußte Eastin ausgezahlt werden. Alex wünschte inbrünstig, er wäre bei seinem ersten Urteil geblieben und hätte den ganzen Plan untersagt; alles in ihm hatte sich dagegen gewehrt, und es war falsch gewesen, sich von Wainwright überreden zu lassen. Die Risiken waren in jeder Beziehung viel zu groß. Zum Glück war es nicht zu spät, den Fehler rückgängig zu machen, denn Schaden hatte niemand genommen, weder Eastin noch die Nünez.
Margot musterte ihn. »Eins mag ich besonders gern an dir, nämlich deine Fairneß. Du gibst also zu, daß die Bank Verantwortung gegenüber Juanita Nünez hat?«
»Mein Gott!« sagte Alex und trank sein Glas aus. »Im Augenblick sind wir für so viel verantwortlich, was macht da schon eins mehr oder weniger noch aus?«
Ein einziges Stück nur noch. Nur noch eins war nötig, um das verlockende Puzzle zu vollenden. Ein glücklicher Zufall könnte es liefern, und dann hätte er die Antwort auf die Frage: Wo arbeitete der Fälscher?
Als Nolan Wainwright die zweite Spitzelaktion plante, erwartete er keine aufsehenerregenden Resultate. Auch von Miles Eastins Einsatz versprach er sich nicht viel, vielleicht ergab sich daraus irgendeine kleine Information, und selbst das konnte Monate dauern. Statt dessen aber war Eastin rasch von einer Enthüllung zur nächsten geeilt. Wainwright fragte sich, ob Eastin sich selbst wohl darüber im klaren war, welche großartigen Erfolge er erzielt hatte.
Am Dienstag gegen zehn Uhr früh saß Wainwright allein in seinem karg ausgestatteten Büro in der FMA-Zentrale und ließ noch einmal den bisher erzielten Fortschritt Revue passieren:
- Der erste Bericht von Eastin hatte besagt: »Ich bin drin« im Fitness-Club Doppelte Sieben. Im Lichte der späteren Ereignisse war das allein schon wichtig. Es folgte die Bestätigung, daß die Doppelte Sieben ein Kriminellentreff war und daß sich dort auch der Kredithai, Ominsky, und Tony Bär Marino aufzuhalten pflegten.
- Eastin hatte sich Zugang zu den illegalen Glücksspielräumen verschafft und dadurch seine Infiltration verbessert.
- Gleich darauf hatte Eastin zehn gefälschte Zwanzig-DollarNoten gekauft. Als Wainwright und andere sie untersuchten, stellten sie fest, daß sie von der gleichen hohen Qualität waren wie diejenigen, die seit mehreren Monaten in diesem Gebiet im Umlauf und zweifellos gleichen Ursprungs waren. Eastin hatte den Namen seines Lieferanten gemeldet, und der Mann wurde beobachtet.
- Des weiteren, ein dreiteiliger Bericht: der gefälschte Führerschein; das Kennzeichen des Chevrolet Impala, mit dem Eastin nach Louisville gefahren war, allem Anschein nach mit einer Lieferung Falschgeld im Kofferraum; und das Flugscheindoppel des Tickets, das man Eastin für die Rückreise gegeben hatte. Von den drei Punkten hatte sich der Flugschein als der nützlichste erwiesen. Er war zusammen mit anderen per Keycharge-Bankkreditkarte gekauft worden, und die war gefälscht. Endlich hatte der Bank-Sicherheitschef das Gefühl, sich seinem Hauptziel zu nähern - der Verschwörung, die das Keycharge-System um gewaltige Summen betrogen hatte und noch weiter betrog. Der falsche Führerschein bestätigte die Existenz einer vielseitigen, leistungsfähigen Organisation, auf die jetzt eine zusätzliche Spur hinwies - der Exgefangene Jules LaRocca. Nachforschungen ergaben, daß der Impala gestohlen worden war. Wenige Tage nach Eastins Fahrt wurde er verlassen in Louisville aufgefunden.
- Der letzte und wichtigste Erfolg war die Identifizierung des Fälschers Danny, zusammen mit einem wahren Füllhorn an Informationen einschließlich der Tatsache, daß der Ursprung der gefälschten Keycharge-Kreditkarten jetzt zuverlässig bekannt war.
Gleichzeitig mit der Anhäufung von Informationen, die Wainwright über seine Nachrichten-Pipeline von Miles Eastin bezog, war eine Verpflichtung gewachsen - mitzuteilen, was er wußte. Deshalb hatte er vor einer Woche Agenten des FBI und des Secret Service zu einer Besprechung in die Bank eingeladen. Der Secret Service mußte beteiligt werden, weil es hier auch um Geldfälschung ging, denn nach der Verfassung war diesem US-Geheimdienst der Schutz des amerikanischen Währungssystems übertragen. Die Spezialagenten des FBI, die zu der Besprechung kamen, waren dasselbe Team - Innes und Dalrymple -, das vor fast einem Jahr den FMA-Bargeldverlust untersucht und Miles Eastin verhaftet hatte. Die Männer vom Secret Service - Jordan und Quimby - hatte Wainwright vorher noch nie gesehen.
Innes und Dalrymple beglückwünschten Wainwright zu den Informationen, weniger begeistert gaben sich die Männer vom Secret Service. Sie fanden, Wainwright hätte sie schon früher ins Bild setzen müssen - nämlich sobald er die ersten gefälschten Banknoten von Eastin erhalten hatte - und daß Eastin sie über Wainwright vor Antritt seiner Fahrt nach Louisville hätte informieren sollen.
Der Secret Service-Agent Jordan, ein störrischer, kalt blickender, untersetzter Mann, dessen Magen fortwährend knurrte, beklagte sich: »Wären wir informiert worden, hätten wir den Transport abfangen können. So aber hat sich Ihr Mann Eastin womöglich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht, mit Ihnen als Helfershelfer.«
Geduldig setzte Wainwright ihm auseinander: »Ich habe schon erklärt, daß Eastin keine Chance hatte, irgend jemanden zu informieren, auch mich nicht. Er ist ein Risiko eingegangen, dessen er sich sehr wohl bewußt war. Ich finde, er hat richtig gehandelt. Und was das schwere Verbrechen betrifft - nun, wir wissen ja nicht einmal genau, ob sich Falschgeld in dem Wagen befunden hat.«
»Und ob das drin war!« beharrte Jordan ingrimmig. »Es ist seither überall in Louisville aufgetaucht. Wir wußten nur nicht, wie es dahin gelangt war.«
»Na, jetzt wissen Sie es«, warf der FBI-Agent Innes ein. »Und daß wir alle so sehr viel weiter sind, verdanken wir Nolan.«
Wainwright fügte hinzu: »Hätten Sie ihn abgefangen, da hätten Sie einen Haufen Falschgeld geschnappt, sicher. Viel mehr aber auch nicht, und mit Eastins Nützlichkeit wäre es vorbei gewesen.«
In gewisser Weise verstand Wainwright den Standpunkt der Leute vom Secret Service. Die Agenten waren überarbeitet, von allen Seiten bedrängt, sie hatten zu wenig Personal, und bei alledem hatte sich die Menge des im Umlauf befindlichen Falschgelds in den letzten Jahren ganz gewaltig vergrößert. Sie kämpften gegen eine Hydra. Kaum hatten sie eine Lieferantenquelle ausfindig gemacht, schon tat sich eine weitere auf; andere wieder konnten nie ausgemacht werden. Für den öffentlichen Gebrauch wurde das Märchen aufrechterhalten, daß Fälscher immer gefangen werden, daß sich ihre Art von Verbrechen überhaupt nicht bezahlt macht. In Wirklichkeit machte es sich, wie Wainwright wußte, glänzend bezahlt.
Trotz des anfänglichen Mißklanges ergab sich aus der Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden ein gewaltiges Plus, der Zugang zu ihren Archiven. Individuen, deren Namen Eastin mitgeteilt hatte, wurden identifiziert, Dossiers wurden angelegt für den Tag, an dem man eine Serie von Verhaftungen vornehmen würde. Der Falschmünzer Danny wurde als ein gewisser Daniel Kerrigan identifiziert, 73 Jahre alt. »Vor langer Zeit«, berichtete Innes, »ist Kerrigan dreimal verhaftet und zweimal wegen Falschmünzerei verurteilt worden, aber seit fünfzehn Jahren haben wir nichts mehr von ihm gehört. Entweder hat er keine krummen Dinger mehr gedreht, oder er hat Glück gehabt beziehungsweise ist schlauer geworden.«
»Vor allem arbeitet er jetzt mit einer leistungsfähigen Organisation zusammen«, sagte Wainwright und wiederholte damit eine Bemerkung Dannys, die Eastin ihm weitergegeben hatte.
»Könnte sein«, meinte Innes.
Nach ihrer ersten Konferenz blieben Wainwright und die vier Agenten in ständigem Kontakt, und er versprach ihnen, sie sofort über einen etwaigen neuen Bericht von Eastin zu informieren. Alle waren sich einig, daß es jetzt nur noch darauf ankam, die letzte und wichtigste Information über den Sitz der Fälscherzentrale zu erhalten. Bislang hatte niemand auch nur eine Vorstellung davon, wo sie sich befinden konnte. Aber man hatte große Hoffnung, einen weiteren Hinweis zu erlangen, und sobald er kam, wollten FBI und Secret Service die Schlinge zuziehen.
Während Nolan Wainwright noch in tiefem Grübeln versunken war, schrillte sein Telefon. Eine Sekretärin sagte, daß Mr. Vandervoort ihn so bald wie möglich zu sprechen wünsche.
Wainwright glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Er starrte Alex Vandervoort, der ihm gegenüber hinter seinem Schreibtisch saß, fassungslos an. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
»Es ist mein voller Ernst«, sagte Alex. »Allerdings fällt es mir schwer zu glauben, daß es Ihr Ernst war, das Mädchen in dieser Weise zu mißbrauchen. Von allen Wahnsinnseinfällen...«
»Wahnsinnig oder nicht, es hat funktioniert.«
Alex ignorierte den Einwurf. »Sie haben das Mädchen, ohne jemand zu fragen, in Gefahr gebracht. Als Resultat sind wir jetzt verpflichtet, für ihre Sicherheit zu sorgen, und vielleicht haben wir sogar einen Prozeß am Hals.«
»Ich sehe die Sache genau umgekehrt«, sagte Wainwright. »Gerade die Tatsache, daß praktisch niemand weiß, was sie für uns tut, bürgt mir für ihre Sicherheit.«
»Nein! Das legen Sie sich jetzt zurecht, Nolan. In Wirklichkeit wußten Sie ganz genau, daß ich es Ihnen untersagt hätte, wenn ich eine Ahnung von Ihrer Absicht gehabt hätte. Ich wußte ja über Eastin Bescheid. Wäre ich dann weniger verschwiegen gewesen, was das Mädchen anging?«
Wainwright rieb einen Fingerknöchel an seinem Kinn. »Dagegen läßt sich wohl nichts sagen.«
»Das will ich, verdammt noch mal, meinen!«
»Aber das ist doch immer noch kein Grund, Alex, die Aktion abzubrechen. Zum ersten Mal in der Untersuchung der Keycharge-Fälschungen stehen wir ganz dicht vor einem großen Durchbruch. Okay, ich habe falsch gehandelt, als ich die Nünez eingespannt habe. Ich gebe es zu. Aber es war nicht falsch, Eastin einzusetzen, das beweisen schließlich die Resultate.«
Alex schüttelte entschieden den Kopf. »Nolan, ich habe mich einmal von Ihnen überreden lassen. Dieses Mal nicht. Wir sind im Bankgeschäft, nicht in der Verbrecherjagd tätig. Wir bitten Strafverfolgungsbehörden um Hilfe, wir werden nach Kräften mit ihnen zusammenarbeiten. Aber wir werden keine eigenen, aggressiven Programme zur Verbrecherbekämpfung ausarbeiten und durchführen. Ich sage Ihnen also - beenden Sie die Vereinbarung mit Eastin, heute noch, wenn es möglich ist.«
»Sehen Sie doch, Alex... «
»Ich habe schon gesehen, und was ich gesehen habe, das gefällt mir nicht. Ich lasse es nicht zu, daß die FMA für die Gefährdung von Menschenleben verantwortlich ist - nicht einmal Eastins. Das ist mein letztes Wort, vergeuden wir also keine Zeit mehr mit weiteren Argumenten.«
Als Wainwright verdrossen das Gesicht verzog, fuhr Alex fort: »Außerdem wünsche ich noch heute nachmittag eine Konferenz, an der Sie, Edwina D'Orsey und ich teilnehmen, um zu klären, was wir im Hinblick auf Mrs. Nünez unternehmen sollen. Sie können schon anfangen, sich Vorschläge zu überlegen. Es mag notwendig sein... «
Eine Sekretärin erschien in der Bürotür. Gereizt sagte Alex: »Ganz gleich, was es ist - später!«
Das Mädchen schüttelte cfen Kopf. »Mr. Vandervoort, Miss Bracken ist am Apparat. Sie sagt, es sei äußerst dringend, und Sie selber würden wollen, daß man Sie unterbricht, was Sie auch gerade tun.«
Alex seufzte. Er nahm den Hörer ab. »Ja, Bracken?«
»Alex«, sagte Margots Stimme, »es ist wegen Juanita Nünez.«
»Was ist mit ihr?«
»Warte.« Alex legte einen Schalter um, der Anruf lief jetzt über einen Apparat mit Lautsprecher, so daß Wainwright mithören konnte. »Sprich weiter.«
»Ich mache mir entsetzliche Sorgen. Juanita hatte gestern abend mit mir gesprochen, und da ich wußte, daß ich dich später sehen würde, hatte ich mit ihr vereinbart, daß ich sie heute an ihrem Arbeitsplatz anrufen würde. Sie war zutiefst beunruhigt. Ich hatte gehofft, beruhigende Mitteilungen für sie zu haben.«
»Ja?«
»Alex, sie ist heute nicht zur Arbeit erschienen.« Margots Stimme klang angsterfüllt.
»Na, vielleicht... «
»Bitte hör zu. Ich bin jetzt in Forum East. Ich bin sofort hingefahren, als ich hörte, daß sie nicht in der Bank war und sich auch bei ihr zu Hause niemand am Telefon meldete. Ich habe inzwischen mit etlichen der Hausbewohner gesprochen. Zwei von ihnen sagen, daß sie die Wohnung heute morgen zur üblichen Zeit mit ihrer kleinen Tochter Estela verlassen hat. Juanita bringt die Kleine auf dem Weg zur Arbeit immer in den Kindergarten. Ich habe festgestellt, welcher Kindergarten das ist, und ich habe da angerufen. Estela ist nicht da. Weder sie noch ihre Mutter haben sich heute morgen da sehen lassen.«
Eine Pause. Dann fragte Margots Stimme: »Alex, hörst du noch?«
»Ja, ich höre.«
»Danach habe ich noch einmal die Bank angerufen und dieses Mal mit Edwina gesprochen. Sie hat persönlich nachgesehen. Nicht nur, daß Juanita nicht aufgetaucht ist, sie hat auch nicht angerufen, und das ist nicht ihre Art. Deshalb mache ich mir Sorgen. Ich bin überzeugt, es ist etwas Schlimmes passiert.«
»Hast du bestimmte Vermutungen?«
»Ja«, sagte Margot. »Dieselben wie du.«
»Warte«, sagte er zu ihr. »Nolan ist bei mir.«
Wainwright hatte sich vorgebeugt und zugehört. Jetzt richtete er sich auf und sagte ruhig: »Mrs. Nünez ist entführt worden. Es gibt keinen Zweifel.«
»Von wem?«
»Von jemand aus der Doppelten Sieben. Wahrscheinlich wissen sie auch über Eastin Bescheid.«
»Glauben Sie, daß man sie in den Club verschleppt hat?«
»Nein. Das würden sie auf keinen Fall tun. Sie ist woanders.«
»Haben Sie eine Vorstellung, wo?«
»Nein.«
»Und wer sie entführt hat, hat auch das Kind?«
»Ich fürchte, ja.« Qual sprach aus Wainwrights Blick. »Es tut mir leid, Alex.«
»Sie haben uns das eingebrockt«, sagte Alex brutal. »Jetzt holen Sie, verdammt noch mal, Juanita und das Kind da wieder raus!«
Wainwright konzentrierte sich, dachte beim Sprechen angestrengt nach. »Zuerst müssen wir prüfen, ob es eine Chance gibt, Eastin zu warnen. Wenn wir zu ihm durchkommen können, wenn wir ihn herauskriegen, dann könnte er etwas wissen, was uns zu dem Mädchen führt.« Er hatte ein kleines schwarzes Notizbuch aufgeschlagen und griff schon nach einem anderen Telefonhörer.
Alles spielte sich so schnell ab und kam so völlig unerwartet, daß Wagentüren zugeschlagen wurden und die große schwarze Limousine anfuhr, bevor sie überhaupt eine Chance hatte aufzuschreien. Instinktiv wußte Juanita, daß es jetzt zu spät war, aber sie schrie trotzdem - »Hilfe! Hilfe!« -, bis eine Faust wütend in ihr Gesicht geschlagen wurde und sich dann eine behandschuhte Hand fest auf ihren Mund preßte. Aber auch dann kämpfte Juanita, die neben sich Estelas entsetzten Aufschrei hörte, verzweifelt weiter, bis die Faust ein zweites Mal wild zuschlug und ihr alles vor den Augen verschwamm und alle Geräusche weit von ihr zurückwichen.
Der Tag - ein klarer, frischer Morgen Anfang November -hatte normal angefangen. Juanita und Estela waren rechtzeitig auf, um zu frühstücken und dann auf hrem kleinen tragbaren Schwarzweiß-Fernseher das NB C-Nachrichtenprogramm »Today« zu sehen. Danach machten sie sich eilig fertig, um wie üblich um 7.30 Uhr das Haus zu verlassen, so daß Juanita gerade genug Zeit hatte, um Estela in den Kindergarten zu bringen, bevor sie einen Bus in die Stadt und zur Bank nahm. Juanita liebte den frühen Morgen, und mit Estela zusammen zu sein, war jedesmal ein freudiger Tagesanfang.
Als sie aus dem Haus kamen, war Estela vorausgehüpft und hatte zurückgerufen: »Mammi, ich bin auf keinen Strich getreten«, und Juanita lächelte, denn die Kunst, auf keinen Strich und keinen Bruch in den Fußwegfliesen zu treten, war ein Spiel, das sie oft spielten. Etwa in diesem Augenblick nahm Juanita vage die unmittelbar voraus parkende Limousine mit den dunklen Fenstern wahr, deren hintere Tür zum Fußweg hin offenstand. Sie hatte genauer hingesehen, als Estela sich dem Wagen näherte und jemand von drinnen etwas zu ihr sagte. Estela ging näher heran. In dem Moment griff eine Hand hinaus und riß das kleine Mädchen in das Wageninnere. Sofort war Juanita zu der Wagentür gerannt. Dann kam von hinten eine Gestalt, die sie nicht gesehen hatte, dicht an sie heran und schob Juanita mit einem harten Stoß voran, so daß sie stolperte und vornüber in den Wagen stürzte, wobei sie sich schmerzhaft die Schienbeine schrammte. Bevor Juanita sich fassen konnte, hatte man sie zusammen mit Estela auf den Boden geworfen. Die Türen wurden zugeschlagen, der Wagen fuhr an.
Als ihr Kopf jetzt wieder klar wurde und das volle Bewußtsein zurückkehrte, hörte sie eine Stimme sagen: »Herr des Himmels, warum denn auch noch das gottverdammte Balg?«
»Wenn nich', hätte das Gör die ganze Straße zusammengeschrien, und irgendein Blödian hätte nach den Bullen gebrüllt. So sind wir verduftet ohne Ärger, schnell, kein Theater.«
Juanita bewegte sich. Stechende Schmerzen, ausgehend von der Stelle, wo man sie geschlagen hatte, schossen ihr durch den Kopf. Sie stöhnte.
»Hör zu, du Nutte!« sagte eine dritte Stimme. »Ein Mucks, und du kriegst wieder welche in die Fresse, aber feste. Und bild dir ja nicht ein, daß jemand von draußen reingucken kann. Das is' 'n Spezialglas, durch das kann man raus-, aber nicht reingucken.«
Juanita lag still, wehrte sich gegen aufsteigende Panik, zwang sich nachzudenken. Drei Männer saßen in dem Wagen, zwei auf dem Rücksitz über ihr, einer vorn. Was er über das Glas gesagt hatte, bestätigte ihren Eindruck vorhin von einem großen Auto mit dunklen Fenstern. Es stimmte also, was gesagt worden war: Es hatte keinen Sinn zu versuchen, Passanten aufmerksam zu machen. Wohin brachte man sie und Estela? Und warum? Juanita hatte nicht den geringsten Zweifel, daß die Antwort auf die zweite Frage etwas mit ihrer Verbindung zu Miles zu tun haben mußte. Wovor sie sich so gefürchtet hatte, das war jetzt eingetreten. Ihr war klar, daß sie sich in äußerster Gefahr befand. Aber, heilige Mutter Gottes! - Warum Estela? Die beiden lagen zusammengepreßt auf dem Boden des Wagens, Estelas Körper geschüttelt von verzweifeltem Schluchzen. Juanita bewegte sich, versuchte, sie zu umfassen und zu trösten.
»Da, amorcito! Sei tapfer, Kleines.«
»Schnauze!« kommandierte einer der Männer.
Eine andere Stimme - die Stimme des Fahrers, nahm sie an -sagte: »Knebelt sie, Binde vor die Augen.«
Juanita spürte Bewegungen, hörte, wie etwas, das Stoff sein mochte, zerrissen wurde. Sie flehte verzweifelt: »Bitte, nein! Ich will...« Die restlichen Worte gingen unter, während ein breiter Klebestreifen über ihren Mund gezogen und angepreßt wurde. Augenblicke später bedeckte ein dunkles Tuch ihre Augen; sie spürte, wie es fest angezogen wurde. Dann packte jemand ihre Hände und fesselte sie auf ihrem Rücken. Eine dünne Schnur schnitt in ihre Handgelenke. Der Boden des Wagens war staubig, und der Staub stieg Juanita in die Nase; unfähig, etwas zu sehen oder sich zu bewegen, unter dem breiten Pflaster auf ihrem Mund halb erstickt, blies sie verzweifelt, um ihre Nase freizubekommen und zu atmen. Aus anderen Bewegungen neben sich schloß sie, daß Estela genauso behandelt wurde. Verzweiflung überkam sie. Tränen des Zorns und der hilflosen Wut füllten ihre Augen. Verdammt sollst du sein, Wainwright! Verdammt sollst du sein, Miles! Wo steckt ihr jetzt?... Warum hatte sie sich darauf eingelassen... warum hatte sie ermöglicht... Oh, warum? Warum?... Mutter Gottes, bitte, hilf mir! Und wenn du mir nicht hilfst, rette Estela!
Als die Zeit verging, Schmerzen und Hilflosigkeit immer quälender wurden, begannen Juanitas Gedanken zu verschwimmen. Undeutlich wurde ihr bewußt, daß der Wagen langsam fuhr, hielt und wieder anfuhr, als sei er in dichtem Verkehr, dann kam eine lange Strecke mit hohem Tempo, dann ging es wieder langsam, Wenden, Kehren. Die Reise, wohin sie auch ging, erschien ihr endlos. Nach einer Stunde vielleicht -oder war es viel mehr, oder gar viel weniger? - spürte Juanita, wie mit aller Gewalt gebremst wurde. Einen Augenblick lang lief der Motor des Wagens lauter, wie in einem geschlossenen Raum. Dann erstarb er. Sie hörte ein elektrisches Summen, ein Poltern, als ob eine schwere Tür sich mechanisch schloß, dann einen Stoß, mit dem das Poltern aufhörte. Gleichzeitig klickten die Türen der Limousine auf, Scharniere ächzten, sie wurde grob auf die Beine gestellt und vorangestoßen. Juanita stolperte, schlug sich noch einmal schmerzhaft die Beine an einer Kante und wäre gestürzt, aber Hände packten sie. Eine der Stimmen, die sie schon gehört hatte, befahl: »Verdammt noch mal -marsch!«
Die Binde noch vor den Augen, bewegte sie sich ungeschickt. Ihre ganze Angst richtete sich auf Estela. Sie hörte Schritte -ihre eigenen, andere -, die von Beton widerhallten. Plötzlich fiel der Boden unter den Füßen ab, und sie stolperte, teils gehalten, teils Stufen hinab gestoßen. Am Fuß der Treppe hieß es wieder weitergehen. Plötzlich wurde sie nach hinten gestoßen, die Beine flogen in die Luft, bis ihr Sturz von einem harten, hölzernen Stuhl aufgefangen wurde. Dieselbe Stimme wie vorhin befahl irgend jemandem: »Runter mit der Binde und dem Streifen.«
Sie spürte die Bewegung von Händen und neuen Schmerz, als ihr das Pflaster rücksichtslos vom Mund heruntergerissen wurde. Die Binde lockerte sich, dann blinzelte Juanita, als die Finsternis einem hellen Licht wich, das ihr genau in die Augen schien.
Sie keuchte nur: »jPor Dios! Wo ist mein...«, als eine Faust sie traf.
»Spar dir das Singen auf«, sagte eine der Stimmen aus dem Auto. »Wenn wir's dir sagen, wirste auspacken, aber tüchtig.«
Es gab gewisse Dinge, die mochte Tony Bär Marino. Zum Beispiel gewisse sexuelle Spiele, bei denen Frauen zu unwürdigen Handlungen gezwungen waren, die ihm das Gefühl der Überlegenheit gaben. Was er noch mochte, das waren Hahnenkämpfe - je blutiger, desto besser. Außerdem genoß er es, wenn ihm detailliert und bilderreich beschrieben wurde, wie man auf seinen Befehl andere Gangster zusammengeschlagen oder hingerichtet hatte. Allerdings achtete er peinlich darauf, daß er selbst solchen Szenen fernblieb, damit man ihm seine Rolle dabei später auf keinen Fall nachweisen konnte. Eine weitere, allerdings mildere Vorliebe von ihm gehörte dem sogenannten Spiegelglas.
Tony Bär Marino liebte speziell präparierte Glasscheiben und Spiegel, die es ihm gestatteten zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, so sehr, daß er sie an allen möglichen Orten hatte einsetzen lassen - in seinen Autos, seinen Büros, seinen Stammkneipen, so in der Doppelten Sieben und in seinem entlegenen, bewachten Haus. In diesem Haus bestand eine ganze Wand eines Badezimmers mit Toilette, das für die weiblichen Gäste vorgesehen war, aus derartigem Glas. Von der Badezimmerseite aus war dieses Glas eine hübsche Spiegelwand, aber auf der anderen Seite befand sich ein kleiner geschlossener Raum, in dem Tony Bär zu sitzen pflegte und seine Zigarre und die persönlichen, privaten Dinge genoß, die ihm ahnungslos dargeboten wurden. Wegen dieser seiner Besessenheit war Spiegelglas auch in der Fälscherzentrale installiert worden, und obwohl er dort vorsichtshalber nur selten erschien, hatte es sich gelegentlich als nützlich erwiesen, wie auch jetzt wieder.
Das Glas war in eine halbhohe Wand eingelassen, die ihrer Wirkung nach eine Sichtblende war. Durch das Glas konnte er jetzt diese Juanita Nünez sehen, die mit ihm zugewandtem Gesicht an einen Stuhl gefesselt war. Ihr Gesicht war geschwollen und blutig, Haar und Kleidung waren zerzaust. Neben ihr war ihr Kind an einen anderen Stuhl festgebunden, und das Gesicht des kleinen Mädchens war kalkweiß. Als Marino vor ein paar Minuten erfahren hatte, daß man auch das Kind angeschleppt hatte, war er vor Wut in die Luft gegangen, nicht weil er Kinder mochte - er mochte sie nicht -, sondern weil er Schwierigkeiten witterte. Einen Erwachsenen konnte man - wenn nötig und praktisch ohne Risiko - ausschalten, aber ein Kind umzubringen, das war etwas anderes. Da konnten die eigenen Leute plötzlich das Bibbern kriegen, und wenn etwas davon durchsickerte, kam es womöglich zu Emotionen und damit zu Gefahren. Tony Bär hatte in der Sache schon eine Entscheidung getroffen; sie bezog sich auf das Augenverbinden auf dem Weg hierher. Außerdem konstatierte er zufrieden, daß von ihm selbst nichts zu sehen war.
Jetzt zündete er sich eine Zigarre an und sah zu.
Angelo, einer von Tony Bärs Leibwächtern, der das Einkassieren der Frau geleitet hatte, beugte sich jetzt über sie. Angelo war ein ehemaliger Preisboxer, der es nie zu hohen Ehren im Ring gebracht hatte. Er hatte dicke, wulstige Lippen, die Figur von einem Rhinozeros und war ein Schläger aus Leidenschaft, der seine Arbeit genoß. »Okay, du Zweidollarnutte, quatsch dich aus.«
Juanita, die sich gegen ihre Fesseln gestemmt hatte, um Estela sehen zu können, wandte ihm den Kopf zu. »?De que? Worüber?«
»Wie heißt das Schwein, das dich aus der Doppelsieben angerufen hat?«
Ein kurzes Zucken des Begreifens ging über Juanitas Gesicht. Tony Bär sah das und wußte, daß es jetzt nur noch eine Frage der Zeit war, keiner sehr langen Zeit, bis er heraus hatte, was er wissen wollte.
»Du Schwein!... Tier!« Juanita spie Angelo an. »jCanalla!
Angelo schlug mit aller Kraft zu, so daß ihr das Blut aus Nase und Mundwinkeln rann. Juanitas Kopf sank vornüber. Er packte ihr Haar, riß ihren Kopf hoch und wiederholte: »Wer ist das Schwein, das dich aus der Doppelsieben angerufen hat?«
Sie antwortete mühsam, mit geschwollenen Lippen. »Maricön, nichts werd' ich dir sagen, bis du mein kleines Mädchen laufen läßt.«
Die Person hatte Mumm, gestand sich Tony Bär ein. Wäre sie anders gebaut gewesen, hätte er sich vielleicht damit amüsiert, sie auf andere Weise kleinzukriegen. Aber für seinen Geschmack war sie zu dürr - Hüften nicht der Rede wert, eine halbe Handvoll Arsch, Titten klein wie Erdnüsse.
Angelo nahm den Arm zurück und trieb ihn dann mit Wucht in ihren Leib. Juanita rang nach Luft und kippte nach vorn, so weit ihre Fesseln es zuließen. Estela, die auf dem Stuhl neben ihr alles sehen und hören konnte, schluchzte hysterisch. Das Geräusch störte Tony Bär. Das dauerte ihm alles viel zu lange. Man konnte das beschleunigen. Er winkte einen zweiten Leibwächter, Lou, zu sich heran und flüsterte ihm etwas zu. Lou machte ein Gesicht, als gefiele ihm nicht, was man ihm befahl, aber er nickte. Tony Bär gab ihm die Zigarre, die er geraucht hatte.
Während Lou wieder hinter der Trennwand hervorkam und leise etwas zu Angelo sagte, sah Tony Bär Marino sich um. Sie befanden sich in einem Kellerraum, sämtliche Türen waren geschlossen, man konnte also draußen nichts hören, aber selbst wenn Laute hinausdrangen, machte es nichts. Das fünfzig Jahre alte Haus, zu dem dieser Raum gehörte, stand auf eigenem großen Grundstück in allerbester Wohnlage und war geschützt wie eine Festung. Ein Syndikat, an dessen Spitze Tony Bär Marino stand, hatte das Haus vor acht Monaten gekauft und die Falschgeldzentrale hier installiert. Bald schon würde man das Haus als Vorsichtsmaßnahme wieder verkaufen und umziehen; ein neues Quartier war bereits ausgewählt. Es würde genauso harmlos, genauso unschuldig wirken wie dieses. Das war das Geheimnis des langen, erfolgreichen Betriebs, dachte Tony Bär manchmal voller Zufriedenheit: Häufige Umzüge, jedesmal in stille, hochanständige Gegenden, bei Reduzierung des Kommens und Gehens auf ein absolutes Minimum. Diese Übervorsicht hatte zwei Vorteile - nur ein paar Leute wußten genau, wo sich die Fälscherzentrale befand; und die Nachbarn schöpften keinen Verdacht, denn alles war gut getarnt. Es gab sogar ein genaues Programm für die Umzüge von einem Ort zum nächsten. Zu den Vorsichtsmaßregeln gehörten hölzerne Attrappen, die aussahen wie Möbel, die es in jedem Haushalt gibt und die genau über jedes Maschinenteil paßten, so daß ein zufälliger Beobachter es für einen ganz gewöhnlichen Familienumzug halten mußte. Und es wurde jedes Mal ein regulärer Möbelwagen benutzt, der einem der nach außen hin legalen Fuhrunternehmen der Organisation gehörte. Es gab auch Alarmpläne für den Notfall, wenn ein extra schneller Umzug erforderlich werden sollte.
Der Trick mit den Möbelattrappen, das war eine von Danny Kerrigans Ideen gewesen. Der alte Mann hatte noch ein paar andere gute gehabt, und außerdem hatte er sich als Meisterfälscher erwiesen, seit Tony Bär Marino ihn vor zwölf Jahren in die Organisation geholt hatte. Kurz davor hatte Tony Bär von Kerrigans Ruf als glänzendem Handwerker gehört und daß er heruntergekommen war, ein Säufer, ein Penner. Auf Tony Bärs Befehl hatte man den alten Mann gerettet, ihn trockengelegt und später an die Arbeit gesetzt - mit glanzvollem Resultat.
Es schien nichts zu geben, glaubte Tony Bär mittlerweile, was Danny nicht mit Erfolg drucken konnte - Geld, Briefmarken, Anteilscheine, Schecks, Führerscheine, SozialversicherungsKarten, was man wollte. Es war auch Dannys Idee gewesen, Tausende von falschen Bankkredit-Karten herzustellen. Durch Bestechung und einen sorgfältig geplanten Einbruch hatten sie sich Blanko-Plastikbogen verschafft, und man hatte genug Bogen, auf Jahre hinaus. Die Sache hatte immensen Profit gebracht.
Das einzig Ärgerliche an dem alten Mann war, daß er gelegentlich wieder aufs Saufen verfiel und dann manchmal eine Woche oder länger außer Gefecht war. Wenn das passierte, bestand die Gefahr, daß er redete, deshalb sperrte man ihn ein. Aber er war schlau, und manchmal gelang es ihm zu verschwinden, wie letztes Mal. Neuerdings aber hatte er diese Touren immer seltener, hauptsächlich wohl deshalb, weil Danny seinen Anteil an den Moneten vergnügt auf eine Schweizer Bank packte und davon träumte, in ein, zwei Jahren dahin zu reisen, seinen Kies einzusammeln und sich zur Ruhe zu setzen. Nun wußte aber Tony Bär, daß es sich da um eine Idee des alten Trunkenbolds handelte, aus der nichts werden würde. Er hatte fest vor, den alten Mann zu nutzen, so lange es ging. Außerdem wußte Danny viel zuviel; ihn durfte man nie laufenlassen.
Danny Kerrigan war zwar wichtig, aber es war doch die Organisation, die ihn geschützt und das meiste aus seinen Produkten gemacht hatte. Ohne ein leistungsstarkes Verteilersystem wäre der alte Mann nichts anderes gewesen als die meisten anderen seiner Art - ein kleiner Ganove oder ein Nichts. Deshalb ging es Tony Bär vor allem um die Sicherheit der Organisation. Hatte man einen Spion eingeschmuggelt, einen Spitzel? Und wenn ja, woher kam er? Und wieviel hatte er - oder sie - erfahren?
Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Vorgänge jenseits des Spiegelglases. Angelo hatte die brennende Zigarre. Seine dicken Lippen waren zu einem Grinsen verzogen. Mit der Seite seines Fußes verschob er die beiden Stühle, so daß diese Nunez und ihr Balg jetzt einander gegenüber saßen. Angelo zog an der Zigarre, bis die Spitze hell glühte. Beiläufig schlenderte er zu dem Stuhl, auf dem das gefesselte Kind saß. Estela blickte auf, sie zitterte sichtbar, in ihren Augen flackerte wilde Angst. Ohne Hast nahm Angelo die kleine rechte Hand, hob sie hoch, betrachtete die Handfläche, drehte sie dann um. Immer noch ganz langsam nahm er die glühende Zigarre aus dem Mund und drückte sie, wie in einen Aschenbecher, auf ihren Handrücken. Estela schrie auf - ein durchdringender Schrei der Qual. Ihr gegenüber stemmte sich Juanita, wild weinend, zusammenhanglos schreiend, verzweifelt gegen ihre Fesseln.
Die Zigarre war nicht erloschen. Angelo paffte sie zu neuer Röte, dann hob er, ebenso gemächlich wie gerade eben, Estelas andere Hand hoch.
Juanita kreischte: »Nein, nein, dejela quieta. Ich sage es.« Angelo wartete, die Zigarre in Bereitschaft, während Juanita keuchend sagte: »Der Mann, den Sie wollen... ist Miles Eastin.«
»Für wen arbeitet er?«
Ihre Stimme war nur noch ein verzweifeltes Flüstern, als sie antwortete: »First Mercantile American Bank.«
Angelo ließ die Zigarre fallen und zertrat sie mit dem Absatz. Fragend sah er in die Richtung, wo, wie er wußte, Tony Bär saß, dann ging er um die Sichtblende herum.
Tony Bärs Gesicht war angespannt. Leise sagte er: »Holt ihn. Holt das Schwein. Bringt ihn her.«
»Milesy«, sagte Nate Nathanson brummig, wie es bei ihm selten war, »ich weiß nicht, wer dein Freund ist, der hier dauernd anruft, aber sag ihm, diese Bude wird nicht für die Angestellten betrieben, die ist für die Mitglieder da.«
»Welcher Freund?« Miles Eastin, der einen Teil des Vormittags in der Stadt allerlei Besorgungen für den Club erledigt hatte, sah den Manager unsicher an.
»Verdammt, woher soll ich das wissen? Derselbe Kerl hat viermal angerufen und hat nach dir gefragt. Wollte keinen Namen hinterlassen, keine Nachricht.« Ungeduldig sagte Nathanson: »Wo ist das Einzahlungsbuch?«
Miles gab es ihm. Zu den Dingen, die er erledigt hatte, gehörte auch das Einzahlen von Schecks bei einer Bank.
»Ladung Konserven ist gerade gekommen«, sagte Nathanson. »Kisten stehen im Lager. Vergleiche sie mit den Rechnungen.« Er gab Miles Papiere und einen Schlüssel.
»Wird gemacht, Nate. Und das mit den Anrufen tut mir leid.«
Aber der Manager hatte sich schon abgewandt und war auf dem Weg zu seinem Büro im zweiten Stock. Miles fühlte mit ihm. Er wußte, daß Tony Bär Marino und der Russe Ominsky, denen die Doppelte Sieben gemeinsam gehörte, in letzter Zeit Nathanson schwer unter Druck gesetzt hatten, weil sie mit der Führung des Clubs nicht zufrieden waren.
Auf seinem Weg zum Lager, das sich im Erdgeschoß an der Rückseite des Gebäudes befand, dachte Miles über die Anrufe nach. Wer sollte ihn anrufen? Und gleich viermal. Soweit er wußte, hatten nur drei Leute, die mit seinem früheren Leben in Verbindung standen, eine Ahnung davon, daß er hier war - sein Bewährungshelfer; Juanita; Nolan Wainwright. Der Bewährungshelfer? Höchst unwahrscheinlich. Als Miles seinen letzten vorgeschriebenen allmonatlichen Besuch bei ihm machte, war der Bewährungshelfer sehr in Eile, und alles war ihm gleichgültig gewesen; ihm schien es nur darum zu gehen, daß man ihm keine Schwierigkeiten machte. Er hatte sich notiert, wo Miles arbeitete, das war alles. Juanita also? Nein. Sie würde sich hüten; außerdem hatte Nathanson gesagt, es war ein Mann. Blieb also Wainwright.
Aber auch Wainwright würde keinesfalls anrufen... Oder vielleicht doch? Würde er das Risiko nicht eingehen, wenn es sich um etwas wirklich Dringendes handelte... eine Warnung zum Beispiel?
Eine Warnung wovor? Daß Miles in Gefahr war? Daß man ihn als Spion erkannt hatte oder kurz davor war? Plötzlich packte ihn eisige Angst. Sein Herz hämmerte schneller. Ihm wurde plötzlich bewußt: Er hatte sich in letzter Zeit für unverwundbar gehalten, hatte seine Sicherheit als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Aber in Wirklichkeit gab es hier keine Sicherheit, hatte es sie nie gegeben; nur Gefahr -größere Gefahr jetzt als zu Anfang, denn jetzt wußte er zuviel.
Als er sich dem Lagerraum näherte und der Gedanke nicht von ihm wich, begannen seine Hände zu zittern. Er mußte sich selbst zur Ruhe zwingen, um das Schlüsselloch zu finden. Er fragte sich: Fing er an, sich ohne Grund zu fürchten, zitterte er feige vor Schatten? Vielleicht. Aber eine Vorahnung sagte ihm -nein. Was sollte er also tun? Wer angerufen hatte, würde es wahrscheinlich noch einmal versuchen. Aber war es klug, das abzuwarten? Miles nahm sich vor: Risiko oder nicht, er würde Wainwright direkt anrufen.
Er hatte die Lagerraumtür aufgestoßen. Jetzt begann er sie zu schließen, um zum am schnellsten zu erreichenden Münzapparat zu gehen - demselben, von dem aus er vor anderthalb Wochen Juanita angerufen hatte. In diesem Augenblick hörte er Geräusche aus der vorderen Halle des Clubs am anderen Ende des Korridors, der von vorn durch das ganze Gebäude nach hinten führte. Mehrere Männer kamen von der Straße herein. Sie schienen es eilig zu haben. Ohne zu wissen, warum, schlug Miles die andere Richtung ein und glitt in den Lagerraum, wo man ihn nicht sehen konnte. Er hörte Stimmengewirr, dann fragte eine laute Stimme: »Wo ist das Mistvieh Eastin?«
Er erkannte die Stimme: Angelo, einer von Marinos Leibwächtern.
»Oben im Büro, glaub' ich.« Das war Jules LaRocca. Miles hörte ihn sagen: »Was ist mit... «
»Tony Bär will...«
Die Stimmen wurden schwächer, als die Männer die Treppen hinaufliefen. Aber Miles hatte genug gehört; er wußte, jetzt war eingetreten, wovor er sich gefürchtet hatte. In einer Minute, vielleicht schon eher, würde Nate Nathanson Angelo und den anderen sagen, wo er war. Dann würden sie hier herunterkommen.
Er spürte, wie er am ganzen Körper zitterte, aber er zwang sich nachzudenken. Durch die vordere Halle zu verschwinden, war unmöglich. Selbst wenn er die Männer nicht traf, wenn sie wieder herunterkamen, hatten sie wahrscheinlich einen Aufpasser draußen gelassen. Also der hintere Ausgang? Der wurde selten benutzt und führte in der Nähe eines verlassenen Gebäudes ins Freie. Dahinter war ein unbebautes Gelände, dann ein Brückenbogen der Hochbahn. Auf der anderen Seite des Schienenstrangs war ein Labyrinth enger, übler Straßen. Er konnte versuchen, durch diese Straßen zu verschwinden, aber die Chance, Verfolgern zu entkommen, war gering. Vielleicht gab es mehrere Verfolger; einige würden ein Auto haben, vielleicht mehrere Autos; Miles hatte keins. Ein Gedanke zuckte ihm immer wieder durch den Kopf: Deine einzige Chance! Verliere jetzt keine Zeit mehr! Geh jetzt! Er warf die Lagerraumtür ins Schloß und zog den Schlüssel ab; vielleicht würden die anderen kostbare Minuten damit verschwenden, die Tür aufzusprengen, weil sie glaubten, daß er dahinter war.
Dann rannte er.
Durch die kleine hintere Tür, ein Riegel mußte zurückgelegt werden... Draußen blieb er stehen, um die Tür zuzumachen; warum sollte er Reklame machen für den Weg, den er genommen hatte... Dann einen Gang entlang neben dem verlassenen Bau... Das Gebäude war früher mal eine Fabrik gewesen; allerlei Schutt lag in dem Gang, alte Kisten, Büchsen, das verrostete Skelett eines Lastwagens neben einer eingefallenen Laderampe. Es war wie ein Hindernislauf. Ratten huschten davon.. Quer über ein unbebautes Grundstück, über Ziegelsteine, über Müll, einen toten Hund... Einmal stolperte Miles und spürte, wie sich das eine Fußgelenk verdrehte; ein stechender Schmerz, aber er lief weiter... Bisher hörte er keine Verfolger... Dann, als er die Bahnbrücke erreichte, als die relativ große Sicherheit der Straßen vor ihm lag, hörte er eilige Schritte hinter sich, einen Schrei: »Da ist der Hund!«
Miles steigerte sein Tempo. Er spürte jetzt den festeren Boden von Straßen und Fußwegen unter den Füßen. Er nahm die erste Ecke, die er erreichte - scharf links; dann rechts; gleich danach wieder links. Hinter sich hörte er noch immer die dröhnenden Schritte... Er kannte diese Straße nicht, aber sein Orientierungssinn sagte ihm, daß er in Richtung Stadtmitte lief. Wenn er es nur bis dahin schaffte, dann konnte er in der mittäglichen Menge untertauchen, konnte Zeit gewinnen, um nachzudenken, vielleicht, um Wainwright anzurufen, um Hilfe zu bitten. Vorläufig lief er schnell und gut, die Luft ging ihm nicht aus. Das Fußgelenk schmerzte ein bißchen, nicht sehr. Miles war durchtrainiert, die Stunden, die er in der Doppelten Sieben auf dem Handball-Platz verbracht hatte, machten sich bezahlt... Das Geräusch der laufenden Schritte blieb zurück, aber er machte sich nichts vor. Kein Auto konnte den Weg nehmen, den er gewählt hatte, das stimmte - der Gang lag voll Gerümpel, das unbebaute Grundstück war unpassierbar für Autos -, aber es gab Wege, die führten darum herum. Ein Umweg von mehreren Straßenblocks, um die Bahnlinie zu unterqueren, das bedeutete Aufschub. Aber nicht viel. Wahrscheinlich versuchte irgend jemand in einem Auto jetzt, in diesem Augenblick, ihn zu überlisten, ihm den Weg abzuschneiden. Er bog nach links, dann wieder nach rechts ein, hoffte, wie von Anfang an, auf irgendein Fahrzeug. Einen Bus. Noch besser, ein Taxi. Aber es kam weder das eine noch das andere... Wenn man dringend ein Taxi brauchte, warum kam dann nie eins?... Oder ein Bulle. Wenn doch die Straßen belebter wären. Daß er rannte, machte ihn auffällig, aber noch konnte er es sich nicht leisten, das Tempo zu verringern. Ein paar Leute, an denen er vorüberkam, sahen ihn neugierig an, doch die Bürger, die hier wohnten, hatten es gelernt, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Aber der Charakter der Gegend veränderte sich, während er rannte. Jetzt war es nicht mehr so sehr wie ein Getto, es gab Zeichen von etwas mehr Wohlstand. Er kam an verschiedenen ansehnlichen Läden vorbei. Vor ihm lagen noch größere Gebäude, die Silhouette der Stadt wurde sichtbar. Aber bevor er dahin gelangte, mußten noch zwei Querstraßen überwunden werden. Die erste konnte er jetzt sehen - breit, verkehrsreich, die beiden Fahrbahnen in der Mitte durch eine Allee getrennt. Dann sah er etwas anderes auf der anderen Seite der Straße einen langen schwarzen Cadillac mit dunklen Fenstern, der langsam dahinrollte. Marinos. Als der Wagen die Straße überquerte, in der Miles sich befand, schien er zu zögern, dann gewann er an Tempo, verschwand rasch. Miles hatte keine Zeit gehabt, sich zu verstecken. Hatten sie ihn gesehen? War der Wagen losgefahren, um die Gegenfahrbahn zu erreichen und zurückzukommen, oder hatte er wieder Glück gehabt, hatte man ihn nicht entdeckt? Erneut packte ihn die Angst. Miles schwitzte, dennoch fröstelte ihn, aber er lief weiter. Etwas anderes konnte er gar nicht tun. Er hielt sich eng an den Häuserwänden, verringerte sein Tempo, so weit er es wagte. Anderthalb Minuten später, die Kreuzung war nur noch fünfzig Meter entfernt, schob sich ein Cadillac - dasselbe Auto -langsam um die Ecke.
Er wußte, daß sein Glück ihn jetzt verließ. Wer in dem Auto saß - höchstwahrscheinlich Angelo, oder auch andere -, der mußte ihn sehen, hatte ihn wahrscheinlich schon gesehen. Konnte weiterer Widerstand noch etwas nützen? Wäre es nicht einfacher aufzugeben, sich fangen zu lassen, geschehen zu lassen, was geschehen mußte? Nein! Weil er genug gesehen hatte von Tony Bär Marino und seiner Sorte, im Gefängnis und danach, wußte er genau, was mit denen passierte, die den Rachedurst dieser Leute geweckt hatten. Der schwarze Wagen fuhr langsamer. Sie hatten ihn gesehen. Mein Gott!
Eins der Geschäfte, die Miles vor wenigen Augenblicken wahrgenommen hatte, lag jetzt genau neben ihm. Er hörte auf zu laufen, wandte sich nach links, stieß eine Glastür auf und ging hinein. Drinnen sah er, daß es ein Geschäft für Sportartikel war. Ein bleicher, spindeldürrer Verkäufer, etwa in Miles' Alter, trat vor. »Guten Tag, Sir. Was darf ich Ihnen zeigen?«
»Hm... ja.« Er sagte das erste, was ihm in den Sinn kam. »Ich möchte mir Bowling-Kugeln ansehen.«
»Gewiß. An welche Preislage hatten Sie gedacht, welches Gewicht?«
»Die besten. Ungefähr sechzehn Pfund.«
»Farbe?«
»Egal.«
Miles beobachtete die paar Meter Fußweg draußen vor dem Eingang. Mehrere Passanten waren vorübergekommen. Niemand hatte sich aufgehalten oder hereingesehen.
»Wenn Sie bitte mitkommen wollen, ich zeige Ihnen, was wir haben.«
Er folgte dem Verkäufer, vorbei an Ständern mit Skiern, Vitrinen, einer Ausstellung von Handfeuerwaffen. Dann, sich umblickend, sah Miles die Silhouette einer einzelnen Gestalt, die draußen stehengeblieben war und durch das Fenster schaute. Jetzt gesellte sich eine zweite Gestalt zu der ersten. Sie standen beisammen, wichen nicht von der Ladenfront. Miles fragte sich: Konnte er durch einen Hinterausgang entkommen? Schon als ihm der Gedanke kam, verwarf er ihn. Die Männer, die ihn verfolgten, würden den gleichen Fehler nicht zweimal machen. Gab es einen Hinterausgang, so hatten sie ihn schon aufgespürt und bewacht.
»Das hier ist eine phantastische Kugel. Sie ist für zweiundvierzig Dollar zu haben.«
»Ich nehme sie.«
»Wir brauchen Ihre Handmaße für die...«
»Nicht nötig.«
Sollte er versuchen, Wainwright von hier aus anzurufen? Aber Miles war überzeugt, daß die Männer da draußen hereinkommen würden, wenn er einem Telefon zu nahe käme.
Der Angestellte machte ein verwundertes Gesicht. »Sie wollen nicht, daß wir Fingerlöcher bohren...?«
»Ich sagte schon, nicht nötig.«
»Wie Sie wünschen, Sir. Möchten Sie eine Tragetasche für die Kugel? Vielleicht ein Paar Bowling-Schuhe?«
»Ja«, sagte Miles. »Ja, okay.« Vielleicht verzögerte das seine Rückkehr auf die Straße noch weiter. Kaum wissend, was er tat, prüfte er Tragetaschen, die ihm vorgelegt wurden, wählte dann irgendeine aus, nahm Platz, um Schuhe anzuprobieren. Während er in ein Paar hineinschlüpfte, kam ihm der Gedanke. Die Keycharge-Karte, die Wainwright ihm über Juanita geschickt hatte... die Karte auf den Namen H. E. Lyncolp... H-E-L-P-Hilfe.
Er zeigte auf die Bowling-Kugel, auf die Tasche und die Schuhe, für die er sich entschieden hatte. »Was macht das zusammen?«
Der Verkäufer blickte von einer Rechnung auf. »Sechsundachtzig Dollar und fünfundneunzig Cent, plus Steuer.«
»Hören Sie«, sagte Miles, »ich möchte das mit meiner Keycharge-Karte bezahlen.« Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte die LYNCOLP-Karte hinüber. Krampfhaft wehrte er sich gegen das Zittern seiner Hände.
»Das geht in Ordnung, aber...«
»Ich weiß, Sie brauchen die Bestätigung. Ich warte. Telefonieren Sie.«
Der Verkäufer ging mit Karte und Rechnung in eine verglaste Büroecke. Es dauerte mehrere Minuten, dann kam er zurück.
Zitternd vor Erwartung fragte Miles: »Sind Sie durchgekommen?«
»Gewiß. Alles in Ordnung, Mr. Lyncolp.«
Miles fragte sich, was wohl jetzt in der Keycharge-Zentrale geschehen mochte. Ob es ihm half? Konnte ihm irgend etwas noch helfen?... Dann fiel ihm die zweite Anweisung ein, die ihm über Juanita erteilt worden war: Nach Gebrauch der Karte so lange wie möglich zögern. Wainwright Zeit geben, um etwas zu veranlassen.
»Bitte hier unterschreiben, Mr. Lyncolp.« Ein KeychargeKontenblatt wurde auf den Betrag ausgestellt, den er ausgegeben hatte. Miles beugte sich über den Ladentisch, um die Unterschrift darunterzusetzen.
Als er sich wieder aufrichtete, spürte er, wie eine Hand leicht seine Schulter berührte. Eine ruhige Stimme sagte: »Milesy.«
Als er sich umdrehte, sagte Jules LaRocca: »Mach keinen Ärger. Hilft dir nichts, dir geht's nur noch dreckiger.«
Hinter LaRocca standen mit unbewegter Miene Angelo und Lou und ein vierter Mann - ebenfalls ein Schlägertyp -, den Miles noch nie gesehen hatte. Die vier umstellten ihn, packten ihn, drehten ihm die Arme auf den Rücken.
»Los, Scheißkerl.« Der Befehl kam von Angelo, mit leiser Stimme gesprochen.
Miles dachte daran zu schreien, aber wer sollte ihm helfen? Der pflaumenweiche Verkäufer, der mit offenem Mund gaffte, konnte es nicht. Die Jagd war zu Ende. Der Druck auf seine Arme wurde stärker. Hilflos mußte er sich in Richtung Ausgang stoßen lassen.
Der Verkäufer, der nichts begriffen hatte, rannte hinter ihnen her. »Mr. Lyncolp! Sie haben Ihre Bowling-Kugel vergessen.«
LaRocca drehte sich zu ihm um und sagte: »Behalt sie, Jüngelchen. Der hier kriegt alle Kugeln, die er braucht, von jetzt an gratis.«
Der schwarze Cadillac war ein paar Meter weiter geparkt. Sie stießen Miles grob hinein, und der Wagen fuhr davon.
Der Arbeitsanfall in der Key charge-Zentrale stand kurz vor dem täglichen Höhepunkt. Die Normalschicht von fünfzig Angestellten befand sich in der halbdunklen, hörsaalähnlichen Zentrale; jeder saß an einer Tastatur, über der sich eine Art Fernsehschirm befand.
Für die junge Angestellte, die den Anruf entgegennahm, war die Kreditanfrage H. E. LYNCOLP nur eine von Tausenden, die im Laufe eines Arbeitstages routinemäßig erledigt wurden. Weder sie noch ihre Kolleginnen wußten, woher die einzelnen Anrufe, die sie bearbeiteten, kamen - nicht einmal, aus welcher Stadt oder welchem Bundesstaat. Der angeforderte Kredit mochte dazu dienen, die Einkaufsrechnung einer New Yorker Hausfrau zu bezahlen, einem Farmer in Kansas zu neuer Kleidung zu verhelfen, es einer reichen alten Dame der Chicagoer Gesellschaft zu ermöglichen, sich mit unnötigem Schmuck zu behängen, die Studiengebühren eines jungen Semesters in Princeton zu entrichten oder einem Alkoholiker in Cleveland den Karton Spirituosen zu verschaffen, der ihn endlich doch unter die Erde bringen würde. Details erfuhr der Angestellte an Tastatur und Bildschirm nie. Erwies es sich später als nötig, konnten die Einzelheiten eines Kaufs zurückverfolgt werden, aber das kam selten vor. Der Grund: Es interessierte niemanden. Auf das Geld kam es an, das Geld, das von einer Hand in die andere wanderte, auf die Fähigkeit, den gewährten Kredit zurückzuzahlen; das war alles.
Der Ruf begann mit einem blinkenden Licht an der Konsole der Angestellten. Sie berührte einen Schalter und sprach in das Mikrofon, das an ihrem Kopfhörer befestigt war: »Ihre Geschäftsnummer, bitte.«
Der Anrufer - ein Sportartikelverkäufer, der Miles Eastin bediente - nannte sie. Die Angestellte tippte die Nummer mit. Gleichzeitig erschien sie auf ihrem Bildschirm.
Sie fragte: »Kartennummer und Ablaufdatum?«
Wieder eine Antwort. Wieder Angaben auf dem Bildschirm.
»Höhe des Betrages?«
»Neunzig Dollar dreiundvierzig.«
Getippt. Auf dem Schirm. Die Angestellte drückte eine Taste, setzte damit einen mehrere Stockwerke tiefer stehenden Computer in Tätigkeit.
Binnen einer Millisekunde verdaute der Computer die Information, suchte in seinem Archiv und ließ eine Antwort aufblitzen.
GENEHMIGT.
GEN. NR. 7416984
DRINGEND... NOTFALL... NICHT, WIEDERHOLE
NICHT, DEN VERKÄUFER INFORMIEREN...
BENACHRICHTIGEN SIE IHREN INSPEKTOR...
SOFORT NOTFALL-ANWEISUNG 17 BEFOLGEN.
»Der Kauf ist bewilligt«, sagte die Angestellte zu dem Anrufer. »Genehmigungsnummer...«
Sie sprach langsamer als gewöhnlich. Noch bevor sie anfing, hatte sie ein Signal in einer höhergelegenen Inspektorenkanzel aufleuchten lassen. Inzwischen las eine andere junge Frau in der Kanzel, eine von sechs diensthabenden Inspektorinnen, schon auf ihrem eigenen Bildschirm ein Doppel der Computermitteilung. Sie griff nach einer Kartei, suchte NotfallAnweisung 17 heraus.
Die im Saal tätige Angestellte versprach sich absichtlich bei der Genehmigungsnummer und fing von vorne an. NotfallSignale blitzten nicht oft auf, aber wenn es geschah, gab es Standardverfahren, die die Angestellten kannten. Zeitgewinn gehörte dazu. Es waren schon Mörder gefangen, gestohlene Kunstschätze wiederbeschafft, ein Sohn ans Sterbelager seiner Mutter gerufen worden - alles, weil ein Computer auf die Möglichkeit hin programmiert worden war, daß eine bestimmte Kreditkarte benutzt wurde, und wenn das geschah, war sofortiges Handeln unerläßlich. In solchen Augenblicken konnten ein paar verbummelte Sekunden, während andere die erforderlichen Maßnahmen einleiteten, von erheblicher Bedeutung sein.
Die Inspektorin leitete schon Notfall-Anweisung 17 ein, die besagte, daß Sicherheitschef N. Wainwright sofort telefonisch davon in Kenntnis zu setzen sei, daß die KeychargeSonderkarte, die auf den Namen H. E. LYNCOLP lautete, vorgelegt worden sei und wo. Durch das Drücken von Tasten auf ihrer eigenen Tastatur rief die Inspektorin vom Computer die Zusatzinformation ab:
PETE'S SPORTARTIKEL
sowie Straße und Hausnummer. Inzwischen hatte sie die Hausanschlußnummer von Mr. Wainwright gewählt, der sich selbst meldete. Er hörte mit angespannter Aufmerksamkeit zu und notierte sich hastig die Angaben der Inspektorin.
Sekunden später war der kurze Notfall für die KeychargeInspektorin, die Angestellte und den Computer vorüber.
Nicht aber für Nolan Wainwright.
Seit der explosiven Sitzung mit Alex Vandervoort vor anderthalb Stunden, in der er vom Verschwinden von Juanita Nunez und ihrem Kind erfahren hatte, war Wainwright angespannt und unausgesetzt am Telefon gewesen, manchmal an zwei Apparaten gleichzeitig. Viermal hatte er versucht, Miles Eastin im Fitness-Club Doppelte Sieben zu erreichen, um ihn vor der drohenden Gefahr zu warnen. Er hatte Besprechungen mit FBI und Secret Service geführt. Das FBI untersuchte deshalb jetzt intensiv die vermutete Nunez-Entführung, hatte die Polizei der Stadt und des Bundesstaates alarmiert und Personenbeschreibungen verbreitet. Ein Beschattungsteam des FBI sollte das Kommen und Gehen in der Doppelten Sieben beobachten, sobald Beamte verfügbar waren, wahrscheinlich von diesem Nachmittag an.
Das war vorläufig alles, was hinsichtlich der Doppelten Sieben unternommen wurde. Wie FBI-Spezialagent Innes sagte: »Gehen wir rein und stellen wir Fragen, verraten wir denen, daß wir den Zusammenhang kennen, und für einen Haussuchungsbefehl fehlt uns die Begründung. Außerdem handelt es sich ja, wie Ihr Mann Eastin berichtet hat, hauptsächlich um einen Treff, an dem nichts Illegales passiert -abgesehen von etwas Glücksspiel.«
Innes war derselben Meinung wie Wainwright, nämlich daß Juanita Nunez und ihre Tochter wahrscheinlich nicht in die Doppelte Sieben gebracht worden seien.
Der Secret Service, dem weniger Möglichkeiten zu Gebote standen als dem FBI, konzentrierte sich auf das Versteck, befragte Spitzel, suchte nach Spuren, und wären sie noch so schwach nach Tatsachen und Gerüchten, die als Hinweis dienen könnten. Für den Augenblick hatte man, was nicht oft geschah, alle Rivalitäten und Eifersüchteleien zwischen den beiden Behörden beiseite geschoben.
Als Wainwright den Keycharge-Alarm H. E. LYNCOLP erhielt, wählte er sofort die Nummer des FBI. Die Beamten Innes und Dalrymple waren, wie man ihm sagte, nicht im Haus, konnten jedoch über Funk erreicht werden. Er diktierte eine dringende Mitteilung und wartete. Es kam die Auskunft: Die Beamten waren in der Stadt, nicht weit von der angegebenen Adresse, und sie befanden sich auf dem Weg dorthin. Ob Wainwright sich dort mit ihnen treffen wollte?
Endlich etwas zu tun, war eine Erleichterung. Er lief durch das Gebäude zu seinem Wagen.
Draußen vor Pete's Sportartikelgeschäft befragte Innes Passanten, als Wainwright eintraf. Dalrymple war noch drinnen, nahm eine schriftliche Erklärung des Verkäufers auf. Innes brach die Befragungen ab und ging zu dem Sicherheitschef. »Eine Niete«, sagte er verdrossen. »Es war alles vorbei, als wir ankamen.« Er berichtete das wenige, das sie erfahren hatten.
»Beschreibungen?« erkundigte sich Wainwright.
Der FBI-Mann schüttelte den Kopf. »Der Kerl im Laden, der Eastin bedient hat, hatte solche Scheißangst, daß er nicht mal weiß, ob vier oder drei Männer in den Laden gekommen sind. Sagt, es sei alles so schnell gegangen, daß er niemanden beschreiben oder identifizieren kann. Und kein Mensch, weder im Laden noch draußen, kann sich an ein Auto erinnern.«
Wainwrights Gesicht war angespannt, man sah ihm Sorge und bedrücktes Gewissen an. »Also was nun?«
»Sie waren selber Bulle«, sagte Innes. »Sie wissen, wie es in Wirklichkeit aussieht. Wir warten. Wir hoffen, daß sich irgendwo etwas ergibt.«
Sie hörte scharrende Schritte und Stimmen. Jetzt wußte sie, daß sie Miles hatten und ihn herbrachten.
Juanita hatte alle Zeitvorstellungen verloren. Sie hatte keine Ahnung mehr, wie lange es her war, daß sie keuchend Miles Eastins Namen genannt, ihn verraten hatte, um die Folterung Estelas zu beenden. Gleich darauf hatte man sie wieder geknebelt, und die Stricke, mit denen sie an den Stuhl gefesselt war, wurden geprüft und noch strammer gezogen. Dann waren die Männer gegangen.
Sie mußte wohl eine Weile gedöst haben - oder, richtiger gesagt, ihr Körper hatte sie vom Bewußtsein erlöst, denn wirkliche Ruhe war ausgeschlossen, gefesselt, wie sie war. Aufgeschreckt durch das neue Geräusch, spürte sie den qualvollen Protest ihrer zusammengeschnürten Gliedmaßen, und sie wollte aufschreien, aber der Knebel verhinderte das. Juanita zwang sich mit aller Willenskraft, nicht in Panik zu verfallen, sich nicht gegen die Fesseln aufzubäumen, denn beides wäre vergeblich und würde ihre Lage nur noch verschlimmern.
Sie konnte Estela noch immer sehen. Man hatte die beiden Stühle, an die sie gefesselt waren, einander gegenüber stehen lassen. Die Augen des Mädchens waren geschlossen, sie schlief, ihr kleiner Kopf war vornüber gesunken; die Geräusche, die Juanita geweckt hatten, hatten sie nicht gestört. Auch Estela war geknebelt. Juanita hoffte, daß die Erschöpfung ihr so lange wie möglich die Wahrnehmung der Wirklichkeit ersparen mochte.
An Estelas rechter Hand war die häßliche rote Brandwunde zu sehen, die ihr mit der Zigarre zugefügt worden war. Kurz nachdem die Männer gegangen waren, war einer von ihnen -Juanita hatte gehört, daß sie ihn mit Lou anredeten - für einen Augenblick zurückgekehrt. Er hatte eine Tube in der Hand, aus der er irgendeine Salbe drückte und damit Estelas Brandwunde bestrich; dabei warf er Juanita einen raschen Blick zu, als wolle er ihr sagen, das sei alles, was er tun könne. Dann war auch er verschwunden.
Estela hatte sich aufgebäumt, als die Salbe aufgetragen wurde, dann hatte sie eine Zeitlang hinter dem Klebestreifen, der sie knebelte, gewimmert, aber bald danach war sie in einen barmherzigen Schlaf gefallen.
Die Geräusche, die Juanita gehört hatte, kamen von hinten. Vermutlich aus einem Nebenraum, und sie nahm an, daß eine Verbindungstür offenstand. Sie hörte kurz Miles wild protestierende Stimme, dann einen schweren Schlag, ein Grunzen und Stille.
Es verstrich vielleicht eine Minute. Wieder Miles' Stimme, dieses Mal deutlicher. »Nein! O Gott, nein! Bitte! Ich...« Sie hörte ein Geräusch wie Hammerschläge, Metall auf Metall. Miles' Worte versiegten, verwandelten sich in einen hohen, durchdringenden, wahnsinnigen Schrei. Das Schreien, schlimmer als alles, was sie je gehört hatte, ging weiter und weiter.
Hätte Miles sich in dem Auto töten können, er hätte es ohne Zaudern getan. Vom ersten Augenblick seiner Vereinbarung mit Wainwright an hatte er gewußt - und das war seither die Wurzel aller seiner Ängste gewesen -, daß einfaches Sterben leicht sein würde, verglichen mit dem, was einen ertappten Spitzel erwartete. Aber selbst das, was er sich in den schlimmsten Augenblicken der Angst ausgemalt hatte, war nichts, verglichen mit der unglaublich fürchterlichen, unerträglichen Bestrafung, die ihm jetzt zugemessen wurde.
Seine Beine und Schenkel waren grausam stramm zusammengebunden. Seine Arme hatte man auf einen rauhen Holztisch gezerrt. Seine Hände und Handgelenke wurden an den Tisch genagelt... mit Zimmermannsnägeln festgenagelt... mit aller Gewalt genagelt... Ein Nagel durchbohrte schon sein linkes Handgelenk, zwei weitere den Handrücken, unlösbar die Hand an die Platte befestigend... Die letzten paar Schläge des Hammers hatten Knochen zertrümmert... Ein Nagel steckte in der rechten Hand, ein anderer war bereit, Fleisch und Muskeln zu zerreißen, zu durchdringen... Kein Schmerz... O Gott, hilf mir!... konnte jemals größer sein. Miles wand sich, kreischte, flehte, kreischte wieder. Aber die Hände, die ihn hielten, faßten nur fester zu. Die Hammerschläge, die kurze Zeit ausgesetzt hatten, gingen jetzt weiter.
»Der jammert mir nicht laut genug«, sagte Marino zu Angelo, der den Hammer schwang. »Wenn du damit fertig bist, versuch mal, ein paar Finger von dem Schwein festzunageln.«
Tony Bär, der eine Zigarre paffte, während er zusah und zuhörte, hatte sich dieses Mal nicht die Mühe gemacht, sich zu verbergen. Eastin würde ihn später nicht mehr identifizieren können, denn Eastin würde bald tot sein. Erst einmal aber war es nötig, ihn daran zu erinnern - und die anderen, die bald hören würden, was hier passiert war -, daß es für Spitzel keinen leichten Tod gab.
»Ja, das gefällt mir schon besser«, sagte Tony Bär zufrieden. Miles' kreischende Schreie wurden noch lauter, als ein neuer Nagel den Mittelfinger seiner linken Hand in der Mitte zwischen den beiden Knöcheln durchdrang und in die Holzplatte getrieben wurde. Hörbar wurde der Knochen in dem Finger gespalten. Als Angelo das Verfahren mit dem Mittelfinger der rechten Hand wiederholen wollte, befahl Tony Bär: »Halt mal!«
Zu Eastin sagte er: »Hör mit dem verdammten Lärm auf! Fang an zu singen!«
Miles' Schreie wurden zu wildem Schluchzen, sein Körper hob und senkte sich. Die Hände, die ihn gehalten hatten, ließen ihn los. Sie wurden nicht mehr gebraucht.
»Okay«, sagte Tony Bär zu Angelo, »er will nicht, also mach weiter.«
»Nein! Nein! Ich rede! Ich rede! Ich rede!« Irgendwie gelang es Miles, das Schluchzen herunterzuwürgen. Das lauteste Geräusch war jetzt sein schweres, rasselndes Atmen.
Tony Bär winkte Angelo zurück. Die anderen im Raum blieben rings um den Tisch stehen. Es waren Lou; Punch Clancy, der vierte von den Leibwächtern, die vor einer Stunde in dem Sportartikelgeschäft aufgetaucht waren; LaRocca, mit wütendem Gesicht darüber nachgrübelnd, wieviel Schuld man ihm wohl geben werde, weil er sich für Miles stark gemacht hatte; und der alte Drucker, Danny Kerrigan, nervös und sichtlich unangenehm berührt. Obwohl hier normalerweise Dannys Reich war - sie befanden sich in der eigentlichen Druckerei -, zog er es vor, sich in solchen Augenblicken zu verziehen, aber Tony Bär hatte ihn holen lassen.
Tony Bär fauchte Eastin an: »Du warst also die ganze Zeit Spitzel für eine stinkende Bank?«
Miles keuchte. »Ja.«
»First Mercantile?«
»Ja.«
»Wem berichtest du?«
»Wainwright.«
»Was hast du rausgekriegt? Was haste ihm erzählt?«
»Vom... Club... vom Spielen... wer da war.«
»Darunter ich?«
»Ja.«
»Du Schwein, du!« Tony Bär holte aus und trieb seine geballte Faust mit aller Kraft in Miles' Gesicht.
Miles Körper sackte weg unter der Gewalt des Schlages, aber sein eigenes Gewicht riß an seinen Händen, und er gab sich verzweifelt einen Ruck, um wieder die schmerzhafte, weit vorgestreckte Haltung einzunehmen, in der er vorher gesessen hatte. Stille sank herab, unterbrochen nur von seinem röchelnden Schluchzen und Stöhnen. Tony Bär paffte ein paar Mal an seiner Zigarre, dann setzte er das Verhör fort.
»Was haste sonst noch rausgekriegt, du stinkender Scheißhaufen?«
»Nichts... nichts!« Miles zitterte unbeherrscht am ganzen Körper.
»Du lügst.« Tony Bär wandte sich zu Danny Kerrigan um. »Hol mir den Saft, den du zum Ätzen brauchst.«
Bis jetzt, während des ganzen Verhörs, hatte der alte Drucker Miles voller Haß angesehen. Jetzt nickte er. »Mach' ich. Sofort, Mr. Marino.«
Danny trat an eines der Regale und hob einen Viertelliterkrug mit Plastikdeckel herunter. Auf einem Etikett stand SALPETERSÄURE - ÄTZEND - NUR FÜR GRAPHISCHE ZWECKE. Danny nahm die Kappe ab und goß sorgfältig etwas aus dem Krug in ein Halbliterglas. Vorsichtig, um nur ja nichts zu verschütten, trug er das Glas zu dem Tisch, an dem Tony Bär stand und Miles ins Gesicht sah. Er setzte das Glas ab, dann legte er daneben einen kleinen Pinsel, wie er ihn für seine Gravuren benutzte.
Tony Bär nahm den Pinsel und tauchte ihn in die Salpetersäure. Mit einer beiläufig wirkenden Bewegung streckte er die Hand vor und strich mit dem Pinsel über eine Seite von Eastins Gesicht. Zwei, drei Sekunden lang, während die Säure die Oberflächenhaut durchdrang, blieb jede Reaktion aus. Dann schrie Miles in neuer, anders beschaffener Qual auf, während das ätzende Brennen sich immer tiefer ausbreitete. Während die anderen gebannt zusahen, warf das Fleisch unter der Säure Brandblasen und wechselte die Farbe; es wurde bräunlichschwarz.
Wieder tauchte Tony Bär den Pinsel in das Glas. »Ich frag' dich noch einmal, Arschloch. Krieg' ich keine Antwort, kommt das auf die andere Seite. Was hast du noch rausgekriegt und verraten?«
Miles' Augen waren weit aufgerissen, wie die eines in die Enge getriebenen Tieres. Er sagte hastig, stotternd: »Das gefälschte... Geld.«
»Ja, und?«
»Ich hab' was gekauft... hab's der Bank geschickt... dann mit dem Auto gefahren... hab' was nach Louisville gebracht.«
»Und?«
»Kreditkarten... Führerscheine.«
»Du weißt, wer die gemacht hat? Wer das Falschgeld gedruckt hat?«
Miles nickte mit dem Kopf, so gut er konnte. »Danny.«
»Wer hat's dir gesagt?«
»Er... hat's mir gesagt.«
»Und dann haste ausgepackt bei dem Bullen in der Bank? Der weiß das alles?«
»Ja.«
Tony Bär fuhr wütend zu Kerrigan herum. »Du besoffener blöder Furz! Du taugst nicht mehr als der da.«
Der alte Mann stand schlotternd da. »Mr. Marino, ich war nicht betrunken. Ich dachte bloß, er...«
»Halt die Schnauze!« Tony Bär schien im Begriff zu sein, den alten Mann niederzuschlagen, dann besann er sich anders. Er wandte sich wieder Miles zu. »Was wissen die sonst noch?«
»Nichts!«
»Wissen die, wo gedruckt wird? Wo das hier ist?«
»Nein.«
Tony Bär tat den Pinsel wieder in die Säure und zog ihn heraus. Miles folgte jeder Bewegung. Die Erfahrung gab ihm die Antwort ein, die von ihm erwartet wurde. Er brüllte: »Ja! Ja, sie wissen es!«
»Du hast es dem Sicherheitsarsch von der Bank erzählt?«
In seiner Verzweiflung log Miles. »Ja, ja!«
»Wie haste das rausgekriegt?« Der Pinsel schwebte weiter über der Säure.
Miles wußte, daß er eine Antwort finden mußte. Irgendeine Antwort, solange sie Tony zufriedenstellte. Er drehte den Kopf zu Danny. »Er hat's mir gesagt.«
»Du lügst! Du verlauster, verstunkener, gottverdammter Lügner!« Das Gesicht des alten Mannes zuckte, sein Mund öffnete und schloß sich, sein Unterkiefer zitterte unter dem Aufruhr der Gefühle. Flehentlich sagte er zu Tony Bär: »Mr. Marino, er lügt! Ich schwöre: Er lügt! Es ist nicht wahr.« Aber was er in Marinos Augen sah, steigerte seine Verzweiflung. Jetzt stürzte sich Danny auf Miles. »Sag ihm die Wahrheit, du Mistvieh! Sag's ihm!« Wie von Sinnen, nur an die Strafe denkend, die ihm drohte, sah der alte Mann sich nach einer Waffe um. Er sah das Säureglas. Er packte es und schüttete den Inhalt Miles ins Gesicht.
Ein neuer Schrei erhob sich, erstarb dann plötzlich. Während sich der Säuregeruch mit dem übelkeiterregenden Geruch verbrennenden Fleisches mischte, kippte Miles, bewußtlos, nach vorn über den Tisch, an den seine zerschlagenen, blutenden Hände genagelt waren.
Obwohl sie nicht genau wußte, was Miles angetan wurde, litt Juanita durch seine Schreie, sein Flehen, am Ende durch das Verlöschen seiner Stimme. Sie dachte darüber nach -leidenschaftslos, weil ihre Gefühle jetzt bis über den Punkt hinaus strapaziert waren, an dem sie noch empfinden konnte -, ob er wohl tot sei. Sie fragte sich, wie lange es wohl noch dauern werde, bis sie und Estela Miles' Schicksal teilten. Denn daß sie beide sterben würden, daran zweifelte sie keinen Augenblick.
Für eins war Juanita dankbar: Estela hatte sich nicht gerührt, trotz des wilden Aufruhrs. Hoffentlich blieb ihr der Schlaf, vielleicht wurde ihr dann erspart, was an Scheußlichkeit noch vor dem Ende ihrer harrte. Juanita tat, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Sie betete zur Jungfrau Maria. Sie betete, sie möge Estela den Tod leichtmachen.
Juanita bemerkte neue Geschäftigkeit im Nachbarraum. Es hörte sich an, als würden Möbel gerückt, Schubladen aufgezogen und wieder zugeschoben, schwere Behälter abgesetzt. Einmal hörte man das klirrende Prasseln von Metallstücken auf Zement, danach Flüche.
Dann erschien zu ihrer Überraschung der Mann, den sie unter dem Namen Lou schon kannte, neben ihr und begann, ihre Fesseln zu lösen. Sie nahm an, daß man sie irgendwo anders hinbringen, eine Hölle gegen eine andere vertauschen werde. Als er fertig war, ließ er sie, wo sie war, und begann, Estela loszubinden.
»Steht auf!« befahl er beiden. Estela, die aufgewacht war, gehorchte, wenn auch schläfrig. Sie fing leise an zu weinen, kaum hörbar hinter dem Streifen, der ihren Mund verschloß. Juanita wollte zu ihr gehen, konnte sich aber noch nicht bewegen; sie stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf den Stuhl, gekrümmt vor Schmerzen, während das Blut durch ihre verkrampften Glieder floß.
»Hör zu«, sagte Lou. »Du hast Schwein, wegen deines Kindes. Der Boss läßt dich laufen. Dir werden die Augen verbunden, dann wirst du mit einem Auto weit weg gebracht, dann kannste abhauen. Du hast keine Ahnung, wo du warst, du kannst also keinen hier mit herschleppen. Aber wenn du quatschst, wenn du irgendjemandem was sagst, dann finden wir dich, egal, wo du steckst, und dann bringen wir dein Kind um.Kapiert?«
Juanita, die Mühe hatte zu glauben, was sie hörte, nickte.
»Dann marsch, los.« Lou zeigte auf eine Tür. Offenbar hatte er noch nicht die Absicht, ihr die Augen zu verbinden. Trotz der Lähmung, unter der sie gerade eben gelitten hatte, spürte sie die normale Wachheit ihres Verstandes zurückkehren.
Auf halbem Wege eine Betontreppe hinauf, lehnte sie sich an die Wand und hätte sich am liebsten übergeben. In dem äußeren Raum, den sie gerade passiert hatten, hatte sie Miles gesehen -oder das, was von ihm übrig war -, vornübergesunken auf dem Tisch, die Hände ein blutiger Brei, Gesicht, Haar und Kopfhaut bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Lou hatte Juanita und Estela rasch vorangestoßen, aber doch nicht schnell genug, um zu verhindern, daß Juanita die fürchterliche Wahrheit in sich aufnahm. Sie hatte auch wahrgenommen, daß Miles nicht tot war, wenn er auch gewiß im Sterben lag. Er hatte sich ganz leicht gerührt und gestöhnt.
»Los, dalli, dalli!« drängte Lou. Sie stiegen weiter die Treppe hinauf.
Das entsetzliche Bild von Miles, das sie gesehen hatte, füllte Juanitas ganzes Denken. Was konnte sie tun, um ihm zu helfen? Hier ganz gewiß nichts. Aber wenn man sie und Estela freiließ, gab es dann eine Möglichkeit, Hilfe zu ihm zu bringen? Sie bezweifelte es. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand; es schien auch keine Möglichkeit zu geben, das festzustellen. Aber sie mußte irgend etwas tun. Etwas, um ihr furchtbares Schuldgefühl zu mindern - wenn auch nur um ein Geringes. Sie hatte Miles verraten. Was auch der Grund war, sie hatte seinen Namen ausgesprochen, und man hatte ihn gefangen, ihn hierhergebracht, ihm angetan, was sie gesehen hatte.
Der Keim eines Gedankens, noch ohne Form und Gestalt, regte sich. Sie konzentrierte sich, dachte angestrengt nach, löschte andere Dinge aus ihrem Bewußtsein, für den Augenblick sogar Estela. Juanita sagte sich: Vielleicht funktionierte es nicht, doch es gab eine ganz geringe Chance. Der Erfolg hing von der Schärfe ihrer Sinne und von ihrem Gedächtnis ab. Wichtig war auch, daß man sie erst ins Auto brachte, ihr dann erst die Augen verband.
Oben an der Treppe angelangt, wandten sie sich nach rechts und betraten eine Garage. Mit Wänden aus Zementplatten sah sie aus wie eine ganz gewöhnliche Garage für zwei Autos, sie gehörte wahrscheinlich zu einem Haus oder einem Geschäft, und sich an die Geräusche bei ihrem Eintreffen erinnernd, vermutete Juanita, daß es der gleiche Weg war, der sie hergeführt hatte. Ein Auto stand in der Garage - nicht der große Wagen, der sie an diesem Morgen hergebracht hatte, sondern ein dunkelgrüner Ford. Sie versuchte, das Nummernschild zu erkennen, aber es lag nicht in ihrem Gesichtsfeld.
Juanita warf einen raschen Blick in die Runde, und irgend etwas fiel ihr auf. An einer der Garagenwände stand eine Kommode aus dunklem, poliertem Holz, aber es war eine seltsame Kommode, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Anscheinend war sie von oben nach unten durchgesägt, die beiden Hälften standen getrennt voneinander, und sie konnte sehen, daß das Innere hohl war. Neben der Kommode stand etwas, das wie eine Anrichte aus einem Eßzimmer aussah, und sie war ebenfalls durchgesägt, nur wurde die eine Hälfte der Anrichte gerade von zwei Männern durch eine andere Tür hereingetragen; der eine war von der Tür verdeckt, der andere drehte ihr den Rücken zu.
Lou machte eine hintere Tür des Ford auf. »Da rein«, befahl er. Er hatte zwei dicke, dunkle Tücher in der Hand - die Binden für ihre Augen.
Juanita stieg zuerst ein. Als sie das tat, stolperte sie absichtlich, stürzte und stützte sich, indem sie die Lehne des Vordersitzes packte. Das gab ihr die Gelegenheit, die sie suchte - nach vorn auf das Armaturenbrett zu schauen, den Zähler abzulesen. Sie hatte nur eine Sekunde, um die Zahlen in sich aufzunehmen: 25714,8. Sie schloß die Augen, grub die Zahlenfolge - wie sie hoffte - ins Gedächtnis ein.
Estela folgte Juanita. Lou kletterte nach ihnen ins Auto, legte die Binden an und setzte sich auf den Rücksitz. Er stieß Juanita an der Schulter. »Runter mit euch auf den Boden, beide. Macht mir keinen Ärger, dann passiert euch nix.«
Sich auf den Boden hockend, Estela dicht neben sich, kreuzte Juanita die Beine und brachte es fertig, in Fahrtrichtung zu sitzen. Sie hörte, wie noch jemand ins Auto stieg, wie der Motor angelassen wurde, die Garagentüren sich polternd öffneten. Dann nahmen sie Fahrt auf.
Von dem Augenblick an, wo das Auto sich in Bewegung setzte, konzentrierte Juanita sich wie noch nie in ihrem Leben. Sie war entschlossen, Zeit und Richtung im Gedächtnis zu behalten - wenn es überhaupt möglich war. Sie begann, Sekunden zu zählen, wie eine Freundin von ihr, eine Fotografin, es ihr einmal beigebracht hatte. Eintausend und EINS; eintausend und ZWEI; eintausend und DREI; eintausend und VIER... Sie fühlte, wie der Wagen zurücksetzte und einschwenkte, dann zählte sie acht Sekunden, während er sich gerade voraus bewegte. Dann verlangsamte er die Fahrt, kam fast zum Stillstand. War das eine Einfahrt gewesen? Wahrscheinlich. Eine ziemlich lange? Wieder bewegte sich das Auto langsam, schob sich wahrscheinlich auf die Straße... Linkswendung. Jetzt schneller voran. Sie fing wieder an zu zählen. Zehn Sekunden. Langsamer jetzt. Rechtskurve... Eintausend und EINS; eintausend und ZWEI; eintausend und DREI... Linkskurve... Schneller... Eine längere Strecke... Eintausend NEUNUNDVIERZIG; eintausend FÜNFZIG... Kein Anzeichen von Verlangsamung... Ja, jetzt ging es langsamer. Warten, vier Sekunden lang, dann geradeaus weiter. Das konnte eine Verkehrsampel gewesen sein... Eintausend und ACHT...
Lieber Gott! Hilf mir, das zu behalten - für Miles!...
Eintausend und NEUN; eintausend und ZEHN. Rechtskurve...
Schiebe alle anderen Gedanken weg. Reagiere auf jede Bewegung des Autos. Zähle die Zeit - hoffend, betend, daß dasselbe brillante Gedächtnis, das ihr geholfen hatte, stets die Summe des Geldes in der Bank zu kennen - was sie einst vor Miles' Falschheit gerettet hatte -, jetzt ihn rettete.
... Eintausend ZWANZIG; eintausend und zwanzig Dollar. NEIN!... Gute Mutter Gottes! Hilf mir, meine Gedanken zusammenzunehmen...
Eine lange gerade Strecke, glatte Straßendecke, hohes Tempo... Sie merkte, wie ihr Körper schwankte... Die Straße machte eine Biegung nach links; eine langgestreckte Kurve, sanft... Halt, halt. Das waren achtundsechzig Sekunden... Rechtseinbiegen... Wieder von vorn anfangen. Eintausend und EINS; eintausend und ZWEI...
Weiter und weiter.
Je mehr Zeit verging, um so geringer die Chance, daß es ihr in Erinnerung blieb, daß die Strecke rekonstruiert werden konnte.
»Sergeant Gladstone hier, Nachrichtenzentrale, Städtische Polizei«, sagte die flache, nasale Stimme am Telefon. »Hab' Anweisung, Sie da drüben sofort zu informieren, falls Juanita Nunez oder Kind Estela Nunez gesichtet werden.«
Spezialagent Innes richtete sich straff und kerzengerade auf. Instinktiv rückte er den Apparat näher an sich heran. »Was haben Sie für uns, Sergeant?«
»Bericht vom Streifenwagen über Funk. Frau und Kind auf die Beschreibung und Namen passen, in der Nähe Einmündung Cheviot Township und Shawnee Lake Road angetroffen. Zu ihrem Schutz in Gewahrsam genommen. Beamte bringen sie jetzt zur Revierwache Zwölf.«
Innes bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand. Zu Nolan Wainwright, der ihm hier im FBI-Hauptquartier am Schreibtisch gegenübersaß, sagte er leise: »Stadtpolizei. Sie haben die Nunez und das Kind.«
Wainwright packte die Schreibtischkante mit klammerndem Griff. »Fragen Sie, in welchem Zustand sie sind.«
»Sergeant«, sagte Innes, »sind die beiden wohlbehalten?«
»Hab' Ihnen alles gesagt, was wir wissen, Chef. Wenn Sie mehr wissen wollen, rufen Sie doch das Zwölfte an.«
Innes nahm sich die Nummer des Zwölften Reviers vor und wählte sie. Man verband ihn mit Leutnant Fazackerly.
»Ja, wir wissen Bescheid«, sagte Fazackerly knapp. »Bleiben Sie dran. Zweiter Funkbericht kommt gerade.«
Der FBI-Mann wartete.
»Unsere Leute sagen, die Frau ist ein bißchen zusammengeschlagen worden«, sagte Fazackerly. »Schwellungen, Platzwunden im Gesicht. Kind hat 'ne schlimme Brandstelle an einer Hand. Beamte haben Erste Hilfe geleistet.
Keine weiteren Verletzungen gemeldet.«
Innes gab die Mitteilung an Wainwright weiter, der seine Hand wie im Gebet vor das Gesicht legte.
Der Leutnant sprach wieder. »Irgendwas ist hier komisch.«
»Was denn?«
»Beamte im Wagen sagen, die Nunez weigert sich zu reden. Sie verlangt Papier und Bleistift. Haben sie ihr gegeben. Sie kritzelt wie besessen. Sagt, sie hat sich was gemerkt, muß das aufschreiben.«
Spezialagent Innes atmete tief aus: »Jesus Christus!« Ihm fiel das fehlende Geld in der Bank ein, die Geschichte, die dazugehörte, die unglaubliche Genauigkeit von Juanita Nunez' Gedächtnis, absolut reif für den Zirkus.
»Hören Sie«, sagte er. »Fragen Sie nicht, glauben Sie mir einfach, ich erkläre Ihnen später alles, wir kommen jetzt raus zu Ihnen. Aber funken Sie Ihrem Wagen sofort. Sagen Sie Ihren Beamten, sie sollen die Nunez nicht stören, nicht mit ihr reden, sofort alles tun, was sie verlangt! Und wenn sie im Revier ist, gilt das weiter. Gehen Sie auf sie ein. Sie soll, wenn sie will, weiter schreiben. Behandeln Sie sie wie ein rohes Ei. Wie was ganz Besonderes.«
Er hielt inne, dann fügte er hinzu: »Das ist sie nämlich.«
Kurzes Zurücksetzen. Aus Garage.
Vorwärts. 8 Sek. Fast anhalten. (Einfahrt?)
Links einbiegen. 10 Sek. Mittleres Tempo.
Rechts einbiegen. 3 Sek.
Links einbiegen. 55 Sek. Glatt, schnell.
Halt. 4 Sek. (Ampel?)
Geradeaus. 10 Sek. Mittleres Tempo.
Rechts einbiegen. Schlechte Straße (kurze Strecke), dann
glatt. 18 Sek.
Langsamer. Halt. Sofort weiter. Rechtskurve. Halt und weiter.
25 Sek.
Links einbiegen. Gerade, glatt. 47 Sek.
Langsam. Rechts einbiegen...
Als Juanitas Zusammenfassung fertig war, füllte sie sieben handschriftliche Seiten.
Sie arbeiteten intensiv eine Stunde lang in einem Raum hinten in der Revierwache, Stadtpläne in großem Maßstab vor sich, aber das Ergebnis war nicht schlüssig.
Juanitas hingekritzelte Notizen hatten sie alle in Staunen versetzt - Innes und Dalrymple, Jordan und Quimby vom Secret Service, die nach einem eiligen Anruf zu ihnen gestoßen waren, und Nolan Wainwright. Die Notizen waren unglaublich vollständig und, wie Juanita behauptete, ganz genau. Sie erklärte den anderen, daß sie nie sicher wußte, ob das, was ihr Verstand speicherte, später wieder ins Bewußtsein gerufen werden konnte - bis der Augenblick dafür gekommen war. Aber war die Arbeit einmal getan, konnte sie mit absoluter Gewißheit sagen, ob ihre Erinnerungen richtig waren. Davon war sie jetzt überzeugt.
Außer den Notizen hatten sie noch einen weiteren Anhaltspunkt. Die zurückgelegte Entfernung.
Wenige Augenblicke, bevor man Juanita und Estela aus dem Auto auf eine einsame Vorortstraße hinausstieß, hatte man ihnen Knebel und Augenbinden abgenommen. Gespielte Ungeschicklichkeit und Glück ermöglichten es Juanita, wieder einen Blick auf den Entfernungsmesser zu werfen. 25738, 5. Sie hatten 23,7 Meilen zurückgelegt.
Aber war das eine Entfernung in einer klaren Richtung, oder hatte das Auto kehrtgemacht, die gleichen Strecken mehrfach zurückgelegt, um die Fahrt länger erscheinen zu lassen, als sie war, um Juanita zu verwirren? Trotz ihrer genauen Aufzeichnungen konnte man das nicht mit Bestimmtheit erkennen. Sie taten, was sie konnten, arbeiteten sich mühsam zurück, bezogen in ihre Überlegungen ein, daß das Auto diesen oder jenen Weg genommen haben könnte, hier oder dort eingebogen sein könnte, so und so weit auf dieser Straße gefahren sein könnte. Aber jeder wußte, wie ungenau das sein mußte, denn die Geschwindigkeiten konnten nur erraten werden, und Juanita konnte sich in ihren Wahrnehmungen geirrt haben, denn ihre Augen waren verbunden gewesen, so daß Irrtum sich auf Irrtum häufen und diese Arbeit sinnlos machen konnte, zur reinen Zeitvergeudung. Aber es bestand eine gewisse Chance, daß es tatsächlich gelang, den Weg dorthin zurückzuverfolgen, wo man sie gefangengehalten hatte, oder doch irgendwo in die Nähe. Und es fiel allen auf, daß eine gewisse Übereinstimmung zwischen den verschiedenen, bisher erarbeiteten Möglichkeiten bestand.
Secret Service-Agent Jordan zog den Schluß für sie alle. Auf einer großen Straßenkarte zeichnete er etliche Linien ein, die die wahrscheinlichsten Richtungen bezeichneten, die das Auto mit Juanita und Estela eingeschlagen haben konnte. Dann, am Endpunkt dieser Linien, zeichnete er einen Kreis. »Da drinnen.« Er tippte mit dem Finger auf die Karte. »Irgendwo da drinnen.«
In der entstandenen Stille hörte Wainwright Jordans Magen knurren, wie bei allen ihren bisherigen Begegnungen. Wainwright fragte sich, was Jordan wohl bei Einsätzen machte, bei denen er sich verbergen und absolute Stille wahren mußte. Oder war er wegen seines polternden Magens von solchen Einsätzen befreit?
»Das da«, sagte Dalrymple, »sind mindestens acht Quadratkilometer.«
»Dann wollen wir sie durchkämmen«, antwortete Jordan. »In Gruppen, in Wagen. Unser Verein, Ihr Verein, und wir verlangen Hilfe von der Stadtpolizei.«
Leutnant Fazackerly, der zu ihnen gestoßen war, fragte: »Und was suchen wir da eigentlich alle, meine Herren?«
»Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen?« fragte Jordan. »Ich will verdammt sein, wenn ich das weiß.«
Juanita saß in einem FBI-Wagen zusammen mit Innes und Wainwright. Wainwright saß am Steuer, so daß Innes die Hände frei hatte, um zwei Sprechfunkgeräte zu bedienen: ein tragbares, eins von fünfen, die das FBI zur Verfügung gestellt hatte - sie ermöglichten den direkten Sprechverkehr mit den anderen Wagen -, und ein reguläres Funktelefon, das direkt mit dem FBI-Hauptquartier verbunden war.
Vorher hatten sie unter Anleitung des Leutnants von der Stadtpolizei das Gebiet in Sektoren eingeteilt, und die fünf Wagen fuhren jetzt kreuz und quer diese Sektoren ab. Zwei waren vom FBI, einer vom Secret Service und zwei von der Stadt. Das Personal hatte sich aufgeteilt. Jordan und Dalrymple fuhren mit je einem Kripo-Beamten der Stadt, die den Neuhinzugekommenen während der Fahrt Erläuterungen gaben. Sobald es sich als nötig erwies, sollten andere Streifenwagen der Stadt zur Verstärkung herbeigerufen werden.
Von einem waren sie alle überzeugt: Wo Juanita gefangengehalten worden war, befand sich die Fälscherzentrale. Ihre allgemeine Beschreibung und etliche Einzelheiten, an die sie sich erinnerte, ließen das so gut wie zur Gewißheit werden. Deshalb hatten alle Sondereinheiten dieselben Anweisungen: Ausschau halten nach jeder ungewöhnlichen Tätigkeit, die im Zusammenhang stehen könnte mit einer Zentrale des organisierten Verbrechens, Spezialität Geldfälschung, und sofortige Meldung jeder Wahrnehmung. Alle waren sich darüber einig, daß das eine ziemlich verschwommene Instruktion war, aber keinem war etwas eingefallen, was bessere Hinweise ergeben hätte. Wie Innes sagte: »Was haben wir denn Besseres?«
Juanita saß auf dem Rücksitz des FBI-Wagens.
Fast zwei Stunden waren vergangen, seit man sie und Estela plötzlich abgesetzt hatte. Man hatte ihnen befohlen, sich abzuwenden, dann war der dunkelgrüne Ford mit quietschenden, qualmenden Reifen davongejagt. Juanita hatte sich seither geweigert, ihre Schwellungen und Platzwunden im Gesicht, die Schnitte und Abschürfungen an den Beinen behandeln zu lassen - nur ein bißchen Erste Hilfe hatte sie geduldet. Sie wußte, daß sie schlimm aussah, die Kleidung beschmutzt und zerrissen, aber sie wußte auch, daß alles andere warten mußte, sogar ihre eigene Fürsorge für Estela - die zur Behandlung der Brandwunde und zur Beobachtung ins Krankenhaus gebracht worden war -, wenn Miles rechtzeitig gefunden werden sollte, rechtzeitig genug, um sein Leben zu retten Während Juanita tat, was sie tun mußte, tröstete Margot Bracken, die kurz nach Wainwright und dem FBI in der Revierwache eingetroffen war, die kleine Estela.
Es war jetzt gegen drei Uhr nachmittags.
Vorhin, als sie die Abfolge ihrer Fahrt aufs Papier gekritzelt hatte, als sie ihre Gedanken durchforstete wie einen riesigen Raum voller Zettel mit Notizen, war Juanita der Erschöpfung nahe gewesen. Aber anschließend hatte sie sich scheinbar endlos von den FBI- und Secret Service-Leuten ausfragen lassen, die immer wieder nach den geringfügigsten Einzelheiten ihrer Erlebnisse bohrten, stets in der Hoffnung, daß irgendein unbeachtetes Fragment sie näher an das heranführen könnte, was sie jetzt am dringendsten suchten - irgendeine spezifische Ortsangabe. Bisher waren alle Mühen ohne Erfolg geblieben.
Jetzt aber dachte Juanita nicht an Einzelheiten, als sie in dem Wagen saß, sondern sie dachte an Miles, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte. Das Bild blieb scharf eingegraben in ihrem Gedächtnis - und sie empfand Qual und Schuld. Sie glaubte nicht, daß dieses Bild jemals ganz von ihr weichen würde. Immer wieder suchte die Frage sie heim: Angenommen, die Fälscherzentrale wurde entdeckt, würde es dann zu spät sein, um Miles zu retten? War es jetzt schon zu spät?
Das Gebiet, das der Agent Jordan eingekreist hatte - nahe am östlichen Rand der Stadt -, war seinem Charakter nach nicht einheitlich. Zum Teil war es gewerbliches Gelände mit etlichen Fabriken, Lagerhäusern und einem geräumigen Gelände mit Leichtindustrie. Dies war das am ehesten Erfolg versprechende Gebiet, hierauf konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Streifenfahrer. Es gab verschiedene Einkaufsgebiete. Der Rest war Wohngegend, angefangen von Regimentern kastenförmiger Bungalows bis zu einer Gruppe stattlicher Villen, die beinahe Herrenhaus-Charakter hatten.
Den suchenden Augen der kreuz und quer fahrenden Beamten, die häufig über Sprechfunk miteinander verkehrten, bot sich überall ein Bild alltäglicher und üblicher Aktivität. Selbst etliche nicht ganz so gewöhnliche Geschehnisse hatten doch normale Begleitumstände. In einer Ladengegend war ein Mann, der sich einen Sicherheitsgurt für Anstreicher kaufte, über diesen Gurt gestolpert und hatte sich ein Bein gebrochen. Nicht weit davon entfernt war ein Auto mit verklemmtem Gashebel in eine leere Theater-Vorhalle gerast. »Vielleicht hat das einer für ein Drive-in-Kino gehalten«, sagte Innes, aber niemand lachte. Im Industriegebiet war ein kleines Feuer in einer Werkhalle ausgebrochen, die Feuerwehr, rechtzeitig alarmiert, löschte es. Die Fabrik stellte Wasserbetten her; ein Beamter von der städtischen Kriminalpolizei hatte sich vergewissert. In einer der großen Villen versammelte sich eine Teegesellschaft zu wohltätigen Zwecken. Vor einer anderen lud ein Sattelschlepper-Möbelwagen der Alliance Van Lines Möbel ein. Drüben bei den Bungalows reparierte ein Klempnerteam ein gebrochenes Wasserrohr. Zwei Nachbarn hatten sich verzankt und führten auf dem Fußweg einen Boxkampf aus. Secret Service-Agent Jordan stieg aus und trennte sie.
Und so weiter.
Eine Stunde lang. Am Ende der Stunde waren sie nicht weiter als am Anfang.
»Ich hab' ein komisches Gefühl«, sagte Wainwright. »Ein Gefühl, wie ich es früher manchmal bei der Polizei hatte, wenn ich genau wußte, daß ich etwas übersehen hatte.«
Innes warf einen Blick zur Seite. »Ich weiß, was Sie meinen. Man bildet sich ein, daß man genau was vor der Nase hat, wenn man's nur packen könnte.«
»Juanita«, sagte Wainwright über seine Schulter, »gibt es noch irgend etwas, irgendeine Kleinigkeit, von der Sie uns noch nichts gesagt haben?«
Mit fester Stimme sagte sie: »Ich habe Ihnen alles gesagt.«
»Dann wollen wir alles noch einmal durchgehen.«
Nach einer Weile sagte Wainwright: »Etwa zu der Zeit, als Eastin aufhörte zu schreien und als Sie noch gefesselt waren, haben Sie etwas von allerhand Lärm gesagt.«
Sie korrigierte ihn: »No, una conmociön. Lärm und Tätigkeit. Ich konnte Leute hören, die umherliefen, Dinge, die hin- und hergeschoben wurden, Schubladen, die aufgemacht und zugeschoben wurden, solche Dinge.«
»Vielleicht suchten sie etwas«, meinte Innes. »Aber was?«
»Als Sie auf dem Weg nach draußen waren«, fragte Wainwright, »haben Sie da irgend etwas gemerkt, was es mit der Geschäftigkeit auf sich gehabt haben könnte?«
»Por ultima vez, yo no se.« Juanita schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen gesagt, ich war zu aufgeregt, als ich Miles da sah, um irgendwas anderes zu sehen.« Sie zögerte. »Na ja, da waren allerdings die Männer in der Garage, die die komischen Möbel trugen.«
»Ja«, sagte Innes. »Das haben Sie uns erzählt. Ist schon komisch, aber 'ne Erklärung dafür ist uns noch nicht eingefallen.«
»Einen Moment mal! Vielleicht gibt's eine.«
Innes und Juanita sahen Wainwright an. Er runzelte die Stirn. Er schien sich angestrengt zu konzentrieren, sich irgend etwas zurechtzulegen. »Die Geschäftigkeit, die Juanita gehört hat... Angenommen, die haben gar nichts gesucht. Angenommen, die haben gepackt, sich darauf vorbereitet, sich abzusetzen?«
»Könnte sein«, gab Innes zu. »Aber das Umzugsgut wären dann Maschinen. Druckmaschinen, Zubehör. Keine Möbel.«
»Das heißt«, sagte Wainwright, »wenn die Möbel nicht nur Tarnung waren. Hohle Möbel.«
Sie starrten sich an. Die Antwort kam ihnen beiden gleichzeitig. »Mein Gott!« schrie Innes. »Der Möbelwagen!«
Wainwright setzte den Wagen schon zurück, ließ das Steuerrad herumsausen, wendete in kurzem, schnellem Kreis.
Innes packte das tragbare Sprechfunkgerät. Er sprach knapp und angespannt: »Gruppenleiter an alle Sondereinheiten. Konzentrisch großem grauen Haus nähern, steht von der Straße zurück, nahe östlichem Ende der Earlham Avenue. Ausschau halten nach Möbelwagen der Alliance Van Lines. Anhalten und Insassen festnehmen. Stadtpolizei: Alle in der Nähe befindlichen Wagen rufen. Code 10-13.«
Code 10-13 bedeutete: Höchstgeschwindigkeit, Scheinwerfer, Sirenen. Innes schaltete ihre eigene Sirene ein. Wainwright trat den Gashebel durch.
»Jesus Christus!« sagte Innes; es hörte sich an, als ob er den Tränen nahe war. »Zweimal sind wir dran vorbeigefahren. Und letztes Mal waren sie fast fertig mit dem Aufladen.«
»Wenn du hier raus bist«, wies Marino den Fahrer des Sattelschleppers an, »fährst du in Richtung Westküste. Laß dir Zeit, fahr genauso wie mit 'ner ganz normalen Fracht, und schlaf dich jede Nacht gut aus. Aber melde dich regelmäßig, du weißt, wo du anzurufen hast. Und wenn du unterwegs keine neuen Anweisungen kriegst, dann kriegst du sie in Los Angeles.«
»Okay, Mr. Marino«, sagte der Fahrer. Er war ein zuverlässiger Bursche, der genau wußte, worauf es ankam, und der auch wußte, daß er eine fette Prämie bekommen würde als Entschädigung für sein persönliches Risiko. Außerdem hatte er das früher schon mehrfach gemacht, wenn Tony Bär die Ausrüstung der Fälscherzentrale mal wieder auf den Weg und in Sicherheit bringen wollte; manchmal ging es dann im ganzen Land herum, von Versteck zu Versteck, bis sich alles wieder beruhigt hatte.
»Also gut«, sagte der Fahrer, »alles ist aufgeladen. Dann woll'n wir mal. Also bis später, Mr. Marino.«
Tony Bär nickte; er fühlte sich erleichtert. Er war ungewöhnlich nervös gewesen während des Packens und Verladens, irgendein Gefühl hatte ihn hier ausharren lassen, er hatte alles selbst überwacht, die Leute zur Eile angetrieben, obwohl er ganz genau wußte, daß es unklug war, noch zu bleiben. Normalerweise achtete er streng darauf, in sicherer Entfernung von der Frontlinie jeder seiner Unternehmungen zu bleiben, stets darauf bedacht, daß es kein Indiz gab, das ihn mit der Sache in Verbindung bringen konnte, falls etwas schieflaufen sollte. Andere wurden dafür bezahlt, solche Risiken auf sich zu nehmen - auch die Urteile, wenn's denn gar nicht zu vermeiden war. Nun war dieses Projekt mit den Fälschungen, zu Anfang wirklich nur Kleinkram, zu so einem dicken Ding aufgelaufen - tatsächlich die reine Geldmacherei -, daß es jetzt fast an der Spitze seiner Interessen stand, aufgestiegen von ziemlich der letzten Position. Gute Organisation hatte das bewirkt; das, und absolute Supervorsicht - Tony Bär liebte dieses Wort -, und dazu gehörte, daß man jetzt abhaute.
Streng genommen glaubte er nicht, daß dieser Umzug wirklich nötig war - jedenfalls noch nicht -, denn er war überzeugt, daß Eastin gelogen hatte, als er sagte, er habe die Adresse von Danny Kerrigan erfahren und sie weitergegeben. Tony Bär war ausnahmsweise geneigt, Kerrigan zu glauben, auch wenn der alte Furz tatsächlich zuviel gequatscht hatte und sich auf ein paar unangenehme Überraschungen gefaßt machen konnte, die ihn ein für allemal vom Quasseln kurieren würden. Hätte Eastin wirklich gewußt, was er angeblich wußte, und hätte er das weitergegeben, dann wären die Bullen und die Bankleute hier schon längst aufgetaucht, und zwar in Schwärmen. Tony Bär wunderte sich überhaupt nicht über die Lüge. Er wußte genau, wie Leute während der Folterung in ihrer Verzweiflung reagierten, wie sie von Lügen zu Wahrheiten übergingen, dann wieder zu Lügen zurückkehrten, weil sie glaubten, ihre Peiniger wollten das hören. Es war schon 'ne interessante Sache, sie dabei zu überlisten. Tony Bär hatte immer viel Freude an solchen Spielen gehabt.
Trotzdem war es schon vernünftig abzuhauen; man brauchte ja nur den Alarmplan in Gang zu setzen, der mit dem Fuhrunternehmen vereinbart war. Das Unternehmen gehörte der Bande. Wie üblich - superklug. Haste Zweifel, dann verdufte. Und jetzt, wo alles verladen war, wurde es Zeit zu beseitigen, was von dem Spitzel Eastin noch vorhanden war. Abfall. Eine Einzelheit, um die Angelo sich kümmern würde. Übrigens war es inzwischen höchste Zeit, fand Tony Bär, daß er selbst hier verschwand. In allerbester Laune kicherte er in sich hinein. Superklug,.
In diesem Augenblick hörte er das schwache, aber rasch lauter werdende Sirenengeheul, das sich aus verschiedenen Richtungen näherte.
Minuten später wußte er, daß er nicht im geringsten klug gewesen war.
»Mach mal 'n bißchen Tempo, Harry!« rief der junge Krankenträger dem Fahrer zu. »Der hier hat nicht mehr viel Zeit zu verlieren.«
»So wie der aussieht«, sagte der Fahrer - er sah unverwandt geradeaus, fuhr aufgeblendet, mit Warnlicht und heulender Sirene und kurvte tollkühn durch den langsam stärker werdenden Verkehr der beginnenden Rush-hour -, »so wie der aussieht, tun wir dem armen Kerl wahrscheinlich nur 'nen Gefallen, wenn wir jetzt parken und in aller Ruhe ein Bierchen zischen.«
»Halt die Klappe, Harry.« Der Träger, dessen Qualifikationen etwas unter denen eines Krankenpflegers im Krankenhaus lagen, warf einen Blick zu Juanita hinüber. Sie saß auf einem Klappsitz angestrengt vorgebeugt, um an ihm vorbei Miles im Auge behalten zu können; ihre Miene war angespannt, ihre Lippen bewegten sich. »Tut mir leid, Miss. Haben ganz vergessen, daß Sie hier sind. Dieser Job härtet ab, wissen Sie.«
Es dauerte einen Augenblick, bis sie in sich aufgenommen hatte, was eben gesagt worden war. Sie fragte: »Wie geht es ihm?«
»Schlecht. Hat keinen Zweck, Ihnen was vorzumachen.« Der junge Halb-Sanitäter hatte ein Viertel Gran Morphium subkutan injiziert. Er hatte Miles einen Blutdruckmesser angelegt und goß ihm jetzt Wasser aufs Gesicht. Miles war halb bei Bewußtsein und stöhnte, trotz des Morphiums, vor Schmerzen. Der Träger redete ohne Pause weiter: »Er hat einen Schock. Das kann ihn umbringen, wenn die Ätzungen das nicht besorgen. Das Wasser soll die Säure wegspülen, wenn's auch ziemlich spät dafür ist. Und was die Augen betrifft, also ich möchte nicht... Sagen Sie mal, was ist da drinnen eigentlich los gewesen?«
Juanita schüttelte den Kopf, sie mochte jetzt weder Zeit noch Mühe aufs Reden verschwenden. Sie streckte die Hand aus, versuchte, Miles zu berühren, und wäre es auch nur durch die Decke, mit der sie ihn zugedeckt hatten. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie flüsterte, nicht sicher, ob er sie auch hörte: »Verzeih mir! O bitte, verzeih mir!«
»Das Ihr Mann?« fragte der Träger. Er machte sich daran, Schienen an Miles Hände zu legen und sie mit Mullbinden zu umwickeln.
»Nein.«
»Ihr Freund?«
»Ja.« Sie weinte jetzt stärker. War er noch ihr Freund? Mußte sie ihn wirklich verraten? Sie sehnte sich danach, Vergebung zu finden, so wie er einst sie um Vergebung angefleht hatte - es schien eine Ewigkeit her zu sein, in Wirklichkeit lag es noch gar nicht so lange zurück. Sie wußte, es hatte keinen Zweck.
»Halten Sie mal«, sagte der Krankenträger. Er legte eine Maske auf Miles' Gesicht und gab ihr eine tragbare SauerstoffFlasche. Sie hörte es zischen, als der Sauerstoff aufgedreht wurde, und sie umklammerte die Flasche, als könne sie durch die Berührung ihm etwas mitteilen, was sie ihm mitteilen wollte, seit sie Miles gefunden hatten, bewußtlos, blutend, verbrannt, noch immer an den Tisch genagelt.
Juanita und Nolan Wainwright waren den Bundeskriminalbeamten und den Stadtpolizisten in das große graue Herrenhaus gefolgt, nachdem Wainwright sie zurückgehalten hatte, bis klar war, daß es nicht zu einer Schießerei kommen würde. Es war nicht geschossen worden; anscheinend hatte es nicht einmal Widerstand gegeben. Die Leute im Haus hatten rasch begriffen, daß sie umzingelt und an Zahl unterlegen waren.
Wainwright, das Gesicht verzerrter, als sie es je gesehen hatte, löste, so sanft er nur konnte, die Nägel und befreite Miles' zerschlagene Hände. Dalrymple, aschfahl, leise vor sich hin fluchend, hielt Eastin fest, während die Nägel, einer nach dem anderen, aus dem Holz gezogen wurden. Juanita hatte undeutlich wahrgenommen, daß da noch andere Männer im Haus waren, an der Wand aufgereiht, mit Handschellen gefesselt, aber es war ihr gleichgültig gewesen. Als der Krankenwagen kam, war sie dicht neben der Trage geblieben, die sie für Miles hereingebracht hatten. Sie folgte ihr nach draußen, dann in den Krankenwagen. Niemand versuchte, sie aufzuhalten.
Jetzt fing sie an zu beten. Die Worte gingen ihr leicht von den Lippen; Worte aus längst vergangener Zeit... Acordaos, oh piadosisima Virgen Maria... nie ist ohne Trost geblieben, wer sich in deine Obhut begeben hat, deine Hilfe erfleht hat, gebetet hat, daß du ihm beistehst. Fest in diesem Glauben fliehe ich zu dir...
Was hatte der Krankenträger gesagt? Sie hatte es nicht aufgenommen, aber es ging in ihrem Unterbewußtsein um. Miles' Augen. Sie waren verbrannt, verbrannt wie sein Gesicht. Ihre Stimme zitterte. »Wird er blind?«
»Das müssen Ihnen die Fachärzte sagen. Sobald wir ihn in der Unfallstation haben, bekommt er die allerbeste Behandlung. Hier kann ich jetzt nicht viel mehr tun.«
Juanita dachte: auch sie konnte nichts tun. Sie konnte nur bei Miles bleiben, und das wollte sie auch, erfüllt von Liebe und Treue, so lange er wollte, so lange er sie brauchte. Das konnte sie - und beten... jOh Virgen Madre de las virgines! Zu dir komme ich, vor dir stehe ich, sündenbeladen und leiderfüllt. O Mutter des fleischgewordenen Wortes, verachte meine Gebete nicht, sondern erhöre mich und antworte mir. Amen.
Gebäude mit Säulengängen davor huschten draußen vorbei. »Wir sind gleich da«, sagte der Krankenträger. Er hatte die Finger an Miles' Puls. »Er lebt jedenfalls noch.«
In den fünfzehn Tagen seit Beginn der offiziellen Untersuchung des Irrgartens der Supranational-Finanzen durch die Börsenaufsicht hatte Roscoe Heyward gebetet, es möge ein Wunder geschehen, das die totale Katastrophe abwendete. Heyward selbst nahm an Versammlungen mit anderen SuNatCo-Gläubigern teil, deren Ziel es war, den multinationalen Riesen nach Möglichkeit betriebs- und lebensfähig zu erhalten. Das hatte sich als unmöglich erwiesen. Je tiefer die Prüfer sondierten, um so schlimmer erschien das finanzielle Debakel. Es sah nun auch so aus, als würde es zu strafrechtlicher Verfolgung einiger Supranational-Direktoren wegen Betruges kommen, zu denen auch G. G. Quartermain gerechnet wurde; dazu mißte er allerdings erst einmal aus seinem Versteck in Costa Rica herausgelockt werden - und darauf bestand im Augenblick wenig Aussicht.
Deshalb wurde Anfang November ein Konkurseröffnungsantrag gemäß Paragraph 77 des Konkursgesetzes namens der Supranational Corporation gestellt. Obwohl man das befürchtet und sogar damit gerechnet hatte, löste das Ereignis prompte Erschütterungen rund um den Erdball aus. Es galt als wahrscheinlich, daß mehrere große Gläubiger sowie angegliederte Gesellschaften und viele Einzelpersonen zusammen mit SuNatCo in den Untergang gerissen werden würden. Ob die First Mercantile American Bank dazugehören würde oder ob die Bank ihren enormen Verlust überleben konnte, das war eine noch offene Frage.
Keine offene Frage mehr war - wie Heyward genau wußte -das Thema seiner eigenen Karriere. In der FMA war er als der Urheber der größten Kalamität in der einhundertjährigen Geschichte der Bank praktisch erledigt. Noch ungeklärt war nur, ob er nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen persönlich haftbar war. Offensichtlich gab es Leute, die das annahmen. Am Vortag hatte ein Beamter der Börsenaufsicht, den Heyward gut kannte, ihm eindringlich geraten: »Roscoe, ich glaube, Sie sollten sich jetzt einen Anwalt nehmen.«
Als Heyward kurz nach Beginn des Geschäftstages in seinem Büro den Bericht über den Supranational-Konkursantrag auf Seite eins des »Wall Street Journal« las, zitterten seine Hände. Er wurde von seiner Chefsekretärin, Mrs. Callaghan, unterbrochen. »Mr. Heyward - Mr. Austin ist hier.«
Ohne die Aufforderung abzuwarten, betrat Harold Austin eilig das Büro. Im Gegensatz zu seiner normalen Erscheinung wirkte der alternde Playboy heute nur noch wie ein zu auffällig gekleideter alter Mann. Sein Gesicht war angespannt, ernst und blaß; die Säcke unter seinen Augen waren Altersringe, und sie zeugten von Mangel an Schlaf.
Er verschwendete keine Zeit mit einleitenden Worten. »Haben Sie irgendwas von Quartermain gehört?«
Heyward zeigte auf das »Journal«. »Nur, was ich lese.« Während der letzten beiden Wochen hatte er mehrere Male versucht, Big George telefonisch in Costa Rica zu erreichen; ohne Erfolg. Der SuNatCo-Vorsitzende ließ sich von niemandem sprechen. In den kargen Berichten, die an die Außenwelt drangen, hieß es, er lebe inmitten feudaler Pracht, geschützt von einer kleinen Armee von Schlägern, und habe -nach seinen eigenen Worten - nicht die Absicht, jemals in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Es galt als allgemein bekannt, daß Costa Rica auf Auslieferungsanträge der Vereinigten Staaten nicht reagierte. Das hatten andere Schwindler und Flüchtlinge schon bewiesen.
»Ich bin ruiniert«, sagte The Hon. Harold. Seine Stimme schien ihm jeden Augenblick den Dienst versagen zu wollen. »Ich habe einen großen Teil des Familientrusts in SuNatCo gesteckt, und ich selbst bin verschuldet, weil ich Geld aufgenommen habe, um Q-Investments zu kaufen.«
»Wie steht es mit Q-Investments?«
Heyward hatte schon versucht, Klarheit über die Situation von Quartermains privater Gruppe zu gewinnen, die der FMA zwei Millionen Dollar schuldete, zusätzlich zu den fünfzig Millionen Schulden der Supranational.
»Soll das heißen, daß Sie es noch nicht gehört haben?«
»Meinen Sie, ich würde sonst fragen?« entgegnete Heyward aufbrausend.
»Ich habe es gestern abend von Inchbeck erfahren. Das Schwein Quartermain hat den gesamten Aktienbesitz von Q-Investments - zum größten Teil Aktien von SuNatCo-Töchtern - abgestoßen, als die Notierung der Gruppe auf dem Gipfelpunkt war. Er muß ein Schwimmbad voll Bargeld gehabt haben.«
Und darunter die zwei Millionen von der FMA, dachte Heyward. Er fragte: »Was hat er damit gemacht?«
»Er hat alles an seine eigenen Briefkastenfirmen im Ausland überwiesen, der Hund, und dann hat er das Geld von ihnen abgezogen, so daß Q-Investments jetzt nur noch Anteile an diesen Briefkastenfirmen besitzt - also wertloses Papier.« Heyward empfand Ekel, als Austin zu schluchzen begann. »Das gute Geld... mein Geld... kann in Costa Rica sein, auf den Bahamas, in der Schweiz... Roscoe, Sie müssen mir helfen, es wiederzubekommen... Sonst bin ich erledigt... pleite.«
Mit harter Stimme sagte Heyward: »Ich habe keine Möglichkeit, Ihnen zu helfen, Harold.« Er hatte mit seiner eigenen Rolle in Q-Investments genug Sorgen; da konnte er sich nicht auch noch mit Austin belasten.
»Aber wenn Sie etwas Neues hören... wenn es irgendeine Hoffnung gibt... «
»Wenn es die gibt, sage ich es Ihnen.«
So schnell, wie er konnte, schob Heyward Austin aus dem Büro. Kaum war er gegangen, als Mrs. Callaghan über die Sprechanlage meldete: »Hier ist ein Reporter vom >Newsday< in der Leitung. Er heißt Endicott. Es handelt sich um Supranational, und er sagt, es sei sehr wichtig, daß er mit Ihnen persönlich spricht.«
»Sagen Sie ihm, ich habe nichts zu erklären, und er soll die PR-Abteilung anrufen.« Heyward hatte sich an das erinnert, was Dick French den Direktoren eingeschärft hatte: Die Presse wird versuchen, Kontakt zu jedem einzelnen von Ihnen aufzunehmen... verweisen Sie alle an mich. Wenigstens das war eine Last, die er nicht zu tragen brauchte.
Augenblicke später hörte er Dora Callaghans Stimme wieder: »Es tut mir leid, Mr. Heyward.«
» Was ist denn?«
»Mr. Endicott ist noch immer in der Leitung. Er hat mich gebeten, Ihnen zu sagen: Möchten Sie, daß er Miss Avril Devereaux mit der PR-Abteilung erörtert, oder wäre es Ihnen lieber, selbst über sie zu sprechen?«
Heyward riß einen Hörer ans Ohr. »Was hat das alles zu bedeuten?«
»Guten Morgen, Sir«, sagte eine ruhige Stimme. »Ich bitte um Entschuldigung wegen der Störung. Hier spricht Bruce Endicott vom >Newsday<.«
»Sie haben meiner Sekretärin gesagt...«
»Ich habe ihr gesagt, Sir, daß es meiner Meinung nach Dinge gibt, die Sie sicher lieber privat mit mir besprechen wollen, als daß ich mir bei Dick French Auskunft hole.«
Bildete er es sich ein, oder hatte der Mann das Wort »privat« fast unmerklich hervorgehoben? Heyward sagte: »Ich habe sehr viel zu tun. Ein paar Minuten kann ich erübrigen, mehr nicht.«
»Vielen Dank, Mr. Heyward. Ich fasse mich so kurz, wie ich kann. Unsere Zeitung hat Recherchen bei der Supranational Corporation angestellt. Wie Sie wissen, herrscht beträchtliches öffentliches Interesse, und wir bringen morgen einen längeren Artikel über dieses Thema. Unter anderem ist uns bekannt, daß Ihre Bank der SuNatCo einen hohen Kredit gewährt hat. Darüber habe ich mit Dick French gesprochen.«
»Dann haben Sie also alle Informationen, die Sie brauchen.«
»Nicht ganz, Sir. Wir haben von anderer Seite erfahren, daß Sie persönlich den Supranational-Kredit ausgehandelt haben, und es entsteht die Frage, wann das Thema zuerst angeschnitten worden ist. Damit meine ich, wann hat die SuNatCo zum ersten Mal um das Geld gebeten? Erinnern Sie sich zufällig daran?«
»Ich fürchte nein. Ich habe mit vielen Großkrediten zu tun.«
»Aber doch sicher nicht mit vielen, die sich auf fünfzig Millionen belaufen.«
»Ich glaube, ich habe Ihre Frage schon beantwortet.«
»Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Sir. Könnte es im März während einer Reise nach den Bahamas gewesen sein? Eine Reise, die Sie zusammen mit Mr. Quartermain, Vizepräsident Stonebridge und einigen anderen unternommen haben?«
Heyward zögerte. »Ja, könnte sein.«
»Können Sie mit Bestimmtheit sagen, daß es damals war?« Die Stimme des Reporters klang äußerst respektvoll, aber es war kein Zweifel, daß er sich nicht mit Ausflüchten abspeisen lassen würde.
»Ja, jetzt kann ich mich wieder erinnern. Es war damals.«
»Vielen Dank, Sir. Sie waren auf der Reise damals, glaube ich, Passagier in Mr. Quartermains Privat-Jet - einer 707?«
»Ja.«
»Mit einer Anzahl junger Damen als Begleiterinnen.«
»Begleiterinnen würde ich nicht sagen. Ich erinnere mich schwach, daß mehrere Stewardessen an Bord waren.«
»War eine von ihnen Miss Avril Devereaux? Haben Sie sie damals kennengelernt, und sind Sie ihr auch während der folgenden Tage auf den Bahamas begegnet?«
»Schon möglich. Der Name, den Sie genannt haben, kommt mir bekannt vor.«
»Mr. Heyward, verzeihen Sie mir, wenn ich es einfach so sage, aber hat man Ihnen Miss Devereaux angeboten - sexuell, meine ich - als Gegenleistung dafür, daß Sie sich für die Gewährung des Supranational-Kredits einsetzen?«
»Ganz sicher nicht!« Heyward schwitzte jetzt, die Hand, die den Hörer hielt, zitterte. Er fragte sich, wieviel dieser Inquisitor mit der glatten Stimme schon wußte. Natürlich könnte er das Gespräch hier und jetzt beenden; das wäre vielleicht das beste, aber tat er es, dann würde er weiter darüber nachgrübeln und im Ungewissen bleiben.
»Aber ist es als Folge dieser Reise zu den Bahamas, Sir, zu einer Freundschaft zwischen Ihnen und Miss Devereaux gekommen?«
»Vielleicht könnte man es so bezeichnen. Sie ist eine angenehme, reizende junge Dame.«
»Sie erinnern sich also doch an sie?«
Er war in die Falle gegangen. Er gab zu: »Ja.«
»Danke, Sir. Übrigens, haben Sie Miss Devereaux in der Folgezeit wiedergesehen?«
Die Frage wurde ganz beiläufig gestellt. Aber dieser Mann Endicott wußte es. Heyward bemühte sich um Festigkeit in der Stimme und sagte: »Ich habe nicht die Absicht, weitere Fragen zu beantworten. Ich sagte Ihnen schon, daß ich sehr viel zu tun habe.«
»Wie Sie wünschen, Sir. Aber ich meine, wir sollten Sie davon in Kenntnis setzen, daß wir mit Miss Devereaux gesprochen haben und daß sie sich äußerst kooperativ gezeigt
Äußerst kooperativ? Das war anzunehmen bei Avril, dachte Heyward. Vor allem, wenn die Zeitung sie bezahlte, und das war sicherlich geschehen. Aber er empfand keine Bitterkeit beim Gedanken an sie; Avril war nun einmal so, und nichts konnte je die Süße zerstören, die sie ihm gegeben hatte.
Der Reporter sprach weiter: »Sie hat uns Einzelheiten Ihrer Begegnungen mit ihr mitgeteilt, und wir besitzen einige Rechnungen vom Columbia Hilton - Ihre Rechnungen, bezahlt von Supranational. Möchten Sie Ihre Erklärungen noch einmal überdenken, Sir, daß das alles nichts mit dem Kredit der First Mercantile American Bank an Supranational zu tun hatte?«
Heyward schwieg. Was konnte er sagen? Verwünscht sollten sie sein, alle Zeitungen und Reporter, mitsamt ihrer Besessenheit, im Privatleben anderer Leute herumzuschnüffeln, zu bohren, bohren, bohren! Offensichtlich hatte man jemanden von SuNatCo zum Reden gebracht, hatte ihn veranlaßt, Papiere zu stehlen oder zu kopieren. Ihm fiel ein, daß Avril etwas von einer »Liste« gesagt hatte - einem vertraulichen Verzeichnis all derer, die auf Kosten von Supranational bewirtet werden durften. Eine Zeitlang hatte sein eigener Name darauf gestanden. Wahrscheinlich waren sie auch im Besitz dieser Information. Die Ironie lag natürlich darin, daß Avril in keiner Weise seine Entscheidung über den SuNatCo-Kredit beeinflußt hatte. Lange bevor er sich mit ihr eingelassen hatte, stand schon sein Entschluß fest, den Kredit zu empfehlen. Wer aber würde ihm das glauben?
»Nur noch eins, Sir.« Offensichtlich nahm Endicott an, daß eine Antwort auf die letzte Frage ausbleiben würde. »Darf ich nach einer privaten Kapitalanlagegesellschaft namens Q-Investments fragen? Um Zeit zu sparen, will ich Ihnen gleich sagen, daß wir Kopien einiger Akten besitzen, und Sie sind aufgeführt als Inhaber von zweitausend Anteilen. Stimmt das?«
»Mr. Heyward, hat man Ihnen diese Anteile als Vergütung für die Beschaffung des Supranational-Kredits und weiterer Kredite von insgesamt zwei Millionen Dollar an Q-Investments überlassen?«
Ohne ein Wort legte Roscoe Heyward langsam den Hörer auf die Gabel.
In der morgigen Ausgabe, hatte der Anrufer gesagt. Alles würden sie drucken, da sie ganz offensichtlich die Beweise hatten, und was eine Zeitung erst einmal anfing, das wiederholten dann die anderen Medien. Er hatte keine Illusionen, keine Hoffnung hinsichtlich dessen, was nun folgen mußte. Ein Zeitungsartikel, ein Reporter, das bedeutete Schande - totale, absolute Schande. Nicht nur in der Bank, auch bei Freunden, in der Familie. In seiner Kirche, überall. Sein Prestige, sein Einfluß, sein Stolz, alles würde sich auflösen; zum ersten Mal erkannte er, was für eine brüchige Maske das alles war. Schlimmer noch war die Gewißheit strafrechtlicher Verfolgung wegen passiver Bestechung, die Möglichkeit anderer Anklagen, die Wahrscheinlichkeit, ins Gefängnis zu kommen.
Manchmal hatte er darüber nachgedacht, wie wohl den einst so stolzen Nixon-Komplicen zumute sein mochte, tief herabgestürzt von ihren hohen Ämtern, unter schwerer Anklage vor Gericht, mit anderen Verbrechern in der Fingerabdruckkartei, jeder Würde entkleidet, gewogen und zu leicht befunden von Geschworenen, die sie vor nicht langer Zeit noch voller Verachtung ignoriert hätten. Jetzt wußte er es. Oder würde es bald wissen.
Ein Wort aus der Schöpfungsgeschichte kam ihm in den Sinn: Meine Sünde ist größer, denn daß sie mir vergeben werden möge.
Ein Telefon läutete auf seinem Schreibtisch. Er ignorierte es.
Fast ohne es wahrzunehmen, stand er auf und ging aus dem Büro hinaus, vorbei an Mrs. Callaghan, die ihn mit einem merkwürdigen Blick ansah und ihm eine Frage stellte, die er weder aufnahm noch beantwortet hätte, wäre sie ihm ins Bewußtsein gedrungen. Er ging den Korridor des sechsunddreißigsten Stocks entlang, vorüber am DirektoriumSitzungszimmer, vor so kurzer Zeit noch die Arena seines Ehrgeizes. Mehrere Leute sprachen ihn an. Er beachtete sie nicht. Nicht weit hinter dem Sitzungszimmer befand sich eine kleine, selten benutzte Tür. Er machte sie auf. Dahinter waren Treppen, die hinauf führten, und er stieg sie empor, mehrere Treppenabsätze und Wendungen nahm er mit gleichmäßigem Schritt, weder eilig noch zögernd.
Einst, als der Tower der FMA-Zentrale ganz neu war, hatte Ben Rosselli seine Direktoren diesen Weg geführt. Roscoe Hey ward gehörte zu ihnen, und sie waren durch eine andere kleine Tür hinausgegangen, die er jetzt vor sich sehen konnte. Heyward öffnete sie und trat hinaus auf einen schmalen Balkon, der sich fast auf dem höchsten Punkt des Gebäudes befand, hoch über der Stadt.
Ein rauher Novemberwind traf ihn mit ruppiger Gewalt. Er stemmte sich dagegen und empfand ihn beinahe als beruhigend, so als hülle er ihn ein. Damals, erinnerte er sich, hatte Ben Rosselli die Arme zur Stadt hin ausgebreitet und gesagt: »Meine Herren, was einst hier war, das war das Gelobte Land meines Großvaters. Was Sie heute sehen, ist unseres. Denken Sie immer daran - wie er es tat -, daß wir, wollen wir im wahrsten Sinne des Wortes profitieren, ihm etwas geben, nicht nur nehmen müssen.« Es schien sehr lange her zu sein, dem Gebot nach ebenso wie nach der Zeit. Jetzt sah Heyward in die Tiefe. Er konnte kleinere Gebäude sehen, den windungsreichen, allgegenwärtigen Fluß, den Verkehr, Menschen, die sich tief unten auf der Rosselli Plaza wie Ameisen bewegten. Mit dem Wind kamen die Geräusche von alledem zu ihm, gedämpft und vermischt.
Er schob ein Bein über das hüfthohe Geländer, das den Balkon von einem schmalen, nicht geschützten Mauervorsprung trennte. Sein zweites Bein folgte. Bis zu diesem Augenblick hatte er keine Furcht empfunden, aber jetzt zitterte er am ganzen Körper, und seine Hände umklammerten fest das Geländer in seinem Rücken.
Irgendwo hinter sich hörte er aufgeregte Stimmen, Füße, die über die Treppen rannten. Irgend jemand schrie: »Roscoe!«
Sein vorletzter Gedanke war eine Zeile aus dem 1. Buch Samuelis: Gehe hin, der Herr sei mit dir. Der letzte galt Avril. O du Schönste unter den Weibern... Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her!
Dann, als Gestalten durch die Tür hinter ihm stürmten, schloß er die Augen und tat einen Schritt nach vorn ins Nichts.
Es gab ein paar Tage in jedermanns Leben, dachte Alex Vandervoort, die blieben scharf und schmerzhaft eingegraben im Gedächtnis, so lange man atmete und sich an irgend etwas erinnerte. Der Tag - vor wenig mehr als einem Jahr -, an dem Ben Rosselli von seinem bevorstehenden Tod gesprochen hatte, war so ein Tag gewesen. Heute war ein anderer.
Es war Abend. Zu Hause in seiner Wohnung wartete Alex -noch unter dem Schock des eben Geschehenen, unsicher und entmutigt - auf Margot. Bald würde sie hier sein. Er mischte einen zweiten Scotch mit Soda und warf ein Scheit auf das Feuer, das heruntergebrannt war.
An diesem Morgen war er als erster durch die Tür auf den hohen Turmbalkon gekommen; er war die Treppen hinaufgerannt, nachdem er besorgte Äußerungen über Heywards Gemütsverfassung gehört und - nach raschen Fragen an andere - gefolgert hatte, wohin Roscoe gegangen sein konnte. Alex hatte aufgeschrien, als er durch die Tür ins Freie stürzte, aber er war zu spät gekommen.
Der Anblick Roscoes, der einen Augenblick lang in der Luft zu hängen schien, der dann mit einem entsetzlichen, rasch verhallenden Schrei aus dem Blickfeld verschwunden war, hatte Alex mit Schrecken erfüllt; er zitterte am ganzen Leibe und war Augenblicke lang außerstande, ein Wort zu sagen. Tom Straughan, der auf der Treppe unmittelbar hinter ihm war, hatte dann die Initiative ergriffen und befohlen, den Balkon zu räumen, ein Befehl, dem Alex schweigend gehorcht hatte.
Später, so sinnlos es nun auch schien, hatte man die Tür zum Balkon verschlossen.
Wieder in den sechsunddreißigsten Stock zurückgekehrt, hatte Alex sich zusammengenommen und war zu Jerome Patterton gegangen, um ihm zu berichten. Der Rest des Tages war ein Gemisch von Ereignissen, Entscheidungen, Einzelheiten gewesen, die aufeinander folgten und ineinander übergingen, bis das Ganze zu einem Nachruf auf Heyward wurde, der auch jetzt noch nicht fertig war, und mehr davon würde der morgige Tag bringen. Heute aber hatte man Roscoes Frau und Sohn benachrichtigt und sie getröstet; Erkundigungen der Polizei waren - wenigstens zum Teil - beantwortet worden; Vorbereitungen des Begräbnisses mußten geregelt werden - da der Tote unkenntlich war, würde man den Sarg verschließen, sobald die Behörden die Genehmigung erteilten; es gab eine von Dick French entworfene, von Alex genehmigte Presseerklärung; und immer neue Fragen wurden beantwortet oder aufgeschoben.
Antworten auf andere Fragen wurden Alex am Spätnachmittag klarer, kurz nachdem Dick French ihm empfohlen hatte, einen Anruf von einem »Newsday« -Reporter namens Endicott entgegenzunehmen. Als Alex mit ihm sprach, wirkte der Reporter verstört. Er sagte, er habe vor wenigen Minuten die AP-Meldung über Roscoe Heywards vermuteten Selbstmord gelesen. Endicott berichtete von seinem Telefongespräch an diesem Vormittag mit Heyward und was dabei herausgekommen sei. »Wenn ich geahnt hätte...«, schloß er lahm.
Alex versuchte nicht, dem Reporter Trost zu spenden. Sollte er doch selbst ins reine kommen mit den Moralbegriffen seines Berufes. Er fragte nur: »Druckt Ihre Zeitung den Bericht auch jetzt noch?«
»Ja, Sir. Die Redaktion schreibt einen neuen Vorspann. Davon abgesehen, erscheint er morgen wie geplant.«
»Warum haben Sie mich dann angerufen?«
»Ich glaube, ich wollte nur zu irgend jemand sagen - daß es mir leid tut.«
»Ja«, sagte Alex. »Mir auch.«
An diesem Abend dachte Alex noch einmal über das Gespräch nach, und er bedauerte Roscoe wegen der inneren Qual, die er in jenen letzten Minuten erlitten haben mußte.
Auf ganz anderer Ebene konnte nicht bezweifelt werden, daß die »Newsday«-Geschichte, wenn sie morgen erschien, der Bank schweren Schaden zufügen würde. Schaden wurde auf Schaden gehäuft. Obwohl es Alex gelungen war, den Run in Tylersville zu beenden, und obwohl es anderswo nicht zu einem sichtbaren Sturm auf die Schalter gekommen war, hatte es doch einen Schwund des Vertrauens im Publikum gegenüber der First Mercantile American gegeben und ein Abbröckeln der Einlagen. Während der letzten zehn Tage waren fast vierzig Millionen Dollar abgehoben worden, und die Einzahlungen blieben weit hinter der üblichen Höhe zurück. Gleichzeitig war der Kurs der FMA-Aktien an der New Yorker Börse stark abgerutscht.
Natürlich stand die FMA in dieser Beziehung nicht allein da. Seit der ursprünglichen Nachricht von der Illiquidität der Supranational hatte sich Besorgnis unter den Anlegern, der ganzen Geschäftswelt und auch unter den Bankern breitgemacht; die Kurse sackten allgemein ab; im Ausland waren erneute Zweifel am Wert des Dollars entstanden; einigen erschien das alles als die letzte deutliche Warnung vor dem großen Sog der weltweiten Depression.
Es war, dachte Alex, als habe der Sturz eines Riesen die Einsicht gebracht, daß auch andere Riesen, die einst als unverwundbar gegolten hatten, stürzen könnten; daß weder Menschen noch Konzerne, noch Regierungen jeglicher Couleur sich auf ewig dem einfachsten aller Gesetze der Buchführung entziehen konnten - daß man eines Tages zahlen muß, was man schuldet.
Lewis D'Orsey, der diese Doktrin seit zwei Jahrzehnten gepredigt hatte, schrieb etwa das gleiche in seinem neuesten »Newsletter«. Alex hatte den Informationsbrief an diesem Morgen in der Post gefunden, hatte einen Blick darauf geworfen und ihn dann in die Tasche gesteckt, um ihn abends aufmerksamer zu lesen. Jetzt zog er den Brief aus der Tasche.
Glauben Sie der eilfertig feilgebotenen Legende nicht (schrieb Lewis), daß Konzern-, Staats- oder internationalen Finanzen etwas Kompliziertes, kaum Faßliches anhaftet, das sich der leichten Analyse entzieht.
Es ist alles nichts weiter als einfaches Haushalten - ganz gewöhnliches Haushalten, nur in größerem Maßstab.
Die angeblichen Verwicklungen und Verflechtungen, das ganze Dickicht existiert nur in der Einbildung. Das alles gibt es in Wirklichkeit nicht, sondern ist nur von Politikern auf Stimmenfang (das heißt, von allen Politikern), von Manipulatoren und keyneskranken »Wirtschaftswissenschaftlern« geschaffen worden. Sie alle gebrauchen ihr Hexenmeister-Kauderwelsch, um zu vertuschen, was sie tun und was sie getan haben.
Am meisten Angst haben diese Schwachköpfe davor, daß wir ganz schlicht ihr Tun im klaren und ehrlichen Licht der Vernunft betrachten.
Denn sie - die Politiker zumeist - haben auf der einen Seite Schulden von Himalajahöhe angehäuft, die sie nicht, wir nicht und unsere Ur-Ur-Ur-Urenkel auch nicht bezahlen können, nie und nimmer. Und auf der anderen Seite haben sie, als produzierten sie Toilettenpapier, eine Flut von Scheinen gedruckt, haben damit unser gutes Geld zuschanden gemacht - insbesondere den grundsoliden, auf Gold gegründeten Dollar, den die Amerikaner einst in der Tasche hatten.
Wir wiederholen: Es ist alles nichts weiter als einfaches Haushalten - das allerunfähigste, allerunehrlichste Haushalten in der Geschichte des Menschen.
Dies, und dies allein, ist der eigentliche Grund der Inflation.
Es folgte noch mehr von der Sorte. Lewis war es lieber, zu viele als zu wenige Worte zu machen.
Und wie üblich hatte Lewis auch eine Lösung für alle wirtschaftlichen Mißstände parat.
Wie ein Becher Wasser für einen verdurstenden Wanderer, so steht eine Lösung bereit und fertig, wie es immer der Fall war und immer sein wird.
Gold.
Gold wieder als Basis für die Geldsysteme der Welt. Gold, die älteste, die einzige Bastion der monetären Integrität. Gold, die einzige nicht zu korrumpierende Quelle der wirtschaftlichen Disziplin.
Gold, das Politiker nicht drucken oder machen oder fälschen oder auf andere Weise erniedrigen können.
Gold, das durch sein eigenes streng begrenztes Vorkommen seinen eigenen realen, dauernden Wert schafft.
Gold, das durch diesen beständigen Wert, als Deckung des Geldes, die ehrlichen Ersparnisse aller Menschen vor der Ausplünderung durch Schufte, Scharlatane, Unfähige und Träumer in Ämtern und Behörden schützt.
Gold, das über die Jahrhunderte hin bewiesen hat:
- ohne Gold als Währungsdeckung kommt es unweigerlich zu Inflation, gefolgt von Anarchie;
- mit Gold kann Inflation eingedämmt und beseitigt, die Stabilität geschützt werden.
Gold, das Gott in seiner Weisheit womöglich geschaffen hat, um die Ausschweifung des Menschen zu Gold - »so gut wie Gold«, hatten die Amerikaner einst voller Stolz von ihrem Dollar gesagt.
Gold, zu dem Amerika in absehbarer Zeit in Ehren als seinem Standard zurückkehren muß. Die Alternative -und das wird von Tag zu Tag klarer - ist die wirtschaftliche und nationale Auflösung. Zum Glück mehren sich schon jetzt trotz aller Skepsis und trotz der goldfeindlichen Fanatiker die Anzeichen reiferen Urteils in der Regierung, Anzeichen für eine Rückkehr zur Vernunft...
Alex legte »The D'Orsey Newsletter« hin. Wie viele im Bankgeschäft und in anderen Wirtschaftszweigen hatte er bisweilen über die engstirnigen Goldkäfer gespottet - Lewis D'Orsey, Harry Schultz, James Dines, den Abgeordneten Crane, Exter, Browne, Pick, eine Handvoll andere. In letzter Zeit jedoch hatte er angefangen, sich zu fragen, ob sie mit ihren simplen Ansichten nicht doch recht haben könnten. Ebenso wie an das Gold glaubten sie ans laissez-faire, an das freie, unbehinderte Funktionieren der Marktwirtschaft, in der man zuließ, daß untüchtige Firmen scheiterten und tüchtige Erfolg hatten, und wo der Teufel den letzten holte. Auf der anderen Seite der Medaille gab es die Keynes-Theoretiker, die das Gold haßten und darauf schworen, an der Wirtschaft herumzubasteln, auch mit den Mitteln der Subventionen und Kontrollen, was sie dann die »Feinabstimmung« nannten. Konnte es sein, daß die Keynesianer die Ketzer waren, fragte Alex sich, und D'Orsey, Schultz und die anderen die wahren Propheten? Vielleicht. Andere Propheten waren einsame, verhöhnte Rufer gewesen, und doch hatten einige es erlebt, daß ihre Prophezeiungen Wirklichkeit wurden. Eine Überzeugung, die Alex mit Lewis und den anderen teilte, war der Glaube, daß schlimmere Zeiten kurz bevorstünden. Sie waren, was die FMA betraf, schon Er hörte das Geräusch eines sich im Schloß drehenden Schlüssels. Die Wohnungstür ging auf, und Margot kam herein. Sie schlüpfte aus einem Kamelhaarmantel und warf ihn auf einen Stuhl.
»O Gott, Alex. Ich muß immer an Roscoe denken. Wie konnte er das nur tun? Warum?«
Sie ging ohne Umweg zur Bar und mixte sich einen Drink.
»Es scheint Gründe gegeben zu haben«, sagte er langsam. »Sie kommen allmählich ans Licht. Wenn es dir recht ist, Bracken, dann reden wir noch nicht darüber.«
»Ich verstehe.« Sie ging zu ihm. Er hielt sie eng an sich gepreßt, als sie sich küßten.
Nach einiger Zeit sagte er: »Erzähle mir von Eastin, Juanita, dem kleinen Mädchen.«
Seit dem vergangenen Tag hatte Margot alles, was die drei betraf, fest in die Hand genommen.
Sie setzte sich ihm gegenüber und trank einen Schluck. »Es kommt so viel zusammen, alles auf einmal...«
»Das ist manchmal so.« Er fragte sich, was noch passieren mochte, bevor dieser Tag endlich zu Ende ging.
»Fangen wir mit Miles an«, sagte Margot. »Er ist nicht mehr in Lebensgefahr, und vor allem wird er, durch ein Wunder, nicht blind. Die Ärzte nehmen an, daß er die Augen zugemacht hat, einen Bruchteil einer Sekunde, bevor die Säure ihn traf, so daß die Augenlider ihn gerettet haben. Die sind natürlich fürchterlich verbrannt, wie sein ganzes Gesicht auch, und er wird eine plastische Operation nach der anderen durchmachen müssen.«
»Und seine Hände?«
Margot nahm ein Notizbuch aus der Handtasche und schlug es auf. »Das Krankenhaus hat sich mit einem Chirurgen an der Westküste in Verbindung gesetzt - einem Dr. Jack Tupper aus Oakland. Er gilt als der beste Mann im ganzen Land für chirurgische Wiederherstellung von Händen. Man hat ihn telefonisch konsultiert. Er hat zugesagt, Mitte nächster Woche herzufliegen und zu operieren. Ich nehme an, daß die Bank die Kosten übernimmt.«
»Ja«, sagte Alex. »Das wird sie tun.«
»Ich habe mit FBI-Agent Innes gesprochen«, fuhr Margot fort. »Er sagt, daß man ihm als Gegenleistung für seine gerichtliche Aussage Straffreiheit zubilligen und ihm irgendwo anders im Lande eine neue Existenz unter anderem Namen ermöglichen wird.« Sie legte das Notizbuch hin. »Hat Nolan heute schon mit dir gesprochen?«
Alex schüttelte den Kopf. »Es war nicht viel Zeit dazu.«
»Er wird dich bitten, deinen Einfluß geltend zu machen, um Miles zu einem Job zu verhelfen. Nolan sagt, wenn's nötig wird, will er bei dir mit der Faust auf den Tisch schlagen, damit du etwas tust.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Alex. »Unserer Holding gehören Verbraucherkredit-Läden in Texas und in Kalifornien. Da werden wir schon irgendwo etwas für Eastin finden.«
»Vielleicht stellen die ja auch Juanita an. Sie sagt, sie wird mit ihm gehen, wo er auch hingeht. Estela auch.«
Alex seufzte. Er war froh, daß es wenigstens ein Happy End in dem ganzen Unheil geben würde. Er fragte: »Was hat Tim McCartney zu dem Kind gesagt?«
Die Idee, Estela Nunez zu Dr. McCartney, dem Psychiater der Privatklinik, zu schicken, hatte Alex gehabt. Hatte das Kind, fragte Alex sich, durch die Entführung und Folterung seelische Schäden davongetragen, wenn ja, welche?
Aber der Gedanke an das Heim war für ihn jetzt auch eine bedrückende Erinnerung an Celia.
»Das eine kann ich dir sagen«, erklärte Margot. »Wenn du und ich geistig so gesund und ausgeglichen wären wie die kleine Estela, dann wären wir beide bessere Menschen. Dr. McCartney sagt, daß sie beide die ganze Sache gründlich durchgesprochen haben. Mit dem Ergebnis, daß Estela dieses Erlebnis nicht in ihrem Unterbewußtsein vergraben wird; sie wird sich deutlich daran erinnern - wie man sich an einen schlimmen Alptraum erinnert; mehr nicht.«
Alex spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. »Da bin ich froh«, sagte er leise. »Wirklich froh.«
»Es war viel los heute.« Margot reckte sich und streifte mit einer Fußbewegung die Schuhe ab. »Ich habe auch mit eurer Rechtsabteilung über eine Entschädigung für Juanita gesprochen. Ich glaube, wir kommen zu einer Einigung, ohne daß wir dich vor den Kadi zerren müssen.«
»Danke, Bracken.« Er nahm ihr Glas und sein eigenes, um nachzuschenken. Während er das tat, läutete das Telefon. Margot stand auf und meldete sich.
»Leonard Kingswood. Für dich.«
Alex ging quer durch das Wohnzimmer und nahm den Hörer. »Ja, Len?«
»Ich weiß, daß Sie Feierabend haben nach einem schlimmen Tag«, sagte der Vorsitzende von Northam Steel, »und mich hat das mit Roscoe auch mitgenommen. Aber was ich zu sagen habe, eilt.«
Alex zog eine Grimasse. »Also, dann schießen Sie los.«
»Es hat Beratungen unter Direktoren gegeben. Seit heute nachmittag sind wir zweimal zu Konferenzen gerufen worden, andere Besprechungen haben zwischendurch stattgefunden. Eine Vollsitzung des FMA-Direktoriums ist für morgen mittag angesetzt worden.«
»Und?«
»Der erste Punkt der Tagesordnung wird die Annahme des Rücktrittsgesuchs von Jerome als Präsident sein. Etliche von uns haben das verlangt. Jerome ist einverstanden. Ich habe sogar das Gefühl, daß er erleichtert war.«
Ja, dachte Alex, das sah Patterton ähnlich. Er hatte ganz offensichtlich nicht die Nerven für die plötzliche Lawine von Problemen, auch nicht für die kritischen Entscheidungen, die jetzt zu treffen waren.
»Danach«, sagte Kings wood mit gewohnter unverblümter Direktheit, »werden Sie zum Präsidenten gewählt, Alex. Die Ernennung tritt sofort in Kraft.«
Beim Sprechen hatte Alex den Hörer zwischen Schulter und Wange geklemmt und sich die Pfeife angezündet. Jetzt zog er daran und dachte nach. »Wie die Lage im Augenblick ist, Len, weiß ich nicht, ob ich den Job überhaupt haben möchte.«
»Man hat damit gerechnet, daß Sie das sagen könnten, deshalb hat man mich ausgewählt, Sie anzurufen. Sagen wir ruhig, daß ich Sie bitte, Alex; in meinem Namen, im Namen des Direktoriums.« Kingswood machte eine Pause, und Alex spürte, daß ihm die Sache schwer wurde. Zu betteln, das fiel einem Mann von Leonard L. Kingswoods Machart nicht leicht, aber er ließ nicht locker.
»Wir wissen alle, daß Sie uns vor Supranational gewarnt haben, aber wir haben uns damals für klüger gehalten. Also schön, das war falsch. Wir haben Ihren Rat in den Wind geschlagen, und jetzt ist eingetreten, was Sie vorausgesagt haben. Deshalb bitten wir Sie, Alex - ziemlich spät, das gebe ich zu -, uns aus dem Morast herauszuhelfen, in dem wir stecken. Ich darf ruhig sagen, daß einige Direktoren sich Sorgen machen wegen ihrer persönlichen Haftbarkeit. Wir wissen alle, daß Sie uns auch darauf hingewiesen haben.«
»Lassen Sie mich eine Minute nachdenken, Len.«
»Ich habe Zeit.«
Vielleicht, fand Alex, sollte er jetzt persönliche Befriedigung empfinden, weil er recht behalten hatte: Ich hab's euch ja gesagt; ein Machtgefühl, Trumpfkarten in der Hand zu haben -und die hatte er, wie er wußte.
Er empfand nichts dergleichen. Nur große Trauer über Fruchtlosigkeit und Vergeudung, weil über lange Zeit -angenommen, er hatte Erfolg - nicht mehr zu erreichen sein würde, als die Bank wieder in den Zustand zurückzuführen, in dem Ben Rosselli sie hinterlassen hatte.
War das der Mühe wert? Worum ging es eigentlich? Waren der außerordentliche Einsatz, das tiefe persönliche Engagement, das Opfer, die Anstrengung und Belastung überhaupt zu rechtfertigen? Und wofür das alles? Um eine Bank, einen Geldladen, eine Geldmaschine vor dem Scheitern zu retten. War Margots Arbeit unter den Armen und Benachteiligten nicht weit wichtiger als seine eigene, ein wertvollerer Beitrag zu ihrer beider Gegenwart? Aber so einfach war das alles nicht, denn Banken waren nötig, auf ihre Weise so wichtig wie das tägliche Brot. Die Zivilisation würde ohne ein Geldsystem zusammenbrechen. Banken waren zwar unvollkommen, aber sie machten das Geldsystem arbeitsfähig.
Das waren abstrakte Erwägungen; es gab auch eine praktische. Selbst wenn Alex in diesem späten Stadium die Führung der First Mercantile American übernahm, gib es keine Garantie für den Erfolg. Vielleicht würde er nur ruhmlos dem Hinscheiden der FMA präsidieren oder ihrer Übernahme durch eine andere Bank. In dem Fall würde man es nicht vergessen, auch sein Ruf als Banker wäre dann erledigt. Andererseits -wenn überhaupt jemand die Bank retten konnte, dann er; das wußte Alex. Er besaß nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Kenntnis der Interna. Einem Außenseiter würde die Zeit fehlen, um sich diese Kenntnis anzueignen. Noch wichtiger war: Trotz aller Probleme, trotz der späten Stunde - er glaubte, daß er es schaffen könnte.
»Wenn ich annehme, Len«, sagte er, »würde ich mir freie Hand für Veränderungen vorbehalten, auch im Direktorium.«
»Sie würden freie Hand bekommen«, antwortete Kingswood. »Dafür stehe ich persönlich ein.«
Alex zog an der Pfeife, legte sie dann hin. »Ich möchte darüber schlafen. Morgen früh haben Sie meine Entscheidung.«
Er legte auf und holte sein Glas von der Bar. Margot hatte sich ihres schon selbst geholt.
Sie sah ihn halb fragend, halb lächelnd an. »Warum hast du nicht angenommen? Wir beide wissen doch genau, daß du es tun wirst.«
»Du hast erraten, worum es geht.«
»Natürlich.«
»Warum glaubst du, daß ich annehme?«
»Weil dich die Aufgabe lockt. Weil das Bankgeschäft dein Leben ist. Alles andere kommt an zweiter Stelle.«
»Ich bin nicht so sicher«, sagte er langsam, »ob es mir recht wäre, wenn das stimmt.« Aber es hatte gestimmt, dachte er, als er noch mit Celia zusammen war. Stimmte es noch? Vielleicht, wie Margot es gesagt hatte. Wahrscheinlich konnte im Grunde kein Mensch aus seiner Haut.
»Übrigens wollte ich dich etwas fragen«, sagte Margot. »Das kann ich ebensogut auch jetzt tun.«
Er nickte. »Ich höre.«
»An dem Abend in Tylersville, während des Sturms auf die Schalter, haben die beiden alten Leute mit den Ersparnissen ihres ganzen Lebens im Einkaufsnetz dich gefragt: Ist unser Geld in Ihrer Bank absolut sicher? Du hast mit >Ja< geantwortet. Warst du deiner Sache wirklich sicher?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, antwortete Alex. »Gleich danach, und später auch. Wenn ich Farbe bekennen soll, dann muß ich wohl sagen: Nein, ich war mir nicht sicher.«
»Aber die Bank hast du damit gerettet, nicht wahr? Und das ging vor. Es war dir wichtiger als die alten Leute und die anderen alle; wichtiger auch als Aufrichtigkeit, denn das allerwichtigste war: Das Geschäft geht weiter.« Plötzlich schwang in Margots Stimme tiefes Gefühl mit. »Und deshalb wirst du auch weiter versuchen, die Bank zu retten, Alex - denn das ist dir das allerwichtigste. So war es bei dir und Celia. Und«, sagte sie langsam, »so würde es auch - wenn du wählen müßtest - bei dir und mir sein.«
Alex schwieg. Was konnte er sagen, was konnte irgendein Mensch schon sagen, wenn er mit der nackten Wahrheit konfrontiert wurde?
»Am Ende also«, sagte Margot, »bist du gar nicht so viel anders als Roscoe. Oder als Lewis.« Mit Unbehagen nahm sie »The D'Orsey Newsletter« auf. »Stabilität im Geschäftsleben, solides Geld, Gold, hohe Aktienpreise. Das alles geht vor. Die Menschen - vor allem kleine, unwichtige Menschen - kommen erst sehr viel später. Das ist der tiefe Graben zwischen uns, Alex. Den wird es immer geben.« Er sah, daß sie weinte.
Im Korridor draußen ertönte ein Summer.
Alex fluchte. »Verdammt, ewig wird man unterbrochen!«
Mit langen Schritten ging er zu der Sprechanlage, die die Wohnung mit dem Pförtner verband. »Ja, was ist?«
»Mr. Vandervoort, eine Dame fragt nach Ihnen. Mrs. Callaghan.«
»Ich kenne keine...« Er hielt inne. Heywards Sekretärin? »Fragen Sie sie, ob sie von der Bank ist.«
Eine Pause.
»Ja, Sir.«
»Gut. Schicken Sie sie rauf.«
Alex sagte Margot, wer da kam. Neugierig warteten sie. Als er den Fahrstuhl ankommen hörte, ging er an die Tür und machte sie auf.
»Bitte kommen Sie herein, Mrs. Callaghan.«
Dora Callaghan war eine attraktive, gepflegte Frau Ende Fünfzig. Sie hatte, wie Alex wußte, viele Jahre für die FMA gearbeitet und mindestens zehn davon für Roscoe Heyward. Normalerweise wirkte sie diszipliniert und selbstsicher, aber an diesem Abend sah sie nervös und müde aus.
Sie trug einen Wildledermantel mit Pelzbesatz, und in der Hand hatte sie einen Aktenkoffer. Alex sah, daß er der Bank gehörte.
»Mr. Vandervoort, es tut mir leid, daß ich Sie jetzt behellige... «
»Sie werden schon Ihre Gründe haben.« Er machte sie mit Margot bekannt, dann fragte er: »Möchten Sie etwas trinken?«
»Sehr gern.«
Einen Martini. Margot machte ihn zurecht. Alex nahm ihr den Wildledermantel ab. Sie setzten sich alle drei ans Feuer.
»Sie können ganz offen reden, auch wenn Miss Bracken dabei ist«, sagte Alex.
»Danke.« Dora Callaghan nahm einen großen Schluck Martini, dann stellte sie das Glas ab. »Mr. Vandervoort, ich habe heute nachmittag Mr. Heywards Schreibtisch aufgeräumt. Ich dachte, es könnte einiges dabei sein, was in Ordnung gebracht werden müßte, Dinge, die vielleicht einem anderen geschickt werden müßten.« Ihre Stimme schlug plötzlich in ein Schluchzen um, dann schwieg sie. Flüsternd sagte sie: »Bitte entschuldigen Sie.«
Begütigend sagte Alex: »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Wir haben Zeit.«
Als sie ihre Fassung wiedererlangt hatte, fuhr sie fort: »Einige Schubfächer waren verschlossen. Die Schlüssel dazu hatten Mr. Heyward und ich, wenn ich meine auch nicht oft benutzt habe.
Heute habe ich sie benutzt.«
Wieder schwieg sie, die beiden anderen warteten.
»In einer der Schubladen... Mr. Vandervoort, ich habe gehört, daß morgen früh Prüfer kommen. Ich dachte... vielleicht ist es besser, Sie sehen, was da drin war, da Sie besser wissen, was zu tun ist, besser als ich.«
Mrs. Callaghan klappte das lederne Aktenköfferchen auf und nahm zwei große Umschläge heraus. Als sie sie Alex hinüberreichte, sah er, daß jemand sie schon geöffnet hatte. Neugierig holte er den Inhalt heraus.
Der erste Umschlag enthielt vier Anteilscheine, jeder über 500 Stammaktien der Q-Investments und unterschrieben von G. G. Quartermain. Obwohl sie offensichtlich auf Namen von Strohmännern ausgestellt waren, hatten sie zweifellos Heyward gehört, dachte Alex. Ihm fielen die Beschuldigungen ein, die der »Newsday«-Reporter heute nachmittag erhoben hatte. Da lag die Bestätigung. Natürlich würde es weiterer Beweise bedürfen, wenn die Sache verfolgt werden sollte, aber es schien festzustehen, daß Heyward, einer der ranghöchsten Direktoren der Bank, ein Mann, dem alle vertraut hatten, sich hatte bestechen lassen. Wäre er noch am Leben, so hätte diese Erkenntnis strafrechtliche Verfolgung bedeutet.
Alex wurde noch deprimierter als vorhin schon. Er hatte Heyward nie gemocht. Sie waren Gegner gewesen, fast von dem Tage an, an dem Alex für die FMA gewonnen worden war. Aber keinen Augenblick lang, bis zu diesem Tage, hatte er an Roscoes persönlicher Integrität gezweifelt. Das bewies ja wohl, dachte er, daß man sich noch so fest einbilden mochte, einen anderen Menschen gut zu kennen, ohne in Wirklichkeit zu wissen, was in ihm vorging.
Alex empfand den Wunsch, dies alles möge gar nicht wahr sein, während er herausnahm, was in dem anderen Umschlag war. Es waren vergrößerte Fotografien von einer Gruppe von Menschen an einem Schwimmbad - vier Frauen und zwei Männer nackt und Roscoe Heyward bekleidet. Alex schoß die Vermutung durch den Kopf, daß es sich bei den Fotos um ein Souvenir von Heywards oft prahlerisch erwähnter Reise nach den Bahamas mit Big George Quartermain handeln müsse. Alex zählte zwölf Abzüge, als er sie auf einem Kaffeetisch ausbreitete, während Margot und Mrs. Callaghan zusahen. Aus den Augenwinkeln heraus erhaschte er einen Blick auf Dora Callaghans Gesicht. Ihre Wangen waren rot; sie war errötet. Errötet? Gab es das wirklich noch, dachte er.
Als er die Fotos betrachtete, hätte er am liebsten laut gelacht. Jeder einzelne auf diesen Bildern - ein anderes Wort gab es nicht - sah lächerlich aus. Auf einem Bild starrte Roscoe fasziniert die nackten Frauen an; auf einem anderen wurde er von einer dieser Frauen geküßt, während seine Finger ihre Brüste berührten. Harold Austin stellte einen schwammigen Körper zur Schau, einen herabhängenden Penis, ein törichtes Lächeln. Ein anderer Mann, mit dem Rücken zur Kamera, betrachtete die Frauen. Und was die Frauen betraf - nun ja, dachte Alex, einige mochten sie schon für attraktiv halten. Ihm selbst war Margot, voll bekleidet, jederzeit lieber.
Aber er lachte nicht - aus Respekt vor Dora Callaghan, die ihren Martini ausgetrunken hatte und jetzt aufstand. »Mr. Vandervoort, ich möchte mich jetzt verabschieden.«
»Es war richtig von Ihnen, daß Sie mir diese Dinge gebracht haben«, sagte er zu ihr. »Ich weiß das zu schätzen, und ich werde sie selbst in Verwahrung nehmen.«
»Ich bringe Sie hinaus«, sagte Margot. Sie holte Mrs. Callaghans Mantel und begleitete sie an den Fahrstuhl.
Alex stand an einem Fenster und sah hinaus auf die Lichter der Stadt, als Margot wieder hereinkam.
»Eine nette Frau«, stellte sie fest. »Und loyal.«
»Ja«, sagte er, und er dachte: Welche Veränderungen morgen und an den folgenden Tagen auch vorgenommen werden mußten, er würde dafür sorgen, daß Mrs. Callaghan rücksichtsvoll behandelt wurde. Auch an andere Leute würde man denken müssen. Auf seinen eigenen bisherigen Posten wollte Alex unverzüglich Tom Straughan befördern. Orville Young würden Heywards Schuhe nicht zu groß sein. Edwina D'Orsey mußte als Direktorin und Vizepräsidentin mit der Führung der Treuhandabteilung beauftragt werden; für diesen Posten hatte Alex Edwina schon seit geraumer Zeit vorgesehen, und er rechnete damit, daß sie bald noch weiter aufsteigen würde. Zunächst einmal mußte sie in das Direktorium aufgenommen werden, sofort.
Plötzlich wurde ihm bewußt: Er ging ja davon aus, daß er die Präsidentschaft der Bank übernahm. Margot hatte ihm das eben auf den Kopf zugesagt. Sie hatte wohl recht.
Er wandte sich von dem Fenster und der Dunkelheit da draußen ab. Margot stand an dem Kaffeetisch und betrachtete die Fotos. Plötzlich kicherte sie, und dann tat er, was er schon die ganze Zeit wollte: Er lachte zusammen mit ihr.
»O Gott!« sagte Margot. »Komisch- und traurig.«
Als sie genug gelacht hatten, bückte er sich, raffte die Abzüge zusammen und steckte sie wieder in den Umschlag. Er war versucht, das Päckchen ins Feuer zu werfen, aber er wußte, daß er das nicht durfte. Er hätte damit Beweismaterial vernichtet, das vielleicht noch gebraucht wurde. Aber er beschloß, nichts unversucht zu lassen, um diese Fotos keinem anderen vor Augen kommen zu lassen - um Roscoes willen.
»Komisch - und traurig«, wiederholte Margot. »Gilt das nicht für alles?«
»Ja«, sagte er, und in dem Augenblick wußte er, daß er sie brauchte, jetzt und immer.
Er nahm ihre Hände, und ihm fiel wieder ein, worüber sie gesprochen hatten, bevor Mrs. Callaghan kam. »Vielleicht gibt es Gräben zwischen uns«, sagte Alex, »aber die sollen dir egal sein! Wir haben auch eine Menge Brücken. Du und ich, wir sind gut füreinander. Wir wollen immer zusammen leben, Bracken, von diesem Augenblick an.«
Sie wandte ein: »Es wird wahrscheinlich nicht funktionieren, oder es wird nicht lange dauern. Die Chancen stehen gegen uns.«
»Dann wollen wir versuchen zu beweisen, daß es trotzdem klappt.«
»Natürlich gibt es was, was für uns spricht.« Margots Augen blitzten spitzbübisch. »Die meisten Paare, die einander geloben, sich >zu lieben und zu achten, bis der Tod uns scheidet< landen kaum ein Jahr später vor dem Scheidungsrichter. Wenn wir von Anfang an nicht allzuviel glauben und erwarten, halten wir uns vielleicht besser als die anderen.«
Als er sie in seine Arme nahm, sagte er zu ihr: »Manchmal reden Banker und Rechtsanwälte zuviel.«