Der Löwe zeigt die Krallen

Die Söhne

Die drei Knaben balgten sich auf dem Teppich wie junge Löwen. Sie griffen sich in die Strubbelköpfe, kreischten und schnauften. Hannibal warf sich auf Hasdrubal. Magon umklammerte Hannibals Hals und versuchte ihn wegzuzerren. Sie spielten Krieg. Hannibal war der Römer, und seine Brüder waren die Karthager. Die Streitkräfte hielten sich die Waage - Hannibal war neun, und seine Brüder waren, wenn man ihre Lebensjahre zusammenzählte, ebenso alt.

„Ergebt euch!" schrie Hannibal mit funkelnden Augen. „Ergebt euch, ihr Hunde!"

Aber die Kleinen dachten nicht daran. Magon kniff Hannibal in den Arm. Der holte aus, um dem bösen Feind eine Lehre zu erteilen. Diese Gelegenheit benutzte Hasdrubal, um ihm ein Bein zu stellen.

Hamilkar, ihr Vater, stand hinter dem Vorhang und beobachtete sie. Seine wulstigen Lippen zuckten, wie immer, wenn er erregt war. Vor vielen Jahren hatte er sich in demselben Zimmer, auf demselben Teppich mit seinen Brüdern gebalgt. Damals spielte er mit ihnen Karthager und Griechen. Doch später, als erwachsener Mann, führte er nicht gegen die Griechen, sondern gegen die Römer Krieg. Dreiundzwanzig Jahre dauerte dieser Krieg. Er nahm ihm seine Brüder und seinen Ruhm und endete mit einem demütigenden Frieden. Und während Karthago an den unerträglich hohen Tributen zahlte, mißbrauchten die Sklaven und Söldner seine Schwäche zu einer Meuterei. Auf diese Weise war Hamilkar gezwungen gewesen, gegen Männer zu Felde zu ziehen, die vorher unter seiner Führung in Sizilien gekämpft hatten. Er besiegte sie mit Hilfe der Elefanten und ließ sie kreuzigen, obgleich sie in der Vergangenheit seine tüchtigen Krieger gewesen waren. - Wo sollte er nun Ersatz für sie finden?

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte sich der kleine Hannibal auf Hasdrubal geworfen und fuchtelte mit den Fäusten, um sich Magon vom Leibe zu halten.

„Rom hat gesiegt", johlte Hannibal.


Hamilkar fuhr zusammen, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. Bis in sein eigenes Haus verfolgten ihn diese Worte, die wie eine schlecht verheilte Wunde schmerzten, wie eine Ohrfeige brannten. Er stürzte zu den Kindern. „Haltet den Mund!" schrie er.

Die Kinder sprangen erschrocken auf und blieben mit gesenktem Kopf vor dem Vater stehen. Seine Gegenwart schüchterte sie stets ein, weil sie ihn so selten zu Gesicht bekamen und gleichzeitig von ihrer Umgebung soviel über ihn hörten. Sein Name verband sich für sie mit den fremdartig klingenden Bezeichnungen von Städten und Ländern, in denen er Schlachten geschlagen hatte. Sie eiferten ihm in ihren Spielen doch nur nach. Trotzdem schalt er sie. Warum?

Magon preßte die kleinen Fäuste an die Augen und brach in Tränen aus. Hasdrubal verzog schmollend den Mund. Hannibal blickte forschend und verständnislos zu seinem Vater auf.

Dieser vorwurfsvolle Blick brachte Hamilkar zur Besinnung. Er war täglich darauf gefaßt, in jenes Land einzugehen, aus dem es keine Rückkehr gibt. Das war das Los eines Kriegers. Und immer, wenn ihn die Pfeile umschwirrten und neben ihm die Männer fielen, dachte er an seine Söhne. Er hoffte, daß sie nicht nur die wulstigen Lippen, das schwarze Haar und die gewölbte Stirn von ihm geerbt hatten, sondern auch seine Art zu denken. Oder war das nur Selbsttäuschung? Würden seine Söhne ein anderes Leben führen als er, mit einem anderen Ziel, mit anderen Wünschen? Wenn junge Löwen herangewachsen sind, zerstreuen sie sich in alle Welt. Gedenken sie dann noch ihres Löwenvaters, der ihnen einst die Beute in die Höhle brachte?

Überraschend zärtlich drückte Hamilkar die erhitzten Kinder an sich. Ja, es waren seine Söhne, seine jungen Löwen. Im vergangenen Jahr hatten sie die Mutter verloren und im Jahr davor die große Schwester. Er selbst war selten daheim; sie kannten ihn kaum. Sie hatten keinen, der sie liebkoste, der ihre kindlichen Freuden und Kümmernisse teilte. Verlassene junge Löwen!

„Hört auf zu flennen, ihr seid doch Krieger!" murmelte Hamilkar. „Hannibal, zieh dich an, ich will dir die Elefanten zeigen!"

Elefanten in Karthago

Karthago begrüßte die Elefanten. Alle Straßen vom Handelshafen, wo die Tiere von den Schiffen geholt wurden, bis hinauf zur Stadtburg Byrsa waren von einer lärmenden, festlich gestimmten Menge gefüllt. Das Schauspiel war offenbar keinem Karthager gleichgültig. Wer auf den Gehsteigen und Fahrdämmen keinen Platz gefunden hatte, setzte sich auf die flachen Ziegeldächer. Die Knaben kletterten auf die Bäume, die Sockel der Statuen und die Tempelmauern.

„Sie kommen!" dröhnte es durch die Stadt.

„Es lebe Hamilkar!" rief jemand. Die Menschen klatschten Beifall.

Zwischen den hohen Häusern einer engen Gasse tauchte der erste Elefant auf. Über Rücken und Flanken war eine bunte Satteldecke gebreitet, auf der er einen lederbezogenen Gefechtsturm trug. Der Turm war unbesetzt; davor saß ein Mann, der einen Eisenstachel in der Hand hielt. Sein weiter Mantel wurde von einem schwarzen Stoffgürtel zusammengehalten. Unter dem weißen Turban funkelten lebhafte schwarze Augen. Würdevoll grüßte er mit dem Stachel, als gälte der Beifall ihm und nicht Hamilkar, der diese Elefanten der Republik Karthago geschenkt hatte.

Sur, der Leitelefant, tappte vorsichtig durch die Straßen und beschnupperte dabei mit dem Rüssel den Fahrdamm. Zum erstenmal seit vielen Tagen hatte er keine schwankenden Schiffsplanken mehr unter den Füßen, sondern sonnenwarme Steine. Aber auch sie hatten einen unbekannten Geruch, den Geruch der Fremde.

„Drei... fünf... neun ... zwölf Elefanten!" zählten die Zuschauer. Zwölf indische Giganten! Noch niemals war eine Elefantenherde mit solcher Begeisterung in Karthago begrüßt worden.

Die Ställe, die sich in der Stadtmauer befanden, faßten dreihundert Elefanten, doch der Krieg gegen die meuternden Sklaven und Söldner hatte sie geleert. Seitdem hausten hier die Landstreicher und Bettler, die man aus diesem Grunde spöttisch als Elefanten bezeichnete. Und den Rüssel ausstrecken hieß soviel wie betteln.

Nun aber würden die gewaltigen Nischen in der Stadtmauer wieder echte Kampfelefanten aufnehmen.

Die begeisterten Menschen geleiteten die Elefanten bis zu den mit Palmwedeln und Blumen geschmückten Ställen. Dann blieben sie trotz der Hitze davor stehen und sahen zu, wie die Elefanten von den indischen Treibern in die neue Behausung geführt und dort mit Rindertalg eingerieben wurden.

In der Menge stand einer, der sich als Elefantenfachmann bezeichnete und schnell von Neugierigen umringt wurde. Er berichtete mit Feuereifer, wie stark, klug und vernunftbegabt die Elefanten seien.

„Im Krieg gegen Sizilien", sagte er, „war unser Lager etwa vier Meilen vom römischen Lager entfernt. In einer dunklen Nacht, als die erschöpften Krieger schliefen, erhoben die Elefanten plötzlich ein lautes Gebrüll. Daran erkannte unser Feldherr, daß sich der Feind näherte. Die Elefanten haben nämlich einen außerordentlich feinen Geruchssinn, und sie können den Gestank von gebratenen Zwiebeln, den die Römer an sich haben, auf den Tod nicht leiden."

Seine Zuhörer lachten.

„Der Elefant ist das stärkste Tier auf Erden", fuhr der Mann fort. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Elefant einem Löwen den Hals umdrehte und ihn mit dem Rüssel hochschleuderte wie ein junges Kätzchen. Und im Krieg gegen die Römer wurde einmal die gesamte feindliche Kavallerie von nur drei indischen Elefanten vernichtet."

Die Zuhörer belohnten diese patriotische Lüge mit lautem Beifall.

„Als wir in Marokko einmal nachts auf die Jagd gingen, erblickten wir plötzlich mehrere dunkle Hügel. Beim Näherkommen stellten wir fest, daß es Elefanten waren. Sie saßen im Kreise, hatten den Rüssel gen Himmel gereckt, schauten zum Mond auf und brüllten so kläglich, daß uns die Tränen kamen. Sie beteten zu Tanit, der Göttin des Mondes und der Liebe."

Das ging einem Zuhörer nun doch zu weit. „Du willst uns wohl für dumm verkaufen!" schimpfte er. „Gib acht, daß dir keiner den Hals umdreht!"

Erschrocken tauchte der Elefantenfachmann in der Menge unter.


Nachmittags leerte sich der Platz vor den Ställen. Die Gaffer verzogen sich. Die Nußschalen und Kürbiskernhülsen, die sie zurückgelassen hatten, wurden von den Sklaven weggefegt.

Die Inder fütterten die Elefanten und streckten sich dann im Schatten eines Feigenbaums aus, ermüdet von den neuen Eindrücken der fremden Stadt.

Es dämmerte schon, als zwei Karthager und ein neunjähriger Knabe auf die Ställe zugingen. Es waren Hamilkar, der sich in einen langen schwarzen Umhang gehüllt hatte und Hannibal an der Hand führte, und sein Neffe Hasdrubal, ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling, der den kurzen roten Überwurf eines Kavalleristen trug und wegen einer grauen Haarsträhne an der linken Schläfe von seinen Verwandten Greis genannt wurde.

„Vater, Vater!" Hannibal zupfte Hamilkar am Ärmel. „Guck mal, was für eine komische lange Nase der Elefant hat."

Hamilkar lächelte traurig.

„Siehst du, Greis", sagte er zu seinem Gefährten, „wie tief die Republik gesunken ist. Meine Söhne haben noch niemals einen Elefanten zu Gesicht bekommen! Dabei waren vor fünf Jahren in unserer Stadt die Elefanten zahlreicher als heutzutage die Maultiere.

Aber wir haben mehr verloren als nur unsere Elefanten!" fuhr er bedrückt fort. „Die Römer nahmen uns die Flotte, sie leerten unsere Staatskasse, raubten die uns gehörenden Inseln. Eines Tages werden sie uns noch zwingen, ihnen die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, den Wein, den wir den Göttern und Ahnen opfern, zu bezahlen."

„Du hast recht, Hamilkar", pflichtete ihm Hasdrubal bei. „Wir leben in schweren Zeiten. Aber beim Sonnengott Melkart! Deine Kinder werden bessere Tage sehen! Ich glaube an die Wiedergeburt der Republik Karthago! Heute hieß sie schon wieder einige Elefanten willkommen, und jeder Karthager weiß, wer sie kaufte. Viele riefen deinen Namen."

„Und du meinst, das sei ein Lohn für meine Wunden, meine Qualen?" Hamilkar lächelte bitter. „Wärst du im Großen Rat gewesen, dann würdest du anders reden, dann hättest du gehört, wie unsere Ratsherren meinem alten Widersacher Hanno Beifall spendeten. Er warf mir vor, daß ich Karthago in eine Monarchie verwandeln und mir die Königskrone aufs Haupt setzen wolle, und verlangte, daß ich das Heer entlasse und mich vor dem Großen Rat verantworte." Hamilkar ballte die Fäuste. „Die Armee soll ich entlassen, die Retterin Karthagos? Und wer ersetzt mir das Silber, mit dem ich die Söldner bezahlte? Wer erstattet mir die Ausgaben für die Elefanten, die ich vom anderen Ende der Welt geholt habe? Etwa Hanno, der für unsere Republik nur schöne Reden übrig hat?"

„Vater!" Der Junge zupfte ihn am Rock.

„Was willst du, Hannibal?" fragte der Feldherr gereizt.

„Was sind das für Leute? Warum sind sie so seltsam gekleidet?"

„Das sind Inder", erwiderte Hamilkar. „Am Rande der Welt, wo der Sonnengott Melkart dem Meer entsteigt, liegt das Land Indien. In seinen Urwäldern gibt es viele Elefanten, die so ähnlich aussehen wie unsere afrikanischen. Die Inder zähmen die Elefanten, machen sie ihrem Willen untertan. Solche Elefanten habe ich den Indern abgekauft."

„Hast du die Treiber auch gekauft?" erkundigte sich der Junge.

„Nein, das sind freie Männer, die ich für ihre Arbeit bezahle."

„Dann befiehl ihnen, daß sie diesen großen Elefanten dazu bringen, sich vor uns zu verneigen."

„Du verlangst viel, mein Sohn." Hamilkar lächelte. „Das sind Kampfelefanten, die brauchen sich nicht zu verneigen. Sie sind darauf abgerichtet, den Feind mit den Hauern zu töten, ihn mit dem Rüssel zu packen, zu Boden zu schleudern und zu zertrampeln."

„Aber weshalb holst du die Elefanten vom Rande der Welt, wenn es bei uns in Afrika auch welche gibt?" forschte der Junge weiter.

Hasdrubal hatte sich bisher nicht in die Unterhaltung zwischen Vater und Sohn gemischt. „Bei den afrikanischen Elefanten ist nur das Elfenbein ihrer Stoßzähne zu verwerten", sagte er jetzt lachend. „Eher schließt der Löwe Freundschaft mit dem Lamm, als daß es gelingt, einen afrikanischen Elefanten zu zähmen."

„Meinst du?" Hamilkar lächelte geheimnisvoll. „Siehst du den alten Treiber dort unter dem Feigenbaum sitzen? Er ist ebensoviel wert wie ein ganzes Heer. Richad heißt er. Sprich einmal mit ihm, er kann sich ganz gut in unserer Sprache verständigen. Richad wird dir sagen, daß es keinen Elefanten gibt, den man nicht zähmen könnte."

Hamilkar verstummte nachdenklich. „Es kommt eine Zeit", fuhr er nach einer Weile fort, „da wirst du einsehen, daß ich recht habe. Karthago wird nicht ohne Bundesgenossen in den Kampf gegen Rom ziehen. Wir haben Afrika mit seinen mächtigen Elefanten, seinen windschnellen Pferden, seinen dunkelhäutigen Reitern und seinen treffsicheren Bogenschützen auf unserer Seite. Doch vorher muß ich Iberien erobern. Elefanten und Pferde können nicht über das Wasser gehen."

Der Schwur

Hannibal wartete von früh bis spät. Schon am Morgen lief er hinaus zur Straße nach Karthago, an der das Landgut seines Vaters lag, und stellte sich an den Straßenrand. An ihm vorüber rollten Fuhrwerke, gezogen von wohlgenährten Maultieren, beladen mit Früchten, mit goldenem Getreide oder mit Tongefäßen, die man Amphoren nannte und die Wein oder Öl enthielten. Auf der Straße liefen paarweise oder zu vieren aneinandergeschmiedet dunkel- oder hellhäutige Sklaven, die von den Besitzern der umliegenden Landgüter auf dem Markt am Hafen gekauft worden waren. Sie wurden bewacht von berittenen Posten, die kurze dunkelblaue Umhänge und schwarze Filzhüte trugen.

Aber der Vater ließ sich nicht sehen.

Ob er sein Versprechen vergessen hat, mich nach Iberien mitzunehmen? dachte Hannibal unglücklich. Iberien! Welch aufregendes Wort! Es klingt nach dem Silber, das es dort in großen Mengen gibt, und nach den Wellen, die gegen die felsige Küste branden. Iberien! Das klingt nach Drachen und Riesen, die sonst nur in Märchen vorkommen.

Der bevorstehende Feldzug nach Iberien beschäftigte nicht nur Hannibals Gedanken. Auch sein Vater Hamilkar dachte ständig an dieses Land, obgleich sein Schicksal eher mit Sizilien verbunden war. Damals, als die karthagische Flotte eine demütigende Niederlage nach der anderen erlitt, war Hamilkar über Nacht berühmt geworden, weil er von den Höhen des sizilianischen Berges Eryx kühne Überfälle auf die feindlichen Truppen unternommen und die angeblich unbesiegbaren römischen Legionen in die Flucht gejagt hatte. Daß Karthago Sizilien dann trotzdem verlor, war nicht die Schuld Hamilkars, sondern der karthagischen Flotte gewesen, denn sie hatte die Schlacht bei den Aegatischen Inseln verloren. Aus all diesen Gründen glaubten viele Karthager, daß Hamilkar nichts anderes im Sinne hätte, als die fruchtbare Insel Sizilien zurückzuerobern.

Doch statt dessen rüstete er zu einem Feldzug nach Iberien. Das begriff keiner. War das etwa Feigheit oder gar Verrat?

Nach vielen Tagen, als Hannibal schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, holte der Vater ihn doch noch ab. Atemlos vor Freude und Eile nahm Hannibal Abschied von den Brüdern und kletterte auf den Wagen. Dumpf ratterten die Räder: „Auf in den Kampf! Auf in den Kampf!" Die Fußgänger sprangen zur Seite, um nicht von dem dahinrasenden Wagen überfahren zu werden.

Aber als Hannibal den Vater näher betrachtete, schwand seine freudige Erregung. Hamilkar machte ein ebenso finsteres Gesicht wie damals, als Hannibal mit seinen Brüdern Römer und Karthager gespielt hatte. Und auch diesmal begriff der Junge ihn nicht. Zog der Vater denn nicht gern in den iberischen Feldzug?

Vor dem Tempel des höchsten karthagischen Gottes, der Baal Ammon hieß, gab Hamilkar dem Sklaven ein Zeichen, die Pferde anzuhalten. Vater und Sohn verließen den Wagen und stiegen über Granitstufen, die von vielen tausend Füßen ausgetreten worden waren, zum Heiligtum hinauf.

Schwere schwarze Säulen stützten eine kunstvoll bemalte Decke. Das Licht der an Säulen und Wänden angebrachten Öllampen fiel auf die Ledersäcke und Metallgefäße, in denen die Opfergaben der Gläubigen verwahrt wurden. Ein wallender Purpurvorhang verbarg das Allerheiligste. Als er zur Seite glitt, erblickte Hannibal einen Altar und dahinter die Gestalt eines nackten bronzenen Jünglings. War er es, dem an Feiertagen Kinder geopfert wurden?

Zaghaft folgte Hannibal dem Vater zum Altar. Er fror. Die kalten Steinfliesen und ein nur halbbewußtes Grauen ließen ihm das Blut in den Adern erstarren.

„Lege die Hand hierher, mein Sohn!" Hamilkar zeigte auf den Rand des Altars.

Hannibal gehorchte.

„Und nun sprich mir Wort für Wort nach: Mögen mich die Götter vernichten ..."

„Mögen mich die Götter vernichten..."

„wenn ich jemals ein Freund der Römer werde und die Demütigung meines Vaters..."

„... die Demütigung meines Vaters..."

„und die Erniedrigung meines Vaterlandes..."

„... die Erniedrigung meines Vaterlandes..."

„nicht an ihnen räche."

„nicht an ihnen räche."


Hannibal erlebte viele Wechselfälle des Schicksals. Es trug ihn auf den Gipfel des Ruhms, trieb ihn von Land zu Land, von Stadt zu Stadt. Doch überall und jederzeit sah er vor sich den von flackernden Öllampen erleuchteten Tempel, den Purpurvorhang und den Altar, und immer klang ihm die Stimme des Vaters wie das Angriffssignal einer Trompete in den Ohren. Er vergaß die Worte des Schwurs, aber er hielt ihm sein Leben lang die Treue.

Im fremden Land

Einen ganzen Monat brauchte das Heer für den Weg nach Iberien. Wüsten, Grassteppen, neue Wüsten. Jeder Tagesmarsch entfernte Hannibal nicht nur von Karthago, sondern auch von Rom. Der Junge wußte, daß Rom nördlich von seiner Vaterstadt lag, jenseits des Meeres, doch das Heer zog auf dem Landwege gen Westen.

Der Vater ließ mich Rom ewige Feindschaft schwören, aber anschließend reisen wir ans andere Ende der Welt, wie merkwürdig, dachte Hannibal. Sein einziger Trost war der Gedanke an die bevorstehenden Kämpfe mit den iberischen Riesen und Drachen.

Aber auch in dieser Beziehung wurde er enttäuscht.

In Iberien lebten überhaupt keine Drachen. Anscheinend gab es dort nicht einmal Löwen, deren Gebrüll er in Afrika fast in jeder Nacht gehört hatte. Nachdem das Heer die schmale Meerenge von Gibraltar zwischen Afrika und Iberien hinter sich gelassen hatte, herrschte nachts nur noch tiefe Stille. Selbst die Felsen schliefen, vom Mondlicht erhellt, und das Meer sang ihnen mit dem gleichmäßigen Rauschen seiner Brandung ein Wiegenlied.

In Iberien gab es auch keine wilden Elefanten, die dem Heer in Afrika scharenweise begegnet waren. Bei diesem Anblick hatte Hannibal einmal einen iberischen Söldner gefragt, welches das gefährlichste Tier in seinem Vaterland sei.

„Das Kaninchen!" war die Antwort gewesen.

Das hatte der Söldner durchaus ernst gemeint, wie Hannibal später feststellte. Die kleinen Tiere, die so putzig mit dem langen Schnurrbart wackelten, vernichteten Saaten, Obstbäume und Beerensträucher; sie unterwühlten sogar Städte.

In Iberien gab es auch keine Riesen, mit denen der Junge gar zu gern gekämpft hätte. Hier wohnten nur Hirten und Ackerbauern. Sie trugen Umhänge aus grober Wolle und Filzhüte mit hochgeschlagenen Rändern und lebten in Stämmen zusammen. Es gab dermaßen viele Stämme, daß sich kein Mensch ihre seltsamen Namen einprägen konnte: Oretaner, Lusitaner, Kantabrer und viele andere mehr. Deshalb wurden die Bewohner dieses Landes von Ausländern samt und sonders als Iberer bezeichnet.

Zu Hannibal waren die Iberer sehr freundlich. Als er einmal heimlich das Lager verlassen und sich im Gebirge verirrt hatte, traf er einen großen Iberer, einen Hirten mit langem Haar. Der schnalzte lustig mit der Zunge, um den erschrockenen Jungen zu beruhigen, nahm ihn dann auf den Rücken und brachte ihn ins karthagische Lager zurück. Dafür schenkte Hamilkar ihm eine Handvoll Münzen, für die er sich eine ganze Schafherde hätte kaufen können. Doch statt sich zu bedanken, spuckte er aus und warf dem karthagischen Feldherrn das Geld vor die Füße. Hamilkar sagte nichts dazu, er runzelte nur die Stirn. Doch nachdem der Hirt fort war, schalt er ihn als undankbar.

„Die Iberer sind eben Barbaren!" setzte er Hannibal auseinander. „Sie haben kein richtiges Heer und kämpfen nur in kleinen Trupps. Hartnäckig weigern sie sich, unsere Herrschaft anzuerkennen und uns Tribut zu zahlen. Sie verstecken sich hinterlistig in den Bergen und schleudern aus unerreichbaren Höhen Felsblöcke auf unsere nichtsahnenden Krieger. Wiederholt ist es auch schon geschehen, daß sich ein Iberer nachts heimlich in unser Lager geschlichen und den schlafenden Feldherrn getötet hat. Anschließend macht er sich dann unbemerkt aus dem Staube. Und wenn es unseren Wachen doch einmal gelingt, einen Iberer zu fangen, dann kann man ihm selbst durch grausame Foltern nicht den Namen seiner Helfershelfer entreißen. Wenn den Iberern der Leib mit Flammen versengt oder von Eisenhaken zerrissen wird, lächeln sie, als fühlten sie keinen Schmerz. Und wenn man sie ans Kreuz nagelt, singen sie Siegeslieder. Es sind eben Wilde! Doch ihre Pferde - die sind des höchsten Lobes würdig. Sie sind kleiner als unsere edlen numidischen Rennpferde. An Eleganz und Schnelligkeit des Laufes können sie es nicht mit ihnen aufnehmen, aber sie sind viel kräftiger und ausdauernder. Mit schweren Lasten beladen, legen sie lange Tagesmärsche zurück. Sie fürchten sich nicht vor brausenden Bergflüssen, schmalen Felspfaden und gähnenden Abgründen. Während der Schlacht springen die iberischen Reiter häufig aus dem Sattel und lassen ihre Pferde unangekoppelt laufen oder binden sie an einen Pflock, den sie flüchtig in die Erde gebohrt haben. Dann bleiben die Pferde gelassen stehen, ohne sich vom Schlachtenlärm stören zu lassen. Häufig nimmt der Reiter noch einen Fußsoldaten mit aufs Pferd, auch das macht den Tieren nichts aus." Hamilkar sandte die iberischen Pferde zu Tausenden nach Karthago. Zum Pflügen, zum Lastentragen, eben zu allem, was Kraft und Ausdauer erfordert, wurden die Knirpse, wie die Karthager sie nannten, verwendet.

Der neue Lehrer

„Königssöhne erben die Macht von ihren Vätern", sagte Hamilkar zu seinem Sohn. „Doch mein Amt wird eines Tages derjenige übernehmen, der ihm am würdigsten ist. Das könnte zum Beispiel dein Bruder Magon oder auch dein Reitlehrer Magarbal sein."

Hannibal kniff beleidigt die Lippen zusammen. „Nein, Magon soll nicht den Oberbefehl über das Heer erhalten. Er ist jünger als ich und hat noch keinen Unterricht im Reiten und im Bogenschießen. Dann wäre es besser, daß Magarbal dich ersetzt."

„Die jüngeren Brüder zu übertreffen ist keine Kunst. Du mußt alle überflügeln. Du mußt lernen, besser zu reiten und besser mit Schwert und Wurfspieß umzugehen als jeder andere. Doch das genügt noch nicht. Du mußt auch am meisten wissen."


Eines Tages brachte ihm der Vater einen kleinen Mann, der kaum mit ihm Schritt halten konnte. Der Mann hatte einen Schädel, kahl wie ein Straußenei, und abstehende Ohren. An seinem dünnen Hals baumelte ein flacher Gegenstand an einer schwarzen Schnur.

„So siehst du also aus, Hannibal!" rief der Unbekannte und musterte interessiert den Jungen, der sich auf seinen Wurfspieß stützte.

„Zeig uns deine Kunst!" befahl Hamilkar.

Hannibal holte aus und traf mit seinem Spieß den zwanzig Schritt entfernten Holzpfahl.

„Tüchtig!" lobte Hamilkar. „Und nun lege die Waffe hin und komm näher. Mach dich mit deinem neuen Lehrer bekannt. Er heißt Sosylos."

„Ein neuer Lehrer?" fragte Hannibal erstaunt. „Worin soll er mich unterrichten? Ich habe schon einen Fechtlehrer, einen Reitlehrer und einen Lehrer für das Bogenschießen. Ach, ich weiß. Du bist ein Schleuderer." Hannibal tippte auf die schwarze Schnur, die Sosylos um den Hals trug.

Hamilkar und Sosylos lachten.

„Mein Sohn", sagte Hamilkar entschuldigend, „ist unter Kriegern aufgewachsen; er unterscheidet die Menschen nach ihrer Bewaffnung und hält dein Schreibgerät für eine Wurfschleuder."

Er wandte sich seinem Sohn zu. Das Lachen war aus seinem Gesicht gewichen. „Du irrst, Hannibal, Sosylos ist kein Schleuderer. Er wird dir die griechische Sprache beibringen."

„Die Griechen sind unsere Feinde, ich brauche ihre Sprache nicht!" brummte der Junge mit gesenktem Kopf.

„Wer hat dir das gesagt?" forschte Hamilkar unmutig.

„Du selbst. Erinnere dich, du erzähltest mir von den Kriegen, die unsere Vaterstadt mit den Griechen führte, und von dem in Sizilien lebenden Griechen Agathokles, der Karthago fast erobert hätte."

„Aber das liegt doch schon hundert Jahre zurück!" rief Hamilkar. „Und jetzt gehören die sizilianischen Städte schon lange zu Rom. Auch das schöne Tarent, das einst gegen die Römer kämpfte, stöhnt unter dem Joch Roms. In dieser Stadt lebte jahrelang dein neuer Lehrer, bis er von den Römern vertrieben wurde."

Hannibal betrachtete den Griechen, der demnach ebenso ein Feind der Römer war wie der Vater, mit neuen Augen.

„Ich kann dir sagen", fuhr Hamilkar fort, „daß die Griechen die Römer ebenso hassen wie wir. Doch selbst wenn sie unsere Feinde wären, müßtest du ihre Sprache lernen. Wer die Sprache des Feindes versteht, schlägt ihm eine Waffe aus der Hand."

„Ich werde dich in meiner Muttersprache unterrichten, Knabe", sagte Sosylos. „Du wirst Homer und den großen Aristoteles kennenlernen und..."

„Was haben sie erobert?" fiel Hannibal ihm ins Wort.

Sosylos lächelte.

„Homer hat mit seinen wohllautenden Gedichten die Welt erobert", sagte er dann. „Und Aristoteles war ein Gelehrter, der sogar Alexander von Makedonien zu seinen Schülern zählte."

„Von Alexander habe ich schon gehört. Er eroberte Indien, wo die Elefanten leben."

„Alexander vollbrachte noch viele andere staunenswerte Heldentaten. Er war ein großer Feldherr."

„Gut, Sosylos, ich werde deine Sprache erlernen", willigte Hannibal ein. „Aber du mußt mich auch alles lehren, was Aristoteles dem Alexander beibrachte. Ich will auch ein großer Feldherr werden."

„Es wird genügen, wenn du deinem Vater nacheiferst und wie er..."

„Ihr werdet sicherlich gut miteinander auskommen", unterbrach ihn Hamilkar, der Schmeicheleien haßte.



Sosylos kannte unzählige unterhaltsame Geschichten von kriegerischen Seefahrern und ihren Abenteuern in fremden Ländern. Hannibal wunderte sich, daß sie alle in Sosylos' Kopf Platz fanden. Aber der neue Lehrer hatte die merkwürdige Angewohnheit, seine Erzählung an der spannendsten Stelle zu unterbrechen. Und es war leichter, den finsteren Magarbal zu überreden, die tägliche Reitstunde abzusetzen, als den gutmütigen Griechen zu veranlassen, seine Geschichte zu beenden.

„Wie ging es weiter? Hat der Zyklop den Helden Odysseus aufgefressen?"

„Das weiß ich nicht", erwiderte Sosylos ungerührt. „Da hast du die Schriftrolle. Lies sie selbst."

„Ich werde sie lesen, ganz bestimmt, aber sag mir doch, ob Odysseus gerettet wurde!" flehte der Junge.

„Ich weiß nicht mehr, wie die Sache weiterging", antwortete Sosylos und entrollte gemächlich die Schriftrolle. „Setz dich neben mich, wir wollen gemeinsam lesen."

Und sie lasen Homers Gedichte. Wer Sosylos betrachtete, konnte den Eindruck haben, daß er sämtliche Abenteuer des sagenhaften Helden Odysseus am eigenen Leibe erlebte - die entsetzlichen Stürme, die Kämpfe mit den Ungeheuern und die Freude der Heimkehr. Als sie an die Stelle des Heldengedichts kamen, wo Odysseus in der Gestalt eines elenden Bettlers auf seine heimatliche Insel Ithaka zurückgekehrt ist und von der alten treuen Dienerin Eurykleia an einer Narbe am Bein erkannt wird, brach Sosvlos vor Rührung in Tränen aus.

Hannibal teilte diesen Gefühlsüberschwang nicht. Wegen einer Dienerin zu weinen! Für Hannibal waren Homers Verse nur interessante Geschichten, und nachdem Odysseus in sein Vaterland zurückgekehrt war, hörte sein Schicksal auf, den Knaben zu interessieren. Allerdings, Odysseus war listenreich, zäh und ließ sich von keinem Hindernis aufhalten, aber warum verließ er all die reichen Länder und kehrte in das ärmliche Ithaka zurück?

„Jetzt zu Alexander!" bat er immer dringlicher.

Doch Sosylos ließ sich Zeit. Nachdem sie Homers „Odyssee" beendet hatten, gingen sie zu Xenophons „Anabasis" über. Das waren nun keine erdachten Abenteuer, sondern Berichte von Ereignissen, die sich wirklich zugetragen hatten - von den Fahrten der Griechen durch die Steppen und Gebirge Asiens.

Endlich kam Sosylos mit einer neuen Pergamentrolle zu Hannibal. „Hier", sagte er und löste die Lederschnur, mit der die Rolle umwunden war, „ist ein Bericht von Alexanders Eroberungszügen, aufgezeichnet von seinem Feldherrn Ptolemaios Lagou, der späterhin König von Ägypten wurde. Ich hätte diese Schriftrolle gern gemeinsam mit dir gelesen, doch dein Vater schickt mich nach Karthago, um deine Brüder zu holen." So mußte Hannibal allein, ohne die Hilfe des Lehrers, Alexander auf seinem Feldzug in den Osten folgen. Das fiel ihm zuweilen ebenso schwer wie dem ruhmreichen Feldherrn selbst. Das Dickicht der fremden Sprache war fürchterlicher als der Dschungel Indiens und die heiße Wüste von Oedrosia, die Alexander auf seinem Rückmarsch von Indien nach Babylon durchquerte, und manche unbekannten griechischen Wörter bissen Hannibal oft wie Schlangen und stachen ihn wie Skorpione. Die unregelmäßigen Verben türmten sich wie Gebirge vor ihm auf. Oft rang er nach Atem wie in zu dünner Luft. Aber er wollte nicht aufgeben, denn Alexander hatte auch durchgehalten. Und eines Tages hatte Hannibal die dicke Rolle durchgelesen.

Alexanders Energie und Kühnheit gefielen ihm außerordentlich. Dieser Mann kannte kein Heimweh, im Gegensatz zu Odysseus. Er gab sein Vaterland und dessen Gebräuche und Götter auf. In Ägypten betete er zu den ägyptischen Göttern, in Babylon zu den babylonischen. Er hatte die Absicht, ein Weltreich zu schaffen, aber seine Kampfgefährten und Freunde begriffen die Größe seines Zieles nicht und hielten die Übernahme fremder Bräuche für Verrat. Und obwohl Ptolemaios die geheimnisvollen Umstände von Alexanders Tod nur andeutete, zweifelte Hannibal nicht daran, daß der große Feldherr vergiftet worden war.

Sosylos brachte Hannibals Brüder wohlbehalten nach Iberien, so daß Hamilkars Familie jetzt beisammen war. Hamilkar ließ seinen gesamten afrikanischen Besitz verkaufen bis auf sein Landgut, das als Festung ausgebaut war. Er hatte ähnliche Pläne wie Alexander und wollte seine Söhne ihrem Vaterland entfremden.

Jetzt unterhielt er sich häufig mit ihnen und wohnte auch ihren Unterrichtsstunden bei.

„Lernt, junge Löwen!" sagte er. „Alle Menschen lernen von ihren Freunden oder von ihren Feinden, aus ihren eigenen oder aus fremden Fehlern. Nicht wahr, Sosylos?"

Der Grieche nickte.

„Unsere Väter", fuhr Hamilkar fort, „vollbrachten große Taten, aber sie machten auch Fehler. Sie ließen ihre Söhne ausschließlich innerhalb der eigenen vier Wände unterrichten. Zwar brachten sie ihnen alles bei, was ein Großgrundbesitzer, ein Kaufmann und Schiffskapitän wissen muß, aber von der körperlichen Arbeit hielten sie sie fern. Jede Anstrengung wurde ihnen von den Sklaven abgenommen. Auch später, wenn sie ihren Heeresdienst ableisteten, führten sie ein anderes Leben als die einfachen Krieger. Sie ließen sich von ihren Sklaven den Schild tragen, bei der Rast die Füße waschen und den Schweiß von der Stirn wischen. Das ist einer der Gründe, daß wir so viele Niederlagen erlitten und daß die Römer uns besiegen konnten. Ich hörte, daß die römischen Feldherren bei Disziplinverletzungen nicht einmal vor der Hinrichtung ihrer eigenen Söhne zurückschreckten. So würde es auch euch ergehen. Habt ihr das begriffen?"

„Ja, Vater", antwortete Hannibal im Namen aller.

Ein geheimer Auftrag

Bis spät in die Nacht hinein schritt Hamilkar von einer Ecke seines Zeltes in die andere. Wenn der kalte Bergwind durch den Zeltschlitz fuhr und die Flammen der Öllampen zuckten, glitten gespenstische Schatten über die grauen Zeltwände.

Am Tage zuvor war ein Handelsschiff aus Karthago eingetroffen und hatte schlechte Nachrichten gebracht. Immer wieder beugte sich der Feldherr über die auf dem Teppich liegende Bronzeplatte, in der die Meeresufer und Flüsse sowie die Grenzen der karthagischen und römischen Gebiete eingeritzt waren, und fuhr kopfschüttelnd mit dem Finger über die Linien.

Als sich Hannibal am nächsten Morgen wie gewöhnlich beim Vater einstellte, war dessen zerfurchtes, dunkles Gesicht ruhig wie immer. Nur aus den müden Augen sprach die Sorge.

„Setz dich, mein Sohn. Heute will ich dir einen Auftrag erteilen." „Welchen, Vater?" rief Hannibal ungeduldig.

„Wir werden uns für lange Zeit trennen müssen. Du sollst Elefanten holen."

„Wo? In Indien?"

„Nein, an dieses ferne Wunderland wollen wir einstweilen nicht denken", lächelte Hamilkar. „Wir haben jetzt nahe bei Karthago ein eigenes kleines Indien, in dem Richad König ist. Erinnerst du dich noch an den Treiber, der die zwölf Elefanten durch Karthago führte?" Er wies auf die Bronzeplatte. „Sieh her. Da liegt Karthago, an einem tiefen Meeresbusen. Das, was wie eine Schlange aussieht, ist der Fluß Bagradas. Östlich davon liegt das Land der Numidier, der besten Reiter, die die Erde je getragen hat. Siehst du den kleinen Kreis an der Grenze zwischen dem Land des numidischen Königs Gula und dem Gebiet der Mauren? Das ist ein See. An seinen Ufern fangen unsere Leute Elefanten und zähmen sie mit Richads Hilfe."

„Weshalb sagst du denn, daß wir uns für lange Zeit trennen müssen? Auf dem Seewege sind es bis zur karthagischen Hafenstadt Utica doch nur fünf Tagereisen." Hamilkar sah seinen Sohn prüfend an.

„Ich will dir einen zweiten Auftrag geben, von dem aber nur wir beide wissen dürfen." Er dämpfte die Stimme. „Westlich von Gulas Gebiet liegt das Land eines anderen numidischen Stammes, der von König Syphax regiert wird. Gula und Syphax sind Feinde, weil jeder die Macht über ganz Numidien erringen will. Gula ist seit jeher unser Verbündeter, Syphax hält es mit den Römern. Gestern erfuhr ich, daß wieder ein römischer Gesandter, nämlich der Patrizier Scipio mit seinem Gefolge, in Syphax' Hauptstadt Cirta eingetroffen ist. Zweifellos führen die Römer etwas gegen uns im Schilde. Wir müssen auf der Hut sein. Solange Gula noch lebt, haben wir nichts zu befürchten, denn er wird Syphax an jedem Angriff auf Karthago hindern. Doch Gula ist alt, Syphax dagegen jung und tatendurstig. Wenn Gula stirbt, wird sein Nachfolger vor der Wahl stehen, mit uns oder mit Syphax und den Römern ein Bündnis abzuschließen."

„Und wer wird Gulas Nachfolger?"

„Nach numidischem Brauch nicht sein Sohn, sondern sein Bruder. Aber Gulas Bruder, der seinerzeit mit deiner Schwester Salambo Hochzeit machte, heiratete nach ihrem Tode eine Tochter des Syphax und wurde dadurch unser Feind. Deshalb beabsichtigt Gula, die Herrschaft seinem Sohn Masinissa zu übergeben."

„Wie alt ist Masinissa?"

„Ich glaube, zwei oder drei Jahre jünger als du. Jetzt ist er also gerade in dem Alter, wo sich ein Mensch leicht wie Ton formen läßt. Aber denke daran: Alle Numidier sind verschlossen und haben ein leicht verwundbares Ehrgefühl. Mit diesen Schwächen muß man rechnen. Sie pflegen immer ihr Wort zu halten und ertragen es nicht, wenn sie getäuscht werden. Das ist für einen Staatsmann keine nützliche Eigenschaft. Präge dir diese Eigenheiten der Numidier ein. Es wird dir ein leichtes sein, dich mit Masinissa anzufreunden. Um so mehr, als du seine Sprache sprichst."

„Ist dies dein Auftrag, Vater?"

„Ja. Du sollst das Herz des jungen Numidiers gewinnen. Vielleicht glaubst du, dieser Auftrag sei eines Kriegers unwürdig. Aber bedenke, daß die Zukunft der Republik Karthago davon abhängt, ob Gulas Nachfolger unser Freund wird oder nicht. Als Karthago in Gefahr war, verheiratete ich deine Schwester Salambo mit Gulas Bruder. Ich opferte sie, um die Republik zu retten. Und das gelang. Mit Hilfe der numidischen Reiterei konnten wir die Meuterei der Söldner und Sklaven niederschlagen."

„Ich hörte, daß Salambo an dem Tage starb, als die Gefangenen in die Stadt gebracht wurden, weil ihr Herz das Schauspiel der Folterungen und Hinrichtungen nicht ertrug. Ist das wahr?"

„Ja, sie wurde geopfert, um die Stadt Karthago zu retten. Hätte ich noch eine Tochter, dann würde ich sie sofort mit Masinissa, Gula oder gar mit Syphax verheiraten, denn in einem neuen Krieg gegen die Römer müssen die Numidier unbedingt auf unserer Seite stehen!"

Noch am selben Tag nahm Hannibal Abschied von seinen Brüdern, von Sosylos, Magarbal und den anderen Lehrern, strahlend vor Stolz, Schickte der Vater ihn doch zum erstenmal mit einem wichtigen Auftrag auf Reisen.

Numidien

Dieses hügelige Grasland kannte den Pflug noch nicht. Am Horizont versank eine Gebirgskette im blaugrauen Dunst. Betäubend duftete das Gras. Die hohen Blumenstauden streiften Hannibals Füße, wenn er an ihnen vorüberritt, und hinterließen auf seinen Sandalen gelben Blütenstaub. Oft sprangen unmittelbar vor den Pferdehufen kleine Tiere auf, die den iberischen Kaninchen ähnelten. Wildziegen ergriffen eilig die Flucht.

Masinissa ritt neben Hannibal. Er war barfuß und hatte einen kahlrasierten Schädel. Nur am Hinterkopf war eine kriegerische Haarsträhne stehengeblieben.

Gula hatte Masinissa befohlen, den jungen Karthager an den See zu bringen, wo die Elefanten gefangen und dressiert wurden, und zum Abschied gesagt: „Hannibal ist unser Gast!" Masinissa begriff, was das bedeutete. Jeder Wunsch des Gastes war Gesetz, und es gab kein schlimmeres Verbrechen vor den Göttern, als einen Gast zu beleidigen oder sonstwie schlecht zu behandeln.

Masinissa war ein leidenschaftlicher Jäger. Wenn ihm ein Wild vor die Augen kam, streckte er unwillkürlich die Hand nach Pfeil und Bogen aus, aber bei Hannibals Blick strich er dann nur seinem Pferd über die Mähne, in der weiße Schaumflocken hingen. Er merkte, daß es der Karthager eilig hatte, die Elefanten zu sehen.

Hannibal staunte über die Schnelligkeit der numidischen Pferde. Unermüdlich galoppierten sie dahin, mit harmonischen Bewegungen ihrer langen, schlanken Beine. Manchmal wieherten sie aufgeregt; dann witterten sie Schlangen oder Raubtiere, die sich im hohen Gras verbargen. Unterwegs erblickte Hannibal wiederholt numidische Zelte, die umgekippten Schiffen ähnelten. Die Numidier waren Nomaden, die mit ihren Herden umherzogen, und keiner wußte genau, an welchem Ort er geboren war und wo seine Vorfahren begraben lagen. Während des langen Ritts durch Gulas Reich konnte Hannibal nirgendwo Äcker oder Obstbäume entdecken. Die Numidier kauften das Mehl von den Karthagern und nährten sich hauptsächlich von Ziegenmilch, Wildbret, Weichtieren und Honig.

Einmal erblickte Hannibal auf einem Hügel ein Kreuz, an dem eine menschliche Gestalt zu hängen schien. Wegen der großen Entfernung konnte er sie nicht genau erkennen.

„Ein Flüchtling?" fragte er, denn die Karthager kreuzigten widerspenstige oder entflohene Sklaven.

Der junge Numidier schüttelte verständnislos den Kopf. Als sie sich dem Kreuz näherten, stellte sich heraus, daß kein Mensch daran hing, sondern ein gewaltiger Löwe mit zottiger Mähne, die Hannibal von weitem für einen Sack gehalten hatte, den man einem Gekreuzigten über den Kopf stülpte. Das Tier war von beherzten numidischen Hirten erlegt und ans Kreuz genagelt worden, um andere Raubtiere von den Herden zu verscheuchen. Etwas ähnliches taten in Karthagos Umgebung die Ackerbauern, wenn sie einen Raben an die Spitze einer Stange banden und diese auf freiem Feld aufpflanzten. Masinissa verstand Hannibal wohl auch deshalb nicht, weil die Numidier entweder keine Sklaven besaßen oder sie nicht so grausam behandelten wie die Karthager. Je näher Hannibal das Leben der Numidier kennenlernte, um so klarer wurde ihm, welch einen schwierigen Auftrag ihm der Vater gegeben hatte. Es würde kaum gelingen, Masinissa, der die freie Ungebundenheit dieses weiten Landes so sehr liebte, zu einem Freund Karthagos zu machen! Das Menschengewimmel der Stadt, ihre Habgier und sinnlose Grausamkeit würden ihn erschrecken. Hier war Masinissa ein großer Herr und Gastgeber. In Karthago dagegen würde er der arme Gast sein, den man gnädig zur Festtafel zuläßt. Für die grenzenlose Weite dieses Landes mit seinen über den Hügeln schwebenden Adlern und dem bitteren Wermutduft würde er in Karthago keinen gleichwertigen Ersatz finden.

Am dritten Tag des Ritts sah Hannibal in der Ferne die Wasserfläche eines Sees aufblinken. An seinen Ufern wuchs das Röhricht fast so hoch wie ein Jungwald. Die Enten, die darin nisteten, wurden von den Reitern aufgescheucht und kreisten als Wolke über dem See.

„Wo ist denn Richad mit seinen Elefanten? Wo ist das kleine Indien, von dem mein Vater sprach?" forschte Hannibal.

„Dort hinter den Hügeln", erwiderte der junge Numidier. „Siehst du nicht die Spitzen der Pfähle?"

Hannibal blickte in die Richtung, wohin Masinissa zeigte, konnte aber nichts erkennen.

Mit Recht sagt man, daß die Numidier Adleraugen haben! dachte er.

Richads Reich

Wie durch Zauberkraft war mitten in der Grassteppe eine richtige Stadt entstanden - mit Pferchen, endlosen Reihen von numidischen Zelten und einem großen Begräbnisplatz für jene, die von den Elefanten getötet worden waren. Von fünf verwegenen Männern, die auszogen, um die vierbeinigen Giganten zu fangen, kehrten meist nur zwei lebendig zurück. Dennoch wurde die Zahl der Freiwilligen, die beim Elefantenfang ihr Glück machen wollten, nicht geringer. Der Grund dafür war der hohe Lohn, den sie erhielten. Hamilkar sparte bei den Vorbereitungen für den großen Feldzug weder mit iberischem Silber noch mit Menschenleben.

Richad, der Hannibal und Masinissa freundlich begrüßte, sah aber nicht wie der Herrscher eines indischen Königreiches aus. Er trug noch immer seinen Turban und die verblichene Tunika und war der schlichte Elefantentreiber geblieben, als den Hannibal ihn einst kennengelernt hatte. Als er näher mit dem Inder sprach, wurde ihm klar, wie recht sein Vater mit der Behauptung hatte, daß dieser Mann soviel wert sei wie ein großes Heer. Und Greis hatte sich geirrt, als er meinte, es werde niemandem gelingen, einen afrikanischen Elefanten zu zähmen.

Richad berichtete, daß die afrikanischen Elefanten ebenso gelehrig seien wie die indischen, aber noch stärker und kampfeslustiger. Es war wirklich nicht mehr zweckmäßig, Elefanten aus dem fernen Indien zu holen.

Der Inder führte die Gäste persönlich durch sein Reich. Als erstes zeigte er ihnen einen Pferch, der so ähnlich aussah wie jene, in die man über Nacht die Schafherden treibt, nur mit dem Unterschied, daß er nicht aus Stangen und Pfählen bestand, sondern aus glatten Stämmen, die senkrecht in die Erde gerammt waren. Sie umschlossen einen glattgetrampelten Bezirk, wo die Elefanten umhergingen oder lagen. Es waren Elefantenbullen und Elefantenkühe, sogar Elefantenjunge, nicht größer als Pferde.

„Sind die schon gezähmt?"

„Nein." Richad schüttelte den Kopf. „Noch vor einer Woche liefen sie frei herum - dort hinter dem See."

Im Mittelpunkt eines anderen quadratischen Pferches stand ein seltsames Gerüst. Zwei lange Pfähle waren schräg in die Erde gerammt, so daß sie ein Dreieck bildeten. Zwischen den Pfählen stand ein Elefant. An der Spitze des Dreiecks hing ein Strick, an dem sich ein Mann zu dem Tier herunterließ. Als seine Füße den Rücken des Elefanten berührten, schwenkte dieser drohend den Rüssel, duckte sich und schüttelte den Mann ab, der sofort wieder am Strick emporkletterte und sich erneut auf den Rücken des Elefanten herabließ. Der Elefant schüttelte ihn wieder ab, und wieder kletterte der Mann in die Höhe.

Gespannt beobachtete Hannibal diesen Kampf zwischen Geduld und Verstocktheit. Schließlich gab der Elefant nach. Ihm verging offensichtlich die Lust, sich mit solchen läppischen Dingen zu befassen. Er schüttelte sachte den Kopf, als wollte er sagen: Was ihr da macht, ist natürlich dumm, aber wenn ihr es unbedingt wollt - meinetwegen.

„Und anschließend schickst du den Elefanten ins Heer?" fragte Hannibal.

Der Inder lächelte. „Nein, das Wichtigste kommt erst. Dieser Elefant ist noch ein Rekrut, aus dem ich erst einen Krieger, einen geschulten Kampfelefanten, machen muß. Er lernt jetzt die Ausgangsstellung vor dem Kampf, die einzelnen Bewegungen im Schlachtgetümmel, die Besonderheiten beim Kampf gegen Infanterie, Kavallerie und feindliche Elefanten sowie den Angriff auf das feindliche Heerlager."

Neben dem Dreieck stand eine Elefantenkuh mit ihrem Jungen. Offenbar sollte sie den Elefanten ablösen.

„Zähmt ihr die auch?" Masinissa zeigte auf das Jungtier.

„Aber nein!" Der Inder winkte verächtlich ab. „Die fangen wir bloß zum Spaß. Erst im Alter von zwanzig Jahren ist ein Elefant verwendbar, und am besten sind die vierzigjährigen. Übrigens kann man auch aus Jungtieren ausgezeichnete Kämpfer machen, wenn man genügend Zeit für ihre Dressur aufwendet. Sur, mein Leitelefant, wurde als Jungtier gefangen. Wir sind unzertrennliche Freunde; jetzt ist er zwanzig Jahre alt."

„Und wie alt ist der unter den Pfählen?" fragte Hannibal.

„Dreißig Jahre. Ein prächtiges Tier. Bestimmt wird er ein guter Kampfelefant."

„Gibt es auch Elefanten, die sich der Dressur nicht fügen wollen?"

„Ja, mit ihnen verfahren wir anders."

Der Inder führte Hannibal zu einem dritten Pferch. In seiner hinteren Ecke war ein Elefant mit dicken Seilen an die Pfähle gefesselt. Er versuchte mit aller Kraft sich zu befreien. Aber die Pfähle waren tief in die Erde gerammt, und je heftiger er an seinen Fesseln zerrte, um so tiefer schnitten sie in seinen Körper. Er brüllte so jammervoll, als wollte er die ganze Herde zu Hilfe rufen. Aber die anderen Elefanten blieben gleichgültig liegen und kümmerten sich nicht um den Hilferuf.

Offenbar haben die Tiere nicht viel Vernunft, da sie außerstande sind, ihrem Mitbruder zu Hilfe zu kommen, überlegte Hannibal. Demnach sind Elefanten leichter zu regieren als Söldner. Elefanten können keine Verschwörungen und Meutereien anzetteln.

Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er Masinissa vergessen hatte, und um so mehr überraschte ihn der Ausbruch des jungen Numidiers. Masinissa stürzte zu dem Elefanten hin und durchschlug mit dem Schwert eines der Seile, die ihn gefesselt hielten.

„Ich hasse euch!" Er sah Hannibal mit funkelnden Augen an. „Ich hasse euch alle! Die Elefanten sind besser als ihr. Sie leben in Freiheit und tun niemandem etwas zuleide. Friedlich weiden sie in unseren Grassteppen. Ihr Karthager habt viel Silber, doch wenig Gewissen. Euch genügen die Söldner nicht - ihr wollt auch diese sanften Tiere in Mörder verwandeln."

Noch am selben Tage verließ Hannibal mit Masinissa Richads Reich. Hannibal wollte es nicht riskieren, seine beginnende Freundschaft mit dem jungen Numidier noch einmal aufs Spiel zu setzen. In seinem Zorn hatte Masinissa das ausgesprochen, was er und seine Stammesgenossen von den Karthagern hielten.

Wir werden ihnen immer fremd sein, dachte Hannibal.

Das Mädchen Sophonisbe

Karthago raubte Masinissa die Fassung. Die große Stadt setzte jeden auswärtigen Besucher in Erstaunen, nicht nur den jungen Numidier. Wer sie zum erstenmal sah, staunte über die Tempel, die ihre Kuppeln stolz zum Himmel reckten, über die vielen hohen Häuser, über das Menschengewimmel auf den Straßen und Plätzen. Wahrscheinlich gab es allein auf dem Hafenmarkt mehr Menschen als in einem ganzen numidischen Stamm. Sie alle standen obendrein nicht still, sondern wogten hin und her, schienen einen merkwürdigen Tanz aufzuführen. Ihre Stimmen verschmolzen mit dem Gemuhe, Gewieher, Geblöke, Gemecker der unzähligen Tiere.



Es dauerte lange, bis sich Masinissa an den unruhigen Betrieb in der gewaltigen Stadt gewöhnt hatte. Er glaubte geradezu in einer Falle zu sitzen. Auf der Straße stieß er die Vorübergehenden an oder wurde von ihnen gestoßen. Als er einmal mitten auf dem Fahrdamm stehenblieb, um die Stockwerke eines Hauses zu zählen, prallten die Esel, die das Fuhrwerk eines Tonwarenhändlers zogen, gegen ihn. Die Tongefäße fielen auf das Straßenpflaster und zerbrachen. Sogleich sammelte sich eine lärmende Menge und sah müßig zu, wie der wütende Tonwarenhändler ihn packte und schüttelte, als wäre er ein Birnbaum. Zum Glück war Hannibal dabei und konnte seinen Freund erlösen, indem er den Wert der zerbrochenen Tongefäße bezahlte.

Er zeigte Masinissa an diesem Tage seine Vaterstadt.

Sie besuchten auch die Stadtburg Byrsa. Der junge Numidier staunte weniger über ihre dicken Mauern und die Steintreppe, die zum Tempel hinaufführte, als viel mehr über die Sage von der Königin Dido, die Karthago an dieser Stelle gegründet haben soll.

„Schlau war sie, eure Dido!" rief er. „Sie kaufte den Einheimischen so viel Land ab, wie sich mit einer Ochsenhaut begrenzen läßt, und zerschnitt dann die Haut in dünne Riemen, so daß sie um diesen ganzen Hügel herumreichte."

Bei den Schiffen blieb Masinissa lange stehen. Sie kamen ihm vor wie die gewaltigen geflügelten Drachen aus den Sagen und Liedern seines Volkes.

„Komm weg von hier", sagte er zu Hannibal, als dieser ihn in den Tempel des Gottes Melkart führte und ihm die Statue zeigte, der Menschenopfer dargebracht wurden. „Ihr habt schlaue Königinnen und grausame Götter."



Nach einer Woche schien sich Masinissa allmählich an das städtische Leben zu gewöhnen. Er ging durch die Straßen, ohne die Passanten anzustoßen. Wenn er das Gebrüll von Sklaven hörte, die ausgepeitscht wurden, stürzte er nicht in das betreffende Haus, um sie zu befreien. Er kaufte auf dem Markt auch nicht mehr alle Singvögel auf und befreite sie aus den Käfigen.

Deshalb ließ Hannibal ihn eines Tages allein gehen. Von diesem Streifzug kehrte Masinissa erst spät am Abend mit strahlenden Augen zurück.

„Gefällt dir unsere Stadt?" erkundigte sich Hannibal, froh über die gute Laune seines Schützlings.

„Ich war noch nie so glücklich", antwortete der Numidier.

Doch an einem der folgenden Tage stellte er sich ohne Filzhut und mit zerrissener Tunika bei Hannibal ein.

„Was ist dir zugestoßen?" rief Hannibal verblüfft. „Wo warst du? Haben dich die Hunde gebissen?"

„Ja!" schrie Masinissa wütend. „Karthagische Hunde!"

„Beruhige dich, und erzähle mir lieber der Reihe nach, wer dich beleidigt hat und weshalb!"

„Am ersten Tage, als du mir erlaubtest, allein zu gehen", berichtete der junge Numidier hastig, „machte ich mich auf den Weg zum Hafen, weil ich noch einmal die Schiffe betrachten wollte, die aus dem Lande des Sonnenaufgangs stammen. Vor dem Tempel der Liebesgöttin Tanit überholten mich einige Sklaven, die eine geschlossene Sänfte auf den Schultern trugen. Ihr entstieg ein Mädchen, leichtfüßig wie ein Vogel, der sich auf der Erde niederläßt. Ich wußte nicht, wer sie war, aber ich hatte sie sofort in mein Herz geschlossen. Du, Hannibal, stehst mir gegenüber, aber auch jetzt sehe ich nur sie vor mir. Die Göttin Tanit hat mich wohl verzaubert. Ich lehnte mich an eine Säule, da kam das Mädchen aus dem Tempel zurück, stieg in die Sänfte und verschwand wie ein Traumbild. Den ganzen folgenden Tag wartete ich vor dem Tempel. Die Bettler zeigten schon mit Fingern auf mich, und die Tauben der Göttin trippelten zutraulich vor meinen Füßen umher. Ich aber wartete auf sie. Und als sie erschien, fiel ihr Blick auf mich. Was für strahlende Augen sie hat! Wir kamen ins Gespräch, sie schickte die Sklaven mit der Sänfte weg, und ich geleitete sie zu Fuß nach Hause. Ach, wenn du wüßtest, wie sehr ich wünschte, daß ihr Haus am anderen Ende der Stadt, nein, in einer anderen Stadt, einem anderen Land läge! Dann hätten wir so lange nebeneinanderher gehen können, bis die Sterne am Himmel aufleuchteten, bis die Sonne auf- und wieder unterging. Aber der Weg zu ihrem Hause war nur so kurz wie ein Schatten in der Mittagsstunde, und die Zeit bis zu einem Wiedersehen mit Sophonisbe ist nun so lang wie die Ewigkeit."

„Sophonisbe?" wiederholte Hannibal nachdenklich. „Der Name kommt mir bekannt vor."

„Am nächsten Tage ging ich zu ihr. Zwar hielten die Sklaven das Tor vor mir verschlossen, aber ich kletterte über die Mauer." Masinissa verstummte.

„Erzähle weiter!" drängte Hannibal. „Was geschah dann?"

„Ich sprach mit Sophonisbes Vater und bat ihn, mir seine Tochter zur Frau zu geben. Da befahl er seinen Sklaven, mich hinauszuwerfen."

Hannibal biß die Zähne zusammen, daß sie schmerzten. Er fühlte sich schuldig an dem dummen Zwischenfall. Es war falsch gewesen, den Numidier allein durch die Stadt laufen zu lassen! Was für Erinnerungen an Karthago würde Masinissa zurückbehalten, wenn man ihn hier wie einen Bettler hinauswarf.

„Wenn du mein Freund bist", sprach Masinissa, „dann erfülle mir eine Bitte: Nachts hole ich mein Pferd, du wartest an der Mauer von Sophonisbes Haus, ich trage sie auf meinen Armen heraus und reite mit ihr davon. Niemand wird uns einholen."

„Aber Sophonisbes Vater wird sich bei deinem Vater beschweren. Gula ist ein Freund Karthagos, er wird Sophonisbe zurückgeben."

Masinissa schüttelte den Kopf so heftig, daß die Strähne an seinem Hinterkopf Hannibal fast ins Gesicht fegte.

„Wir werden in der Steppe bleiben. Dort will ich uns ein Zelt bauen, Honig sammeln, Wildziegen und Enten jagen. Wir werden Wildbret in Hülle und Fülle besitzen. Den Fußboden und die Wände des Zeltes will ich mit Löwenfellen bedecken, um Sophonisbe vor dem kalten Wind zu schützen."

Hannibal blickte Masinissa nachdenklich an. „Hast du Sophonisbe eigentlich schon gefragt, ob sie einverstanden ist, mit dir zu fliehen?"

„In meinem Lande fragt man ein Mädchen nicht nach seinem Einverständnis. Man entführt es und bezahlt seinem Vater das Lösegeld."

„Aber Sophonisbe ist kein Mädchen deines Stammes. In Karthago herrschen andere Sitten. Es ist noch die Frage, ob sich Sophonisbe in deinem Zelt wohl fühlen wird, ob es ihr gefällt, sich in Tierfelle zu hüllen, Ziegenmilch zu trinken und halbrohes Fleisch zu essen. Sie ist in einem steinernen Hause aufgewachsen, sie pflegt auf einem Teppich zu schlafen, sich mit Rosenöl einzureiben, gebratenes Fleisch zu essen. Wird sie sich an die Einsamkeit gewöhnen, an das nächtliche Löwengebrüll und Schakalengeheul? Hast du dir das überlegt?"

Masinissa stiegen die Tränen in die Augen. Jetzt erst begriff er, wie schlecht seine Sache stand.

Plötzlich kam Hannibal ein Gedanke.

Ob diese Sophonisbe vielleicht in der Lage ist, den Numidier an Karthago zu binden, ihn ebenso zu zähmen wie Richad seine Elefanten? „Laß den Kopf nicht hängen, Masinissa", sagte er. „Du hast unüberlegt gehandelt, aber ich will zu Sophonisbes Vater gehen und ihm erklären, daß es nicht in deiner Absicht lag, ihn zu beleidigen, und daß du es nur aus Unkenntnis unserer Bräuche getan hast. Wenn er ein kluger Mann ist, wird er es nicht ablehnen, mit einem numidischen König in verwandtschaftliche Beziehungen zu treten!"

„Ich bin kein König!" rief Masinissa.

„Aber du kannst eines Tages ein König werden. - In Karthago gibt es einen Brauch, den man Verlöbnis nennt."

„Verlöbnis?" wiederholte Masinissa.

„Ja, Braut und Bräutigam verloben sich im Tempel, indem sie dort Geschenke austauschen, und heiraten erst mehrere Jahre später. Ich will versuchen, von Sophonisbes Vater die Einwilligung zu einem Verlöbnis zu erhalten unter der Voraussetzung, daß die Hochzeit erst dann stattfindet, wenn du den Thron deines Vaters bestiegen hast."

„Jetzt beginne ich zu begreifen, warum der Alte so böse auf mich war", sagte Masinissa leise. „Als ich ihn um die Hand seiner Tochter bat und er antwortete, ich sei noch zu jung für die Ehe und seiner Tochter nicht würdig, da zog ich den Dolch und forderte ihn zum Zweikampf heraus. Aber er befahl seinen Dienern, mich hinauszuwerfen."

„Du hast deinen künftigen Schwiegervater zum Zweikampf herausgefordert?" Hannibal brach in schallendes Gelächter aus. „Bestimmt hast du ihn zu Tode erschreckt. - Überlaß die Sache mir. Du mußt nur herausfinden, wie Sophonisbes Vater heißt und wo sein Haus steht."

„Dort." Der Numidier zeigte auf Magara, den schönsten Teil der Stadt. „Siehst du die weißen Türme zwischen den blühenden Bäumen rechts vom Teich?"

Hannibal unterdrückte einen Aufschrei. Das war der Besitz Hannos, der Palast, dessen Bau nach Hamilkars Meinung der Republik großes Unheil zugefügt hatte. Denn während Hamilkar in Sizilien gegen die Römer kämpfte, hatte Hanno Karthagos afrikanische Besitzungen verwaltet, durch unerhörte Greueltaten, durch Raub und Mord dort viele Reichtümer zusammengerafft und sie zum Bau dieses Hauses verwendet, das die Paläste orientalischer Herrscher an Pracht noch übertraf. Es war nur verständlich gewesen, daß sich die ausgeplünderten Afrikaner den meuternden Söldnern angeschlossen hatten.

„Du warst bei Hanno!" sagte Hannibal finster. „Wer konnte annehmen, daß dich die Göttin Tanit ausgerechnet zu diesem Menschen führte." „Kennst du Hanno?" forschte Masinissa. Er merkte gar nicht, wie verstört Hannibal war.

„In unserer Stadt kennt jedermann Hannos Namen, obgleich nur wenige die Ehre haben, seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Er kämpfte zusammen mit meinem Vater gegen die meuternden Söldner und übte häufig das Amt eines Suffeten aus, wie die beiden höchsten Beamten unserer Stadt genannt werden. Er ist der einflußreichste, wohlhabendste Mann von Karthago."

„Eure Väter haben zusammen gekämpft!" rief Masinissa erfreut. Alles andere von Hannibals Bericht war ihm gleichgültig. „Dann wird Hanno auf dich hören. Geh nur gleich zu ihm und sage, daß ich ein Königssohn bin und ein Verlöbnis wünsche."

Hannibal wurde unruhig. Er hätte dem jungen Numidier erklären können, daß Hamilkars und Hannos gemeinsamer Kampf gegen die Meuterer sie nicht zu Freunden gemacht, sondern im Gegenteil eine Kluft zwischen ihnen aufgerissen hatte, die noch tiefer war als jene, in die man nach karthagischem Brauch die zum Tode Verurteilten warf. Jeder der beiden Feldherrn schrieb die Siege in diesem Krieg sich selbst und die Niederlagen dem anderen zu. Doch wenn Masinissa begriff, daß er, Hannibal, nicht in der Lage war, ihm zu helfen, würde er dann auch keine Unbesonnenheit begehen?

„Sage ihm", fuhr Masinissa fort, „daß es nicht meine Absicht war, ihn zu kränken, und daß er die Sklaven nicht bestrafen soll, denn sie haben keine Schuld."

„Ich fürchte, daß ich nichts für dich tun kann, Masinissa", stieß Hannibal nach langer Pause hervor. „Es ist durchaus möglich, daß Hanno mich ebenfalls hinauswirft. Er verabscheut jeden Rat und will seine Tochter nach seinem eigenen Willen verheiraten. Überdies paßt Sophonisbe wirklich nicht zu dir. Gibt es in deinem Stamm keine schönen Mädchen?"

Der Numidier starrte Hannibal wortlos an. Er konnte nicht begreifen, was mit seinem neuen Freund geschehen war. Eben erst hatte er ihm angeboten, zu Sophonisbes Vater zu gehen, und nun versagte er ihm die Hilfe. Also war das, was seine Stammesgenossen über die Karthager sagten, keine Lüge, keine Verleumdung. Gewissenlos betrogen sie ihren Gast, ließen ihn in seinem Unglück allein! Und Hannibal machte keine Ausnahme!

Masinissa drehte sich um und rannte auf den Hof, wo sein Pferd stand und sich nach der weiten Steppe sehnte.

Was habe ich getan! dachte Hannibal verzweifelt. Masinissa ist eigensinnig, er wird seinen Willen durchsetzen und Hannos Schwiegersohn werden. Wie zornig wird der Vater sein! Schlecht habe ich seinen Auftrag erfüllt.

In Hannos Palast

Sophonisbe saß im Innenhof des Hauses, um dessen Marmorsäulen sich Weinreben und Efeu rankten. Die Luft war erfüllt vom Duft blühender Mandel- und Apfelbäume.

Als sie schnelle Schritte hörte, blickte sie auf. Auf dem mit rosigen und weißen Blütenblättern bestreuten Weg näherte sich der Vater. An seinem ungeduldigen Gesichtsausdruck erkannte sie, daß er eine Neuigkeit hatte.

„Weißt du, Töchterchen, wer der freche Bengel war, den ich zum Tor hinauswerfen ließ?" fragte er atemlos.

Sophonisbe ließ ihre Handarbeit sinken. Sie war dabei, auf den dicken grünen Stoff einen Leoparden zu sticken, der durch das Röhricht schleicht.

„Es war der Sohn des numidischen Königs Gula!" fuhr Hanno fort.

„Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich sanfter mit ihm umgegangen.

Aber schließlich stand es ihm nicht im Gesicht geschrieben, daß er ein Königssohn ist. Und was für eine Frechheit, mit dem Dolch vor meiner Nase herumzufuchteln!"

Sophonisbe stieg das Blut in das weiße Gesicht. Sie senkte den Kopf, die langen Wimpern beschatteten ihre Augen.

Als Hanno ihre Verwirrung sah, brach er in so fröhliches Gelächter aus, daß sein Spitzbart wackelte. „Einen hübschen Anblick würdest du als numidische Königin bieten!" spottete er. „Umringt von barfüßigen Hofdamen, die mit bemalten Straußeneiern geschmückt sind, und in einer Hauptstadt, die aus zwanzig Nomadenzelten besteht!"

Sophonisbe senkte den Kopf noch tiefer.

„Du brauchst keine Angst zu haben, Liebling", sagte ihr Vater zärtlich.

„Ich bin nicht Hamilkar, der seine einzige Tochter mit Gulas Bruder verheiratete und sie am Tage der Hochzeit verlor. Du wirst niemals einen Ungebildeten zum Manne nehmen und das Haus verlassen müssen, in dem du zur Welt kamst und aufgewachsen bist. Zeige mir deine Stickerei, Mädchen. Was soll das werden? Ein Leopard?"

„Ja, Vater. Aber ich habe noch niemals einen lebendigen Leoparden und das Röhricht gesehen. Ich war noch niemals dort, wo Masinissa zur Welt kam. Wie schön er von seiner Heimat spricht."

„Du hast noch keinen lebendigen Leoparden gesehen?" fiel ihr Hanno ins Wort. „Ich werde sofort den schönsten Leoparden in einem festen Käfig aus dem Tierzwinger holen lassen. Den Käfig stellen wir dann hier im Innenhof auf."

„Ich will keinen Leoparden im Käfig!" Sophonisbe warf ihre Stickerei zu Boden. „Ich werde nur noch Schwäne sticken, schwarze Schwäne. Erinnerst du dich, daß du mir zum Zeitvertreib einen Käfig mit einem Löwen herbringen ließest, als ich krank war. In der Nacht erwachte ich von entsetzlichen Schreien. Du hattest in deinem Zorn die Negersklavin Gela in den Löwenkäfig werfen lassen. Wessen sie sich schuldig gemacht hatte, weiß ich noch immer nicht. Aber ich will niemals mehr einen Raubtierkäfig im Hause haben."

Hanno wurde etwas verlegen. Er hatte geglaubt, seine Tochter hätte die freche Sklavin, die es gewagt hatte, sich ihm zu widersetzen, schon längst vergessen. Ein Sklavenbesitzer konnte doch mit seinen Sklaven machen, was er wollte, das tat jeder.

„Reg dich nicht auf, Liebling", sagte er. „Wenn du keinen gefangenen Leoparden sehen willst, werde ich ihn dir in Freiheit zeigen, mitten im Röhricht. Wir fahren nach Numidien. Aber nicht in Gulas Gebiet, sondern in die Stadt Cirta zum numidischen König Syphax. Gula ist ein Freund Hamilkars, und du weißt, wie ich zu diesem Mann stehe."

„Vater", sagte Sophonisbe zaghaft, „alle Leute sagen, Hamilkar habe das Vaterland gerettet, sei ein großer Feldherr und habe nun auch Iberien erobert."

„Alle Leute sagen das?" Hanno lächelte. „Sie sehen nicht weiter als bis zu ihrer ausgestreckten Hand. Die Stadträte von Karthago lieben es, kostbare Geschenke zu erhalten, mit denen Hamilkar nicht geizt, zumal es in Iberien viel Silber gibt. Und das einfache Volk liebt prunkvolle Schauspiele, wie das Eintreffen von Elefanten und die Verabschiedung des Heeres, besonders dann, wenn diese Schauspiele mit unentgeltlicher Bewirtung verbunden sind. Aber glaube mir, für all das werden wir einen hohen Preis bezahlen müssen. Wie schnell vergessen die Menschen ihre früheren Fehler! Der Krieg mit Rom hat uns nichts gelehrt. Und Hamilkar führt Karthago einem neuen, noch entsetzlicheren Krieg entgegen!"

Sophonisbe nahm ihre Stickerei wieder in die Hand. Flink glitt die Nadel mit dem goldenen Faden hin und her. Was kümmerte sie die Feindschaft zwischen ihrem Vater und Hamilkar! Ihr Herz war in weiter Ferne, in jenem märchenhaften Land, wo das Gras bis zu den Knien reicht, wo es himmelblaue Seen gibt, von Götterhand erschaffen. Dort schwimmen keine Schwäne mit beschnittenen Flügeln wie in den karthagischen Teichen, sondern zauberhafte rosenrote Vögel; dort schleichen Leoparden durch das hohe Röhricht, dort trompeten die Elefanten, den Rüssel gegen den Himmel gereckt. In jenem fernen Lande, von dem Masinissa erzählt hatte, weilte Sophonisbes Herz.

Hamilkars Tod

Hamilkar starb einen qualvoll langsamen Tod. Ein Speer war ihm in die Brust gedrungen und hatte einen Lungenflügel durchstoßen. An seinem Sterbelager drängten sich Tag und Nacht die Priester - karthagische, numidische, gallische und griechische. Jede Abteilung des aus vielen Völkerstämmen bestehenden Heeres besaß eigene Waffen, eigene Sitten, eine eigene Sprache. Und obendrein eigene Priester, die samt und sonders als heilkundig galten. Sie boten dem verwundeten Feldherrn eifrig ihre Dienste an, und er ließ alles geduldig über sich ergehen. In die erkaltenden Hände nahm er Seeschwämme, die nach Ansicht der Griechen die Schmerzen lindern sollten, er schluckte Arzneien, die bitter waren wie Steppenwermut oder süß wie Dattelhonig, er wiederholte in vielen Sprachen Beschwörungen und Gebete. Sein Zelt erzitterte vom Krachen der Eisenschilde und vom gellenden Klang der Hörner, als die eigens zu diesem Zweck aus Gallien herbeigeholten schrift- und heilkundigen Priester die bösen Geister austrieben. Die karthagischen Priester brachten ihren grausamen Göttern sieben Jünglinge zum Opfer, sieben Leben als Ersatz für das eine des Feldherrn. Das müßte doch ausreichen!


Aber alles war vergebens. Am Zelteingang stand der Tod, unentrinnbar wie die Nacht.

Als Hamilkar das erkannte, warf er die Priester hinaus. Nur Hasdrubal, der Greis, blieb bei dem Sterbenden. Ihm allein konnte Hamilkar das Heer anvertrauen. Ihn beauftragte er auch mit dem Krieg gegen das verhaßte Rom. Die Söhne waren noch zu jung. Selbst Hannibal war erst siebzehn. Die jungen Löwen brauchten noch eine feste Hand.

„Sei ihnen ein Vater", flüsterte der Sterbende. „Sende sie in den Kampf, dorthin, wo das Getümmel am dichtesten ist. Verweichliche sie nicht, laß sie das Leben einfacher Krieger führen. Der Würdigste soll Feldherr werden."

Dann begann er zu phantasieren, flehte, befahl. Als er wieder zu Bewußtsein kam, hob er mühsam den Kopf. Vor ihm knieten seine beiden jüngeren Söhne, blaß, verstört.

Sein Blick suchte Hannibal.

„Er ist schon auf dem Wege hierher", flüsterte Hasdrubal.

„Die Elefanten!" stieß der sterbende Feldherr hervor. „Die Elefanten sollen Rom zertreten! Hört ihr, junge Löwen?"

Sein Haupt sank auf das Kissen zurück.

Trauer

Karthago trauerte. Die Menschen gingen in schwarzen Gewändern und hatten ihr Haar mit Asche bestreut. Viele glaubten, daß Hamilkars Tod der Wiedergeburt ihrer Heimat ein Ende setzen und daß die mit soviel Mühe und so gewaltigen Verlusten geschaffene iberische Armee sich unverzüglich auflösen würde, denn wem sollten sich die Söldner nun unterordnen? Doch nicht Hasdrubal, der weder Hamilkars Kriegserfahrung noch seinen Ruhm besaß? Und schon gar nicht dem Grünschnabel Hannibal!

Die Nachricht von Hamilkars Tod erschütterte Hannibal zutiefst. Der Vater hatte gesagt, daß sie sich für lange Zeit trennen müßten, und nun hatten sie sich für immer getrennt.

Er konnte sich kaum vorstellen, daß dieser kraftvolle Mann, der einzige Mensch, der ihm wirklich nahegestanden hatte, nicht mehr am Leben war. Wem sollte er jetzt von seinem Mißerfolg mit Masinissa berichten?

Wer würde ihn von seinen Sorgen und Zweifeln befreien?

Erst jetzt erkannte Hannibal, was sein Vater für die Republik gewesen war. Er wurde von Stolz und Trauer hin und her gerissen, wenn ihm unbekannte Männer Worte des Mitgefühls sagten. Einige hatten unter seinem Vater in Sizilien gekämpft, andere hatte er vor den aufständischen Sklaven und Söldnern gerettet, und alle sprachen von ihm wie von einem Vater. Hannibals Kummer wurde noch größer, als er erfuhr, was sich im Großen Rat zugetragen hatte. Hanno und seine Anhänger waren zur Trauersitzung in weißen Gewändern erschienen, als wäre der Tod des großen Feldherrn für sie ein Freudentag.

Stehend hörten die Stadträte die Rede des Suffeten Bomilkar über die Verdienste des Feldherrn Hamilkar an. Aber dann nahm Hanno das Wort.

„Über das, was vergangen ist, sind jetzt genügend Worte verloren worden!" begann er scharf. „Denken wir an die Zukunft. Hamilkar hat uns ein Erbe hinterlassen - die iberische Armee mit seinem Neffen Hasdrubal an der Spitze. Das ist gleichbedeutend mit einem neuen Krieg, und die Götter mögen wissen, was er uns diesmal kosten wird. Nur die Auflösung der Armee wäre Karthagos Rettung. Und der junge Hannibal, der von Hasdrubal nach Iberien befohlen wurde, müßte hier zurückgehalten werden. Laßt ihn fern vom Heer leben, dem Großen Rat Karthagos und den Gesetzen Untertan."

Von seinen Freunden gewarnt, ritt Hannibal auf dem kürzesten Wege zum Hafen von Utica.

Dort konnte er am schnellsten ein Schiff finden. Und dort wurde er auch von Masinissa erwartet.

Masinissas Pferd, von dem er sich niemals trennte, war mit Schaumflocken bedeckt. Offensichtlich hatte Masinissa es ebenfalls eilig gehabt.

Er hielt eine Schriftrolle mit dem Königssiegel in der Hand. „Mein Vater befahl mir, dir dies zu übergeben." Er hielt Hannibal die Schriftrolle hin. „Er weiß schon vom Tode Hamilkars und trauert mit dir."

„Und wie steht es mit Sophonisbe?" fragte Hannibal und schob die Schriftrolle in sein Gewand.

„Weshalb hast du mir nicht gleich die ganze Wahrheit gesagt?" fragte Masinissa vorwurfsvoll zurück. „Auch mein Vater will von diesem Verlöbnis nichts wissen. Er wird niemals zulassen, daß der Feind deines Vaters mein Schwiegervater wird."

„Ich konnte es dir damals nicht erklären, du warst allzu erregt. Sophonisbe hat keine Schuld, daß Hanno ihr Vater ist, aber Gula hat recht, wenn er sich weigert, deine Bitte zu erfüllen."

„Nein, er hat unrecht, unrecht!" rief Masinissa. „Was geht mich die Feindschaft eurer Väter an? Dein Vater - mögen ihm die Götter der Unterwelt gnädig sein - ging in jenes Land, aus dem es keine Rückkehr gibt. Und mit ihm ging die Feindschaft. Die Schatten sollen den Lebenden nicht den Weg versperren."

„Aber Hanno ist kein Schatten!" seufzte Hannibal. „Gestern hat er im Großen Rat gefordert, daß ich hier zurückgehalten werde. Er ist mein Feind."

„Na, wennschon!" Masinissa blickte an Hannibal vorbei. „Trotzdem werde ich Sophonisbe entführen. Unsere Spur wird sich im Gras verlieren, und eure Feindschaft wird uns nicht erreichen. Das kann niemand verhindern, auch mein Vater nicht."

Er rannte zu seinem Pferd und sprang hinauf.

Hannibal blickte ihm lange nach. Das ist das Ende unserer Freundschaft! dachte er. Die zufällige Begegnung mit einem fremden Mädchen vor dem Tempel der Göttin Tanit machte all meine Pläne zunichte. Wie mächtig muß die Liebe sein, da sie doch Freunde entzweit und Väter und Söhne zu Feinden macht! Und ich? Werde ich jemals ein Mädchen wie Sophonisbe finden? Oder hat Tanit, die Göttin der Liebe, keine Macht über mich? Werde ich gelenkt von den Göttern des Krieges, denen mich mein Vater weihte?

An Deck des Schiffes erbrach Hannibal das Siegel und las den Brief. Gula bat ihn, Masinissa mit sich nach Iberien zu nehmen. „Der eigensinnige Junge hat sich das Verlöbnis mit Hannos Tochter in den Kopf gesetzt", schrieb Gula. „In den Schlachten gegen die Völker, die meine und deines Vaters Feinde sind, wird er begreifen, wo die wirkliche Bestimmung und das Glück des Mannes liegen."

Hannibal trat an die Reling. Das Schiff fuhr gerade aus der Bucht. Der davongaloppierende Reiter hatte sich schon in einen kaum erkennbaren Punkt verwandelt.

Gula kennt seinen Sohn schlecht, sagte sich Hannibal. Masinissa braucht keine Belehrungen, er hat seine eigenen Vorstellungen vom Glück des Mannes. Er wird zugrunde gehen oder sein Ziel erreichen.


Eine harte Schule

Greis erfüllte den Letzten Willen Hamilkars gewissenhaft. Hannibal diente als Gemeiner im Heer. Seite an Seite mit den anderen Kriegern ertrug er Hitze und Kälte. Er führte jeden Befehl seiner Vorgesetzten aus, ging auf Erkundung, stürzte sich als erster in die Schlacht und verließ sie als letzter. Magarbal betrachtete ihn schon lange als den besten Reiter im Heer, und die balearischen Schleuderer wußten, daß er besser als mancher von ihnen mit der Wurfschleuder umgehen konnte. Er trug die Kleidung eines einfachen Kriegers und schlief auf der bloßen Erde, in seinen Umhang gehüllt. Er sprach nicht nur griechisch, sondern konnte sich auch fließend numidisch, gallisch und iberisch verständigen. Diese Sprachkenntnisse verschafften ihm unter den verschiedenen Völkerstämmen des Heeres die höchste Achtung. Hannibal unterschied sich grundlegend von den anderen Karthagern, die sich nur durch Dolmetscher mit den Söldnern verständigen konnten.

Überdies war er freundlich zu jedermann und kannte keinen Standesdünkel. Über seine Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Vater staunte jeder. Er hatte das gleiche Kinn, den gleichen schwarzgelockten Bart und die gleichen gebieterischen Augen. Hamilkar schien wieder auferstanden zu sein.


In der Regenzeit kehrte das Heer, durch die Gefechte mit den Iberern erschöpft und gelichtet, nach Neu-Karthago zurück. Diese Stadt lag auf einem schmalen, weit ins Meer vorspringenden Kap im Süden von Iberien. Hasdrubal, der Greis, hatte sie in erstaunlicher Geschwindigkeit errichten lassen. Unzählige Sklaven, die in Kämpfen gegen die Iberer erbeutet oder in Karthago, Utica und Cädiz gekauft worden waren, bauten hohe Paläste und Tempel, pflasterten die Straßen und errichteten eine Festungsmauer quer über die Landenge. Dadurch wurde die neue Stadt zu einer uneinnehmbaren Festung. In dem Bestreben, Karthago in jeder Beziehung zu übertrumpfen, ließ Hasdrubal von den iberischen Stämmen, die ihm tributpflichtig waren, große Apfel-, Birn- und Feigenbäume ausgraben und sie an Stelle von Silber und Sklaven - den sonstigen Formen des Tributs - nach Neu-Karthago bringen. Viele Iberer hielten diesen Befehl für sonderbar, aber sie führten ihn gewissenhaft aus, denn sie wußten, welche Folgen ein Ungehorsam nach sich ziehen würde. Auf diese Weise schmückte sich die Stadt innerhalb eines einzigen Jahres mit Parks und Gärten. Auch Teiche ließ Hasdrubal anlegen, auf deren spiegelglatter Wasserfläche weiße und schwarze Schwäne schwammen. Es war die märchenhafte Verwandlung einer steinigen Halbinsel in ein Paradies.

Hannibal wohnte in Hasdrubals kostbarem Palast. Das Dach war mit zentnerschweren Silberplatten gedeckt. Wände und Treppen bestanden aus Ebenholz, das mit Schiffen aus Afrika herbeigeholt worden war. Die Karthager bestaunten den märchenhaften Luxus des Palastes, aber ebensosehr wunderten sie sich, daß Hannibal so freundschaftliche Beziehungen zu Hasdrubal unterhielt. Denn eigentlich hätte er doch sein erbittertster Feind sein müssen, weil nicht er, der Sohn, Hamilkars Erbe angetreten hatte, sondern Greis. Hasdrubal besaß den Oberbefehl über das Heer und alle Schätze Iberiens, und Hannibal war leer ausgegangen. Seit Jahren diente er als gemeiner Krieger im Heer, und auch in Hasdrubals Palast bewohnte er nur eine winzige Kammer, die für einen Sklaven angemessener gewesen wäre als für Hamilkars Sohn. Sie war so klein, daß keine Lagerstatt darin Platz fand, so daß Hannibal auf dem Boden schlafen mußte. Die ganze Ausstattung bestand aus Waffen, die an den Wänden hingen. Das war kaum zu glauben und kaum zu begreifen.

Aber Hannibal empfand gegenüber Greis weder Neid noch Mißgunst, weil er wußte, daß dieser nur Hamilkars Letzten Willen erfüllte. Zudem erkannte er, daß das Werk seines Vaters von starken, zuverlässigen Händen weitergeführt wurde. Wäre Hamilkar noch am Leben, dann hätte er wohl kaum mehr erreicht. Greis hatte das gesamte östliche Ufer Iberiens bis zum Ebro mit Ausnahme der Stadt Sagunt erobert und in der Nähe von Neu-Karthago reiche Silberbergwerke erschlossen. Von vielen iberischen Stämmen erhielt er Tributzahlungen.

Diejenigen Karthager, die durch den Handel mit Silber und Sklaven reiche Leute geworden waren, rühmten Hasdrubal in den höchsten Tönen und unterstützten ihn im Großen Rat.


Die Römer schlossen mit ihm ein Abkommen, worin sie seine Eroberungen in Iberien anerkannten und nur verlangten, daß er die Stadt Sagunt ungeschoren ließ.

Hasdrubals Hochzeitsfest

Noch niemals war Hasdrubals Palast von einer so festlich erregten, bunten Menge erfüllt gewesen. Neben dem karthagischen Ratsherrn mit dem knöchellangen Gewand und den Goldringen an Fingern und Ohren ging ein iberischer Söldner in Rüstung mit dem Krummschwert im Gürtel oder dem Dolch im Ledergehänge. Über die kostbaren Teppiche schritten würdevoll die Frauen und Töchter der iberischen Könige. Sie trugen Lederdiademe mit eingesetzten Silbervierecken, Bronzeketten mit Amuletten und hatten zinnoberrot geschminkte Wangen. Auch Ehefrauen der karthagischen Offiziere waren zugegen; sie trugen Goldreifen an Hand- und Fußgelenken und hatten sich Saphire und Smaragde ins Haar gesteckt. In ihr kostbares arabisches Parfüm mischte sich der Gestank von Delphintalg, der bei den Iberern als heilkräftig galt.

Und wie verschiedenartig waren die Speisen, die auf der Tafel standen! Neben den eigens aus Karthago beschafften Goldpokalen mit dem dünnen Fuß, aus denen der Sage nach schon die Königin Dido getrunken haben sollte, standen iberische Weinschalen, bemalt mit Menschen- und Tierfiguren oder mit gelben, orangefarbenen und weißen Linien. Zum gebratenen Hundefleisch, ohne das ein karthagisches Festessen nicht denkbar war, wurden einfache Gerstenfladen gereicht - die Nahrung der iberischen Hirten.

Es war eine Mischung aus karthagischer und iberischer Welt - das Ergebnis von Hasdrubals politischer Weisheit. Hannibal fiel ein, als Junge gelesen zu haben, daß Alexander ein ähnliches Fest in Babylon veranstaltet hatte. Auch Alexander wußte, daß er nur dann seine Herrschaft über das riesengroße persische Reich nicht verlieren würde, wenn er die persischen Sitten und Gebräuche beachtete. So hatte er an einem einzigen Tage zehntausend seiner Krieger mit den Töchtern des persischen Adels verheiratet und sich selbst mit der persischen Königstochter Roxane vermählt.

Hannibal wußte nicht, ob Hasdrubal diese Geschichte kannte, jedenfalls tat er das gleiche wie Alexander. Er heiratete Regile, die achtzehnjährige Tochter eines iberischen Königs.

Sie saß an der Hochzeitstafel neben ihm.

Hannibal betrachtete ihr kreideweißes Gesicht und ihr weißes Brautgewand, das über der Brust mit einer schweren Silbernadel zusammengehalten wurde, und dachte an Masinissa und seine Liebe zu Sophonisbe. Mit welcher Leidenschaft hatte der Numidier von dem Mädchen gesprochen, das er erst wenige Stunden kannte! Hasdrubal dagegen hatte sich schon seit einem Jahr auf die Hochzeit vorbereitet und häufig mit Hannibal über die Vorteile dieser Heirat geredet. Doch keinmal hatte er ihm geschildert, was für Augen die Braut hatte, wie ihre Stimme klang und wie sie gekleidet war.

Erst jetzt entdeckte Hannibal, daß die Braut blaue Augen hatte; aber sie waren gerötet, und in der Zinnoberschminke, die ihre Wangen bedeckte, hatten die Tränen weiße Rinnsale gebildet. Nahezu alle Hochzeitsgäste wußten, daß ihr Vater sie an Stelle des Jahrestributs an Hasdrubal verschachert hatte und daß sie den jungen Iberer Wlamun liebte, dem sie seit ihrer Kindheit versprochen war.

Aber bei den Gästen schlug die Festfreude hohe Wogen. Karthagische, sizilianische und gallische Weine flössen in Strömen. Die berauschten karthagischen Offiziere schworen ihren iberischen Zechgenossen und ehemaligen Feinden in gebrochenem Iberisch ewige Freundschaft und schlossen sie zärtlich in die Arme. Plötzlich ertönten iberische Hörner, Knochenklappern rasselten, und drei iberische Krieger sprangen in den Saal.

Sie trugen Masken vor dem Gesicht und hielten funkelnde Dolche in der Hand.

„Ein Waffentanz, ein Waffentanz!" riefen die Gäste entzückt, sprangen von den Plätzen und klatschten im Takt.

Auch Hasdrubal erhob sich, eine iberische Weinschale in der Hand. Doch da wurde die Musik von einem Schrei des Entsetzens übertönt. Ein Tänzer hatte sich auf Hasdrubal gestürzt und ihm den Dolch bis zum Griff in die Brust gebohrt.

Hasdrubal stürzte tot zu Boden. Der Mörder blieb vor ihm stehen, die Arme über der Brust verschränkt. Die Maske war ihm vom Gesicht gefallen. Er lächelte. Sein entschlossenes gebräuntes Antlitz verriet weder Angst noch Verwirrung.

Mit ausgestreckten Armen taumelte die Braut auf ihn zu.

„Wlamun!" stammelte sie. „Wlamun!"

Keiner der Gäste rührte sich. Niemand stürzte sich auf den Mörder, um ihn zu packen, ihm die Hände zu binden, ihm das Lächeln aus dem Gesicht zu prügeln.

Hannibal spürte, daß sich alle Blicke auf ihn richteten. Der Dolchstoß setzte einen blutigen Punkt unter die Herrschaft Hasdrubals, mochten ihm die Götter der Unterwelt gnädig sein! Jetzt ging die gesamte Macht über das Heer, über das eroberte Land und - welch bedrückender Gedanke! - auch über das Schicksal des Vaterlandes auf ihn, Hannibal, über. Er duckte den Kopf, als legte sich eine unsichtbare Last auf seine Schultern.

Belagerung von Sagunt

Die iberische Stadt Sagunt führte ein friedliches Leben. In den Gärten vor der Stadt reiften gelbe Birnen und rote Granatäpfel, und die Bauern pflückten die reiche Ernte in große Körbe. Im Handwerkerviertel drehten sich von früh bis spät lautlos die Töpferscheiben. Fleißige Hände formten den berühmten saguntinischen Ton, der leichter ist als Wasser. Das in unterirdischen Töpferöfen gebrannte Geschirr hatte einen rostbraunen Schimmer, der überall dort hoch geschätzt wurde, wo man von Tongeschirr etwas verstand.

Die Fischer brachten in Schilfkörben die Gaben des Meeres auf den Markt - Fische mit Glotzaugen und große Hummer, deren Schnurrbarthaare und Kneifzangen zuckten. Die reichen saguntinischen Kaufleute saßen am Marktplatz in den Schenken und verpraßten ihren Gewinn. Kleine Jungen spielten auf der Straße.

Im Morgengrauen, zur Stunde des Hahnenschreis, näherte sich Hannibal der Stadt. Nur wenigen Einwohnern der umliegenden Dörfer gelang es, sich hinter die Stadtmauer zu retten. Die Posten auf den Wachtürmen sahen ohnmächtig zu, wie die karthagischen Söldner in die Vororte strömten, die Häuser plünderten, das Vieh davontrieben, die weinenden Frauen und die verzweifelt schreienden Männer in die Sklaverei verschleppten.

Die Stadtältesten riefen das Volk zum Widerstand auf. Die Schmiede, die bisher Sensen und Sicheln angefertigt hatten, konstruierten jetzt Armbrüste und Schleuderwaffen. Die Maurer reparierten die schadhaften Stellen in der Stadtmauer. Auch die Kinder waren nicht müßig. Sie brachten den Kämpfern Pfeile auf die Stadtmauer, hielten die offenen Feuer in Gang, über denen Wasser erhitzt wurde, und schleppten Steine zu den Wurfgeschützen.


Da es Hannibal nicht gelungen war, die Saguntiner zu überrumpeln, belagerte er sie.


Er haßte die Stadt, weil sie mit Rom verbündet war, und er hatte das Gefühl, daß ihre Mauern ihm den Weg nach Rom versperrten.

Sagunt war in Form eines schiefen Rechtecks erbaut, dessen südliche Spitze in eine weite Ebene vorstieß. An dieser Stelle ließ Hannibal einen vielstöckigen wandelnden Turm errichten. Die dem Gegner zugewandte Seite hatte in jedem Stockwerk Schießlöcher, durch die man mit kleinen Wurfgeschützen Steine und Pfeile schleuderte.



Um den Turm an die Stadtmauer heranrollen zu können, mußte der Boden vorher eingeebnet und festgestampft werden. Nach Hannibals Berechnung konnte diese Arbeit höchstens zwei Wochen dauern. Aber die belagerten Saguntiner verhinderten das. Nachts überfielen mutige saguntinische Jünglinge die karthagischen Wachposten, tagsüber prasselten ständig Steine und Pfeile auf die Rollbahn vor dem Turm herab.

Da die Karthager ihre großen Wurfgeschütze noch nicht aufgestellt hatten, fühlten sich die Saguntiner so sicher, daß sie auf die Stadtmauer kletterten und von dort aus die Karthager beschimpften. Oder sie steckten Zettel auf ihre Pfeile und schossen sie zu den Belagerern hinüber.

„Ihr karthagischen Esel habt euch eine Beute ausgesucht, die euch im Rachen steckenbleiben wird, so daß ihr daran erstickt!" las Hannibal auf einem Zettel.

Ein Saguntiner, der einen dunkelblauen Umhang trug, hielt sich ein Metallrohr an den Mund, das seine Stimme verstärkte, und überschüttete Hannibal von der Stadtmauer herab stundenlang mit den unflätigsten Schimpfworten.

Schließlich riß Hannibal die Geduld.

„Ruft Tirnes her!" befahl er.

Tirnes, der Kommandeur der balearischen Söldner, erschien unverzüglich. Über Schultern und Brust trug er ein Schaffell. An seinem breiten Ledergürtel hing ein mit Steinen gefülltes Ledersäckchen.

„Siehst du dort den Schreihals im dunkelblauen Umhang?" fragte der Feldherr. „Triff ihn!"

Ruhig nahm Tirnes das Schaffell von den Schultern und warf es zu Boden. Er trug drei schwarze Schnüre verschiedener Länge um den Hals. Prüfend blickte er zur Stadtmauer hinüber, wählte dann die mittlere Schnur, holte einen feigengroßen Stein aus seinem Säckchen, legte ihn in die Schlinge der Schnur und holte aus. Der Stein pfiff durch die Luft und fegte den Mann im dunkelblauen Umhang von der Mauer.

In das Triumphgeschrei der karthagischen Söldner mischten sich die Schreckensrufe der Belagerten.

Tirnes hob inzwischen gelassen das Schaffell auf und legte es sich wieder um die Schultern.

„Ich wollte schon lange wissen, welcher Gott dich deine Kunst gelehrt hat!" sagte Hannibal.

„Der Gott des Hungers", gab Tirnes zur Antwort. „Als ich ein Knabe war, legte der Vater einen Fladen auf die Erde und gab ihn mir erst, nachdem ich ihn mit der Wurfschleuder getroffen hatte."

„Lebt dein Vater noch?"

„Ja, er geht noch auf die Ziegenjagd."

„Dann übersende ihm dies." Hannibal gab dem balearischen Schleuderer einen Silberbarren. „Sage ihm, das Silber sendet ihm der Gott des Krieges zum Lohn dafür, daß er einen so treffsicheren Schützen erzogen hat."

Hannibal dachte noch lange über Tirnes' Worte nach. Der Gott des Hungers - besser kann man es nicht ausdrücken! Er trieb all diese Gallier, Balearen, Iberer in mein Heer. Was geht Karthago sie an? Sie sind Söldner und werden mir nur so lange die Treue halten, wie sie sich satt essen und Silberstücke in den Beutel stecken können. Auf dieses Silber warten ihre alternden Väter, ihre jungen Bräute, ihre Ehefrauen. Sein Klang ruft sie lauter als jedes Hornsignal zum Sturm auf die feindlichen Mauern und zwingt sie, Schmerzen und Erschöpfung zu ertragen.

Die römische Abordnung

Besorgt beobachteten die Römer die Ereignisse in Iberien, ohne daß sie in der Lage gewesen wären, sich in die iberischen Angelegenheiten einzumischen, denn ihre Streitkräfte waren durch Gefechte auf dem Adriatischen Meer gebunden.

Selbst als Hannibal das mit ihnen befreundete Sagunt in der eindeutigen Absicht überfiel, einen Krieg vom Zaun zu brechen, entschlossen sie sich nur, eine Abordnung zu ihm zu schicken.

Geleitet wurde die Abordnung von dem Senator Valerius Flaccus. Er hatte den Auftrag, Hannibal an den Vertrag zu erinnern, den Rom mit seinem Vorgänger Hasdrubal geschlossen hatte, und mit einer Kriegserklärung zu drohen, falls Hannibal Sagunt nicht in Ruhe ließ.

Zwei Wochen brauchte Valerius Flaccus für die Fahrt von der römischen Hafenstadt Ostia zu der iberischen Hafenstadt Tarragona, zwei weitere Wochen für die Reise von Tarragona nach Sagunt.

Da Sagunt eine halbe Meile vom Meer entfernt lag, wußten die Belagerten nichts vom Eintreffen der römischen Abordnung, die ja ohne Einverständnis der Karthager nicht in die Stadt gelangen und die Saguntiner in ihrem Kampfeswillen bestärken konnte.

Als die Römer landeten, war Hannibal gerade mit der Aufstellung von Rammbalken beschäftigt. Das waren lange dicke Balken, die mit Ketten an der Oberseite fester Holzrahmen hingen. Ihre eisenbeschlagenen Spitzen hatten die Form eines Hammelkopfes. Darüber war ein hölzernes Schutzdach angebracht, mit angefeuchteten Ochsenhäuten bezogen.

Hannibal lächelte spöttisch, als man ihm die Ankunft der Römer meldete.

„Bestelle ihnen", trug er seinem Bruder Magon auf, „daß ich augenblicklich außerstande bin, sie zu empfangen. Unsere Feinde machen überraschende Ausfälle aus der Stadt, und dabei könnte die Abordnung unter Umständen verwundet oder gar getötet werden. Die Sicherheit des ehrenwerten Senators Valerius Flaccus geht mir über alles. Deshalb möge er das Ende der Belagerung abwarten."

Nach kurzer Zeit kam Magon zurück.

„Valerius Flaccus platzte fast vor Wut, als ich ihm deine Worte ausrichtete. ,Dann werde ich in Karthago Gerechtigkeit suchen!' schrie er. Jetzt hat Hannibal keine Zeit, mich zu empfangen, aber er wird sie im Überfluß haben, wenn ich ihn in Ketten nach Italien führe!'"

Hannibal strich sich nachdenklich den Bart. „Bruder", sagte er dann, „du wirst nach Karthago reisen müssen. Falls sich die Römer im Großen Rat beschweren, werden sie bei Hanno und seinen Speichelleckern Verständnis finden. Wir müssen unsere karthagischen Freunde rechtzeitig vom Eintreffen der römischen Abordnung informieren. Und hiermit sollst du uns die Herzen der Schwankenden geneigt machen."

Er zeigte auf die Ledersäcke, die in einer Ecke des Zeltes lagen.

„Was ist darin?" fragte Magon.

„Silber. Hast du noch nicht bemerkt, daß die Waage so lange schwankt, bis man ein Gewicht auf eine der beiden Schalen legt? Silber wiegt schwerer als alle Zweifel, das sagte schon unser toter Vetter Hasdrubal. Aber du mußt früher in Karthago sein als die Römer. Auf dem Rückweg machst du dann Gula einen Besuch. Er soll uns tausend Reiter senden und mit ihnen Masinissa."


Einen Tag vor den Römern kam Magon in Karthago an. Es gelang ihm, noch rechtzeitig mit Hannibals Freunden zu sprechen und unter denjenigen, die sich bisher weder Hannibal noch Hanno angeschlossen hatten, Geschenke zu verteilen. Valerius Flaccus wurde im Großen Rat mit feindseligem Schweigen angehört. Nur Hanno stellte sich auf seine Seite.

„Hannibal ist eine Gefahr für Karthago!" rief er. „Der Sohn strebt genauso nach der Alleinherrschaft wie einst sein Vater! Es ist empörend, daß sich Hannibal geweigert hat, die Abgesandten des römischen Volkes zu empfangen, die gekommen sind, um für ihre Bundesgenossen einzustehen! Hannibals Überfall auf Sagunt ist ein Anschlag auf die Mauern Karthagos!"

Magon sah, daß die Ratsherren ablehnende Gesichter machten. Manche tauschten sogar spöttische Blicke.

Hanno aber bemerkte das nicht. Seine Stimme war schrill vor Haß. Mit geröteten Augen forderte er, Roms Wunsch unverzüglich zu erfüllen, das Heer von Sagunt abzuziehen, Hannibal den Römern auszuliefern und die Saguntiner zu entschädigen.

Allgemeines Gemurre war die Antwort. Viele Ratsherren sprangen von den Plätzen. „Schmach und Schande!" riefen sie. „Du Verräter! Wieviel haben dir die Römer für diese Rede bezahlt?"

Erstaunt erkannte Magon, daß diejenigen, denen er am Abend zuvor Hannibals Geschenke ausgehändigt hatte, am lautesten schrien. Ja, der Bruder hat recht! dachte er. Silber hat auf der Waagschale ein schweres Gewicht!

Sagunt fällt

Nachts brachten die Posten einen Überläufer. Das zuckende Fackellicht fiel auf ein Leinenwams, Leinenhosen und Sandalen, deren weißgegerbte Lederriemen bis zu den Knien hochgebunden waren. Auf dem Kopf trug der Saguntiner einen Helm aus Eisenringen mit drei Kämmen - dem Wahrzeichen der adligen Iberer.

„Wer bist du?" fragte Hannibal.

„Man nennt mich Alkon", stieß der Saguntiner hastig hervor. „Ich bin allein gekommen, niemand weiß, daß ich hier bin."

„Was willst du?"

„Gnade im Namen der Götter. Die Straßen der Stadt liegen voller Leichen. Frauen und Kinder sterben vor Hunger. Das Volk will nichts von Unterhandlungen hören. Doch die wahren Patrioten dürsten nach Frieden."

„Du hast gut daran getan zu kommen", erwiderte Hannibal sanft. „Aber du hättest früher kommen müssen. Der Krieg hat mir viel Zeit geraubt, dafür muß Sagunt zahlen. Du kannst deinen Mitbürgern meine Friedensbedingungen ausrichten. Höre zu! Ihr übergebt uns alle Waffen, alles Gold und Silber, das ihr besitzt, und verlaßt mit leeren Händen die Stadt. Ich werde euch einen Ort zuweisen, wo ihr euch ansiedeln dürft."

Alkon taumelte zurück.

„Weshalb antwortest du nicht?" höhnte Hannibal. „Bin ich nicht gnädig? Was wollt ihr mit diesen Trümmern anfangen?" Er zeigte auf die mondbeschienenen Ruinen der Stadtmauern und Wachtürme. „Mögen hier nur noch Wölfe und Schlangen hausen."

„Töte mich, Hannibal!" antwortete Alkon entschlossen. „Jeder, der es wagen würde, den Saguntinern solche Bedingungen zu überbringen, würde hingerichtet werden. Und ich will lieber durch die Hand des Feindes sterben als durch die meiner Mitbürger."

„Glaube ihm nicht, er ist ein Feigling!" rief eine Stimme dazwischen. Aus der Menge, die den Überläufer umringte, trat ein Krieger, der einen Lederhelm auf dem Kopf trug. Hannibal wußte, daß er. Alorkes hieß und schon unter seinem Vater eine Abteilung von iberischen Reitern befehligt hatte.

„Die Saguntiner kennen mich", fuhr Alorkes fort. „Unsere beiden Stämme sind durch die Bande alter Gastfreundschaft miteinander verknüpft. Und wenn Alkon den Zorn seiner Mitbürger fürchtet, dann wähle mich zu deinem Mittelsmann. Ich werde den Belagerten deine Bedingungen überbringen."

Am nächsten Morgen ging ein Mann mit einem Olivenzweig in der Hand auf das saguntinische Stadttor zu. Es war Alorkes. Die Wachen ließen ihn ein und verbanden ihm wortlos die Augen. Dann mußte er einen langen Weg zurücklegen, anscheinend wurde er durch sämtliche Straßen der Stadt geführt. Hinter sich hörte er ein ständig anschwellendes Geräusch von Schritten, aber keine einzige menschliche Stimme. Die Saguntiner verließen ihre Häuser und folgten dem Mann mit den verbundenen Augen schweigend, als wäre er die Verkörperung des blinden Schicksals.

Endlich legte ihm jemand die Hand auf die Schulter. Er blieb stehen. Die Binde wurde ihm von den Augen genommen. Vor ihm lag der Stadtplatz, auf dem dicht an dicht die Saguntiner standen. Viele hundert schwarz umrandete Augen waren auf ihn gerichtet.

Alorkes drehte sich zu den Stadtältesten um und richtete ihnen Hannibals Bedingungen aus. Jedes seiner Worte war auf dem Platz zu hören. Danach gingen die Saguntiner auseinander, kamen aber bald wieder zurück, Brennholz und Reisig in den Händen, das sie auf dem Stadtplatz zu einem hohen Scheiterhaufen auftürmten. Einer hielt die Fackel an den Scheiterhaufen, und als er in hellen Flammen stand, sprangen die Menschen hinein - einzeln, die Eheleute zu zweit. Viele trugen ihre kleinen Kinder auf dem Arm. Andere zerrissen sich die Kleider und erstachen sich. Alorkes hielt sich die Augen zu, geschüttelt von Grauen.

Inzwischen setzten die Karthager zum Sturm an, ohne seine Rückkehr abzuwarten. Sie stießen auf keinen Widerstand. Die Straßen waren leer bis auf die Leichen. Die Saguntiner hatten den Tod der Sklaverei vorgezogen.

Bericht eines entflohenen Sklaven

Nach der Einnahme von Sagunt begab sich Hannibal nach Neu-Karthago, wo er die Beute unter seinen Kriegern verteilte und die Boten empfing, die er nach Gallien entsandt hatte.

Begeistert berichteten sie von dem unwahrscheinlich fruchtbaren Boden der italischen Gallier und von den billigen Lebensmittelpreisen. Auf den Äckern wurden reiche Gerste- und Hirseernten eingebracht, in den Eichenwäldern weideten große Schweineherden, und auf den saftigen Bergwiesen grasten unzählige Ziegen, Schafe und Pferde. Das Land wäre dicht mit gallischen Völkerstämmen besiedelt, hochgewachsenen schönen Menschen, in deren Herzen der Haß auf Rom lebte. Sie wären bereit, das karthagische Heer mit Menschen und Lebensmitteln zu unterstützen.

Die Boten brachten auch einen Dolmetscher mit, den Gallier Dukarion, einen ehemaligen römischen Sklaven. Er war fünfundzwanzig Jahre, also ebensoalt wie Hannibal, hatte blondes Haar und ein regelmäßig geschnittenes Gesicht. Sein Haß auf Rom verband ihn mit Hannibal. Zudem konnte er ihm vieles von Rom erzählen.

„Wie wurdest du Sklave?" fragte Hannibal.

Dukarion starrte finster vor sich hin. „Nachdem die Römer unser Heer in der Schlacht an der Adda besiegt hatten, drangen sie in unser Dorf ein und steckten es in Brand. Meine Mutter und meine kleine Schwester kamen in den Flammen um. Die jungen Männer des Dorfes, darunter auch ich, wurden an die Bäume gebunden und ausgepeitscht. Gaius Flaminius lachte, als er unsere Qualen sah."

„Gaius Flaminius?" wiederholte Hannibal. Dieser Mann war der erste Regent Siziliens gewesen, nachdem die Römer es den Karthagern weggenommen hatten.

„Ja, er befehligte die römische Legion, die unser Dorf besetzte."

„Wie sieht er aus?"

Dukarion zuckte erstaunt die Schultern; er begriff nicht, weshalb sich der mächtige karthagische Feldherr für einen Römer interessierte, der zur Zeit kein öffentliches Amt mehr bekleidete. „Er ist etwas größer als du, wohl auch älter, hat ein glattrasiertes Gesicht wie alle Römer, einen schnellen Gang, graue Augen, und wenn er lacht, reißt er den Mund auf."

„Ich fürchte, daß ich nach deiner Beschreibung Flaminius nicht erkennen würde, wenn ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünde. Die meisten Römer haben graue Augen, und jedermann lacht mit offenem Mund. Ist er Patrizier, ich meine, gehört er einem der alten römischen Adelsgeschlechter an?"

„Ich hörte, daß er seine Karriere nicht einer edlen Geburt, sondern der Verehrung der Plebejer verdankt, zumal er auch den Kreisen dieser niedriggestellten römischen Bürger entstammt. Er schenkte ihnen das Land, das er meinem Volke geraubt hatte, und sie setzten es auch durch, daß die Straße, die das Tyrrhenische und Adriatische Meer verbindet und teilweise durch gallisches Gebiet führt, auf seinen Namen getauft wurde und seitdem Flaminische Straße heißt. Anschließend baute er in Rom für seine plebejischen Mitbürger einen Zirkus, der ebenfalls seinen Namen trägt."

Hannibal nickte schweigend. Er verglich den Plebejer Gaius Flaminius in Gedanken mit dem Patrizier Quintus Fabius. Zwar begannen ihre Nachnamen mit dem gleichen Buchstaben, aber sonst ähnelten sie sich wenig. Quintus Fabius war ein vorsichtiger, besonnener Mann, im Gegensatz zu dem temperamentvollen, unbesonnenen Flaminius, dem der Erfolg zu Kopf gestiegen war.

Hannibal fuhr aus seinen Gedanken auf.

„Verzeih, daß ich deinen Bericht unterbrach", sagte er. „Und was geschah dann mit dir?"

„Wir wurden in Ketten nach Rom gebracht, und dort trennte man mich von meinen Freunden. Die Römer vermeiden es, Angehörige desselben Volkes zusammen zu halten. Uns kauften verschiedene Leute. Ich kam in eine Mühle. Mit mir wurden ein Syrer, ein Thrakier, ein Skythe und ein Grieche an den Mühlstein geschmiedet. Unser Besitzer war überzeugt, daß wir uns untereinander nicht verständigen konnten. Freilich lautet das Wort Freiheit in den verschiedenen Sprachen anders, aber es ist dem Herzen eines jeden Menschen gleichermaßen teuer. Während der Saturnalien, dieser römischen Feiertage, an denen die Sklaven vorübergehend freigelassen werden, ergriffen wir die Flucht. Die Römer verfolgten uns mit Hunden, die auf die Menschenjagd abgerichtet waren. Aber wir entkamen ihnen und ihren Herren, weil wir auf einer Tiberinsel Zuflucht suchten und das Wasser unsere Spuren verwischte. Die Römer haben diese Insel auf den Namen Äskulaps, des Gottes der Heilkunst, getauft und bringen die alten und hoffnungslos kranken Sklaven zum Sterben dorthin. Viele kleine und größere Schiffe fahren täglich an der Insel vorüber, aber keines legt dort an, um den Sterbenden wenigstens etwas trockenes Brot hinzuwerfen. Vielleicht war es jedoch gerade diese Unmenschlichkeit, die uns das Leben rettete. Drei Tage hielten wir uns im Dickicht verborgen, und jeder flehte seine Götter in seiner Sprache um Schutz und Hilfe an. Und sie erhörten unsere Gebete.

In der vierten Nacht gelang es uns, unbemerkt auf ein Getreideschiff zu klettern und uns im Laderaum zu verstecken. Wir wußten nicht, wohin das Schiff fuhr, und wagten auch nicht, uns bemerkbar zu machen. Nach einigen Tagen quälte uns der Durst so sehr, daß wir uns fast verraten hätten. Doch unser Durst nach Freiheit war noch größer. Ich weiß nicht, wie viele Tage wir unterwegs waren, denn mein Bewußtsein hatte sich getrübt, und ich glaubte zu träumen, als ich die Ankerkette rasseln hörte. Kurz darauf wurde das Korn ausgeladen, und die Sklaven, die als Lastträger arbeiteten, sagten mir, daß ich mich in Marseille befand. Sie brachten mir auch zu trinken. - Meine Fluchtgefährten brauchten kein Wasser mehr. Sie waren verdurstet.

Aus Marseille wanderte ich in Richtung der Alpen, und nach einer Woche war ich wieder in der Heimat. Als ich berichtete, wie mich die Römer behandelt hatten, die Narben auf meinem Rücken zeigte, gelobten alle, an den Römern Rache zu nehmen. Als deine Boten zu uns kamen, sagten Freunde zu mir: ,Geh mit den Fremdlingen und führe ihr Heer in unser Land. Allein werden wir mit den Römern nicht fertig."'

Hannibal hörte gespannt zu. Er sah in Dukarion den ersten Bürger jenes großen westlichen Reiches, zu dessen Hauptstadt er Rom machen wollte. Nein, er würde nicht nach Karthago zurückkehren, wo man ihn auf Schritt und Tritt beargwöhnte. Er wollte der Herrscher über all diese Menschen werden, die von Rom gequält und gedemütigt worden waren, sein Reich sollte aus ebenso vielen verschiedenen Völkerstämmen bestehen wie jetzt sein Heer.

Der Tempel am Meer

Bei Anbruch des Winters schickte Hannibal seine iberischen Söldner auf Heimaturlaub mit dem Befehl, sich im Frühjahr wieder in Neu-Karthago einzustellen, und begab sich nach Cadiz, um dem Gott Melkart ein Opfer darzubringen und sich mit seinem Bruder Magon zu treffen.

Gewaltige Wogen brandeten gegen den Felsen, auf dem Melkarts Tempel stand. Sie zerschellten krachend, rollten aber hartnäckig immer wieder aufs neue heran, wie wilde Krieger, die von einem unsichtbaren Feldherrn in Angriff und Tod geschickt und zu Wasserstaub verwandelt werden.



Doch immer neue Krieger mit gewölbten Schilden und spitzen Speeren nehmen ihre Plätze ein.

Das majestätische Schauspiel machte Hannibal nachdenklich. Er schmeckte das Salz des Wasserstaubs auf den Lippen, wie einst die Tränen der Mutter, die auf sein Gesicht gefallen waren. Überall ist Kampf! grübelte er. Das Meer kämpft gegen das Ufer, das Ufer gegen den Wind, ein Völkerstamm gegen den anderen. Und was bin ich in diesem Kampf? Ein mächtiger Feldherr oder ein Werkzeug in den Händen noch mächtigerer Gewalten? Bin ich Herr über den Krieg, der vor meiner Geburt begann und mich überdauern wird?

Er zog seinen Dolch aus der Scheide und schleuderte ihn ins Meer.

Schon seit nahezu tausend Jahren brachten die Gläubigen auf diesem Felsen dem Meere ihre Opfer dar. Die phönizischen und karthagischen Kaufleute warfen Silberbarren und Goldmünzen, Bernstein und kostbare Fingerringe in die Fluten, wenn sie von Melkart guten Wind und reichen Gewinn erflehen wollten. Und der Mann, der nun auf dem Felsen stand, warf seine Waffe ins Meer, um Kampfesdurst zu erhalten.

Dann ging er zum Hause des Stadtältesten, wo Magon auf ihn wartete. Aufmerksam lauschte er dem Bericht des Bruders über die Sitzung im Großen Rat, auf der Hanno und seine Anhänger eine Niederlage erlitten hatten. Zuletzt hatte der römische Abgesandte gerufen: „Karthager! Hier bringe ich euch Krieg oder Frieden, wählt!" Und auf die einmütige Antwort: „Wähle selbst!", hatte er den Krieg gewählt.

Magon berichtete außerdem von einer neuen Schar Kriegselefanten, die Richad dressiert hatte und jetzt persönlich nach Iberien bringen wollte.

„Und was ist mit Gula?" fragte Hannibal. „Erfüllt er meine Bitte?"

„Gula versprach, dir eintausendfünfhundert Reiter zu senden. Aber sein Sohn Masinissa wird nicht dabeisein, denn der ist verschwunden."

„Verschwunden? Weshalb?" fragte Hannibal erstaunt.

„Weil sich sein Vater weigerte, ihn bei seiner Werbung um Sophonisbe zu unterstützen. Dann fragte Gula noch, wozu du Masinissa brauchst, da du doch Sagunt eingenommen hättest."

„Sagunt war erst der Anfang. Aus Sagunt führt der Weg nach Rom."

„Nach Rom?" rief Magon. „Aber du vergißt den langen Marsch und die vielen Völkerstämme, die sich uns in den Weg stellen werden!"

„Nein, das habe ich bedacht."

„Und wie willst du deine Krieger im Feindesland verpflegen?"

„Und wenn ich Stiefelleder lutschen müßte, wir ziehen nach Rom!"

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