Sophonisbes Stern

Abenteuer in Neu-Karthago

Ja, das ist nun Iberien! dachte der junge Publius Scipio, während er als frischgebackener Konsul und Feldherr das Schiff verließ, das ihn über das Meer gefahren hatte. Von hier aus brach Hannibal zu seinem Marsch über die Pyrenäen und die Alpen auf. In dieses Land kam ich als Sechzehnjähriger mit meinem Vater, der hier den Krieg an der Wurzel ausmerzen wollte. Aber die Götter fügten es anders. Der Vater wurde nach Italien zurückgerufen und mußte dort eine schmerzliche Niederlage erleben. Dennoch holte Iberien ihn wieder zurück. Und während Rom auf italischem Gebiet Niederlagen erlitt, die mit der Schlacht am Ticino überhaupt nicht mehr zu vergleichen waren, kamen aus Iberien - nur aus Iberien - gute Nachrichten.

Als erster römischer Feldherr überschritt der Vater den Ebro, der die Grenze zum karthagischen Gebiet bildete. In den Entscheidungsschlachten, die im zweiten Kriegsjahr stattfanden, vernichtete er die karthagische Flotte und eroberte die gesamte iberische Ostküste bis nach Neu-Karthago. Angesichts seiner Siege erhoben sich die Iberer gegen die Karthager, und Hannibals Bruder Hasdrubal mußte mit den Resten seines Heeres an die Westküste des Landes fliehen.

In diesen Jahren konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Kämpfe in Italien, und kaum jemand merkte, daß mein Vater inzwischen durch seine Siege in Iberien Italien rettete. Erst vor kurzem wurde bekannt, daß Hasdrubal schon gleich nach der Schlacht bei Cannae mit seinem Heer zu Hannibal stoßen sollte und Hannibal nur deshalb Rom nicht angriff, weil er auf seinen Bruder wartete, der ihm Elefanten und Belagerungsgeschütze bringen wollte. Rom wäre rettungslos verloren gewesen, wenn sich ein zweites karthagisches Heer wie eine Schneelawine von den Alpen herabgewälzt hätte. Das hat mein Vater verhindert. Der römische Senat aber würdigte seine Verdienste erst dann, als bekannt wurde, daß die Karthager ein neu aufgestelltes Heer, das für Italien bestimmt gewesen war, statt dessen nach Iberien senden mußten. Nun meldeten sich auch in der Volksversammlung Männer, die aus eigenen Mitteln Lebensmittel kaufen und sie nach Iberien schik-ken wollten, um meinen Vater zu unterstützen. Und als dieser die zweiundvierzig Feldzeichen nach Rom sandte, die er in den Schlachten gegen die Karthager erbeutet hatte, als alle iberischen Völkerstämme zu uns übergingen, da verstummten in Rom auch die letzten Neider. Und jedermann begriff, daß der Schlüssel zum Sieg über Hannibal in den iberischen Bergen zu suchen war.

Aber es sollte Publius Scipio dem Älteren nicht gelingen, diesen Schlüssel zu finden. Er starb auf der Höhe seines Ruhms.

Zu seinem Nachfolger wurde sein Sohn ernannt. Publius verdankte eine solche Ehre nicht etwa seinen bisherigen Verdiensten, sondern ausschließlich der Tatsache, daß er den gleichen Namen trug wie sein Vater. Der Name Publius Scipio gehörte nach Meinung der Römer ebenso untrennbar zu Iberien wie die Namen der iberischen Berge und Flüsse. Sie hatten sich daran gewöhnt, daß ein Scipio in Iberien siegte, daß ein Scipio Städte eroberte und feindliche Feldzeichen nach Rom schickte. Und wenn es in Iberien keinen Scipio mehr gab, so glaubte Rom, dann würde man von dort auch keine guten Nachrichten mehr erhalten.

So hatte der junge Publius nun die Aufgabe, gegen Hasdrubal zu kämpfen, der Iberien besser kannte, weil er fast sein ganzes Leben hier verbracht hatte, und gleichzeitig mit dem Ruhm des Vaters zu wetteifern, ja ihn zu übertreffen.

Als erstes ließ er Kylon zu sich kommen in einer Hoffnung, die aber leicht wie eine Seifenblase platzen konnte. Der Grieche hatte sich in den vergangenen Jahren nicht verändert. Er war noch immer so redselig und habgierig wie zuvor.

„Nanu, Publius Scipio, wozu brauchst du meinen elenden Kahn, obgleich doch dreißig große seetüchtige Schiffe in deinem Hafen liegen, wie ich mit eigenen Augen gesehen habe? Hast du etwa Sehnsucht nach einem neuen Stelldichein mit Syphax?"

„Nein, Kylon, für eine Reise nach Afrika ist es noch zu früh. Und mit Syphax habe ich auch nichts zu besprechen, zumal er einen neuen Vertrag mit den Karthagern geschlossen hat und sich anschickt, Hannos Tochter zu heiraten. Ich habe ein wichtiges Anliegen an dich. Würdest du für mich nach Neu-Karthago fahren?"

„Daß mir die Augen platzen! Du willst mich in die Höhle des Zyklopen schicken? Dieses Abenteuer des Odysseus gefällt mir aber gar nicht. Du erinnerst dich sicher, daß Odysseus und seine Gefährten von dem Zyklopen, diesem einäugigen Riesen und Menschenfresser, mitsamt den Schafen in der Höhle eingesperrt wurden und nacheinander bei lebendigem Leibe aufgefressen werden sollten. Sie konnten diesem Schicksal nur entrinnen, indem sie ihm sein einziges Auge blendeten und sich dann den ins Freie trottenden Schafen unter den Bauch banden. Der Zyklop hockte nämlich am Ausgang und betastete den Rücken jedes hinausgehenden Tieres, um zu verhindern, daß Odysseus und seine Männer die Flucht ergriffen. - Nein, Feldherr, wenn ich überhaupt ein Abenteuer des Odysseus erleben muß, dann lieber das mit der wunderschönen Zauberin Circe, obgleich auch dabei die Gefahr besteht, daß sie mich in ein Schwein verwandelt, genau wie seinerzeit die Gefährten des Odysseus."

„Du bist wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen, Kylon. Aber zur Circe kannst du wohl nach deiner Rückkehr aus Neu-Karthago auf eigene Rechnung reisen."

„Und was sucht Rom in der Höhle des Zyklopen?"

„Du sollst feststellen, ob der Zyklop zu Hause ist, und wenn nicht, wie viele Schafe er in seiner Höhle zurückgelassen hat."

„Aha, ich verstehe!" Kylon lachte. „Du willst wissen, ob Hasdrubal in Neu-Karthago ist, und wenn nicht, wie viele Truppen er dort stationiert hat. Und was geschieht, wenn die Karthager mich festnehmen und ums Leben bringen?"

„Odysseus hatte größere Gefahren zu bestehen, trotzdem ist er zu seiner heimatlichen Insel Ithaka zurückgekehrt."

„Ja, aber bettelarm!" wandte Kylon ein.

„In dieser Beziehung kannst du unbesorgt sein. Dich erwartet eine Belohnung, zehnmal größer als jene, die du beim vorigen Mal erhieltest."

„Gut, einverstanden. Aber du mußt mir außer dem Geld noch hundert Krüge mit Öl geben."

„Was willst du mit soviel Öl? Das kannst du doch in deinem ganzen Leben weder aufessen noch als Brennöl verbrauchen! Oder hast du die Absicht, ein Schnelläufer zu werden, und willst dich mit dem Öl salben?"

„Nein, ich will dein Öl weder essen noch verbrennen. Und was den Schnelläufer betrifft, so kann ich dir versichern, daß mich Silbermünzen mehr reizen als der Siegeslorbeer eines Sportlers. Ich will das Öl verkaufen. Paß mal auf!"

Er schob sich das dünne Haar in die Stirn und machte das einschmeichelnde Gesicht eines geschäftstüchtigen Markthändlers.

„Frisches Öl! Das beste Öl am Platze! Brennt, ohne zu qualmen! Kauf mein Öl, du Schöne! Geh nicht vorüber!"

„Ein waschechter Markthändler!" Publius lachte.

„Salbst du dich mit meinem Öl, dann wirst du jünger!" krähte Kylon. Dann wurde er sachlich: „Erwarte mich in einer Woche zurück. Falls ich aber ausbleiben sollte, dann vergiß nicht, meinen Landsleuten für den mir versprochenen Lohn Wein zu kaufen. Die eine Hälfte sollen sie austrinken und die andere den Göttern weihen."


Mit Windeseile verbreitete sich in Neu-Karthago die Nachricht, daß ein Händler auf dem Marktplatz eingetroffen wäre, der sein Öl zum halben Preis verkaufte. Die Hausfrauen strömten mit ihren Ölgefäßen zu Kylons Stand. Zwischen ihnen drängten sich viele Neugierige, die ihren Spaß an Kylons witzigen Reden hatten. Denn während das Öl in schier endlosem Strom durch den Trichter floß, ergoß sich ebenso endlos sein Redeschwall.

„Tritt näher, Verehrter, tritt näher!" lockte er einen betagten karthagischen Krieger an. „Salbe dich mit meinem Öl, das wird dich verjüngen! O Bezwinger von Rom, geh nicht an meinem Stand vorüber. - Benutze das Öl zur Förderung der Verdauung, schöne Frau!" riet er einer älteren Person, die sich gerade ihr Ölgefäß von ihm füllen ließ. „Das klärt die Haut und wird deinen Mann zu neuer Liebesglut anregen."

Die Zuschauer lachten.

„Fehlgeschossen!" rief einer. „Ihr Mann ist im Heer, sie hat andere Sorgen als ihre Schönheit!"

Schon verkaufte Kylon den Inhalt des siebenundneunzigsten Kruges und hatte bereits durch geschickte Fragen aus seinen Zuhörern alle Informationen herausgeholt, die Publius brauchte: daß sich Hasdrubal mit seinem Heer nicht in Neu-Karthago aufhielt, sondern in der Nähe von Cädiz, daß auch die beiden anderen karthagischen Heere nicht in der Stadt waren und Hasdrubal nur etwa eintausend Krieger zurückgelassen hatte.

Plötzlich drängte sich ein rundlicher Mann, an seiner Kleidung als Schiffskapitän zu erkennen, durch die Menge und blickte Kylon prüfend an. „He, Freund, wo habe ich dich schon gesehen?" fragte er.

Kylon blickte auf. Ja, er kannte den Dicken, aber er ließ sich nichts anmerken.

„Vielleicht in Marseille, edler Seefahrer?" fragte er gelassen zurück.

„Dort ist mein Marktstand weltberühmt."

„Rede mir nichts ein, ich war niemals in Marseille."

„Ein kluger Mann kann sich nun einmal irren", erwiderte Kylon hintergründig. „Aber ich schwöre bei Herakles, daß du dich nicht irrst, wenn du mein Öl kaufst, denn nirgendwo auf der Welt gibt es ein billigeres und besseres."

„Ich brauche dein Öl nicht." Der Kapitän trat dicht vor Kylon hin.

„War es nicht dein Handelsschiff, das ich vor den Aegatischen Inseln kontrollierte? Damals gabst du dich als Neapolitaner und Weinhändler aus und schenktest mir einen Krug, der statt Falernerwein fauliges Wasser enthielt."

Kylon begriff, daß der Dicke ihn erkannt hatte. Er mußte fliehen, und zwar sofort. Aber wohin? Vor ihm befand sich die unübersteigbare Stadtmauer, rechter Hand war der Hafen, wo sein Schiff vor Anker lag. Doch jede Flucht dorthin würde sinnlos sein, denn selbst dann, wenn er das Schiff wohlbehalten erreichte und es fertigbrächte, den Hafen zu verlassen, würden ihn die schnellen karthagischen Wachboote im Handumdrehen einholen. Es blieb also nur der Sprung in das Meer, das er im Rücken hatte, und die Hoffnung, das gegenüberliegende Ufer, das ungefähr zwei Meilen weit entfernt war, schwimmend zu erreichen.



Er holte mit dem Ölkrug aus, den er noch immer in der Hand hielt, und schüttete dem dicken Kapitän den ganzen Inhalt ins Gesicht. Der taumelte zurück, rutschte auf dem Öl aus und fiel hin.

„Haltet ihn!" schrie er. „Es ist ein römischer Spion!"

Kylon war schon am Wasser, machte einen Kopfsprung und tauchte erst zehn Schritte vom Ufer entfernt wieder auf. Als er sich umblickte, sah er, daß sechs Männer ans Ufer rannten, unter ihnen der dicke Kapitän.

Kylon schwamm, so schnell er konnte. Das Blut klopfte ihm in den Schläfen, keuchend rang er nach Luft, die Sandalen störten ihn, er riß sie sich ab. Die Verfolger hatten inzwischen ein Boot losgemacht und ruderten ihm nach. Der Abstand zu ihnen verringerte sich zusehends. Schon hörte er die Ruder plätschern und den Kapitän brüllen: „Uns entgehst du nicht!"

Er reckte den Kopf aus dem Wasser, um noch einmal den klaren Himmel zu betrachten. Mögen mich die Fische fressen! dachte er. Das ist noch besser als Folterung und Kreuzigung!

Da merkte er, daß er in eine Brandung geriet, obgleich er sich noch mitten im Meerbusen befand. Er tastete mit den Füßen und stieß auf Grund. Das Wasser wurde immer seichter, reichte ihm nur noch bis zu den Knien, er sprang auf die Füße und rannte quer über die Sandbank hinweg. Das Boot blieb hinter ihm zurück. Es hatte sich mit der Nase tief in den Sand gebohrt, die sechs Verfolger bemühten sich fluchend, es über die Sandbank hinwegzuzerren, aber ihre Anstrengungen waren vergebens. Kylon war inzwischen auf der anderen Seite schon längst wieder im Wasser, und bis seine Verfolger erkannt hatten, daß sie ihn nur schwimmend einholen konnten, und anfingen, sich die Sandalen abzustreifen, hatte er das gegenüberliegende Ufer erreicht und war im Schilf verschwunden.

„Entwischt!" schrie der dicke Kapitän wütend.

„Was ist dir zugestoßen, Kylon?" erkundigte sich Publius und musterte erstaunt die zerfetzten Kleider und blutigen Füße des Griechen, als sich dieser bei ihm meldete. „Wo ist dein Schiff?"

Kylon seufzte. „Mein Schiff ist futsch. Und bloß deshalb, weil ich das Öl verkauft habe, anstatt mich damit einzusalben, denn dann wäre ich unbemerkt aus Neu-Karthago entwischt." Und er berichtete Publius, wie es ihm ergangen war, einschließlich der rettenden Tatsache, daß er mitten im Meerbusen auf eine Sandbank gestoßen war.

„Das war die Ebbe", sagte Publius. „Sie hat dich gerettet. Um wieviel Uhr war das?"

„Um zwei Uhr mittags."

Publius machte ein nachdenkliches Gesicht.

Der Traum des Publius

Von der Anhöhe aus konnte man Neu-Karthago übersehen. Es lag auf einer schmalen Halbinsel, die in den Meerbusen vorstieß. Die Morgensonne vergoldete die stattlichen Gebäude und quadratischen Wachtürme. Die flachen Ziegeldächer wurden überragt von einem kostbaren Palast. Hier war Hamilkars Neffe einst bei seiner Hochzeit mit der iberischen Prinzessin ermordet worden.

„Schaut auf diese Stadt!" sagte Publius Scipio zu den angetretenen Legionären. „Hierher bringen die Karthager alles Silber aus den iberischen Bergwerken. Hier verwahren sie unermeßliche Reichtümer, die euch, den Siegern, und dem römischen Volk gehören werden. In der Stadt befindet sich zur Zeit kein Heer. Hasdrubal, Hannibals Bruder, hat nur tausend Krieger zurückgelassen. Die allmächtigen Götter werden uns überdies beistehen. Denn in der vergangenen Nacht träumte ich, daß der Meeresgott Neptun mir eine goldene Zackenkrone reichte und mich aufforderte, sie weiterzugeben an jene Tapferen, die die Mauern Neu-Karthagos erstürmen würden."

Mit angehaltenem Atem hörten die Legionäre zu. Sie glaubten fest an prophetische Träume.

Hornsignale riefen die römischen Legionäre zum Kampf. Sie legten Sturmleitern an die Mauern Neu-Karthagos und versuchten, daran emporzuklettern. Aber die Mauern waren hoch. Die Verteidiger waren auf der Hut und wehrten die Angriffe mit Steinen und Speeren, mit kochendem Wasser und siedendem Teer ab. Viele Legionäre verloren auf den Sturmleitern den Halt und stürzten in die Tiefe. Ihren Platz nahmen andere ein, aber auch sie erreichten nichts, und manch ein Römer ließ sein Leben. Ein Grabstein in fremder Erde, nicht aber eine goldene Zackenkrone wurde ihm zuteil. Und schließlich wurde zum Rückzug geblasen.

Nein, der prophetische Traum ihres Feldherrn schien nicht einzutreffen.

„Was gehen den Meeresgott Neptun auch die Kämpfe auf dem Festland an!" murrten die Legionäre. „Er ist doch nur für Seeschlachten zuständig!"

Die belagerten Karthager wußten weder etwas von Publius' Traum noch von seinem Plan. Als sie das Rückzugssignal der Römer hörten, freuten sie sich, weil sie glaubten, die Gefahr wäre vorüber. Für sie war es wichtig, Zeit zu gewinnen und auszuhalten, bis die Verstärkung heran war. Sie hatten inzwischen Boten zu Hasdrubal und den beiden anderen in Iberien befindlichen Armeen gesandt, die ihnen sicherlich auf dem schnellsten Wege zu Hilfe kommen würden.

Publius hatte die Erstürmung der Stadt von der Landseite aus nur zur Täuschung versucht. Jetzt ließ er seine besten Truppen zum Meerbusen marschieren. Sie begriffen nicht, was sie dort sollten. Aber da merkten sie plötzlich zu ihrem Erstaunen, daß die Fluten vor ihnen zurückwichen und an einigen Stellen sogar der Meeresgrund aus dem Wasser tauchte. Der Gott Neptun trocknete das Meer anscheinend eigens zu dem Zweck aus, daß sie die rückwärtige Stadtmauer trockenen Fußes erreichen konnten. Demnach würde der Traum ihres Feldherrn doch noch in Erfüllung gehen?

Zuversichtlich wateten die Truppen in den Meerbusen hinein. Ihre Füße versanken in Sand und Schlamm. Sie mußten die Waffen und Sturmleitern hochhalten, damit sie nicht naß wurden, und das war eine übermenschliche Anstrengung, zumal ihnen das Wasser manchmal bis zur Kehle reichte. Dennoch wateten sie unbeirrt weiter, und bald hatten sie die Stadtmauer erreicht, die bei höherem Wasserstand von den Wellen umspült wurde. Sie war niedriger als an der Landseite. Ungehindert konnten die Legionäre die Sturmleitern anlegen und hinaufklettern. Oben angelangt, rannten sie nach rechts und links, um die Stadttore zu besetzen. Die Karthager entdeckten sie erst jetzt, aber ihre Zahl war zu gering, um sie aufzuhalten.

Wieder wurden an der Landseite die Sturmleitern angelegt. Auch hier erklommen die Römer die Mauern der Stadt, ohne auf Widerstand zu stoßen. Sie machten die karthagischen Krieger in den Wachtürmen nieder und öffneten die Stadttore. Nun drangen die Legionäre kolonnenweise mit fliegenden Fahnen in die Stadt ein.

Wieder setzte der römische Hornist sein Instrument an den Mund. Er blies das Signal, von dem die Legionäre beim Exerzieren und in den mörderischen Schlachten geträumt hatten. Es bedeutete, daß ihnen alles gestattet war - jede Plünderung, jede Grausamkeit.

Am Abend wurde Neptun ein reiches Dankopfer dargebracht. Die Legionäre waren überzeugt, daß er es gewesen war, der ihnen den Sieg geschenkt hatte. Und während Publius ihnen die Auszeichnungen überreichte - silberbeschlagene Speere für jene, die einen Feind verwundet hatten, kostbare Metallschalen für die Fußsoldaten und silbernes Zaumzeug für die Kavalleristen sprachen sie unaufhörlich über den prophetischen Traum ihres Feldherrn, der wirklich haargenau eingetroffen war, wie er es gesagt hatte.

Und nur ein Mann auf der Welt wußte, daß die Römer ihren Sieg nicht der Gnade des Gottes Neptun zu danken hatten, sondern einer Naturerscheinung, die man Ebbe nennt, und außerdem der Klugheit ihres jungen Feldherrn. Aber der Mann, der das wußte, befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Iberien.

Tränen der Tochter

In Hannos Palast wurde zu einem rauschenden Fest gerüstet. Die Augen der Sklaven, die in dem Riesenhaus treppauf, treppab rannten, waren vor Schlaflosigkeit gerötet. Im Keller, wo die Küche untergebracht war, hörte man Metallteller klappern und den Oberkoch schreien, der die Köche, Küchenfrauen und Kuchenbäcker zur Eile antrieb. Im Stall kläfften und winselten junge Hunde. Damit ihr Fleisch zart und saftig wurde, fütterte man sie schon seit Wochen nur noch mit Milch.

Die großen Festsäle wurden mit grünen Girlanden und Wachsblumen geschmückt, die echten Blumen täuschend ähnlich sahen. An den Marmorsäulen des Innenraums, den Stämmen der Palmen und den Pfeilern der Gartenmauern wurden Fackeln und Öllampen befestigt. Beim Erscheinen des Brautpaares sollten zu süßem Flötenklang alle Lichter angezündet und alle Springbrunnen in Gang gesetzt werden.

Hinter eisernen Türen kramten Sklavinnen unter Hannos Aufsicht in den Truhen, um Sophonisbes Mitgift auszuwählen. Die Truhen enthielten weder Rüstungen noch Waffen, sondern Schätze, die Hanno von seinen unternehmungslustigen Vorfahren - Schiffern und Seeräubern - geerbt hatte: schwere Stoffe, merkwürdig gemusterte Teppiche, Bernsteinketten, Gold- und Silbergeschmeide, phönizische und ägyptische Glasgefäße. All das sollte Hannos Tochter, die künftige Königin der Numidier, erhalten. Wer würde beim Anblick dieser Schätze wagen, Hanno als Geizhals zu bezeichnen? Wenn Sophonisbe das Königsschloß des Syphax in Cirta mit solchen Kostbarkeiten schmückte, würden nach Hannos Meinung die Stimmen der Gegner verstummen.

In den letzten Jahren hatte Hanno im Schatten gestanden. Man erwähnte ihn nur in Verbindung mit seiner hartnäckigen Feindschaft gegen Hannibal und hörte ihn im Großen Rat nur aus Höflichkeit an. Alle seine Anhänger waren von ihm abgefallen, weil Hannibal sie mit Silber bestochen oder durch seine glänzenden Siege beeindruckt hatte. Doch nun wurde Hannos Name wieder mit Achtung genannt. Man erinnerte sich, daß er zu einer Zeit, da fast ganz Karthago Hannibals ehrgeizige Pläne unterstützte, als einziger einen kühlen Kopf bewahrt und seine Landsleute zur Freundschaft mit Rom aufgefordert hatte. Er war auch der einzige gewesen, der verlangt hatte, den unmündigen Hannibal in Karthago zu behalten und zu verhindern, daß er zu einem Krieger erzogen wurde, und ihn später, nach der Einnahme Sagunts, den Römern auszuliefern. Hätten die Karthager damals auf seinen Rat gehört, dann würde sich in den vergangenen Jahren ihr Besitz vermehrt haben, dann hätten sie ihren Staatsschatz nicht für Elefanten und Söldner ausgeben müssen, dann besäßen sie noch ihre überseeischen Besitzungen und brauchten nun nicht von Stunde zu Stunde auf einen Angriff der Römer gefaßt zu sein. Denn wozu waren Karthago eigentlich die Elefanten und gewaltigen Landheere vonnöten? Hatte das Meer ihm nicht immer Reichtum und Ruhm gegeben? Nein, das Meer hatte nicht die Karthager verraten, wie Dummköpfe behaupteten, es war vielmehr von ihnen verraten worden und hatte sich nun an ihnen gerächt, indem es vor den römischen Truppen zurückwich, so daß diese in der Lage gewesen waren, Neu-Karthago von der Seeseite aus zu Fuß zu erreichen. Zumal die beiden karthagischen Städte keine Kriegsflotte besaßen, die den feindlichen Überfall hätte vereiteln können.

„Baut Schiffe!" hatte Hanno seit jeher verlangt, und diese Forderung wurde nun von allen Karthagern unterstützt. Am Schiffbau würden nicht nur die reichen Holzhändler verdienen, sondern auch die karthagischen Handwerker.

„Doch wenn es Publius Scipio nun gelingt, die karthagischen Wachposten zu täuschen und unbemerkt in Afrika zu landen?" fragte das Volk.

Auch darauf wußte Hanno eine Antwort: „Dann werden unsere Reitereinheiten ihn ins Meer werfen!"

Und er besorgte den Karthagern noch einmal eine numidische Reitereinheit.

Viele Leute, die seine Weitsicht jetzt richtig zu erkennen glaubten, vertraten die Meinung, daß er Karthagos jetzige Zwangslage und die Notwendigkeit eines Bündnisses mit Syphax vorausgesehen und deshalb seine schöne Tochter, die inzwischen dreißig Jahre alt geworden war, noch nicht verheiratet hatte.

Allerdings gingen auch andere Gerüchte um, wonach sich Sophonisbe bisher gegen eine Heirat gewehrt hätte. Aber wer mochte glauben, daß ein Mann, der nun das ganze karthagische Volk hinter sich hatte, mit seiner einzigen Tochter nicht fertigwerden konnte! Außerdem gab es wohl kein Mädchen, das freiwillig auf die Ehe verzichtet und es vorgezogen hätte, eine alte Jungfer zu werden!

Der Hochzeitstag rückte näher. Alle Karthager warteten in freudiger Ungeduld auf Syphax und sein aus fünfhundert Reitern bestehendes Gefolge sowie auf die kostenlose Bewirtung, die Hanno ihnen versprochen hatte.

Und nur die Braut sah dem Hochzeitstag wie einem unabwendbaren Unglück entgegen. Hanno hatte ihr vorgelogen, daß Masinissa in Iberien den Tod gefunden hätte, um ihre Einwilligung zur Heirat mit Syphax zu erhalten. Aber diese Lüge war eine zu starke Arznei gewesen, schlimmer als die Krankheit selbst. Sophonisbe weinte von früh bis spät.

„Schluß mit den Tränen!" herrschte Hanno sie wütend an. „Ich will nicht, daß die Stadt dich als weinende Braut sieht! Ja, ich hatte dir versprochen, daß du keinen Barbaren heiraten brauchst. Aber die Götter fügten es anders. Überdies ist Syphax König und unser Freund. Deinetwegen hat er auf das Bündnis mit Rom verzichtet. Dein Masinissa war doch auch ein Barbar, und wenn er noch lebte..." „Nenne diesen Namen nicht!" Sophonisbes Augen funkelten vor Zorn. „Genügt es dir nicht, daß ich mich deinem Willen füge? Was willst du mehr? Mir das einzige nehmen, was mir geblieben ist - meine Trauer, meine Erinnerungen? Ich habe Masinissa geliebt. Und wäre er nur ein armer Hirt gewesen, ich hätte ihn nicht gegen alle Könige der Welt mitsamt ihren Schätzen eingetauscht."

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Weit hinter den Stadtmauern Karthagos lag eine sonnenüberflutete wundersame Welt. Von dort war Ma-sinissa gekommen, um sie mit sich zu nehmen. Doch ihr Vater hatte sie ihm verweigert und sie wie eine Gefangene in seinem Palast eingeschlossen. Warum? Um sie in seinem Spiel als Köder zu benutzen?

„Sophonisbe, du weißt etwas Wichtiges noch nicht!" Hanno setzte sich neben sie. „Die Römer haben Neu-Karthago erobert! Hier in Karthago gibt es kein Heer. Ohne Syphax' Hilfe könnte sich Karthago keine Stunde halten. Und wenn es den römischen Legionären in die Hände fiele, würden sie uns Männer in die Sklaverei verschleppen, unsere Frauen und Töchter mißbrauchen und unsere Tempel schänden. Du mußt Masinissa vergessen. Niemand darf wissen, daß dir diese Hochzeit zuwider ist."

Sophonisbe senkte den Kopf. Sie hatte keine Kraft mehr, sich dem beharrlichen Drängen des Vaters zu widersetzen. Sollte er seinen Willen haben. Aber ihr Herz würde ihm und ihrem künftigen Gemahl für immer verschlossen bleiben!



Von den fernen schneebedeckten Gipfeln der Pyrenäen blies der Nordwind. Unter seinem eisigen Hauch duckten sich die Eichen. Ihre vergilbten Blätter wirbelten durch die Luft, und die Eicheln prasselten zu Boden. Hufschlag näherte sich. Ein Reiter galoppierte auf seinem Schimmel so eilig vorüber, als hinge von der Schnelligkeit des Galopps sein Leben ab.

Es war Masinissa, und er war auf dem Weg nach Karthago, denn erst heute hatte er die Wahrheit erfahren, obgleich Magon und Hasdrubal sie schon lange kannten: Hanno hatte seine Tochter mit Syphax verheiratet.

Der Kurier

Als Publius Scipio Neu-Karthago eroberte, befand sich Kylon auf der Reise nach Rom. Publius hatte ihn großzügig entlohnt und ihm eine Anweisung auf fünftausend Sesterzen an den neapolitanischen Geldwechsler Skintius übergeben. Kylon kannte Skintius' Kneipe genau; sie lag am Marktplatz.

Kylon malte sich schon aus, wie Skintius ihn ins Hinterzimmer der Kneipe führen und die Geldanweisung mit dem Abdruck des Siegelringes von Publius Scipio von allen Seiten prüfen würde. Schließlich erhielt er nicht alle Tage eine Anweisung auf eine so hohe Summe. Und während Skintius das Geld hervorholte und abzählte, würde er, Kylon, wortlos und mit würdevollem Gesicht danebensitzen. Ja, er würde schweigen wie ein Toter oder höchstens über Nebensächlichkeiten reden, über das Wetter zum Beispiel. „Was ist mit dir los, Kylon?" würde Skintius verwundert fragen. „Beim letztenmal, als ich dir die zweihundert Sesterzen auszahlte, hast du mir deine Abenteuer so haarklein berichtet, daß ich glaubte, selber nach Afrika gesegelt zu sein. Jetzt dagegen bist du dermaßen wortkarg, als hättest du eine Erbschaft gemacht oder wärest in den Senat gewählt worden!" Doch auch darauf würde Kylon nicht antworten, trotz seines Bedürfnisses, dem Geldwechsler von seinem Ölhandel in Neu-Karthago, von seiner wunderbaren Rettung und von der Großzügigkeit des jungen Feldherrn zu erzählen, der ihm das Geld für das verlorengegangene Schiff aus seiner Privatkasse ersetzt hatte. Publius hatte ihn nämlich schwören lassen, keiner Menschenseele zu verraten, daß er in Neu-Karthago gewesen wäre. „Da hast du noch hundert Sesterzen für dein Schweigen!" hatte er gesagt. Dieses Geld klirrte jetzt in Kylons Geldbeutel und erinnerte ihn an seinen Eid. Und wenn er für sein Schweigen jedesmal soviel Geld erhielte, würde er stumm werden wie ein Fisch und sich nur noch durch Zeichen verständigen. Und überhaupt - mit wem sollte ich mich auf See unterhalten? Etwa mit den Rudersklaven, die nur die pfeifende Sprache der Peitsche verstehen?

Die Zeit verging. Schon drei Tage lang segelte das Schiff übers Meer. Kylon hielt den Mund und verschloß seine Freude in sich. Er kam sich vor wie jener Barbier, der das Geheimnis des Königs Midas kannte und von diesem unter Todesdrohungen gezwungen worden war, es keinem Menschen zu verraten. König Midas hatte nämlich bei einem Sangeswettstreit der Götter den Schiedsrichter spielen müssen und den Gott Apollo zum Verlierer erklärt. Aus Ärger darüber hatte Apollo ihm Eselsohren verliehen, die der Barbier zu Gesicht bekam, als er dem König das Haar stutzte. Immerhin fand der Barbier in seiner Not einen Ausweg. Er grub ein tiefes Loch in die Erde, steckte den Kopf hinein, vertraute der Mutter Erde sein Geheimnis an und erleichterte sich auf diese Weise. Später wurde das Geheimnis trotz aller Vorsichtsmaßregeln dadurch in der ganzen Welt bekannt, daß über jenem Loche Röhricht wuchs und mit menschlicher Stimme in seinem Rauschen rief: „König Midas hat Eselsohren! König Midas hat Eselsohren!"

Aber hier kann ich sowieso kein Loch in die Erde graben, weil es keine Erde gibt, dachte Kylon seufzend. Und diesem verdächtigen iberischen Schiffer, der mich für einen sündhaft hohen Preis an Bord genommen hat, werde ich mich auf keinen Fall anvertrauen. Natürlich hätte ich mit der Heimfahrt warten können, bis mich ein römisches Kriegsschiff mitgenommen hätte, das wäre sicherer gewesen, aber ich will doch so schnell wie möglich zu meinem Geld kommen. Dafür kaufe ich mir dann Bauholz und Sklaven und baue mir ein neues Schiff. Und wie soll ich es nennen?

Einen glücksbringenden Namen zu finden ist gar nicht so leicht. Vielleicht „Delphin"? oder „Möwe"? Nein, diese Namen waren abgenutzt. Ob er sich vielleicht mit dem Passagier beriet, den er flüchtig beim Einsteigen gesehen hatte? Es war schon so spät gewesen, daß er sein Gesicht nicht erkennen konnte, und in den folgenden Tagen hatte sich der Mann auch nicht an Deck sehen lassen. Ob er seekrank geworden war?

Dann könnte ich ihm drei Mittel gegen diese Krankheit verraten! überlegte Kylon. Erstens muß er einen Schluck Wein in den Mund nehmen und ihn so lange darin behalten, bis er Erleichterung verspürt. Und wenn das nicht hilft ...

Er kletterte in den Laderaum hinunter. Es roch nach Nässe und Schimmel. Von der niedrigen Decke tropfte Wasser. Die Tür zur Kajüte des Unbekannten war nur angelehnt.

Kylon horchte.

„Morgen sind wir in Neapel!" sagte der Schiffer.

„Vergiß nicht, daß du mich nachts absetzen mußt!" antwortete eine andere Stimme.

„Ja, ich laufe bei Tag in den Hafen ein und lasse den Griechen aussteigen. Anschließend setze ich dich nachts in der Nähe ab, vielleicht bei Cumae."

„Weshalb hast du den Griechen überhaupt mitgenommen?" brummte der andere.

„Der stört dich doch nicht! Er hockt den ganzen Tag an Deck und zählt sich etwas an den Fingern ab. Vielleicht rechnet er aus, wieviel er gespart hätte, wenn er nicht mit meinem, sondern mit einem anderen Schiff gefahren wäre. Also leb wohl! Bis auf heute abend."

Kylon flitzte unter die Treppe. Er wollte nicht gesehen werden, trotzdem hätte er gar zu gern gewußt, wer der geheimnisvolle Passagier war, der sich versteckt hielt und nachts an Land gesetzt werden wollte. Vorsichtig spähte er durch den Türspalt, prallte aber sofort wieder entsetzt zurück. In der Kajüte saß der ihm nur allzugut bekannte dicke karthagische Kapitän. Mit angehaltenem Atem schlich Kylon von der Tür weg und stürzte an Deck.

Wenn er mich zu Gesicht kriegt, geht's mir schlecht. Hier weicht das Meer nicht zurück wie neulich bei Neu-Karthago. Aber was will der Kerl in Cumae? Das ist bestimmt ein karthagischer Kurier! Und der Schiffer steckt mit ihm unter einer Decke.


Brief für Hannibal

Nachdem Kylon ohne weitere Zwischenfälle Neapel erreicht hatte, benachrichtigte er schleunigst die Römer, welchen Passagier der iberische Schiffer nachts an Land setzen wollte, und beschrieb das Aussehen des dicken Kapitäns so genau wie möglich.

In Cumae wurde der dicke Kapitän nicht entdeckt. Vermutlich hatte der Schiffer ihn nicht im Hafen abgesetzt, sondern unweit davon, in einer der vielen verschwiegenen Buchten. Der Konsul Claudius Nero, der mit seinem Heer in Canusium lag, ganz in der Nähe von Hannibal, gab Befehl, einen so dichten Bewachungsring um das karthagische Lager zu ziehen, daß keine Maus hinein- und herausschlüpfen konnte.

Diese Maßnahme hatte Erfolg! Die Posten nahmen den karthagischen Kurier fest. Er war als Händler verkleidet und spielte seine Rolle so geschickt, daß man ihn schon laufen lassen wollte. Doch dann entdeckten die Römer in einer Geheimtasche seines Gewandes einen an Hannibal gerichteten Brief.

Hannibals Bruder Hasdrubal meldete in dem Schreiben, daß er sich mit Truppen und Elefanten auf dem Wege nach Italien befände, und nannte als Ort des Zusammentreffens die Stelle, wo die Flaminische Straße dicht am Metarofluß vorbeiführte.


Konsul Claudius Nero war klug genug, um die Bedeutung dieser Nachricht zu erkennen. Falls Hasdrubal mit frischen Truppen in Italien einträfe und sich mit Hannibal vereinigte, war der Krieg verloren. Nun begriff der Konsul, weshalb Hannibal sein Lager bisher nicht verlassen hatte. Er hatte auf diesen Brief gewartet!

Und Konsul Claudius Nero faßte einen kühnen Entschluß.

In der folgenden Nacht verstärkte er die Wachen und verließ dann mit dem größten Teil des Heeres heimlich sein Lager. Den zurückbleibenden Legionären befahl er, zu lärmen und viele Lagerfeuer anzuzünden, um den Karthagern vorzutäuschen, daß sich noch das gesamte Heer im Lager befände. Inzwischen vereinigte er seine Truppen mit denen des zweiten Konsuls Marcus Livius, und gemeinsam zogen sie zum Metarofluß.



Es war ein strahlender Sommertag. Die Sonne brannte von einem weißglühenden Himmel. An den Uferhängen wuchsen Trauerpinien, darüber kreisten beutehungrige Geier. Die vielen Augen, die ihren Flug verfolgten, würden vielleicht bald ihre Beute sein.

Seit Jahren sehnte sich Hasdrubal nach Hannibal. Wie hatte er Magon beneidet, der Gefahr und Ruhm des italischen Feldzugs mit dem Bruder teilen durfte! Schon im zweiten Kriegsjahr hätte Hasdrubal zu Hannibal stoßen sollen. Sie wollten gemeinsam zum Sturm auf Rom ansetzen. Aber da tauchten die Scipionen in Iberien auf, zunächst die Brüder Publius und Gnaeus, und dann der Sohn des Publius, der den gleichen Namen wie sein Vater trug.

Scipio! Dieser Name zischt wie eine Schlange! dachte Hasdrubal wütend. Wenn man dieser Schlange den Kopf abschlägt, wächst ihr ein neuer nach! Und es ist durchaus möglich, daß in Rom, dieser Schlangenhöhle, schon wieder eine neue Schlangenbrut heranwächst! Verfluchtes Schlangengezücht! Um ganz Iberien hat es sich schon geringelt, bis hin nach Neu-Karthago ist es gekrochen! Aber meinen Marsch konnte es doch nicht verhindern!

Bisher war alles gut gegangen. Zwei Monate hatte Hasdrubals Heer für den Marsch von Iberien nach Italien gebraucht, ohne wesentliche Verluste zu erleiden. Aber wo blieb jetzt Hannibal? Der zuverlässigste Kurier, den es in der karthagischen Armee gab, hatte ihm den Ort des Treffens gemeldet. Der Schiffer, der den Kurier nach Italien gebracht hatte, war schon wieder zurückgekehrt und hatte die Erfüllung des Auftrages gemeldet.

Besorgt blickte Hasdrubal auf die andere Seite der Straße. Warum standen dort an Stelle karthagischer Truppen die Römer?

Im römischen Heerlager bliesen zwei Hörner. Ein Zeichen dafür, daß es die Heere zweier Konsuln waren. Und Hannibal? Welcher Konsul kämpfte gegen Hannibal? Wählten die Römer neuerdings etwa drei Konsuln? Oder war Hannibal gefallen? In diesem Falle hätte eine Schlacht überhaupt keinen Sinn mehr. Trotzdem konnte Hasdrubal ihr nicht ausweichen. Er kannte die Gegend nicht, seine Wegführer hatten sich tags zuvor heimlich aus dem Staube gemacht. Bei einem Rückzug konnte er leicht in eine Falle geraten.

Ja, erkannte Hasdrubal, ich muß mich zum Kampf stellen. Vielleicht zieht der Schlachtenlärm meinen Bruder Hannibal herbei! Gut möglich, daß er schon unterwegs ist und seine Truppen in höchster Eile antreibt! Er ließ Alarm blasen.

Sonst pflegten seine Söldner beim ersten Ton der Trompete auf die Beine zu springen. Doch diesmal erhoben sie sich nur widerstrebend von der Erde, die ihnen nach den Anstrengungen des Alpenüberganges ein hartes Ruhelager gewesen war, trotteten langsam zu ihren Einheiten und reihten sich ein, das Gesicht zur Straße gewendet.


Die Flaminische Straße! ging es Hasdrubal durch den Kopf. Sie trägt den Namen des Mannes, den mein Bruder im zweiten Kriegssommer besiegte. Häufig sprach er von Flaminius, der ganz Norditalien bis hin zu den Alpen für Rom eroberte, und meinte, daß Rom fallen würde, sobald er Flaminius besiegt hätte. Flaminius wurde besiegt, doch Rom wurde dadurch nicht erschüttert. Zehntausende von Römern fielen in den Schlachten am Trasimenischen See und bei Cannae, doch neue Römer nahmen ihre Plätze ein. Ob wir etwa nicht gegen sterbliche Menschen kämpfen, sondern gegen unsterbliche Geister, die immer wieder auferstehen? Und jetzt liegt diese schnurgerade Straße vor uns wie eine unüberschreitbare Trennlinie, die der Geist des Flaminius vor uns aufgerichtet hat, um sich zu rächen. Die rechte Flanke des Heeres stieß an einen Hügel, der früher ein Weinberg gewesen sein mußte, denn die Stützen für die Weinreben waren noch vorhanden.

Jetzt müßte ich die Reiterei hier haben! dachte Hasdrubal. Ich hätte sie hinter diesem Hügel postieren und im erforderlichen Augenblick in die Schlacht werfen können!

Aber die Reiterei war in Karthago, Masinissa hatte sich geweigert, Hasdrubal nach Italien zu begleiten, als er von Hannos Betrug erfuhr, und so war Hasdrubal nichts anderes übriggeblieben, als ihn mit seinen Reitern nach Afrika zurückkehren zu lassen. Vielleicht konnte er auch dort von Nutzen sein.

Die Treiber lenkten die Elefanten heran. „Wann wirst du mir Elefanten schicken?" „Was ist mit meinen Elefanten?" hatte Hannibal in jedem Brief gefragt. Mit fünfzig Elefanten war Hasdrubal in Iberien aufgebrochen, und vierzig waren nach dem Übergang über die Alpen noch am Leben.

Langsam stampften die Elefanten durch den Gang, den die gallischen und iberischen Kolonnen für sie gebildet hatten. Ihre schweren Schritte dröhnten wie Grabesgeläut. Ihre bunten Satteldecken waren verblichen, den Kopf hielten sie trübselig gesenkt. Sie schienen zu spüren, wie diese Schlacht auslaufen würde.

Der Ledersack

Schon seit zwei Monaten hielt sich Hannibal in einem befestigten Lager bei Canusium auf. Längst waren die umliegenden Dörfer kahlgegessen, bald würden seine Krieger hungern müssen. Es war an der Zeit, andere, noch nicht verödete Provinzen Italiens aufzusuchen, aber Hannibal zögerte. Worauf wartete er? Daß die Römer sich ihm zur Schlacht stellten? Seit einigen Wochen verließen sie kaum mehr ihr Lager. Er hörte sie nur lärmen und sah nachts den Widerschein von ihren zahlreichen Lagerfeuern am Himmel stehen.

Wovon ernähren sich die zehntausend Legionäre, die sich im Lager befinden müssen? grübelte Hannibal. Was führen sie im Schilde?

Er ließ Dukarion rufen. Dukarion war als Gallier und ehemaliger römischer Sklave besonders gut geeignet, um sich zum römischen Lager zu schleichen und herauszufinden, was dort vor sich ging.

In der folgenden Nacht kroch Dukarion unbemerkt dicht ans römische Lager heran. Mit ausgestreckter Hand hätte er den grasbedeckten Lagerwall berühren können. Alles war still. So qualvoll langsam verstrich ihm die Zeit, als würde sie von den Göttern in ihrem Lauf gehemmt, um seine Geduld auf die Probe zu stellen. Schließlich hörte er Schritte und Stimmen über sich. Die Posten! dachte er und preßte sich fester an die Erde. Trockene Gräser kitzelten ihm das Gesicht. Sie dufteten nach Wermut. Er hielt den Atem an, um die Unterhaltung der Römer zu verstehen. Vielleicht konnte er daraus entnehmen, wann Postenwechsel war.

„Zeit zur Weinlese!" sagte der erste Posten. „Siehst du den Stern dort oben? Den nennen wir den Weinbecher. Wenn er am Himmel steht, ist es Zeit, Körbe und Fässer bereitzustellen. In unserer Gegend pflanzt man die Reben neben Bäumen, damit sich die Schößlinge daran hochranken können!"

„Bei uns wächst kein Wein", antwortete eine hellere Stimme, die anscheinend einem jungen Mann gehörte. „Dazu ist der Boden zu fett. Wir züchten Kohl. Unsere Kohlköpfe sind größer als Männerschädel. Zu dieser Jahreszeit bringen wir sie immer nach Rom auf den Markt!"

Das war kein Wortwechsel zwischen grimmigen römischen Legionären, sondern die friedliche Unterhaltung zweier Männer, die man von ihrer Familie und ihrer gewohnten Arbeit in Weinbergen und Gemüsefeldern weggeholt hatte. Zum erstenmal seit vielen Jahren spürte Dukarion die ganze Sinnlosigkeit seines Söldnerdaseins. War er denn als Krieger geboren? Ohne den Überfall der Römer würde er noch immer am Ufer der Adda die Pferde hüten. Wie hatten ihre Rücken und ihre Flanken im Mondlicht geglänzt! Wie vertraut waren die Geräusche jener Nächte gewesen - das leise Wellengeplätscher, das knisternde Lagerfeuer! Damals wäre ihm nie der Gedanke gekommen, daß er eines Nachts auf den Befehl eines fremden Mannes über einen verunkrauteten Acker kriechen würde, um Bauern und Winzer gefangenzunehmen und zu töten oder um von ihnen getötet zu werden!

Dennoch habe ich keine andere Möglichkeit! grübelte Dukarion. Ich bin an Hannibal geschmiedet wie ein Rudersklave an die Ruderbank. Und selbst wenn ich die Ketten zerreiße, bin ich noch immer vom feindlichen Meer, von mörderischen Wasserfluten umgeben. Ich kann nicht nach Gallien fliehen, denn alle nach Norden führenden Straßen werden von den Römern bewacht. Und wenn ich mich ihnen ergeben würde, hätte ich nur die Sklaverei zu erwarten, und das wäre schlimmer als der Tod.

Plötzlich hörte er fernen Marschtritt und Stimmenlärm. Offenbar rückte ein römischer Truppenteil durch das jenseitige Tor ins Lager ein.

Die Römer bereiten sich auf eine Schlacht vor! Das ist vermutlich eine frische Einheit! sagte sich Dukarion.

„Endlich sind sie wieder da!" rief über ihm der ältere Posten.

„Schau, sie haben Elefanten mitgebracht!" ergänzte der jüngere. „Wo mag der Konsul die erobert haben?"

Langsam, dicht an den Boden geduckt, kroch Dukarion davon. Erst als er ein kleines Waldstück erreicht hatte, richtete er sich auf und rannte zum karthagischen Lager zurück, so schnell ihn seine Füße tragen wollten.

Auf diese Weise erfuhr Hannibal, daß die Konsuln vor einiger Zeit mit dem größten Teil ihrer Heere das Lager verlassen hatten und nun wieder zurückgekehrt waren. Doch wo hatten sie sich inzwischen aufgehalten? Und woher stammten die Elefanten?

Hannibal ahnte Schlimmes.

Am nächsten Morgen brachte man ihm einen Ledersack, den die Posten am Lagerwall gefunden hatten.

„Aufmachen!" befahl Hannibal kurz.

Der Posten gehorchte. Ein blutiger Kopf fiel ins Gras.

„Wollen mich die Römer verhöhnen?" fragte Hannibal verächtlich. Doch dann sah er genauer hin und sank auf die Knie.

„Bruder", flüsterte er, „so sehen wir uns wieder."

Mit unwirklicher Deutlichkeit stieg in seiner Erinnerung das Kinderspiel auf, und seine eigene triumphierende Stimme klang ihm in den Ohren: Die Römer haben gesiegt.

Nachdem Hannibal den Kopf des Bruders begraben hatte, führte er sein Heer zur Südspitze Italiens.

Ein zweites Wiedersehen

Auf einem Felsen, dicht am Meer, leuchtete der weiße Marmortempel der Göttin Hera. Schlanke Zypressen wiesen den Schiffern den Weg zum Heiligtum. Hier herrschte auch im Hochsommer Kühle, denn die heiße Julisonne war nicht imstande, die gewaltigen Steinquadern zu durchdringen, die den Tempel in eine Festung verwandelt hatten. Am Fuße des Felsens weideten Tarentiner Schafe, deren Wolle so kostbar war, daß man ihnen die Felle gewöhnlicher Schafe über den Rücken deckte. Sie hatten früher den Priestern gehört und waren jetzt Eigentum der Armee geworden, wie alles ringsumher.



Zwischen zwei Olivenhainen lag das karthagische Lager. Bei Sturm spritzten die Wogen bis zu den Zelten hin und füllten sie und den Tempel mit ihrem Brausen. Von seinen Stufen hatte man einen weiten Blick auf das Meer.

Aber all das vermochte den Feldherrn nicht von seinen qualvollen Grübeleien abzulenken. Er, für den nur der Kampf Leben bedeutete, war zur Untätigkeit verurteilt. Er konnte nur noch auf Nachrichten warten von dort, wohin sich der Krieg verlagert hatte. Freund und Feind schienen ihn vergessen zu haben. Die Proviantschiffe, die man ihm aus Karthago geschickt hatte, waren an der sardinischen Küste im Sturm untergegangen. Italien, das ihn geduldet hatte, solange er siegte, behandelte ihn jetzt mit wortloser Feindseligkeit. Bei seinem Herannahen schlossen die Städte ihre Tore, verödeten die Dörfer. Ihre Einwohner verbrannten die Saaten, nahmen ihr Vieh und flohen.

Und sein Heer? Es bestand zur Hälfte aus Italikern, denen er versprochen hatte, sie gegen Rom zu führen. Würden sie ihm folgen, wenn er sie statt dessen nach Afrika brächte? Nein, sie würden Italien nicht verlassen. Sie wollten nur hier kämpfen, weil sie nur hier ihre Befreiung vom römischen Joch erlangen konnten.


Immer häufiger beschäftigte sich Hannibal in Gedanken mit Publius Scipio. Es schien ihm, daß sich in den Worten und Taten dieses Römers die Lösung für die Rätsel des Krieges verbarg. Allein die Tatsache, daß der junge Scipio während Hannibals Aufenthalt in Italien vom Knaben zum Manne herangewachsen und Konsul geworden war, bedrückte Hannibal tief. In blutigen Schlachten vernichtete ich eine ganze Generation von römischen Kriegern, aber ihre Söhne sind nachgerückt, und schon wachsen ihre Enkel heran! Und wo bleibt unser Nachwuchs? Ich und meine Veteranen, wir sind wie Dornen, die der afrikanische Wüstenwind auf die italische Erde herüberwehte. Wir haben keine Wurzeln, keine Zukunft. Iberien, das Land, das mein Vater und mein Vetter Hasdrubal eroberten, ging uns nahezu vollständig verloren. Ich hatte erwartet, daß Publius Scipio nach seinen iberischen Siegen in Italien landen würde, um mir hier die Entscheidungsschlacht zu liefern. Aber er hat sich nach Sizilien begeben. Das ist eine Demütigung für mich als Mensch und Feldherr. Bin ich der Aufmerksamkeit eines Scipio nicht mehr würdig?

Hannibal schoß das Blut ins Gesicht. Er rief sich seine Siege am Trasimenischen See, an der Trebia und bei Cannae ins Gedächtnis, doch auch sie trösteten ihn über die schmachvolle Kränkung nicht hinweg. Ja, Scipio hat recht! Ich bin nicht mehr gefährlich, deshalb kehrt er mir den Rücken.

Hinter dem Kap tauchte ein Schiff mit steilem Segel und zwei Reihen von Rudern auf. Es war, wie Hannibal erkannte, eines jener Wachschiffe, die zum Schutz der afrikanischen und iberischen Küste eingesetzt, aber wegen ihrer Schnelligkeit auch für längere Fahrten benutzt wurden. Welche Nachricht würde es ihm bringen?

Als das Schiff am Ufer angelangt war, ankerte es und ließ ein Boot zu Wasser. Es wurde von zwei Männern gerudert. Ein dritter breitschultriger Krieger stand aufrecht am Bug.

Hannibal hastete zum Ufer hinunter. Der Mann am Bug war Magon. Besorgniserregende Ereignisse mußten ihn veranlaßt haben, Karthago zu verlassen, wo er Elefanten und Truppen besorgen sollte. Wortlos schloß er Hannibal in die Arme.

„Ein Unglück ist geschehen!" sagte er dann leise. „Gula ist tot, und Masinissa ist von uns abgefallen. Er hat Syphax den Krieg erklärt und den karthagischen Ratsherrn ermordet, der als Friedensunterhändler zu ihm kam. In seinem Lager wurden Abgesandte des Publius Scipio gesehen."

Hannibal senkte den Kopf. Schon lange wußte er, daß sich Karthago durch sein Schwanken zwischen Syphax und Gula in eine große Gefahr begeben hatte. Hanno hatte versucht, beide Numidier-Könige zu Karthagos Bundesgenossen zu machen und geglaubt, daß Gula die Verheiratung Sophonisbes mit Syphax nicht übelnehmen würde. Er war doch stets dagegen gewesen, daß sein Sohn dieses Mädchen zur Frau nahm. Aber nun war Gula tot.

Schon vor zwanzig Jahren hatte mein Vater mit diesem Tod gerechnet und deshalb versucht, Masinissa an uns zu binden, dachte Hannibal. Doch Hanno machte all unsere Bemühungen zunichte. Er versprach Masinissa die Tochter unter der Bedingung, daß dieser Kriegsruhm erwürbe, in Wirklichkeit aber nur, um den jungen Numidier aus Karthago zu entfernen. Vermutlich nahm er an, daß Masinissa bei den Kämpfen in Iberien ums Leben kommen würde. Doch Hanno hat sich getäuscht, Masinissa ist nach Afrika zurückgekehrt, hat den väterlichen Thron mit Waffengewalt erobert und uns den Krieg erklärt. Publius Scipio erhielt einen mächtigen Verbündeten.

Hannibal blickte seinem Bruder eindringlich in die Augen.

„Jetzt sind wir nur noch zwei", sagte er dumpf. „Wie sehr wünschte ich, daß du für immer bei mir bleiben könntest. Aber es ist unmöglich, diesen Auftrag einem anderen zu geben."

„Ich höre, Hannibal", sagte Magon kurz.



Das war die übliche Antwort des Kriegers auf einen Befehl seines Vorgesetzten. Aber aus der bewußten Knappheit, aus der Festigkeit der Stimme klang Magons Wunsch, den Bruder zu beruhigen und ihm zu beweisen, daß sein Glaube an den Sieg auch in diesen schweren Tagen unerschütterlich war.

„Du mußt nach Norditalien", sagte Hannibal. „Ich gebe dir Dukarion und alle Gallier mit. Jetzt kann uns nur noch ein Aufstand gegen Rom im Norden des Landes retten. Du erhältst auch alle Schiffe."

„Und du?" Fragend sah Magon den Bruder an. „Was willst du ohne Schiffe anfangen, wenn die Römer kommen? Außerdem kann ich dir doch nicht alle Gallier nehmen! Aus Afrika erhältst du keinen einzigen Krieger!"

„Die Römer kommen nicht. Sie haben noch immer Angst vor dem Schatten jenes Hannibal, der am Trasimenischen See und bei Cannae siegte. Nur Publius Scipio würde sich mir zur Schlacht stellen. Doch jetzt, da uns Masinissa verraten hat, wird er sich unverzüglich nach Afrika einschiffen. Ich könnte bei Melkart schwören, daß er schon unterwegs ist!"

Die Taube der Aphrodite

Publius Scipio ging zwischen den marmornen Zuschauerbänken hindurch. In wenigen Augenblicken würde eine Aufführung der „Antigone" beginnen, und viele Einwohner der sizilianischen Stadt Lilybaeum waren herbeigeströmt, um dieses berühmte Theaterstück des griechischen Tragödiendichters Sophokles zu sehen. Antigone war der Sage nach eine der beiden Töchter des unglücklichen Königs Ödipus, der durch die tragischen Verstrickungen des Schicksals unwissentlich seinen Vater tötete und später ebenso unwissentlich seine eigene Mutter heiratete. Als er dann von seinen eigenen Freveltaten Kenntnis erlangte, stach er sich selber die Augen aus und verließ sein Land. Von Mitleid erfüllt, begleitete Antigone ihren unglücklichen Vater in die Fremde, teilte mit ihm alle Mühsal und Not der Verbannung und kehrte erst nach seinem Tode in die Heimat zurück. Aber auch hier fand die gütige Jungfrau keinen Frieden. Sie mußte mit ansehen, daß sich ihre beiden Brüder im Kampf um die Herrschaft gegenseitig ermordeten und daß ihr Oheim den Leichnam des einen, der Polyneikes hieß, unbestattet auf dem Felde liegenließ, den Raubvögeln und Hunden zum Fraße, zur Strafe dafür, daß er fremdes Kriegsvolk ins Land geführt und seine Vaterstadt bedroht hatte. Kreon, der Oheim von Antigone, verbot bei Todesstrafe, Polyneikes zu begraben, aber Antigone mißachtete das Verbot, ging hin, bedeckte seine Leiche mit trockener Erde und goß aus einem Kruge die Totenspende über ihn aus, wie es die alte Sitte forderte. Das erfuhr Kreon, und der Grausame ließ sie zur Strafe lebendig in ein unterirdisches Gewölbe einmauern, wo sie den Tod fand.

„Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da!" Dieses Wort, das Sophokles der Antigone in den Mund legte, sollte die Jahrhunderte überdauern.

Und auch Publius Scipio hörte es in tiefer Erschütterung.

In der Pause ließ er nachdenklich seinen Blick über die Zuschauerreihen gleiten. Ja, zwischen den Bürgern der Stadt saßen viele römische Legionäre. Sie waren seinem Beispiel gefolgt und nutzten die Atempause zwischen den Schlachten, um sich an der Kunst zu erfreuen.

Ihm fiel ein Satz aus einem Schreiben ein, das die Entsendung einer speziellen Kommission des Senats nach Sizilien verursacht hatte. Darin hieß es: „Publius Scipio vergißt seine Aufgabe, geht ständig ins Theater und verbringt seine freie Zeit mit der Lektüre griechischer Philosophen."

Für den Dummkopf, der das schrieb, und für die anderen Dummköpfe, die sein Geschreibsel so ernst nahmen, daß sie mir eine Kommission auf den Hals schickten, scheinen Theaterbesuche unvereinbar mit Angriffsvorbereitungen zu sein, dachte Publius spöttisch. Sie meinen, daß ein Feldherr von früh bis spät in seinem Zelt sitzen muß oder bestenfalls Paraden abnehmen darf und daß nur Sophokles mich in Sizilien zurückhält. Wenn sie meine Legionäre hier in den Zuschauerbänken sitzen sähen, würden sie glauben, die Armee zerfiele.

„Darf ich mich neben dich setzen?" fragte eine Stimme.

Publius Scipio fuhr aus seinen Gedanken auf.

„Gnaeus Naevius in eigener Person!" rief er verwundert. „Bist du eigens aus Rom gekommen, um die Aufführung der ,Antigone' zu sehen?"

„Nein, ich bin hier, um mit dir zu sprechen", erwiderte der Dichter. „In Rom erzählt man sich, daß man dich häufiger im Theater als im Feldlager trifft, deshalb bin ich direkt hierhergeeilt, zumal wir uns ja nicht zum erstenmal in einem Theater begegnen."

„Es ist mir eine große Ehre, daß Gnaeus Naevius mich besucht", sagte Publius.

Gnaeus Naevius überhörte die Schmeichelei. „Manchmal verschleißt ein Schriftsteller auf der Jagd nach seinem Helden ein Dutzend Sandalen und wird alt und grau und merkt nicht, daß dieser Held in unmittelbarer Nähe lebt!" sagte er erregt. „Er war zu jener Zeit noch ein Knabe, ein Grünschnabel, der selbst nicht wußte, was in ihm steckte. Doch er wurde ein berühmter Mann, der schon Neider hat, schon gehaßt wird. Erst jetzt begreife ich, daß ich mich beeilen muß, wenn ich nicht zu spät kommen will, daß ich keine Ruhe finde, bevor ich ihn kennengelernt und erfahren habe, welchen Spitznamen er als Kind trug, mit wem er befreundet ist, wen er liebt. Ich war im Lager des Fabius und weiß, daß er als Kind Schäfchen genannt wurde. Ich verbrachte ein Jahr mit Hannibal bei Capua und kann schwören, daß seine einzige Leidenschaft der Haß auf Rom ist. Doch was weiß ich von Publius Scipio? Daß er in der Schlacht an der Trebbia seinen Vater rettete und daß er Neu-Karthago eroberte. Mehr nicht. Wie verlief seine Entwicklung? Wer war sein Lehrer?"

„Meinen Lehrer kennst du seit langem", antwortete Publius.

Verständnislos sah der Dichter ihn an.

„Die Kriegskunst erlernte ich von Hannibal", fuhr Publius fort. „Er war mir ein besserer Lehrer als mein Vater. Ich studierte seine Kriegführung wie der Jäger das Verhalten des Wildes. Ich kenne seine starken und schwachen Seiten. Manchmal habe ich das Gefühl, als könne ich seine Gedanken lesen."

Er blickte sich um, weil ein Liktor plötzlich hinter ihm stand und ihm eine winzige Schriftrolle überreichte.

Hastig entrollte Publius das Papier. Er wußte, daß es von einer Taube gebracht worden war. Vor vielen Jahren, als die Karthager anfingen, die Liebesgöttin Aphrodite in ihrem sizilianischen Heiligtum zu verehren, ließen sie häufig Tauben, die heiligen Vögel dieser zärtlichen Göttin, nach Karthago fliegen. Die Tauben überquerten das Meer, das Sizilien von Karthago trennte, fanden zielsicher den Weg zum Tempel der Aphrodite in Karthago. Nach genau neun Tagen kehrten sie dann nach Sizilien zurück. Die Karthager glaubten, daß sich mit ihren weißgefiederten Lieblingen auch die Göttin während der neun Tage in Karthago aufhielte. Dieser Brauch hatte den findigen Kylon auf den Gedanken gebracht, die Tempeltauben als Boten zu benutzen, zumal sich das römische Lager nicht weit vom Tempel der Aphrodite befand.

Nur drei Worte standen auf dem Zettel: „Die Taube hat gepickt." Auf diesen Satz hatte Publius fast ein Jahr gewartet und Spott und Verleumdung ertragen. Nein, er hatte seine Aufgabe nicht vergessen, wie die Verleumder es ihm vorwarfen. Er hatte nur gewartet.

Dummköpfe glauben, ein Krieg bestehe nur aus den Zweikämpfen, die die Helden vor den Augen ihrer angetretenen Truppen miteinander ausfechten, und aus einer Folge von Schlachten. Sie sehen nur das, was in der Öffentlichkeit vor sich geht. Was wissen sie von den Spionen, die in die feindlichen Städte und Feldlager eindringen, von einem Sieg, der jahrelang vorbereitet wird, von den Tauben der Aphrodite?

„Verzeih", sagte Publius zu Gnaeus Naevius. „Unser Gespräch bleibt auch diesmal unbeendet. Heute nacht schiffe ich mich nach Afrika ein."

Die letzte List

Publius Scipio drückte Kylon die Zügel seines Pferdes in die Hand und trat in das Zelt des Königs. Neben Syphax saß eine junge Frau. Beim Eintritt des römischen Feldherrn schlug sie die Augen nieder, und die Schatten ihrer langen Wimpern legten sich über ihre blassen Wangen.

Viele Male war Publius im römischen oder numidischen Lager mit König Syphax zusammengetroffen, aber immer unter vier Augen. Selbst seinen Sohn Wermino, den Publius bei seinem ersten Besuch in Syphax' Hauptstadt kennengelernt hatte, ließ der Numidierkönig nicht an den Unterredungen teilnehmen, die das Schicksal des Krieges entscheiden sollten. Jetzt aber saß Sophonisbe, Hannos Tochter, neben ihm. Ihr Eintreffen in Cirta war damals, wie Publius heute wußte, der Grund dafür gewesen, daß Rom die gewünschten numidischen Reiter nicht erhielt. Und was verhieß die Anwesenheit der schönen Frau jetzt? Hatten die Karthager die Hoffnung aufgegeben, daß der Kriegsgott ihnen helfen würde, und sich die Liebesgöttin Aphrodite zu Hilfe geholt? Oder wollte Syphax ausdrücken, daß er nicht die Absicht hatte, die Landsleute seiner Gemahlin im Stich zu lassen, und nur die Rolle eines Friedensvermittlers spielen wollte?

Das wäre mir recht! dachte Publius. Hauptsache, ich gewinne Zeit.

„Stört dich meine Frau?" fragte Syphax, während er dem römischen Feldherrn zur Begrüßung entgegenging.

„Ich habe keinerlei Geheimnisse", erwiderte er höflich. „Und schon gar nicht vor der Tochter Hannos. Mir ist wohl bekannt, daß Hanno in Karthago als einziger nach Frieden und Freundschaft mit dem römischen Volk strebt."

Sophonisbe saß mit gesenktem Kopf da, als ginge das Gespräch sie gar nicht an. Nur an ihren Händen, die krampfhaft die Lehnen des Thronsessels umklammerten, konnte Publius erkennen, daß ihr keines seiner Worte entging.

„König Syphax, du bist ein leidenschaftsloser, kluger Mann", fuhr er fort. „Deshalb wird es für dich ein leichtes sein, die Karthager davon zu überzeugen, daß ich annehmbare Friedensbedingungen stelle. Du weißt selbst, daß Hannibal nun schon seit vierzehn Jahren Italien verheert und daß die viertausend Talente, die Karthago dafür bezahlen soll, nur eine geringe Entschädigung für unsere Einbußen und Verluste sind."

„Aber du verlangst obendrein noch Schiffe", wandte Syphax ein. „Alle Kriegsschiffe, bis auf zwanzig."

„Ich werde kein einziges Schiff nach Italien bringen", sagte Publius.

„Aber Rom muß sicher sein, daß ihm kein Überfall mehr droht."

„Du redest, als hättest du den Sieg schon in der Tasche. Immerhin sind Hannibal und Magon noch in Italien. Hanno strebt zwar nach Frieden, aber viele Karthager sind für die Weiterführung des Krieges."

Und während Publius mit Syphax verhandelte, war der listige Kylon nicht müßig. Unauffällig stach er das Pferd mit dem Dolch. Es bäumte sich auf, zerriß den Zügel und sprengte zum Lagertor.

Händefuchtelnd trabte Kylon hinterdrein.

„Bleib stehen, du mein Augentrost!" schrie er, so laut er konnte. „Wo rennst du hin?"

Vor Schreck über das Gebrüll galoppierte das Pferd noch schneller. „Halt! Du Schakalfraß, halt!" kreischte Kylon mit verzweifelter Stimme.

Am Lager blieb das Pferd stehen. Kylon lief hin und hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um es am Zaum zu fassen. Aber er stolperte über seine eigenen Beine und klatschte bäuchlings zu Boden.

Als er aufstand und sich das verletzte Knie rieb, war das Pferd wieder weg und lief innen am Lagerwall entlang.

„O ihr Götter!" brüllte der Grieche wie ein Verrückter. „Weshalb habt ihr mich nicht als Schildkröte erschaffen? Dann würde mein Rücken die Prügel nicht fühlen, die ich nun erhalte! Mein Herr wird es mir nie verzeihen, daß ich sein Pferd durchgehen ließ!"

Er setzte sich auf die Erde und rieb sich schluchzend die Augen.

Sein Geschrei und Gejammer lockte die Numidier aus ihren Zelten. Anfangs lachten sie den Mann nur aus, dem sein Pferd davongelaufen war, denn ihre Pferde gehorchten auf den Pfiff wie Hunde. Dann aber wurde ihnen klar, daß das Pferd nicht ihm gehörte, sondern dem römischen Feldherrn, dessen Sklave er war. Ihr Spott wich dem Mitgefühl, hilfreiche Hände fingen das Pferd ein, und sie drückten dem Sklaven die Zügel in die Hand. Aber er war wahrlich ein dummer Tropf! Anstatt das Pferd schleunigst zum Königszelt zurückzuführen, aus dem der römische Feldherr jeden Augenblick heraustreten würde, bedankte er sich so weitschweifig und überschwenglich bei den Männern, die es eingefangen hatten, als hätten sie ihm das Leben gerettet. Und als sie ihm den nächsten Weg zum Königszelt zeigten, drückte er sich beiseite und machte einen großen Umweg, als wollte er seiner Strafe entrinnen oder sie mindestens so lange wie möglich hinauszögern.

Publius Scipio hatte seine Verhandlung mit König Syphax inzwischen wirklich beendet und wartete schon auf seinen angeblichen Sklaven. Er hatte Kylon in der Hoffnung mitgenommen, daß es diesem gelingen würde, beim Besuch im Lager des Feindes herauszufinden, wie viele Zelte darin standen und wie viele Krieger sie enthielten. Aber nie hätte er angenommen, daß Kylon es während der kurzen Unterredung fertigbringen würde, durch das ganze Lager zu laufen und sich überall umzusehen.

Als Publius Kylon herankommen sah, von mehreren Numidiern gefolgt, bemühte er sich, ein möglichst finsteres Gesicht aufzusetzen, nahm die Peitsche, die Kylon vorsorglich mitgebracht hatte, und ging drohend auf den Sklaven zu. Dabei wurde er Zeuge von Kylons großartiger Schauspielkunst. Worte waren zu schwach, um Kylons ausdrucksvolle Mimik wiederzugeben! Seine unsicheren, ängstlichen Schritte, die vorhängenden Schultern, der einschmeichelnd auf die Schulter gelegte Kopf, die unstet umherirrenden Augen - alles verriet den typischen Sklaven, nicht aber den geschmeidigen Intriganten, wie er in griechischen Komödien vorkommt, sondern den echten römischen Sklaven, der Peitsche und Folter kennt, der vor der Kreuzigung zittert. Publius war von Kylons Spiel derart mitgerissen, daß er unwillkürlich ausholte und ihm eins mit der Peitsche überzog.

Als das numidische Lager weit hinter ihnen lag, besann er sich.

„Kylon", sagte er leise, „heute hast du dich selber übertroffen. Jeder griechische Schauspieler würde dich um diese darstellerische Leistung beneiden. Verzeih, daß ich die Hand gegen dich erhob."

„Kein Herr ohne Peitsche, kein Sklave ohne Narben!" erwiderte Kylon und rieb sich die schmerzende Schulter. „Dein Peitschenhieb gehörte dazu, sonst hätten die Numidier unter Umständen Verdacht geschöpft. Und du sagtest doch selbst: Der beste Plan ist der, von dem der Feind nichts ahnt. Nur schade, daß ich Sophonisbe nicht zu Gesicht bekam. Sie soll so schön sein wie die Göttin Aphrodite, deren Taube dir den Brief brachte."

„Ohne deine Geschwätzigkeit wärest du nicht mit Gold aufzuwiegen, Kylon", meinte Publius. „Erzähl mir lieber, was du im Lager gesehen hast." „Mit Gold? Nun, Silber würde mir genügen. Man erzählt sich, daß du in Neu-Karthago mehr Silber erbeutet hast, als der Laderaum von drei Schiffen faßt. Und hättest du Neu-Karthago ohne meine Hilfe erobert?"

„Schweig, Kylon! Vergiß, daß du in Neu-Karthago warst! Für dein Schweigen habe ich dich doch extra bezahlt."

„Ich schweige schon, ich schweige schon!" brummte der Grieche hastig. „Hör also zu. Syphax hat in seinem Lager zweitausend Zelte, jedes Zelt faßt ungefähr dreißig Krieger. Demnach hat Syphax sechzigtausend Krieger, zu denen du noch die Truppen des nahegelegenen karthagischen Lagers rechnen mußt. Und daß dein eigenes Heer nur aus zwanzigtausend Leuten besteht..."

„Ja, das weiß ich!" fiel Publius ihm ungeduldig ins Wort. „Hast du im numidischen Lager sonst noch etwas feststellen können?"

„Nur, daß die Zelte mit Schilf gedeckt sind und daß höchstens drei Pferde gleichzeitig durch die Lagertore gehen."

„Warum hast du das nicht gleich gesagt", rief Publius erfreut. „Das ist doch das wichtigste. Du erhältst für jedes Zelt eine Sesterze. Zufrieden?"

„Und wieviel erhalte ich für die Tore und die Schilfdächer?"

„Wenn ich dich auch noch für die Dächer, die Tore und vielleicht gar für jeden einzelnen Krieger bezahlen würde, müßte ich in Kürze betteln gehen."

„Aber du hast mir doch mein Schweigen bezahlt!" widersprach Kylon unbeirrt. „Dann kannst du auch für die Dächer was springen lassen!" Publius lachte.

„Du kriegst die Dächer und die Tore bezahlt, wenn du dich ins karthagische Lager schleichst und feststellst, wie viele Krieger es enthält. Das ist das letzte, was ich von dir verlange."

„Das letzte?" wiederholte Kylon gedehnt. „Hast du das damals in Iberien nicht auch gesagt?"

Feuer

Es war eine dunkle Nacht. Nur selten trat der Mond aus den Wolken und beschien das rechteckige Heerlager mit dem weißen Königszelt in der Mitte. Die Krieger schliefen fest. Am Abend zuvor waren Händler ans Lagertor gekommen und hatten ihnen nahezu umsonst Wein verkauft. Auch die Posten waren eingenickt, auf ihre Speere gestützt.

Syphax lag ebenfalls in tiefem Schlafe, erschöpft von den endlosen Verhandlungen mit den Karthagern und den Römern. Es war nicht leicht, zwischen den beiden Todfeinden Frieden zu stiften. Die Karthager glaubten, daß er die Pflicht hätte, sich ganz für ihre Interessen einzusetzen, weil er mit Sophonisbe verheiratet war. Dagegen hatten sie damals, als sie den Krieg gegen Rom begannen, nicht zu ihm gehalten, sondern zu König Gula. Doch nun war Gula gestorben, und sein Sohn Masinissa haßte die Karthager. Auch über den römischen Feldherrn Scipio mußte sich Syphax den Kopf zerbrechen. Er feilschte bei den Friedensverhandlungen um jeden Barren Silber, entschloß sich aber zu keinerlei Zusagen, weil er angeblich schon einen Monat auf einen Sendboten des römischen Senats wartete.

Der einzige Mensch, der im numidischen Lager nicht schlief, war Sophonisbe. Bei den Verhandlungen zwischen Syphax und dem römischen Feldherrn hatte sie zufällig erfahren, daß Masinissa noch lebte, daß er aus Iberien zurückgekehrt war und im Dienste der Römer stand. Der Vater hatte sie also gewissenlos belogen, nur um sie mit dem Manne zu vermählen, der jetzt an ihrer Seite lag und ihr doch unendlich fremd war. Was verband sie mit ihm? Das Wort, das sie ihrem Vater gegeben hatte, der sein Wort aber gebrochen und sie mit einem Barbaren verheiratet hatte? Oder wurde sie durch ihre schweren goldenen Ringe an Syphax gefesselt? Verzweifelt riß sie sich diese Ringe von den Fingern, aber das war nutzlos. Sie war gefangen.

Hilflos weinte sie vor sich hin.


Von allen Seiten krochen die Römer auf das numidische Lager zu, lautlos wie die Schlangen. Sie glitten in den Graben, erklommen den Lagerwall. Ein leiser Pfiff, und schwelende Feuerbrände flogen auf die Schilfdächer. Nach wenigen Minuten standen die Zelte in hellen Flammen. Die Krieger stürzten heraus, halbnackt, verschlafen. Sie ahnten nichts von der Nähe des Feindes und glaubten, das Feuer wäre aus Unvorsichtigkeit entstanden. Es sprang von Zelt zu Zelt über, bald brannte das ganze Lager. Die Flammen wuchsen bis zum Himmel, sie verdeckten die Sterne.

Die Numidier rannten zu den beiden Toren, viele mit Eimern in der Hand. An den Toren entstand ein großes Gedränge, weil sie viel zu eng waren. Die Flüche der Krieger wurden übertönt vom Geheul der Flammen.

Von draußen klang das Signal zum Sturm. Die römischen Legionäre sprangen vom Boden auf. Unter schrillen Schreien jagten Masinissas Reiter heran. Die Krieger des Königs Syphax rasten verstört hin und her, ähnlich wie die Ratten auf einem untergehenden Schiff. Überall sahen sie sich dem Tod gegenüber - im Lager würden sie verbrennen und an den Toren unter den Schwertstreichen der römischen Legionäre und der Reiter Masinissas sterben.


Im karthagischen Lager bemerkte man die Flammen, dort schliefen die Wachen nicht. Doch selbst wenn sie geschlafen hätten, wären sie geweckt worden von dem römischen Spion, der am Tage zuvor ertappt und nach karthagischem Brauch ans Kreuz geschlagen worden war.

Gewöhnlich schwiegen die ans Kreuz Geschlagenen, oder sie stöhnten leise vor sich hin, flehten um Wasser oder um den Todesstoß. Doch dieser Spion, der sich weigerte, seinen Namen zu nennen, und standhaft alle Folterungen ertragen hatte, schrie pausenlos, nachdem er am Kreuz hing. Anfangs lauschten die Wachen aus reinem Unterhaltungsbedürfnis seinem Geschrei. Er forderte einen gewissen Publius auf, seinen Landsleuten, den Schiffern, Wein zu geben.

„Sei nicht so geizig! Kaufe Falernerwein!" brüllte er.

Die Wachen lachten.

„Er wünscht sich sogar eine bestimmte Weinsorte. Wahrscheinlich ist er Winzer gewesen."

Die Sinne des Gekreuzigten schienen verwirrt. Er hielt die Raben, die sein Kreuz umkreisten, für Tauben.

„Tauben der schönen Aphrodite, wollt ihr euch rächen?" stöhnte er.

„Ich machte euch zu Boten des Kriegsgottes, dadurch wurde euer Gefieder so schwarz wie Ruß."

Sein pausenloses Geschwätz ging den Posten allmählich auf die Nerven, und einer warf einen Stein. Der Gekreuzigte wurde still.

Doch als die Flammen aus dem numidischen Lager züngelten, kam er noch einmal zur Besinnung.

„Feuer!" schrie er gellend. „Feuer! Das ist mein Feuer! Mein Feuer! Publius, hörst du mich?"

Auch die Karthager glaubten anfangs, der Brand im numidischen Lager wäre durch Unvorsichtigkeit entstanden. Auch sie kamen nicht auf den Gedanken, daß es Brandstiftung war. Als sie sahen, daß es immer weiter um sich griff, wollten sie ihren Verbündeten mit Eimern und Äxten zu Hilfe kommen. Sofort fielen die Römer über die Waffenlosen her, mähten sie nieder und warfen jenen, denen die Flucht gelang, brennende Fackeln nach, so daß das Feuer auch auf das karthagische Lager übergriff.

Brüllend rasten die Elefanten aus den brennenden Zelten, zertrampelten die eigenen Leute und vergrößerten das Entsetzen.


Gegen Morgen ritten mehrere Männer in das ausgebrannte karthagische Lager ein. An ihren Rüstungen waren sie als Römer zu erkennen. Vor dem hohen Kreuz mit der unbeweglichen Gestalt hielten sie an.

Publius sprang vom Pferd und blickte zu Kylon auf. Es kam ihm seltsam vor, daß dieser Mund kein einziges Wort mehr sprechen würde. Kylon war ins Reich der Schatten eingegangen und hatte alle Geheimnisse mit sich genommen. Er brauchte für sein Schweigen nicht mehr bezahlt zu werden. Niemand würde den Namen des Mannes erfahren, dem Rom seinen großen Sieg verdankte.

Vierzigtausend Tote, fünftausend Gefangene - das war der Preis, den die Feinde für ihre Sorglosigkeit hatten bezahlen müssen.

Publius wischte sich die Augen.

„Der Rauch!" sagte er hastig auf die verwunderten Blicke seines Gefolges und wies auf die schwelende Brandstätte.

Wiedersehen

Tagelang umkreiste Sophonisbe das römische Lager im Schlangental aus der Ferne. Sie hielt sich im Schilf und in überwucherten Gräben versteckt. In ihren weitaufgerissenen Augen tanzten die Flammen der Scheiterhaufen. Die Römer verbrannten die Toten. Das Geknister der Flammen wurde von Hufgetrappel und den Lauten einer fremden Sprache übertönt.

Sophonisbe wußte nicht, wohin sie ihre Schritte lenken sollte. Ihr Vaterhaus war fern, eine Rückkehr dorthin war ebensowenig möglich wie in die Vergangenheit. Syphax war von den Römern gefangengenommen worden, Masinissa stand auf römischer Seite, seine Reiter kämpften Schulter an Schulter mit den Römern. Wo hielt er sich jetzt auf? Im römischen Lager, das von Posten bewacht wurde? Oder in Cirta, der ehemaligen Hauptstadt von Syphax' Reich, die jetzt Masinissa gehörte?

Will er mich nach alldem, was geschehen ist, überhaupt wiedersehen? Wiederholt führte Sophonisbe den Ring mit dem Gift zum Munde. Syphax hatte ihn ihr gegeben, während sie aus dem brennenden Lager flohen. Es war sein letztes Geschenk gewesen. Der Ring würde ihr helfen, der Gefangennahme und der Sklaverei zu entgehen. Sie wußte genau, welches Schicksal eine gefangene Frau erwartete.

Nein, für das Gift ist es noch zu früh, sagte sie sich. Zuvor will ich versuchen, Masinissa noch ein letztes Mal zu sehen. Ich muß ihm doch sagen, daß ich keine Schuld trage, daß ich getäuscht worden bin.

Es dunkelte. Das Antlitz der Tanit beschien in Gestalt des Mondes mit schwermütigem Licht die nach Cirta führende Straße. Der Feuerschein war erloschen, aber noch immer herrschten Verzweiflung und Grauen in Sophonisbes Herz. Plötzlich hörte sie Hufgetrappel. Sie hob den Kopf und lauschte. Eine innere Stimme sagte ihr: Das ist er! Und dann erkannte sie ein schneeweißes Pferd.

Masinissa sprang aus dem Sattel und eilte ihr entgegen. Aber war das wirklich Sophonisbe? Ihre Augen blickten trübe, und ihre Stimme, die einst wie das Geriesel eines klaren Bergbachs geklungen hatte, war jetzt tonlos und heiser.

„Liebster!" flüsterte Sophonisbe. „Liebster, du lebst!"

„In langen Feldzügen hat mein Merges seine Hufe abgewetzt", antwortete Masinissa. „In Gebirgen und Wüsten suchte ich den Stern, aber der Stern fiel in Syphax' Zelt, ohne daß er einen Schritt zu tun brauchte."

„Liebster, man hat mich belogen, ich wußte nicht..."

„Lug und Trug!" fiel ihr Masinissa ins Wort. „Ja, das sind die Säulen, auf denen dein Haus und deine Vaterstadt ruhen. Doch alles, was auf Lug und Trug gegründet ist, stürzt eines Tages ein. Nur die Wahrheit bleibt bestehen. Ich weiß, du bist von Hanno geschickt. Da er mit Syphax' Hilfe keinen Friedensvertrag erlangen konnte, will er es jetzt mit der meinen versuchen."

„Nein!" rief Sophonisbe mit Tränen in den Augen. „Nein! Der Vater schickt mich nicht. Ich habe in all den Jahren, während du fern warst, auf dich gewartet. Ich habe zu Melkart gebetet und geopfert, damit er dein Leben beschützt."

Masinissa wandte sich traurig ab. Er hegte keinen Haß gegen Sophonisbe. Nein, sie war nicht schuld, man hatte sie ebenso belogen wie ihn. Haß und Verachtung verdienen die anderen, die unser Glück wie eine tönerne Schale zerschlagen haben! dachte er.

„Gib mir deine Hand!" sagte er sanft. „Möge der Wille der Götter geschehen."

Er hob Sophonisbe auf und sprang hinter ihr in den Sattel. Merges wieherte leise, als er die leichte Berührung von Sophonisbes Händen spürte. Der Wind fuhr in ihr aufgelöstes Haar und wehte eine Strähne an Masinissas Mund. Sie roch nach Erde und Rauch - nach dem Duft seiner Kindheit. Und ihm wurde so leicht ums Herz, als hätte es die langen Jahre des Wartens nicht gegeben, als wäre jene Zeit zurückgekehrt, in der sie gemeinsam aus dem Tempel der Tanit traten.

Ein Stern verlischt

Laut sirren die Zikaden. In der Dunkelheit ist nur Merges' helle Gestalt erkennbar. Der Schimmel steht wartend vor dem Zelt, in dem Masinissa seit Sonnenuntergang mit dem römischen Feldherrn spricht.

Nach seinem Sieg hat Publius Scipio mit den Karthagern einen Waffenstillstand geschlossen. Darauf bestand das vom Krieg erschöpfte römische Volk. Doch die Karthager brachen den Waffenstillstand, indem sie die römische Proviantflotte ausraubten, die auf eine Sandbank gelaufen war. Der Krieg flammte wieder auf. Zwar trifft Karthago erst die Vorbereitungen zur Entscheidungsschlacht, aber Publius kennt bereits ihren Ausgang, und gemeinsam mit seinen Bundesgenossen verteilt er die Früchte des Sieges.

Masinissa soll die verschiedenen numidischen Stämme unter seiner Herrschaft vereinigen. Sein Gebiet wird außerdem um die karthagischen Besitzungen vermehrt. Von einem so großen numidischen Reich haben seine Vorfahren, die sich zweihundert Jahre lang in schmachvoller Abhängigkeit von Karthago befanden, nicht zu träumen gewagt. Numidien wird keinerlei Tribute zahlen und keine Reitereinheiten stellen müssen. Kein numidisches Blut soll mehr für fremde Interessen fließen.

„Ja!" sagt Masinissa zu Publius Scipio. „Ich bin gewillt, mein Land zu verwandeln, die Nomaden zu Ackerbauern und Gärtnern zu machen. Numidien wird sein eigenes Korn, sein eigenes Öl besitzen."

Den schwerwiegendsten Teil der Verhandlung hat Publius bis zum Schluß aufgeschoben. Das ist die Klärung des Privatlebens des künftigen numidischen Königs. Publius weiß: In der Stadt Cirta, die jetzt Masinissa gehört, wohnt Sophonisbe. Wieder stellt sich ihm diese Frau in den Weg! Fünf Jahre lang hat sie Syphax in der Hand gehalten und ihn an Karthago gebunden, und jetzt ist Masinissa in ihrer Macht. Solange Sophonisbe in Cirta weilt, kann ich Masinissa nicht sicher sein! denkt Publius.

Hinter Felsbrocken und Baumstämmen verborgen, schleicht eine Frauengestalt auf das Zelt zu. Der römische Wachposten, der so weit vom Zelt postiert ist, daß er von der Unterredung nichts verstehen kann, bemerkt sie nicht. Aber Merges hört sie mit seinen scharfen Ohren kommen. Er streckt ihr den schmalen Kopf entgegen und wiehert.

„Still, Merges, still!" flüstert Sophonisbe, läuft auf ihn zu und preßt das Gesicht an sein feuchtes Maul.

Es riecht nach Minze und Wermut, dem Duft der Grassteppe. Eine beruhigende Wärme geht von ihm aus.

Aus dem Zelt klingt Publius Scipios energische Stimme. Sophonisbe schrickt zusammen und schmiegt sich noch enger an Merges.

„Bedenke, Masinissa!" sagt er nachdrücklich. „Es ist uns nicht gleichgültig, wer im Königspalast von Cirta wohnt. Der römische Senat wird es ablehnen, dir die Federkrone zu übergeben, wenn du Sophonisbe heiratest. In diesem Falle würden wir Wermino die Herrschaft überlassen." Er macht eine Pause. Dann fährt er eindringlich fort: „In Rom hat man nicht vergessen, daß du in Iberien gegen uns kämpftest. Du mußt deine Treue zu Rom beweisen."

Bei diesen harten Worten fällt es Sophonisbe wie Schuppen von den Augen. In den letzten Tagen ist Masinissa immer verschlossener und kühler geworden. „Was hast du, Liebster?" hat sie ihn wiederholt gefragt. Aber er hat nur wortlos die Augen abgewandt, als fürchtete er, sie würde in ihnen etwas lesen, das sie nicht wissen soll. Doch jetzt weiß sie es: Sie steht Masinissa im Wege. Wenn sie bei ihm bleibt, nehmen ihm die Römer sein Reich. Aus dem Munde des römischen Feldherrn hat das Schicksal zu ihr gesprochen.

Mit einer heftigen Bewegung führt sie den Giftring an die Lippen.

Von drinnen hört Masinissa, daß Merges aufgeregt wiehernd mit den Hufen stampft.

„Verzeih!" fällt er Publius hastig ins Wort. „Ich komme sogleich zurück. Mein Pferd ruft mich."

Als er aus dem Zelt stürzt, stolpert er beinahe über Sophonisbe. Sie liegt auf dem Rücken, das Gesicht dem Himmel zugekehrt. Er kniet neben ihr nieder und blickt ihr in die starren Augen.

„Sophonisbe! Sophonisbe! Hörst du mich!" flüstert er leidenschaftlich. „Ich brauche die Federkrone nicht. Komm, wir reiten in die Steppe. Dort bau ich uns ein Zelt. Warum antwortest du nicht, Sophonisbe?"

Plötzlich flammt ein Stern am Himmel auf, fällt und verlischt.

Ist es der Stern, den Masinissa in den afrikanischen Steppen und den iberischen Bergen am nächtlichen Himmel suchte?

Hannibals Traum

Hannibal träumte, daß er von einem Elefanten verfolgt würde. Um ihm zu entgehen, schlug er Haken wie ein Hase, der von einem Bluthund gehetzt wird. Aber die stampfenden Schritte des Elefanten kamen immer näher. Hannibal blickte sich um und sah, daß der Inder Richad auf seinem Rücken saß. Also war der Elefant nicht tollwütig, er wurde gelenkt von Richad, der doch vor Casilium gefallen war. Er trug seinen alten Turban und hielt den Eisenstachel in der Hand.

„Richad, töte den Elefanten!" befahl Hannibal.

Aber Richad grinste nur tückisch und drohte Hannibal mit der Faust.

„Richad!" schrie Hannibal in Todesängsten. „Töte den Elefanten! Ich halte dich nicht länger in meinem Heer. Du darfst nach Indien zurückkehren!"

Da packte der Elefant ihn mit dem Rüssel und riß ihn hoch in die Luft. Hannibal stieß mit dem Hinterkopf gegen die harte Kajütenwand und erwachte, in Schweiß gebadet. Was hatte der Traum zu bedeuten? Elefanten bringen Glück! sagte das Sprichwort. Doch weshalb hatte der Elefant ihn verfolgt? Und weshalb war er von Richad gelenkt worden? Von Toten zu träumen bedeutete Unglück. Und wie tückisch der tote Richad obendrein gegrinst hatte!


Hannibal kleidete sich an und ging an Deck. Der Fahrtwind zerzauste ihm das Haar. Das Ufer Italiens verschwand gerade hinter grauen Nebelstreifen. Er blickte zurück, wie erstarrt vor Kummer. Fünfzehn Jahre lang hatte er sich in Italien aufgehalten. Er kannte es besser als seine karthagische Heimat. Er hatte davon geträumt, es zu erobern und als Bezwinger der Römer, als Held eines großen Krieges, nach Karthago zurückzukehren. Doch was brachte er jetzt zurück? Die Erinnerungen an einstmalige Siege! Oder waren all diese Jahre, all diese Schlachten und Gefechte nur ein Traum? Wie schön wäre das! Könnte er doch jetzt in Iberien erwachen, auf den griechischen Lehrer Sosylos mit seinen Schriftrollen warten und den Vater sagen hören: „Lernt, junge Löwen! Die Menschen lernen immer - aus ihren eigenen Fehlern und aus denen ihrer Feinde!"

Habe ich das getan? grübelte Hannibal. Habe ich nicht eher den Fehlern des Vaters meine eigenen hinzugefügt? Und jetzt, da ich erkenne, Fehler gemacht zu haben, ist es zu spät. Ich kann nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Das Leben gleicht den endlos heranrollenden Meereswogen, deren Lauf selbst die Götter nicht zum Stillstand bringen können, geschweige denn wir schwachen Sterblichen!

Der Kai des auf karthagischem Gebiet gelegenen Ortes Hadrumetum war mit bunten Fahnen geschmückt. Musikanten bliesen in silberne Hörner. In der Menge entdeckte Hannibal mehrere karthagische Ratsherren, in Purpurgewänder gekleidet.

Zusammen mit dem Rauch von Syphax' ausgebranntem Lager waren auch die Hoffnungen verweht, die Karthago auf die numidische Reiterei gesetzt hatte. Sie würde die Legionen der Römer nicht mehr ins Meer werfen. Hannos Plan, der noch vor kurzem als staatsmännische Meisterleistung gegolten hatte, wurde als verbrecherisch erklärt. Hanno selbst war nur mit Mühe seiner Verhaftung und Kreuzigung entronnen. Ganz Karthago glaubte jetzt, daß nur Hannibal noch fähig wäre, die Stadt zu retten.

„Hannibal hat keine einzige Schlacht verloren! Nur er kann Publius Scipio besiegen!" sagten die Karthager auf den Sitzungen des Großen Rates ebenso wie in den Werkstätten und auf dem Hafenmarkt. Selbst die Priester, die Hannibal bisher gezürnt hatten, weil er ihnen niemals Geschenke sandte, bezeichneten ihn als „Sohn des Gottes Melkart" und forderten das Volk auf, für ihn zu beten. Viele erinnerten sich reuevoll daran, wie wenig Hilfe Hannibal während seiner italischen Feldzüge von Karthago erhalten hatte. Trotzdem war er siegreich gewesen. Wenn er jetzt sämtliche Schiffe und neu rekrutierten Truppen erhielt, würde er Karthago bestimmt retten.

Aber Hannibal wußte, wie trügerisch jede Hoffnung auf einen Sieg war. Er hatte nur zwölftausend Krieger mit zurückgebracht, weil er die übrigen unter Magons Kommando im Norden von Italien zurücklassen mußte. Und nur die Götter wußten, ob es Magon gelingen würde, sich nach Karthago durchzuschlagen, oder ob auch ihn Hasdrubals Schicksal erwartete. Die Truppenaushebung würde höchstens zehn- bis zwölftausend Rekruten erbringen, größtenteils Handwerker. Und wenn man diese Leute von ihrer Arbeit wegriß, wer würde dann die Waffen schmieden und die Schiffe bauen? Wer würde die Fische fangen, die den Karthagern zur Zeit Öl und Brot ersetzten? Denn jetzt trafen keine Kornschiffe mehr aus Sizilien und Iberien ein. Auch die iberischen Silberbergwerke befanden sich jetzt in römischem Besitz, und keine iberische Stadt zahlte mehr Tribute an Karthago.

Der römische Feldherr Publius Scipio verfügte über fünfunddreißigtausend erprobte Kavalleristen. Und dazu würden noch die zahlreichen Reiter Masinissas stoßen!

Freiheit

Dukarion beugte den Kopf über die Fluten der heimatlichen Adda und trank in tiefen Zügen. In dem klaren Wasser spiegelte sich sein Gesicht mit der Schwertnarbe an der rechten Wange und dem wüsten Bart.

Fünf Tage lang war Dukarion durch Wälder und Sümpfe geflohen und hatte sich vor jedem Menschen versteckt gehalten, obwohl ihn niemand verfolgte. Der Waffenlärm, die Trompetentöne der Elefanten, das Gewieher durchgehender Pferde, die ihre verwundeten oder getöteten Reiter hinter sich herschleiften, dröhnten ihm noch immer in den Ohren. Ständig stand ihm Magon mit dem römischen Speer in der Brust vor Augen. Weder die Amulette, die Magon um den Hals trug, noch die Silberrüstung, die von einem römischen Konsul stammte, hatten ihn gegen den Speer geschützt.

Die unsterblichen Götter können bezeugen, daß ich kein Verräter bin, sagte der einsame Mann in Gedanken zu dem fernen Hannibal. Beim Überfall der Römer war ich an Magons Seite, und ich habe ihm an Tapferkeit nicht nachgestanden. Erst als Magon fiel, bin ich geflohen. Viele Krieger aus meiner Einheit sind mir gefolgt. Doch offenbar gelang es keinem einzigen, den römischen Kavalleristen zu entrinnen. Der Speer, der Magon tötete, befreite mich von dem Schwur, den ich dir gab, bevor du dein Schiff bestiegst. Und ich schwöre dir aufs neue, daß ich Magon nie verlassen hätte, wenn er noch unter den Lebenden weilte.

Als Dukarion sich aufrichtete, fiel sein Blick auf die halbverfallenen Gräben am rechten Flußufer. Hier hatte Flaminius sein Lager gehabt. Das von den Legionären zertrampelte Gras hatte sich längst wieder aufgerichtet. Die Sonne ging unter. In den kleinen Buchten am Ufer quakten die Frösche. Es raschelte im Schilf - eine aufgescheuchte Schlange kroch vorbei. Im Wasser sprang plätschernd ein Fisch. Diese Geräusche kannte Dukarion aus seiner Jugend. Einstmals war er mit dem Nachen an den Ufern der Adda entlanggerudert und hatte seine Netze in den klaren Fluten ausgeworfen. Die Narben, die er zu jener Zeit auf dem Körper trug, stammten nicht von feindlichen Schwertstreichen, sondern von scharfen Riedgräsern, und sein Sack enthielt keine goldenen Ringe, die er Toten von den Fingern gezogen hatte, sondern Weizenfladen aus der Hand seiner Mutter.

Er riß sich den Sack ab, der alles enthielt, was er in den dreizehn Jahren seines Kampfes gegen die Römer erbeutet hatte, und schleuderte ihn in die Fluten - ein reiches Opfer für den Flußgeist der Adda. Nachts langte er in seinem Heimatdorf an. Dort brannten die Lagerfeuer, und alle Dorfbewohner waren noch auf den Beinen. Es war die Zeit der Weinlese, und sie zerstampften die Trauben mit bloßen Füßen in großen Holztrögen. In breitem Strahl floß der Beerensaft in die bereitgestellten Holzeimer und wurde anschließend in Fässer und Tonkrüge umgefüllt.

Niemand erkannte Dukarion, keiner stürzte ihm jubelnd entgegen, keiner reichte ihm einen Becher mit Beerensaft. Er war in seinem Heimatdorf ein Fremder geworden. An der Stelle, wo einstmals sein Vaterhaus gestanden hatte, befand sich jetzt ein Obstgarten. Alle alten Leute, die Dukarion noch gekannt hätten, weilten im Reich der Schatten, und seine Altersgenossen hatten auf den Schlachtfeldern ihr Leben gelassen oder schmachteten in römischer Sklaverei.


Dukarions Blick fiel auf einen Baumstumpf am Rande des Obstgartens. Das Herz krampfte sich ihm zusammen. Das war der Stumpf einer hohen Eiche, in deren Schatten er als Kind gespielt hatte. Und als die Römer kamen, hatten sie ihn an diese Eiche gefesselt, um ihn auszupeitschen. Die Eiche war Zeuge seiner Schande gewesen.

Wie sehr hatte er sich später, in der römischen Sklaverei, nach Freiheit gesehnt! Er hatte gemeint, sie in Hannibals Heer zu erlangen, aber auch dort war er zum Sklaven geworden, wenn auch zu einem ungefesselten Sklaven. Magons Tod hatte ihm die Freiheit gebracht. Doch was sollte er jetzt mit ihr anfangen?

Die Schlacht der Giganten

Wie ein Heuschreckenschwarm fielen die Römer vor Karthago in das blühende Flußtal des Bagradas ein. Was sie nicht aufessen oder wegschleppen konnten, zerstörten sie. Schwarz ragten die enthaupteten Stämme der Feigenbäume und Palmen in den Himmel. Über den Ruinen der Landhäuser hing schwarzer Rauch. Der Krieg, der einstmals in weiter Ferne, in Iberien und Italien, gewütet hatte, näherte sich nun Karthagos Mauern. Und noch fürchterlicher als die Zerstörungwut der Römer war der Rachedurst der Sklaven. Sie kamen aus den unterirdischen Kerkern in den nun zerstörten Landhäusern hervor und zerstreuten sich über das ganze Land. Nirgendwo konnte man sich vor ihnen verbergen. Und jeden Augenblick mußte man erwarten, daß sie sich auch in Karthago erhoben!

„Warum zögert Hannibal?" riefen die karthagischen Ratsherren empört. „Er prahlt mit seinen Siegen in Italien, aber hier schiebt er die Entscheidungsschlacht von Tag zu Tag hinaus. Er leitete sogar Friedensverhandlungen mit dem römischen Feldherrn Scipio ein, der seine Bedingungen jedoch ablehnte. Warum zaudert Hannibal?"

Und sie sandten Boten zu ihm mit der Forderung, unverzüglich die Schlacht zu schlagen, die den Krieg beenden würde. So verließ Hannibal mit seinen Kriegern die Hafenstadt Hadrumetum, wo er sich mehrere Monate lang aufgehalten hatte, um ein Heer zu sammeln. Noch nie hatte er sich seiner Streitkräfte so wenig sicher gefühlt. Er besaß nur dreizehntausend erfahrene Krieger. Zwölftausend hatte er aus Italien mitgebracht, und eintausend waren unter Magarbais Kommando vor kurzem aus Norditalien eingetroffen. Magon war nicht dabeigewesen.

Italien wurde zum Grab meiner beiden Brüder! dachte Hannibal trauernd.

Und die übrigen Krieger? Es waren frisch ausgebildete Söldner aus Gallien und von den balearischen Inseln. Sie taugten nur dazu, den ersten Angriff der Römer auf sich zu ziehen. Aus Karthago hatte man ihm zehntausend Landsturmleute geschickt, größtenteils Handwerker. Zwar wußten sie, welche Gefahr ihnen und ihren Familien im Falle einer Niederlage drohte, aber sie waren im Gebrauch der Waffen vollständig ungeübt, sie konnten mit Hammer und Sichel umgehen, nicht aber mit Schwert und Speer. Aus dem Elefantenausbildungslager waren fünfundachtzig Tiere eingetroffen. Noch niemals hatte Hannibal über so viele Elefanten verfügt, doch zwischen ihnen und den Kampfelefanten bestand ein ebenso großer Unterschied wie zwischen einem Rekruten und einem Krieger. Sie waren erst vor kurzem eingefangen worden und konnten nichts als rennen und kehrtmachen. Sie besaßen keinen Kampfeswillen, die Vorbedingung für Kampfelefanten. Als Hannibal sie betrachtete, dachte er sehnsüchtig an Richad.

Ja, mein Vater hatte recht, dieser Mann war soviel wert wie ein ganzes Heer!

Aber die größte Sorge machte ihm die Reiterei, weil er nur noch eintausend Reiter besaß. Wermino, der Sohn des Königs Syphax, hatte ihm zwar versprochen, mit seiner Reiterei zu ihm zu stoßen, aber er war noch nicht eingetroffen, und Hannibal konnte nicht länger auf ihn warten.

Die ganze Nacht über klangen die Geräusche marschierender Truppen über die weiten Ebenen. Publius Scipio hatte erfahren, daß die karthagischen Truppen Hadrumetum verlassen hatten, und zog ihnen bis Zama entgegen. Bei Sonnenaufgang hatte sich das römische Heer in Schlachtordnung aufgestellt. Hannibal sah aus der Ferne, daß zwischen den einzelnen Truppeneinheiten breite Zwischenräume gelassen worden waren -eine Vorsichtsmaßnahme von Publius Scipio, die verhindern sollte, daß die Elefanten seine Schlachtordnung durcheinanderbrachten.

Vor die erste Reihe seines Heeres stellte Hannibal die Elefanten. Die Treiber erhielten den strengen Befehl, schonungslos ihre Eisenstachel zu gebrauchen und zu verhindern, daß die Elefanten kehrtmachten und sich gegen die eigenen Reihen wandten.

Dahinter postierte er die Söldner, nach Völkerschaften geordnet und von einigen seiner Veteranen befehligt. Die karthagischen Landsturmleute schlossen sich an. Ihnen hielt er kurz vor Beginn der Schlacht eine Rede, in der er ihnen mit eindringlichen Worten alle Gräßlichkeiten ausmalte, die ihre Angehörigen und ihr Vaterland erleben würden, wenn sie auch nur um einen Schritt zurückwichen.

Den Beschluß bildeten Hannibals Veteranen. Die glitzernden Eisfelder der Alpen hatten ihre Augen fast blind gemacht, ihre Füße, die siebzehn Jahre lang durch Italien marschiert waren, zitterten, ihre Hände hatten die Kraft zum Zuschlagen verloren, die jahrelange Last der Waffen hatte ihnen den Rücken gekrümmt. Dennoch setzte Hannibal seine Hoffnung allein auf sie.

Die Elefanten begannen die Schlacht. Es war ihr erster Kampf. Die gewaltigen Menschenmassen, das Schlachtgeschrei, das Geklirr der Waffen und Gewieher der Pferde erschreckten sie. Dennoch gingen sie gehorsam in die Richtung, wohin sie gelenkt wurden, den von einem Bronzeschild geschützten Kopf geduckt. Sie rannten vorwärts, aber nicht in die römischen Truppen hinein, sondern durch die Gänge zwischen ihren Einheiten und also an den Legionären vorüber. Sie hatten es noch nicht gelernt, die Menschen zu töten, sie mit dem Rüssel zu packen und zu zertrampeln. Die Legionäre jagten ihnen Pfeile und Wurfspeere in den Leib, deshalb flohen sie bis dorthin, wo sie sich vor den Menschen in Sicherheit glaubten. Doch die im Körper steckenden Waffen ließen ihnen keine Ruhe, die Gefechtstürme, die man ihnen auf den Rücken geschnallt hatte, und die Treiber, die auf ihrem Hals saßen, quälten sie. Einige warfen sich brüllend hin und wälzten sich auf dem Boden hin und her. Andere schüttelten ihre Treiber mit einer Geschicklichkeit ab, die man den scheinbar schwerfälligen Tieren niemals zugetraut hätte. Es war eine Meuterei der Elefanten, eine Meuterei Afrikas, das von Karthago geknechtet worden war.

Die sonst immer gehorsamen Elefanten hatten sich erhoben. Hannibals Traum auf dem Schiff war Wirklichkeit geworden. Und er empfand die gleiche hilflose Angst wie im Traum. Die Stimme seines Vaters klang ihm in den Ohren: „Die Elefanten müssen Rom zertreten, hört ihr, junge Löwen!" Und gleichsam als Antwort folgte der Satz, den der junge Masinissa einst empört gerufen hatte: „Die Elefanten sind besser als ihr, sie leben in Freiheit und tun niemandem etwas zuleide, ihr aber wollt sie in Mörder verwandeln!"

Und Hannibal erkannte: In jenem großen, grausamen Spiel, das man Krieg nennt, hatte er seinen letzten Einsatz, die Elefanten, verloren.



Die numidische Reiterei griff in den Kampf ein, angeführt von einem Manne auf einem herrlichen Schimmel. Sie stieß mit der karthagischen Kavallerie zusammen. An ihrer Spitze stand Magarbal, der Kampfgefährte von Hannibals Vater, der Mann, der Hannibal einst das Reiten beigebracht hatte. „Hannibal, du verstehst es zu siegen, aber du verstehst es nicht, deinen Sieg zu nutzen!" hatte er nach der Schlacht bei Cannae gesagt.

„Ja, Magarbal, du hattest recht!" murmelte Hannibal vor sich hin. „Ich verstand es nicht, meine Siege in Italien zu nutzen, und stürzte dadurch mein Vaterland ins Verderben."

Er wurde aufmerksam. Was machte Magarbal? Er wich zurück, ergriff scheinbar die Flucht. Das war eine Finte, mit der er die gefährliche numidische Reiterei auf sich zog und den römischen Feldherrn seiner wichtigsten Hilfstruppe beraubte. Doch gleichzeitig bedeutete das den sicheren Tod, denn Magarbal und seine Reiter würden der dreifachen Übermacht unausweichlich erliegen.

Magarbal opfert sich für mich! erkannte Hannibal. Ihm wurde die Kehle eng. Er wußte, daß er seinen alten Reitlehrer nicht wiedersehen würde.

Jetzt müßte er die Abwesenheit der numidischen Reiter nutzen, um die römische Infanterie zu erschlagen. Doch seinen schlecht ausgebildeten Landsturmleuten standen disziplinierte, kampfgewohnte Legionäre gegenüber. Ihr Angriff war so heftig, daß sich die Karthager zur Flucht wandten. Das hielten die auf karthagischer Seite kämpfenden Söldner für Verrat und kehrten die Waffen gegen den karthagischen Landsturm. Ein wildes Gemetzel begann, in dem man Freund und Feind nicht mehr auseinanderhalten konnte.

Das erkannte auch Publius Scipio. Durch ein Hornsignal rief er seine Truppen zurück, befahl ihnen, sich neu zu formieren, und überließ es seinen Feinden, sich gegenseitig zu zerfleischen.

In zwei Kolonnen marschierten die Römer rechts und links an den Kämpfenden vorbei und griffen Hannibals Veteranen an. Die Schlacht entbrannte zu neuer Kraft. Die Veteranen wehrten den feindlichen Angriff standhaft ab und drangen Schritt für Schritt vor. Schon sah es so aus, als würden die Reihen der Römer ins Wanken geraten. Doch da jagten die Numidier heran - sie hatten Magarbais Reiter bis auf den letzten Mann vernichtet.

Dieser Sieg verzehnfachte ihre Kampfeskraft. Unter triumphierendem Geschrei griffen sie Hannibals Veteranen von hinten an. Vor ihren Speeren und Schwertern schützte kein Schild, keine Rüstung. Die Veteranen kämpften aus letzter Kraft, blutend, sterbend. Als ihre Waffen zerbrochen waren, rissen sie die Gegner mit bloßen Händen vom Pferd, krallten ihnen die Finger ins Gesicht, würgten und bissen. Noch nie hatte die Welt ein so erbittertes Handgemenge gesehen.

Mit den wenigen Uberlebenden trat Hannibal den Rückzug zu seinem Lager an. Aber unter Führung des Schimmelreiters schnitten ihnen die Numidier den Weg ab. Ihr Anführer trug einen Umhang aus Leopardenfell. In seinem wutverzerrten Gesicht funkelten die weitgestellten Augen. Es war Masinissa. Hannibal erkannte ihn sofort, obgleich er ihn seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Nun war der numidische Königssohn kein Jüngling mehr, sondern ein kraftvoller Krieger, der Sieger in dieser Schlacht, die den Krieg beenden würde. Es war augenscheinlich, daß Publius Scipio ihm in erster Linie den Sieg verdankte. Masinissa hob die Hand mit dem Speer, der niemals sein Ziel verfehlte. Hannibal blieb unbeweglich stehen. Er dachte nicht daran, sich vor dem Speer zu schützen oder ihm auszuweichen. In der Schlacht gegen die Römer hatte er alles Menschenmögliche getan. Nun konnte er nicht mehr kämpfen. Er hatte alles verloren und dürstete nach dem Tod.

Doch Masinissa ließ die Hand sinken, wendete sein Pferd und galoppierte davon. Schweigend blickte Hannibal ihm nach. Sogar der Tod wandte sich von ihm ab. Seine Brüder waren gefallen, das Heer war vernichtet, er aber war wiederum vom Schicksal verschont geblieben. Oder hatten die Griechen recht, wenn sie der Meinung waren, daß den Menschen Glück und Unglück, Freude und Leid, Sieg und Niederlage zu gleichen Teilen beschieden waren? Danach müßte er jetzt, nachdem er sein Cannae erlebt hatte, auch noch auf Niederlagen, wie jene am Trasimenischen See und an der Trebia, auf die Belagerung Karthagos durch die Römer gefaßt sein?

Warum hatte Masinissas Hand gebebt, die doch nicht gezaudert hatte, im brennenden Feldlager wehrlose Menschen niederzumetzeln? Erinnerte sich der junge Numidierkönig etwa jenes Tages, als er an Hannibals Seite durch die blühende Grassteppe ritt? Oder schreckte er davor zurück, den Mann zu töten, dem er als erstem von seiner Liebe berichtet hatte? Wer mochte das wissen?

Ein Griffel fiel zu Boden

Gnaeus Nacvius weinte vor Wut. Die Tränen flossen ihm über das zerfurchte Gesicht und fielen auf die Wachstafel auf seiner Brust. Er lag in der Säulenhalle seines Hauses, das Tor zur Straße stand offen. Draußen ging soeben ein dunkelhäutiger Mann vorüber, gefesselt, von zwei Legionären bewacht. Es war Syphax, einst ein mächtiger König, jetzt ein rechtloser Gefangener.

Gnaeus Naevius war todkrank. Er konnte das Bett nicht mehr verlassen und sah von der Welt nur das, was in dem schmalen Ausschnitt seines Haustores geschah. Das Gespräch mit Publius Scipio war unbeendet geblieben, genau wie sein großes Poem. Von Scipios Sieg bei Zama und dem Friedensschluß mit den Karthagern wußte Gnaeus Naevius nur das, was ihm sein Sklave erzählt hatte. Von ihm erfuhr er auch die rührende Geschichte von Sophonisbes Ende. Allerdings war der Sklave der Auffassung, daß Masinissa Sophonisbe vergiftet hätte, als Publius Scipio verlangte, daß er sich von ihr trennen sollte. Das hielt Gnaeus Naevius für unwahrscheinlich. Masinissa hätte wohl eher auf die Krone verzichtet als die geliebte Frau ermordet. Aber das waren nur Vermutungen.

Die Wahrheit kannte Gnaeus Naevius nicht.

Der griechische Dichter Homer hatte in der liebenden Andromache, dem edlen Weibe des trojanischen Königssohnes Hektor, ein rührendes Frauenbild geschaffen, der griechische Tragödienschreiber Sophokles hatte in Antigones Gestalt der Güte und selbstlosen Hilfsbereitschaft ein unsterbliches Denkmal gesetzt.

„Und ich?" Gnaeus Naevius seufzte. „Ich habe keine Andromache, keine Antigone gefunden. In meinem Poem schildere ich nur Feldherren und Krieger. Was ich über sie schrieb, ist die Wahrheit, denn ich sah sie im Feldlager, vor dem Kampf und auf dem Schlachtfeld. Ich zog mit dem Heer des Fabius, den man ,Schäfchen' und ,Zauderer' nannte, durch halb Italien. Ich kleidete die Feuerbrände der von Karthagern angezündeten Dörfer und Städte in ergreifende Worte. Aus meinem Gesang, den ich ,Capua' nannte, klingen die Begrüßungsrufe der Städter bei Han-nibals Einzug und die Jammerschreie der Männer, die in die Sklaverei geführt wurden. Unbestechlich wie ein Bronzespiegel gibt mein Poem den Gang der Ereignisse und den vielfältigen Ablauf der Menschenschicksale wieder.

Doch jetzt, da ich die Welt nur noch vom Krankenlager aus, nur durch ein schmales Tor zu betrachten vermag, habe ich erkannt, was meinem Poem fehlte. Es wird nicht erhellt vom sanften Licht weiblicher Liebe. Und sollten die Götter mir wider Erwarten noch einmal die Gesundheit zurückgeben, dann will ich über Sophonisbe schreiben. Vermutlich werden mir die Meteller dann Mangel an Patriotismus vorwerfen und mich aufs neue in den Kerker stecken. ,Unerhört!' werden sie schimpfen. ,Der Römer Gnaeus Naevius schreibt über eine Karthagerin, als gäbe es bei uns nicht genügend trauernde Witwen und Waisen!'

Doch früher oder später wird das römische Volk mein Werk würdigen und erkennen, daß Sophonisbes Leid den Schicksalen aller Liebenden und Geliebten, aller menschlichen Sandkörnchen gleicht, die zwischen den Mühlsteinen des Krieges zerrieben werden.

Vielleicht wird dann ein junger Krieger, erschüttert von meinen Versen, sich nicht auf die Aufforderung des Ausrufers melden, wie einstmals der junge Publius, sondern auf den Marktplatz rennen und sagen:

,Die Götter gaben uns Leben und Verstand nicht zu dem Zweck, um uns gegenseitig umzubringen, nicht zu dem Zweck, um Liebende zu trennen! Wir sind keine Sklaven, an das Mühlrad des Schicksals geschmiedet. Wir sind frei wie der Wind!'"

Gnaeus Naevius stöhnte vor Verzweiflung, weil ihm die Kräfte fehlten, diese allzu späte Erkenntnis auf seiner Wachstafel festzuhalten. Er tastete nach dem Griffel, der auf den Marmorfußboden gefallen war. Aber er vermochte ihn nicht mehr aufzuheben.


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