Hannibals Elefanten schreiten voran. Die Gefechtskörbe auf ihren Rücken schwanken wie Schiffe auf dem Meer. Die Söldner stehen am Straßenrand und lassen sie an sich vorüberziehen. Nur wenige von den vielen tausend Iberern, Galliern und Balearern haben schon früher einen Elefanten zu Gesicht bekommen, und es graut ihnen vor diesen Giganten, die so anders aussehen als die Tiere ihrer heimatlichen Wälder und Berge. Die Beine, die den Umfang von jahrhundertealten Eichen haben, verraten eine gewaltige Kraft. Und diese Kraft wird vom Feldherrn Hannibal gelenkt. Er versteht anscheinend nicht nur alle Sprachen der Erde, er besitzt auch Zauberkräfte, die ihn zum Gebieter dieser seltsamen Tiere machen. Auf einen Wink von ihm setzen sie sich in Bewegung und zertrampeln jeden, der es wagt, sich den Karthagern in den Weg zu stellen.
Hannibals Elefanten schreiten voran. Unter ihren Tritten dröhnt und stöhnt die Erde. Aus ihrem Gang sprechen der unbeugsame Wille des Feldherrn und die Unausweichlichkeit seiner Rache. Rom muß vernichtet werden! Rom wird von den karthagischen Elefanten zertreten werden. Viele Tagesmärsche trennen Hannibals Heer noch von Italien. Unzählige Hindernisse - Flüsse, Schluchten, schneebedeckte Berge, kriegerische Völkerstämme - erwarten ihn. Hatten aber diese Elefanten weniger Hindernisse zu überwinden, bevor sie nach Iberien kamen? Um gehorsame Werkzeuge des menschlichen Willens zu werden, mußten sie durch die harte Schule Richads gehen, des Mannes, der so viel wert ist wie ein ganzes Heer. Er vollbrachte das, was keinem anderen gelang. Er zähmte die wilden afrikanischen Elefanten, die man für unzähmbar gehalten hatte.
Rom soll vernichtet werden. Das ist das Ziel des Feldzuges, das einstweilen nur Hannibals nächste Vertraute kennen. Für die übrigen ist der Marsch nach Norden in Richtung der Pyrenäen nichts als eine Eroberung iberischer Gebiete, die die Karthager bisher noch nicht besetzt hatten.
Hannibals Elefanten schreiten voran. Staubwolken wirbeln unter ihren Schritten empor und legen sich auf Pferde, Reiter und Fußsoldaten. Das blühende Tal des Ebro bleibt hinter ihnen zurück. Bei der Hafenstadt Emporium, einer ehemals griechischen Kolonie, deren weiße Häuser traubenförmig am Uferhang kleben, nehmen die Karthager Abschied vom Meer. Sie werfen Haarbüschel ins Wasser und flüstern Beschwörungen. Sie sammeln am Strand feucht glänzende Kiesel, stecken sie in Beutel und hängen sie sich um den Hals oder an den Gürtel.
Dann steigt das Heer in die Berge hinauf. Es stößt auf verlassene Dörfer. Die hier lebenden iberischen Stämme haben ihre Viehherden eilig aus der Reichweite des Heeres fortgetrieben, das gefräßig ist wie ein Heuschreckenschwarm.
Hannibals Elefanten schreiten voran. Die Bergkette der Pyrenäen -Iberiens Grenze - erscheint am Horizont. Jetzt wird allen klar, daß Hannibal etwas Größeres plant als die Eroberung ganz Iberiens. Dreitausend Iberer mit Alorkes an der Spitze weigern sich, ihre Heimat zu verlassen. Hannibal könnte sie umzingeln und von den Elefanten zertrampeln lassen. Aber er tut es nicht. Er weiß, daß sich dann ganz Iberien gegen Karthago erheben würde, und es ist fraglich, ob sein Bruder Hasdrubal, dem er nur zwanzigtausend Kavalleristen, Infanteristen und Marinesoldaten zurückgelassen hat, mit einem Aufstand fertig werden würde. Nach einiger Überlegung gestattet Hannibal sogar allen, die den gefährlichen Feldzug nicht mitmachen wollen, in Iberien zu bleiben. Das sind insgesamt elftausend Mann. Durch diese Maßnahme entledigt er sich gleichzeitig der feigen, unzuverlässigen Krieger, die ihm später nur zur Last fallen würden. Weitere zehntausend Mann beläßt er in dem neu eroberten Gebiet zwischen dem Ebro und den Pyrenäen. Er hat nicht die Absicht, auf die eroberten iberischen Landstriche zu verzichten. Er weiß auch, daß er ein zuverlässiges Hinterland braucht, das durch ein starkes Heer abgesichert ist.
Mühelos überquert Hannibal die Pyrenäen. Zu dieser Jahreszeit liegt kein Schnee auf den Gebirgspässen, und die Berge sind ungefährlich. Er führt fünfzigtausend Fußsoldaten und zehntausend Reiter mit sich. Die aus dicken, in die Erde gerammten Balken bestehenden Häuser mit den spitzen Strohdächern unterscheiden sich nicht von denen, die jenseits der Pyrenäen stehen. Aber Hannibal weiß, daß nun das gewaltige Land beginnt, das von zahlreichen gallischen Stämmen besiedelt ist. Den karthagischen Kaufleuten ist es bisher nicht gelungen, in die Tiefe dieses Gebietes vorzudringen. Sie wagen nicht, sich weit von ihren Schiffen zu entfernen, sie besuchen nur die Niederlassungen am Mittelmeer und am Ozean - der Westküste Galliens. Alles, was Hannibal über Gallien weiß, hat er aus alten Chroniken und aus den Berichten seiner Söldner erfahren.
An den südlichen Ufern Galliens lagen früher phönizische Kolonien, gegründet von unternehmungslustigen Kauffahrern, die auch die ersten Häuser Karthagos bauten. Zu Hannibals Zeit sind diese Landstriche aber wieder von freien Völkerstämmen besiedelt; die griechische Kolonie Marseille bildet die einzige Ausnahme. Die Marseiller sind Verbündete der Römer, und weil Hannibal ihnen seine Pläne nicht preisgeben will, zieht er es vor, sich nördlich von Marseille zu halten.
Der erste Ort, in den sie nach dem Abstieg von den Pyrenäen kommen, ist Illiberis. Zu ihrer Verwunderung hören sie weder Hühner gackern noch Schafe blöken - die übliche Beute hungriger Soldaten. Der Ort wurde von seinen Bewohnern verlassen, ein eindeutiges Zeichen dafür, daß die hier ansässigen gallischen Völkerstämme Hannibal als ihren Feind betrachten und zum Widerstand rüsten. Hannibal befiehlt, mindestens einen Einheimischen ausfindig zu machen. Eifrig durchsuchen seine Krieger Häuser, Scheunen und Ställe, aber sie finden niemanden. Erst gegen Abend bringen ihm Magarbais Reiter, die in die Umgebung ausgeschwärmt waren, einen Hirten, der sich mit seiner Herde in einer Bergschlucht versteckt hatte. Sie berichten, daß es schwieriger war, ihn zu fangen, als ein Dutzend Krieger zu überwältigen, denn er und die Herde wurden bewacht von gewaltigen Hunden, so angriffslustig und wild wie Wölfe.
Als Hannibal den Hirten fragt, wo sich die Bevölkerung des Ortes versteckt hält, knurrt dieser nur.
„Ich warte einen ganzen Tag, und dann bringt ihr mir einen Stummen!" ruft Hannibal.
„Er wird gleich den Mund aufmachen!" entgegnet Magarbal drohend und befiehlt, die Folterwerkzeuge zu holen.
Ein Blick auf die Zangen und den Block mit den Bronzestacheln genügt, um dem Hirten die Zunge zu lösen.
So erfährt Hannibal, daß die Einwohner von Illiberis vor zwei Nächten in ein unweit gelegenes Dorf geflohen sind, wo sich auch die Krieger der anderen gallischen Stämme versammeln.
„Weshalb flieht ihr vor mir?" fragt Hannibal. „Ich führe den Krieg doch nicht gegen euch, sondern gegen die Römer."
„Wir wissen nicht, gegen wen du Krieg führst", erwidert der Hirt, „und wir fürchten, daß du die Absicht hast, uns ebenso zu unterjochen wie die Iberer."
Hannibal schüttelt den Kopf und läßt Dukarion holen.
„Es würde mir zwar keine Mühe machen, eine Handvoll Gallier in die Flucht zu schlagen oder sie von den Elefanten zertreten zu lassen, aber das wäre überflüssiges Blutvergießen. Laß dich deshalb von diesem Hirten zu den gallischen Häuptlingen führen und sage ihnen, daß ich sie zu sprechen wünsche. Sie sollen nach Illiberis kommen."
Die Zusammenkunft findet schon am folgenden Tage statt. Die Häuptlinge erscheinen in pelzverbrämten Umhängen und Lederhelmen. Sie werden von ihren Leibwächtern begleitet.
Erstaunt betrachten sie die Gegenstände, die Hannibal für sie auf einem Teppich aufstellen ließ. Es sind Gefäße, farblos und durchsichtig wie Eis, bronzene Trinkschalen in Form von Stierköpfen und andere Kostbarkeiten.
„Dies alles will ich euch schenken", sagt Hannibal. „Und jene Weinschläuche noch dazu."
Die Häuptlinge nicken befriedigt. Sie freuen sich über die Geschenke und noch mehr über die Aussicht, daß Hannibal ihr Land offensichtlich bald wieder verlassen will.
Ein rotblonder Häuptling reicht Hannibal ein gewaltiges, silberbeschlagenes Trinkhorn.
„Nimm auch du unsere Gabe entgegen", sagt er feierlich. „Dies ist das Horn eines Wisents, eines Tieres aus unseren Wäldern. Wisente sind kleiner als deine Ungeheuer", er weist auf die Elefanten, „aber wilder als sie. Es ist noch keinem Menschen gelungen, sich auf ihren Rücken zu setzen, während deine Tiere so gehorsam sind wie Pferde, die man an der Kandare hält."
Er ahnt nicht, daß es ein Kampfelefant an Wildheit mit einer Löwin aufnimmt. Aber Hannibal läßt ihn in diesem Glauben und ergreift das Horn.
„Wenn es so ist, wie du sagst", erwidert er, „dann wird mir der Wein, den ich von nun an aus diesem Horn trinke, Kampfeskraft verleihen. Ich kämpfe gegen Rom. Diese Stadt ist auch euer Feind. Die Römer haben die Gallier, die jenseits der Alpen wohnen, unterjocht und versklavt. Viele Gallier dienen in meinem Heer. Ihr wußtet das alles nicht und wolltet mich deshalb an meinem Feldzug gegen Rom hindern. Doch nun kann ich auch euch zu meinen Freunden zählen."
Er nimmt Abschied von den Häuptlingen und befiehlt den Bläsern, das Signal zum Aufbruch zu geben. Das Heer setzt sich in Marsch. Um die in Illiberis verlorene Zeit wieder einzuholen, läßt Hannibal auch nachts marschieren. Es werden tagsüber nur zwei kurze Rasten gemacht, um die Elefanten und Packtiere zu tränken und zu füttern.
Bei einer Rast wird Hannibal gemeldet, daß die Gallier murren und sich weigern, die Säcke mit den Äxten und Picken zu tragen, die er unter alle Krieger verteilen ließ.
Das ist Ungehorsam, der strengste Bestrafung erfordert. Aber Hannibal kennt seine Söldner. Sie sind aufbrausend und rauflustig wie Kinder und müssen wie Kinder behandelt werden.
Unverzüglich reitet er in Magons Begleitung zu den Galliern hin.
Als er vom Pferd springt, umdrängen sie ihn und reden aufgeregt durcheinander.
„Ruhe!" Er hebt die Hand. „Einer soll sprechen."
Ein älterer Gallier tritt vor.
„Wir sind erschöpft!" sagt er. „Du zwingst uns, Tag und Nacht zu marschieren und lädst uns obendrein Lasten auf. Ein freier Krieger braucht nichts zu tragen als seine Waffen."
„Ja!" schreien die andern. „Wir sind keine Sklaven. Sollen die Iberer diese Säcke tragen!"
„Ich will euch eine Geschichte erzählen", erwidert Hannibal. „Es waren einmal ein Maultier und ein Esel, die sollten gleich schwere Lasten tragen. Weil das Maultier aber nur einen Teil seiner Last auf den Rücken nehmen wollte, lud der Bauer den anderen Teil zusätzlich dem Esel auf. Da brach der Esel zusammen, und dem Maultier blieb nichts anderes übrig, als die gesamte Last zu schleppen. Ich bin bereit, diese Säcke den Iberern zu geben und euch ihre Waffen auszuhändigen. Aber dann müßt ihr auch für euch und für sie kämpfen. Wollt ihr das?"
Allgemeines Gebrumm ist die Antwort. Wortlos gehen die Gallier zu den Säcken und laden sie sich auf.
Während sich Hannibal den Pyrenäen näherte, befand sich der Konsul Publius Cornelius Scipio, der mit dem iberischen Feldzug beauftragt war, noch in Rom. Der Konsul zählte etwa fünfzig Jahre, er war also nach römischen Begriffen noch kein alter Mann.
Außergewöhnliche Umstände hielten den Konsul zurück. Im Norden Italiens hatten sich nacheinander mehrere gallische Stämme erhoben, deren Dörfer kurz zuvor von den Römern zerstört und deren Land von römischen Ansiedlern in Besitz genommen worden war. Nun unternahmen die gallischen Stämme ständig Überfälle auf die römischen Kolonisten. Sie behielten die römischen Unterhändler, die man zu ihnen sandte, als Geiseln zurück und besetzten obendrein Modena, Roms wichtigste Festung in Norditalien.
Daraufhin wurde eine römische Legion gegen die Gallier eingesetzt. Aber sie geriet in den Urwäldern, die damals Norditalien bedeckten, in einen Hinterhalt und mußte unter Zurücklassung ihrer Toten und Verwundeten fliehen.
Zu ihrer Verstärkung schickte der römische Senat deshalb sofort eine der eigentlich für den Einsatz in Iberien bestimmten Legionen nach Norditalien. Zum Ersatz für diese Legion mußte erst eine neue Legion aufgestellt und ausgebildet werden, und dem Konsul Publius Scipio blieb nichts anderes übrig, als solange in Rom zu warten.
Am Einberufungstag strömten viele junge Männer zum Kapitol, der Burg von Rom. Sie lag auf einem der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut ist.
Unter den Rekruten befanden sich Bauern aus Apulien, lebhafte Winzer aus Kampanien und großstädtisch gekleidete junge Römer, die sich selbstbewußten Blickes abseits hielten.
Zu ihnen gehörte auch Publius Cornelius Scipio der Jüngere - der Sohn des Konsuls, der den gleichen Namen wie sein Vater trug. Das gab es bei den Römern häufig.
Erst vor knapp einem Jahr hatte der Patriziersohn Publius die rotgesäumte Kindertoga abgelegt, die von den römischen Knaben bis zum sechzehnten Lebensjahre getragen wurde. Trotzdem wirkte er nicht jünger als die übrigen mit seinem zarten blassen Gesicht und den nachdenklichen braunen Augen. Sein Haar war kurz geschnitten, er trug eine sorgfältig gebügelte, schneeweiße Toga und Sandalen, deren Verschnürung bis zu den Knien hinaufreichte.
Seine Spielgefährten hatten ihm den Spitznamen Grieche gegeben, weil er fließend griechisch sprach und Homers Gedichte mehr liebte als ihre wilden Spiele.
Nun aber hieß es: Leb wohl, Homer, leb wohl, Vaterhaus.
Der Kriegsgott Mars ruft!
„Höher die Beine, Jungs!" ruft der Zenturio - der Hundertschaftsführer -, ein Mann mit glattrasiertem wettergegerbtem Gesicht. „Die Reihe gerader! He, du Esel, paß auf, sonst kriegst du die Rute zu kosten!"
Der Schweiß rinnt Publius über das Gesicht, die Tunika ist zum Auswringen naß, aber der Zenturio kennt kein Erbarmen.
„Was, ihr Muttersöhnchen, wollt ihr schon schlappmachen?" grölt er.
„An den Spinnrocken gehört ihr und nicht in eine Legion!"
So geht es bis zum Mittag. Dann setzen sich die jungen Rekruten unter die Ulmen, die auf dem Exerzierplatz wachsen, und nehmen ihr kärgliches Mahl ein. Unwillkürlich denkt Publius an den saftigen Schweinebraten, den die Sklaven daheim auf den Mittagstisch zu stellen pflegen.
„Aufstehen!" ruft der Zenturio. „Einzeln im Laufschritt zu den Pfählen!"
Der meint wohl, ich sei als Affe geboren worden, denkt Publius wütend und bleibt hilflos vor dem glatten, senkrecht in die Erde gerammten Pfahl stehen.
„Was glotzt du?" Der Zenturio schlägt ihn leicht mit der Rute. „Klettre hinauf!"
Die Arme rutschen ab, die Beine zittern bei der ungewohnten Anstrengung.
„Höher!" ruft der Zenturio. „Immer höher! So ist's richtig!"
Als die Sonne sinkt, führt er die erschöpften Rekruten zur Pfahlbrücke des Horatius Codes. Vielleicht will er uns von der Heldentat dieses Mannes berichten, der die Pfahlbrücke einstmals zuerst mit zwei Gefährten und dann allein gegen einen übermächtigen Feind verteidigt hat, überlegt Publius. Nein, der Zenturio befiehlt, sich der Kleider zu entledigen. Erleichtert springen die Rekruten ins Wasser und spülen sich Schweiß, Staub und Erschöpfung ab.
Doch der Zenturio überläßt sie nur kurze Zeit diesem Vergnügen.
„Mir nach!" ruft er. „Zum anderen Ufer!"
Gehorsam schwimmen die Rekruten hinter ihm her. Nur mit Mühe können sie die starke Strömung überwinden.
Eines Tages rollen Fuhrwerke ins Lager.
„Wir erhalten Waffen!" rufen sich die Rekruten zu und laufen ungeduldig zu den Fuhrwerken hin. Endlich werden sie das kurze blitzende Schwert, den Wurfspieß mit der dreikantigen Eisenspitze und den festen Schild erhalten. Aber wie groß ist ihre Enttäuschung, als an Stelle der Schwerter Holzknüppel und an Stelle der Schilde Flechtplatten ausgeladen werden.
„Na, das gefällt euch wohl nicht?" fragt der Zenturio spöttisch. „Die Herren tragen ja schon die Männertoga und schämen sich, Stöcke in der Hand zu halten. Aber ihr müßt zuerst lernen, mit den Knüppeln umzugehen. Hebt sie auf! Merkt ihr, daß sie doppelt so schwer sind wie Schwerter? Nun nehmt die Flechtplatten und dann im Laufschritt zu den Puppen. - Zustechen!"
Der an einem Querbalken hängende Holzklotz tanzt unter den Stößen, als sei er lebendig. Aber der Zenturio runzelt unzufrieden die Stirn, nimmt Publius den Stock aus der Hand und führt einen kurzen schnellen Stoß in Bauchhöhe gegen den Holzklotz, springt zurück und schlägt dann von oben zu.
„Gib die Flechtplatte her!" ruft er. „Während du zustößt, darf kein Teil deines Körpers ungeschützt sein. - So!"
Er schützt sich links mit dem Schild und macht mit der rechten Hand einen neuen Ausfall.
Es ist nicht leicht, ein Krieger zu werden. Was muß man nicht alles können - rennen, über Gräben springen, auf Bäume klettern, Flüsse durchschwimmen, Schwert und Pfeil und Bogen handhaben und vor allem - gehorchen.
Disziplin ist die wichtigste Tugend des römischen Kriegers. Ohne Erlaubnis darf er höchstens atmen, aber auch das ist fraglich, denn er kann jeden Augenblick in den Tod geschickt werden und dabei Atem und Leben verlieren. Ungehorsam wird mit dem Tod bestraft. Jeder Römer kennt die Geschichte des Manlius Torquatus, der seinen siegreichen Sohn wegen eines nichtausgeführten Befehls hinrichten ließ. Und das ist kein Märchen, zur Einschüchterung der Legionäre ersonnen. Jeder höhere römische Beamte wird von mehreren Liktoren begleitet. Das sind Staatsdiener, die ständig ihr Wahrzeichen - die Rutenbündel mit den darin steckenden Beilen - bei sich tragen und an den schuldig Befundenen die Strafen vollziehen. Und wer noch nie der Hinrichtung eines Feiglings oder Disziplinverletzers beigewohnt hat, kennt auf jeden Fall das Pfeifen der Ruten oder trägt die Narben ihrer Schläge auf dem Körper.
Leb wohl, Rom! dachte Publius, als er auf der Landstraße nach der Hafenstadt Ostia davonmarschierte. Wie gern hätte er sich umgesehen und einen Abschiedsblick auf das Kapitol und auf den flachen Palatinischen Hügel geworfen, wo sein Vaterhaus stand! Aber das durfte er nicht, denn es galt als schlechtes Vorzeichen. „Wer sich umblickt, kehrt nicht zurück!" sagten die Alten. Zwar verlachten die griechischen Philosophen, deren Werke Publius gelesen hatte, diesen Aberglauben. Doch was würden die neben ihm marschierenden Legionäre denken, wenn sie sahen, daß er, der Konsulssohn, nach der Stadt zurückblickte? Von ihnen kannte niemand den berühmten griechischen Philosophen Epikur, der jeden Aberglauben in seinen Schriften verspottete, und alle würden nur annehmen, daß er, Publius, die alten Bräuche mißachte. Da war es schon besser, nur in Gedanken von Rom Abschied zu nehmen.
Mittags traf die Truppeneinheit in Ostia ein, einem kleinen Ort, der durch seine Salzsiedereien reich geworden war. Die Straße, die über Rom zu den italischen Provinzen führte, wurde Salzstraße genannt. Zur Zeit konnte man sie auch als Getreidestraße bezeichnen, denn über Ostia rollten die Fuhrwerke mit dem Getreide aus der fruchtbaren Provinz Kampanien nach Rom. Überdies war Ostia Roms Tor zum Meer. Deshalb war Hamilkar auch seinerzeit mit der karthagischen Flotte in Ostia gelandet. Doch Publius glaubte, daß das, was dem Vater gelang, seinem Sohn Hannibal nie gelingen würde. Die Punier, wie die Römer die Karthager nannten, besaßen nur noch wenige Kriegsschiffe, und Hannibal verließ sich ausschließlich auf seine Reiterei und die Elefanten. Das war auch die Meinung des römischen Senats, der die Legion auf dem Seeweg nach Iberien schickte. Sie sollte Hannibals Aufmerksamkeit ablenken, während zur gleichen Zeit die Hauptstreitkräfte der Römer in Afrika, vor den Mauern Karthagos, landen sollten.
Bewundernd betrachtete Publius die aus sechzig Schiffen bestehende Flotte, die in Ostia vor Anker lag. Sie wurde ebenfalls von seinem Vater befehligt, der schon vor ihm dort eingetroffen war.
Übrigens teilte der die Begeisterung seines Sohnes durchaus nicht.
„Diese paar Schiffe kann man doch nicht als Flotte bezeichnen!" sagte er kopfschüttelnd. „Mein Kollege Sempronius, der zweite Konsul, verfügt über einhundertsechzig Schiffe, die kleinen Wachboote nicht mitgerechnet. Als wir über die Verteilung der militärischen Aufgaben das Los warfen, lächelte ihm die Glücksgöttin Fortuna, und er gewann den afrikanischen Kriegsschauplatz. Wir dagegen werden gegen gallische und iberische Barbaren kämpfen müssen. Ich bezweifle nicht, daß der karthagische Senat Hannibal unverzüglich aus Iberien zurückrufen wird, wenn Sempronius' Flotte vor Karthago auftaucht."
Nachdem der Konsul den Meeresgöttern ein Opfer dargebracht hatte, ging er an Bord. Daß er seinen Sohn auf sein eigenes Schiff mitnahm, verübelte ihm Publius' Ausbilder, der Zenturio, nicht, denn auf See konnte er die Rekruten doch nicht exerzieren lassen, und da war es auch gleichgültig, ob sie auf einem Mannschaftsschiff oder auf dem des Feldherren fuhren.
Das Schiff fuhr nordwärts, an einem flachen Ufer entlang, auf dem Publius vereinzelte Dörfer und Städte sah. Sie hatten vor dreihundert Jahren einem mächtigen Volk, den Etruskern, gehört, die große Teile von Nord- und Mittelitalien beherrschten und der Seeräuberei nachgingen. Ihre Nachkommen hatten sich in friedliche Hirten und Ackerbauern verwandelt, die pünktlich ihre Steuern und Abgaben zahlten.
Der Vater wurde lebhaft, als die Küste einen großen Bogen nach links machte. Hier wohnten die Ligurer, ein gallischer Volksstamm, gegen den er in seiner Jugend gekämpft hatte. Publius erblickte mehrere düstere Wachtürme, ehemalige Burgen der kriegerischen Ligurer, in denen jetzt nur noch die Vögel nisteten.
„Dort hatte sich der Feind festgesetzt", berichtete der Vater. „Auch sein Getreide und sein Vieh hatte er in die Burgen geholt. Jede einzelne Burg mußten wir belagern. Die Ligurer kämpften, bis ihnen die Lebensmittelvorräte ausgingen."
Eines Morgens erblickte Publius am Horizont eine rötliche Wolkenkette. Er betrachtete sie eine Weile und sah, daß ihre merkwürdigen Umrisse unverändert blieben. Da wurde ihm klar, daß er die Schneegipfel der Alpen vor sich hatte. Sie trennten das Gebiet der Gallier, die von den Römern schon unterworfen worden waren, von den noch unabhängigen Völkerstämmen.
Der Wind schlug um. Der warme, weiche Südwestwind wurde vom kalten Nordwind abgelöst. Das Deck begann zu schwanken. Publius wurde es schwindlig. Ihn packte die Seekrankheit, die Krankheit des Meeresgottes Neptun.
Aber die Pein dauerte nicht lange. Die Schiffe fuhren auf die Küste zu. An einer Stelle sah Publius einen Einschnitt - die Einfahrt nach Marseille. Die Stadt lag an einem Bergeshang und war wie ein Amphitheater gebaut, das in einem Halbrund den Hafen umgab. Auch der Hafen erinnerte Publius an das Theater, denn er hatte die runde Form eines Orchesters, wie die Griechen den Tanzplatz des Chores auf ihren Theaterbühnen nannten. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch die an der Mole liegenden Schiffe, die von weitem wie Chorsänger aussahen.
Publius wußte, daß Marseille als einzige Stadt in diesem feindseligen Lande mit Rom verbündet war. Entkräftet durch die ständigen Gefechte mit den Galliern und wohl auch aus Angst vor den karthagischen Seeräubern, die früher das Mittelmeer unsicher machten, hatten die Mar-seiller ein Bündnis mit Rom geschlossen, das Rom zwar bisher noch keine Vorteile gebracht hatte, jetzt aber von unschätzbarem Wert war.
Die Zenturionen, die das Ausschiffen befehligten, verboten den Legionären, ihre Waffen an Land mitzunehmen, denn kein Fremdling durfte die Stadt Marseille bewaffnet betreten.
Die Marseiller standen am Kai und empfingen die Römer, indem sie jedem ein kleines Geldstück in die Hand drückten.
Publius hatte schon in Rom von dieser merkwürdigen Sitte erfahren. Er antwortete dem Marseiller, der ihm das Geldstück überreicht hatte, deshalb nach altem Brauch mit den rätselhaften Worten: „Ich werde in die Unterwelt zurückkehren."
Sein Vater, der Konsul, sprach schon mit einigen Männern in Purpurgewändern. Es waren Mitglieder des Marseiller Rates der Sechshundert. Und sie machten ihm die bestürzende Mitteilung, daß Hannibal mit seinem gesamten Heer bereits die Pyrenäen überquert hatte, sich der Rhône näherte und viele Kampfelefanten mit sich führte. Dadurch war der Plan des römischen Senats, Hannibal in Iberien zu stellen und gleichzeitig Karthago anzugreifen, vereitelt worden. Hannibal war den Römern zuvorgekommen!
Welches Ziel verfolgt er? grübelte der Konsul. Weshalb entschloß er sich, die kurz zuvor unterworfenen iberischen Gebiete zu verlassen, obgleich dort jederzeit ein Aufstand aufflammen kann?
Niemand war imstande, ihm diese Fragen zu beantworten. Aber er mußte einen schnellen Entschluß fassen. Die Karthager konnten jeden Augenblick vor Marseille auftauchen.
Er rief einen Liktor und gab ihm einen Befehl. Unmittelbar danach rief ein Hornsignal die Legionäre zum Antreten. Obgleich sie sich noch nicht ganz von der Seekrankheit erholt hatten, mußten sie sofort hinter Marseilles Stadtmauern ein befestigtes Lager errichten.
Hannibals Elefanten schreiten voran. Das Heer stößt nicht mehr auf Hindernisse. Die Geschenke, die Hannibal aus der saguntinischen Beute verteilen ließ, ebnen ihm den Weg. Nach zehn Tagesmärschen steht er am Ufer der Rhône. Die Afrikaner, die es von daheim gewöhnt sind, mit jedem Tropfen Wasser zu geizen, bestaunen den breiten, wasserreichen Strom. Ein Land wie dieses, das mit dem Wasser nicht zu sparen braucht, muß verschwendungssüchtige Götter haben!
Der Feldherr späht zum anderen Ufer hinüber. Es ist leer. Könnte er die Rhône doch sofort schwimmend überqueren! Aber in seinem ganzen großen Heer gibt es kaum tausend Krieger, die schwimmen können. Und die Elefanten? Wie soll er die Elefanten über den Fluß bringen?
Tag und Nacht dröhnen Axtschläge über der Rhone. Die Krieger fällen Bäume und zimmern Flöße. Inzwischen wird das jenseitige Ufer von den Galliern besetzt.
Hannibal muß die Gallier unbedingt vertreiben, sonst ist an einen Ubergang über den Fluß nicht zu denken. Er ruft Magon zu sich und befiehlt ihm, mit einem hauptsächlich aus Iberern bestehenden Truppenteil stromaufwärts zu gehen, die Rhone an einer geeigneten Stelle zu überqueren und in einem bestimmten Augenblick die Gallier von hinten zu überfallen.
Nachts macht sich die Abteilung auf den Weg. Die Pferde gehen im Schritt. Magon hat ortskundige Führer bei sich. Fünfundzwanzig Meilen vom karthagischen Lager entfernt wird der Fluß seicht, teilt sich in mehrere Arme und bildet kleine baumbewachsene Inseln.
Magon springt vom Pferd und geht zum Wasser hinunter. Es riecht nach Algen. Dicht vor ihm stehen große Vögel auf einem Bein im Wasser. Sie haben ein rosa Gefieder, ihr kleiner Kopf sitzt auf einem anmutig gebogenen Hals. Es sind Flamingos, die er von den heimatlichen Gewässern kennt. Von einer Insel klingt ein fremdartiger Vogelschrei. Magon lauscht. Siebenmal ruft der Vogel, dann verstummt er. Das ist ein gutes Vorzeichen, denken die Krieger, treiben beherzt ihre Pferde ins Wasser und überqueren den Fluß.
Einen Tag später erblickt Hannibal am gegenüberliegenden Ufer, links vom Feind, eine Rauchsäule. Es ist das verabredete Signal dafür, daß Magons Abteilung den befohlenen Ort erreicht hat und zum Angriff bereit ist.
Kaum hat der Wind die schwarze Rauchsäule verweht, da beginnt Hannibal mit dem Übergang über die Rhone. Die Fußsoldaten steigen zu dritt oder zu viert in die am Ufer festgemachten Einbäume. Die Reiter setzen auf Flößen über und halten ihre nebenher schwimmenden Pferde am Zügel fest. Ein Teil der Pferde steht auf den Flößen.
Als die Gallier sehen, daß die Karthager mit dem Übersetzen beginnen, stürzen sie ans Ufer, schütteln die Schilde über dem Kopf und stimmen einen Schlachtgesang an. Ihr Gebrüll verschmilzt mit dem Rauschen des Wassers, das unter den Ruderschlägen aufschäumt, den Rufen der karthagischen Krieger, die vom Ufer aus ihre Kameraden anfeuern, und dem Wiehern der Pferde.
Magons Abteilung schleicht sich von hinten in die feindlichen Stellungen. Die Gallier sehen sich plötzlich zwischen zwei Fronten, sie werden von vorn und von hinten angegriffen. Sie rennen am Ufer entlang bis dorthin, wo Magons Reiter sie nicht mehr verfolgen, und kehren auf dem schnellsten Wege in ihre Dörfer zurück.
Nun können auch die Elefanten übergesetzt werden. Hannibal hat Holzfähren zimmern und sie mit Sand und Rasenstücken bedecken lassen. Diese Fähren sind an Seile gebunden, die ans andere Ufer hinüberreichen.
Mit angehaltenem Atem sehen die Krieger an beiden Ufern zu, wie die Elefanten von den Indern auf die Fähren geführt werden. Sur macht den Anfang. Am Wasser bleibt er stehen und beschnüffelt mit dem Rüssel mißtrauisch den Rand des Floßes.
Als Sur die Fähre betritt, tun die andern Elefanten das gleiche. Die Seile, mit denen die Fähren am Ufer vertäut sind, werden gekappt, die am anderen Ufer stehenden Krieger beginnen am quergespannten Seil zu ziehen, und bald befinden sich die Fähren schon mitten auf dem Fluß.
Einige Elefanten springen vor Angst ins Wasser. Die auf ihrem Rücken sitzenden Treiber ertrinken, aber zu Hannibals größtem Erstaunen schwimmen die Elefanten durch den reißenden Fluß und erreichen unverletzt das andere Ufer.
Während die Elefanten übergeholt werden, hat Hannibal eine aus fünfhundert numidischen Reitern bestehende Abteilung als Spähtrupp stromabwärts geschickt. Schon nach kurzer Zeit stoßen die Numidier auf römische Kavalleristen, die von Konsul Scipio auf Erkundung geschickt worden waren. Nach einem erbitterten Gefecht werden die Numidier in die Flucht geschlagen, und die römischen Kavalleristen nähern sich dem karthagischen Lager auf Sichtweite. Ohne zu ahnen, daß sich der größte Teil des karthagischen Heeres schon auf dem jenseitigen Ufer befindet, machen sie kehrt, um dem Konsul vom Standort des Feindes zu berichten.
Brennend vor Verlangen, den Feind zu stellen, bricht der Konsul mit seinem gesamten Heer auf. Aber wie groß ist sein Erstaunen, als er nach drei Tagen das karthagische Lager erreicht und es verlassen findet. Von den Galliern erfährt er, daß sämtliche Karthager die Rhone überquert haben und in östlicher Richtung weitermarschieren. Erst jetzt wird dem Konsul klar, was Hannibal im Schilde führt. Und er begibt sich auf dem schnellsten Wege nach Marseille zu den Schiffen.
Eine Woche zuvor hatten Hannibals Krieger noch im Tal der majestätischen Rhone den Sommer erlebt - das in der Sonne flimmernde Wasser, die grünen Uferwiesen, die sanflblaue Silhouette der Hügel, den warmen Wind, der zärtlich mit den gezackten Ahornblättern spielte.
Doch nun blies der ewige Winter ihnen seinen Eishauch ins Gesicht. Die schneebedeckten Gipfel der Berge verschmolzen mit tiefhängenden, aschgrauen Wolken und wirkten dadurch noch höher und furchteinflößender. Seltsam geformte Felsbrocken sahen wie Märchengestalten aus, die von Hexenmeistern zu Stein verzaubert worden waren. Neben dem Saumpfad gähnten fürchterliche Abgründe, in denen dröhnend die Fluten rauschten. Auf die Menschen der Tiefebene, der Steppe machten die Berge einen unheimlichen Eindruck.
Wenn es böse Geister auf der Erde gibt, dann hausen sie hier! dachten die abergläubischen Krieger und griffen hilfesuchend nach ihren Delphinzähnen, die sie als Amulett an einer Schnur um den Hals trugen.
Als die gallischen Krieger unterwegs ein Dorf durchsuchten, rollten sie mit so lautem Freudengeschrei ein reifenbeschlagenes Faß herbei, als enthielte es reines Gold. Eifrig schlugen sie den Deckel ein, Dukarion tauchte als erster eine Metallkelle hinein und hielt sie Hannibal hin. Sie war mit einer trüben, schäumenden Flüssigkeit gefüllt.
„Trink!" sagte er. „Das ist der Wein des Nordens. Er wird aus Gerste gemacht und Bier genannt."
Hannibal kostete. Die Flüssigkeit hatte einen bitteren Geschmack.
Unglückliche Menschen! dachte er. Die Götter haben ihnen die wundervollen Weinreben vorenthalten, deshalb müssen sie dieses scheußliche Zeug trinken.
„Schau, sie bringen noch etwas!" Magon zeigte auf mehrere Krieger, die einen länglichen weißen Gegenstand herbeischleppten. Es war ein gewaltiger Tierschädel. In den Augenhöhlen hätte ein Menschenfuß Platz gehabt.
„Das ist ja ein Elefant!" rief Magon. „Sieh dir den Stoßzahn an. Ein Elefant in den Alpen. Wie mag der hierhergekommen sein?"
„Das ist nicht der Schädel eines Elefanten, sondern eines Mammuts", erklärte Dukarion lächelnd. „Auch in unserer Gegend gab es einstmals Riesentiere!"
Hannibal stand schweigend daneben. Es grauste ihm vor dem gewaltigen Kopf mit den leeren Augenhöhlen. Was für Überraschungen würden ihm diese wilden Berge noch bringen?
Am selben Tage erreichte das Heer den Fuß eines Steilhanges. Hannibal blickte hinauf. Gewaltige schwarze Felsbrocken hingen über dem Pfad. Mit jedem einzelnen hätte man hundert Krieger zermalmen können. Hinter den Felsbrocken spähten die bärtigen Bergbewohner hervor. Sie wirkten wie starke, gefährliche Raubtiere. Möglicherweise waren es die Einwohner eines ausgeraubten Dorfes oder ihre Nachbarn, die von dem Auftauchen der Fremdlinge aufgescheucht worden waren. Sie saßen in einer unangreifbaren Stellung und konnten dem ganzen Heer den Weg versperren.
Hannibal mußte unbedingt erfahren, was sie im Schilde führten und wie lange sie sich in ihrem Adlerhorst aufhalten würden.
Dukarion meldete sich als Kundschafter. Er schlug einen weiten Bogen um den Berg und schlich in das Lager der Bergbewohner. In der Dunkelheit hielt man ihn für einen Krieger aus dem Nachbardorf, zumal er gallisch sprach. Er erfuhr, daß die Bergbewohner ihre Stellungen über Nacht verließen, sie aber bei Tagesanbruch wieder besetzten.
Das meldete er Hannibal, der in der folgenden Nacht viele Lagerfeuer anzünden ließ, um die Feinde zu täuschen, und gleichzeitig mit seinen besten Kriegern die Stellungen am Steilhang besetzte. Am nächsten Morgen zog das Heer dann ungehindert am Steilhang vorüber.
In der neunten Nacht erreichte Hannibal, der mit Dukarion und zwei Leibwächtern an der Spitze seines Heeres ritt, endlich den Paß. Finster ragten die Berge empor, vom Mondlicht beschienen. Ihre eisbedeckten Gipfel reckten sich in den Himmel. Hannibal hatte den Eindruck, als wollten sie bis zu den Sternen vorstoßen, wären aber auf halbem Wege erstarrt - stolz, majestätisch, gleichgültig gegenüber allem, was rings um sie geschah.
Wie ein dunkler Strom zog das Heer langsam an den Felsenhängen vorüber und füllte die Schluchten mit Rufen, klatschenden Peitschenhieben, Pferdegewieher. Der scharfe Wind riß erbarmungslos an den Umhängen der Krieger und ließ ihre Gesichter, Hände, Rücken zu Eis erstarren. Die Pferde trotteten trübselig, mit gesenktem Kopf ihres Weges, aus ihren Nüstern drangen weiße Atemwolken.
Hannibal sah dem Aufstieg seines Heeres zu, bis es die verschneite Fläche des Passes erreicht hatte.
Als die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages auf die Straße fielen, die das Heer hinter sich gelassen hatte, sah Hannibal, daß sie von krepierten Pferden und zerbrochenen Fuhrwerken umsäumt war - wie von tönernen Spielsachen, die ein launenhaftes Kind fortgeworfen hat.
Dann wandte Hannibal sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung. Unwillkürlich schrie er auf. Vor ihm lag ein blühendes Land, von Wasserläufen durchschnitten. In der Ferne funkelte das sonnenbeschienene Meer wie ein blankgeputzter Bronzeschild. Italien! Ihn erregte die Nähe dieses Landes, das er noch nie gesehen, sich aber so oft ausgemalt hatte. Wie anders war Italien als die vertrauten afrikanischen Tiefebenen und iberischen Berge!
„Hierher!" schrie er seinen Kriegern zu, die von der Kälte erstarrt, von der Erschöpfung wie gelähmt waren. „Seht, das ist Italien, unser Ziel, unsere Beute! Ich gebe es euch ganz - mit seinen Wäldern und Flüssen, mit seinen Städten und Dörfern!"
Und so herrlich war der Anblick dieses Landes, so greifbar nahe schien es zu liegen, daß alle am liebsten die Hände nach ihm ausgestreckt hätten, wie nach einem kunstvoll gemalten Bild, um mit den kältestarren Fingern die Leinwand und die leuchtenden Farben zu betasten.
Dann begann das Heer mit dem Abstieg. Der eisige Wind drang den Kriegern bis auf die Knochen. Die abschüssige Straße war mit Schneeresten bedeckt, in denen sie versanken. Die schweren Lasten rutschten den Pferden auf den Hals. Die Straße führte in zahllosen Windungen über kahle, vereiste Felsen. Wer ausglitt, stürzte in den Abgrund.
Die Reiter sprangen aus dem Sattel, traten hinter ihre Pferde und hielten sie beim Weitergehen am Schwanz fest. Die Gebirgler, die dem Heer seit einigen Tagen ständig folgten, waren plötzlich verschwunden. Offenbar wollten sie die Vernichtung der Eindringlinge der Natur überlassen. Oder war diese Gegend sogar für die Einheimischen unpassierbar, nicht nur für ein Heer mit Reiterei und Elefanten?
Plötzlich blies der Hornist Alarm. Sein Signal wurde von wildem Kampfgeschrei übertönt. Die Gebirgler hatten das Heer auf Geheimpfaden umgangen und griffen es jetzt von vorn an.
Das ist das Ende! dachte Hannibal. Nun werden die verschreckten Tiere in den Abgrund stürzen und die Menschen mit sich reißen, denn ich kann meine übrigen Krieger nicht dazu bringen, daß sie der Vorausabteilung zu Hilfe kommen. Die Angst vor dem glatten vereisten Pfad ist stärker als mein Befehl, stärker als die Stimme der Vernunft.
Ja, es ist aus.
Aber seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Es geschah etwas völlig Unerwartetes. Die Angreifer blieben wie versteinert stehen, wandten sich zur Flucht und jagten unter Zurücklassung ihrer Waffen davon, als wäre ihnen eine Schar von bösen Geistern auf den Fersen.
Verständnislos blickten die Krieger der karthagischen Vorausabteilung zurück. Was hatte die Gebirgler so erschreckt? Als sie den Grund erkannten, lachten sie schallend. Sie vergaßen Hunger, Kälte und Erschöpfung und bogen sich vor Vergnügen. Die Felsenwände warfen ihr Gelächter als unheimliches Echo zurück. Auch sie schienen zu lachen über diese Menschen, die zum erstenmal einen Elefanten gesehen hatten.
Die Elefanten! Hannibal empfand tiefe Dankbarkeit, ja Zärtlichkeit für die gewaltigen Tiere. Selbst hier in der Schneewüste retteten sie ihn vor dem Untergang. Die Elefanten - das war sein heißes, dunkles Afrika, das sich zum Kampf gegen das kalte, hochmütige Europa erhoben hatte. Die Elefanten - das war der Traum vom Sieg über Rom, den schon sein Vater geträumt hatte.
Nach drei Tagen erreichte das Heer ein grünes Tal, das nach Süden hin weiter wurde. Klare Bäche plätscherten von den Bergen herab. Vor dem Pfahlzaun, der ein kleines Dorf umgab, standen graubärtige Greise in weißen Gewändern. Sie blickten den fremdartigen Ankömmlingen. auf ihre Stäbe gestützt, verwundert entgegen. Den Häusern dieses Tals war die wilde Feindseligkeit der Gebirgler fremd. Zusammen mit der Natur und dem Klima hatten sich offenbar auch die Menschen gewandelt und waren sanfter, gastfreundlicher geworden.
Wie Recken mit blendend weißen Helmen, schwarzen Panzern und grünen Umhängen standen die Berge majestätisch im Halbkreis da. Fünfzehn Tage lang war das Heer über ihre Hänge herabgestiegen. Sie hatten Steine und Schneelawinen von ihren Schultern geschüttelt, sie hatten Hindernisse aufgetürmt, Abgründe aufgerissen, den Kriegern die Wangen erfroren und ihnen mit dem grauenhaften Gefunkel ihrer Eisfelder die Augen geblendet. Wie schwach und hilflos waren die Menschen im Kampf gegen diese unerbittlichen Giganten gewesen! Dennoch hatte ihre Ausdauer gesiegt. Die Berge hatten ihnen Platz gemacht und sie widerstrebend durchgelassen. Jetzt schienen sie mit herablassendem Lächeln zu fragen: Na, ihr Ameisen, sind noch viel von euch übrig?
Hörnerschall riß Hannibal aus seinen Gedanken. Das Heer war angetreten. Heute hatte er zum erstenmal seit vielen Monaten einen Appell angesetzt, einen Namensaufruf der noch Lebenden.
An der linken Flanke standen die Iberer, in die Fetzen ihrer rotwollenen Umhänge gehüllt. Das Haar war ihnen unterwegs so lang gewachsen, daß es wie eine Löwenmähne auf ihre Schultern hing. Sie grüßten den Feldherrn, indem sie die mit Sehnen durchflochtenen kleinen Schilde erhoben.
Daneben die Gallier, in knöchellange Hosen und leichte Überhemden gekleidet. Viele besaßen keinen Schild. Es waren nur noch etwa tausend Mann, obgleich sechstausend Gallier die Pyrenäen überquert hatten. Wo waren die übrigen geblieben? Gestorben oder geflüchtet? Bei den Gebirglern untergetaucht oder in ihre Heimat zurückgekehrt? Was veranlaßte die im Heer Verbliebenen, hier zu stehen? Beutehunger oder Pflichtbewußtsein?
„Jetzt werden wir echten Wein in Hülle und Fülle trinken!" rief Hannibal ihnen aufmunternd zu, denn er kannte ihre Leidenschaft für dieses Getränk.
Die Afrikaner - was für ein trauriger Anblick! Meine Afrikaner! pflegte er sie in Gedanken oder im engsten Freundeskreis zu nennen, weil er sich seiner übergroßen Liebe zu diesen tapferen, treuen Menschen schämte. Aber waren die Männer vor ihm seine Afrikaner? In Lumpen gehüllt, die Füße umwickelt mit Fetzen, durch die das Blut sickerte, Gesichter und Hände mit blauen und schwarzen Flecken bedeckt, als wären sie gebrandmarkte Sklaven. Am liebsten hätte Hannibal die geballten Fäuste gegen den Himmel geschüttelt und den Göttern zugeschrien: Was habt ihr mit meinen Afrikanern gemacht? Gebt mir meine Afrikaner wieder! - Aber er verbarg die geballten Fäuste auf dem Rücken und sagte laut: „Einstmals, es ist schon lange her, kämpften wir Afrikaner gegen die griechische Stadt Kyrene, die nördlich von Karthago liegt, um einen strittigen Landstreifen zwischen unseren Gebieten. Als die Kämpfe unentschieden blieben, ließen sich zwei unserer Brüder lebendig in jenem Landstreifen begraben, auf daß er für immer zu unserer afrikanischen Heimat gehöre." Er musterte die gelichteten Reihen der Afrikaner. „Ihr habt viele Brüder verloren", fuhr er fort. „Sie starben auf dieser fremden Erde, auf daß sie für immer zu unserer afrikanischen Heimat gehöre."
Die balearischen Schleuderer. Hannibal machte einen Witz in ihrer Sprache, und sie lachten, daß die schwarzen Schnüre auf ihren mageren Leibern hüpften.
„Was hat er gesagt?" wurde aus anderen Abteilungen gerufen.
„Das war in unserer Sprache gesprochen und galt nur uns!" war die stolze Antwort.
Die Numidier. Sechstausend waren noch übrig. Sie hatten die geringsten Verluste erlitten. Es war sinnvoll gewesen, sie so zu hüten. Zwar hatten viele ihre Pferde eingebüßt, aber in diesem Lande würde man genügend neue Pferde für sie finden.
Die Kampfelefanten. Sie wiegten anklagend die Köpfe, als wollten sie sagen: Was hast du mit uns gemacht, Hannibal? Wir sind nur noch siebzehn. Und wir können uns kaum auf den Beinen halten.
„Richad", fragte Hannibal, „werden sie es überleben?"
Der Inder verneigte sich tief. „Ja, vorausgesetzt, daß du ihnen mindestens zwei Wochen Ruhe gönnst. Hier ist das Gras hoch und saftig, so daß sie sich satt fressen könnten!"
Zwei Wochen Ruhe brauchen die Elefanten ebenso wie die Menschen! dachte Hannibal. Zwei Wochen, dann werde ich wieder ein wirkliches Heer besitzen. Doch was würde geschehen, wenn mir die Römer diese zwei Wochen Ruhe streitig machten? Dann wäre alles aus. Dann wären alle Mühen und Opfer umsonst.
Hannibal verkürzte sich die Ruhetage mit einem Spiel, das Richad ihm einst in Iberien beigebracht hatte. Der Inder nannte es Tschaturanga, was in der Übersetzung „Vier Waffengattungen" hieß, und es war ein Vorgänger des Schachspiels. Auf einem Holzbrett, das in Quadrate aufgeteilt war wie ein römisches Feldlager, wurden schwarze und weiße Elfenbeinfiguren einander gegenübergestellt - Fußsoldaten, Reiter, Kriegselefanten und quadratische Wandeltürme. Die beiden Heere wurden von je einem König und einer Königin befehligt. Tschaturanga war ein ernstes, kluges Spiel, und Hannibal spielte es so gut, daß er Richad, seinen Gegner, meistens besiegte.
„Ich kann nicht verstehen", sagte er zu Magon, „warum dir das Tschaturanga nicht gefällt! Was hast du vom Würfelspiel, dem du deine Freizeit widmest? Was lehrt es dich? Daß du dem Zufall ausgeliefert bist, der blind ist wie ein altes Roß in den Silberbergwerken?"
„Ich finde Tschaturanga viel zu schwierig und langweilig", widersprach Magon. „Den ganzen Tag über einem Holzbrett zu brüten, als hänge von dem nächsten Zug das Schicksal des Heeres ab, ist nicht nach meinem Geschmack."
Hannibal machte beim Spiel oft ein so ernstes Gesicht, als hätte er kein Brett vor sich, sondern ein richtiges Schlachtfeld. Wer das Geheimnis von Hannibals Siegen ergründen wollte, brauchte ihn nur bei diesem Spiel zu beobachten. Er war tollkühn und gleichzeitig vorausschauend. Häufig opferte er eine Figur, um für die anderen eine bessere Position zu gewinnen, und immer machte er sich den kleinsten Fehler seines Gegners zunutze.
„Nein", sagte er zu Magon, „Tschaturanga erinnert nur entfernt an Feldzüge und Schlachten. Hier" - er zeigte auf das Brett - „bin ich sicher, daß meine Krieger ihre Waffen nicht gegen mich kehren und daß sie meine Schlachtpläne gehorsam ausführen. Im Leben ist alles anders."
Hannibal machte sich Sorgen. Die Kundschafter, die er ausgesandt hatte, waren mit der Nachricht zurückgekehrt, daß der römische Konsul Publius Scipio auf dem Seeweg aus Marseille mit einer kleinen Truppeneinheit im Hafen von Pisa gelandet wäre. Dort hätte er seine Leute mit den Legionen vereinigt, die an der Nordgrenze von Italien stationiert waren, und wäre mit dem gesamten Heer zur Poebene marschiert.
Zur Zeit waren die beiden Heere nur noch drei Tagesmärsche von einander entfernt. Meine Truppen haben sich von dem anstrengenden Alpenübergang noch nicht erholt, sagte sich Hannibal. Und wenn ich gleich die erste Schlacht verlöre, würden die Gallier Reißaus nehmen wie Hasen aus einem zerlöcherten Korb.
Er beschloß, einen zweiten Appell abzuhalten. Er mußte den Kriegern klarmachen, daß sie in der kommenden Schlacht nicht nur für die Handvoll Silber kämpfen würden, die sie an jedem Neumond erhielten, sondern um ihre eigene Freiheit, um ihr Leben. Sie mußten erkennen, daß es für sie keine Rückkehr in die Heimat gab und jede Gefangennahme gleichbedeutend war mit Sklaverei, Ketten und Leiden. Hannibal wußte, daß die Söldner lange Reden verabscheuten. Am besten verstanden sie die Sprache der Tat. Und er faßte einen Entschluß.
„Laß das Heer antreten und stell die Gefangenen, die wir neulich bei Turin gemacht haben, davor auf", sagte er zu Magon. Der Bruder gehorchte.
„Dukarion", befahl Hannibal seinem Dolmetscher, nachdem das Heer angetreten war, „sage den Gefangenen: Wer seine Freiheit und das hier erhalten will" - er zeigte auf Pferde und Waffen -, „soll vortreten und in Gegenwart des Heeres mit einem Stammesgenossen einen Zweikampf ausfechten."
Als Dukarion übersetzt hatte, traten fast alle Gefangenen vor.
„Das sind zuviel", wehrte Hannibal ab. „Zwei genügen. Laß das Los entscheiden."
Das Los fiel auf zwei junge Männer, die vor Freude strahlten. Die übrigen Gefangenen senkten finster den Kopf.
Auf einen Befehl Hannibals schlugen die Schmiede den beiden die Fesseln von Armen und Beinen. Dann wurden ihnen Schwerter gegeben.
Sie wußten, daß sie in Kürze frei sein würden. Der erste würde heimkehren und seine Lieben in die Arme schließen können, den zweiten würde der Tod von jeder Qual erlösen.
Der Kampf begann. Die Gallier umkreisten sich mit gezückten Schwertern. Ihre Gesichter brannten vor Kampfeswut, als wären sie nicht Stammesbrüder, sondern erbitterte Feinde. Ein Schwerthieb folgte dem anderen, aber am Anfang gelang es beiden Kämpfern, ihnen auszuweichen. Die Erregung der zuschauenden Krieger wuchs. Sie quittierten die Hiebe mit zustimmenden oder empörten Rufen, traten aus dem Glied und schlossen um die Kämpfer einen Kreis. Plötzlich sprang der eine vor, versetzte seinem Gegner einen fürchterlichen Stoß, wurde jedoch gleichzeitig in die Schulter getroffen. Doch das hinderte ihn nicht, sein Schwert auf den Kopf des anderen niedersausen zu lassen. Ein Schrei brach aus tausend Kehlen.
Der Getroffene hielt sich noch ein paar Augenblicke auf den Beinen.
Das Blut strömte ihm über das Gesicht. Dann stürzte er zu Boden.
Der Sieger blieb mit gesenktem Schwert vor ihm stehen, wortlos, entsetzt über das, was er getan hatte. Dann blickte er haßerfüllt zu Hannibal hinüber und ging langsam zu seinen Trophäen.
Hannibal hob die Hand. Es wurde still.
„Auch ihr habt diese Wahl!" rief er. „Sklaverei!" Er zeigte auf die Gruppe der Gefangenen. „Tod!" Er wies auf den blutigen Leib des sterbenden Galliers. „Oder Sieg" Und er streckte beide Hände nach dem Sieger aus.
Dieser hatte inzwischen den schimmernden Helm aufgesetzt, die Rüstung angelegt und sich aufs Pferd geschwungen.
Das war die kürzeste Rede, die Hannibal jemals hielt. Und die überzeugendste. Sie machte den Kriegern klar, daß sie in der nächsten Schlacht um ihr Leben kämpfen mußten und jeder Versuch, durch die Flucht ihre Heimat zu erreichen, sinnlos war, weil hinter ihnen todbringende Berge und feindselige Stämme waren.
Am Ticino, einem Nebenfluß des Po, ließ Konsul Publius Scipio ein befestigtes Lager bauen und daneben eine Brücke über den Fluß schlagen. Anschließend unternahm er mit einer kleinen Einheit einen Erkundungsritt. Die Kavallerie ging in einer gekrümmten Linie vor - die Mitte vorn, die beiden äußeren Enden weiter zurück. Dumpf hallten die Hufe über den steinigen Boden.
Die Kundschafter hatten dem Konsul gemeldet, daß Hannibals Heer die Alpen überquert hatte und noch zwei Tagesmärsche vom Ticino entfernt war. Er staunte über den Wagemut dieses Mannes. Wer hätte annehmen können, daß Hannibal mit seiner Reiterei und seinen Elefanten die Alpen überqueren würde? Dadurch hatte er alle Pläne des Konsuls über den Haufen geworfen.
„Mir blieb nichts anderes übrig", erklärte der Konsul seinem Sohn, der neben ihm ritt, „als mein Heer zu teilen. Die eine Hälfte habe ich nach Iberien geschickt - sie wird von meinem Bruder Gnaeus geleitet -, und die andere Hälfte habe ich auf dem schnellsten Wege nach Italien gebracht. Ich bin fest überzeugt, daß der Alpenübergang den Karthagern viel Kraft gekostet hat. Ich muß sie schlagen, bevor sie sich erholt und ihre gelichteten Reihen wieder aufgefüllt haben."
Eine Meile von der Brücke entfernt bemerkte der Konsul eine dichte Staubwolke. Da er von der Richtigkeit der Meldungen seiner Kundschafter überzeugt war, nahm er an, daß sich in der Staubwolke Gallier befanden, die ihre Viehherden aus Angst vor feindlichen Übergriffen von den Weiden trieben. Erst als die Staubwolke nahe herangekommen und ein Rückzug nicht mehr möglich war, sah der Konsul, daß sich feindliche Reiterei darin verbarg. Es waren hagere, dunkelhäutige Männer, die zu sechsen nebeneinander ritten und mit ihren Pferden wie verwachsen waren. Angeführt wurden sie von einem etwa dreißigjährigen Mann mit schwarzem Ringelbart. Er trug einen funkelnden Panzer und einen langen Purpurumhang. Hannibal! durchfuhr es den Konsul, doch bevor er einen Befehl geben konnte, brachen die Numidier in ihr Kriegsgeschrei aus. Die Erde dröhnte unter den Hufen.
Die leichtbewaffneten römischen Fußsoldaten suchten angstvoll Schutz hinter der römischen Reiterei und trugen dadurch Verwirrung in ihre Reihen.
Ein Befehl von Hannibal, und die Numidier änderten in vollem Galopp ihre Richtung und griffen die Römer in der Flanke an. Speere pfiffen durch die Luft. Entsetzensschreie und Schmerzensrufe waren die Folge.
Der junge Publius befand sich noch immer nahe bei seinem Vater. Er sah, daß dieser sein Pferd ruckartig anhielt, in unnatürlicher Bewegung den rechten Ellenbogen hochriß und langsam zu Boden glitt. Die römischen Kavalleristen bildeten einen engen Kreis um den Verwundeten. Aber ihre Reihen lichteten sich, und das Kriegsgeschrei der Numidier klang schon in allernächster Nähe. Da sprengte Publius in rasendem Galopp auf seinen Vater zu, riß den Verwundeten blitzschnell zu sich aufs Pferd und jagte mit ihm dem römischen Lager zu. Seine Wangen brannten, der Wind pfiff ihm um die Ohren, das Herz klopfte vor Aufregung. Rechts und links ritten schützend die Liktoren des Vaters.
Schon kam das römische Lager mit seinem Pfahlzaun in Sicht. Die Posten hoben den Balken, der das Tor ersetzte. Aus den anderen Toren marschierten schwerbewaffnete Infanterieeinheiten. Als die Numidier erkannten, daß sie die Flüchtlinge nicht einholen würden, machten sie kehrt.
Behutsam ließ Publius seinen Vater vom Pferd gleiten und half ihm, sich auf einen Umhang zu legen, den ein Krieger auf der Erde ausgebreitet hatte. Der Legionsarzt kam, nahm dem Konsul die Rüstung ab und hob die blutgetränkte Toga, um ihn zu verbinden.
Der Konsul wandte seinem Sohn das bleiche Gesicht zu.
„Du hast nicht schlecht begonnen, mein Junge!" murmelte er.
Die Floßbrücke, die die Römer noch vor dem Gefecht über den Ticino geschlagen hatten, war unbeschädigt geblieben. Die Räder des Reisewagens ratterten über ihre Bohlen und rollten dann lautlos auf der regenfeuchten Erde weiter.
Publius deckte seinen Vater, der eingeschlafen war, sorgsam mit der Toga zu und sprang von der Kutsche ab. Vor ihm lag der breite Po. Die mit düsterem Wald bestandenen Ufer wirkten so traurig, daß ihm die griechische Sage von dem unbesonnenen Phaethon einfiel, dem Lenker des Sonnenwagens, der einstmals mit seinem Gefährt am Po zur Erde herabgestürzt sein soll. Ob jene Pappeln, die sich dort über den Fluß neigten, vielleicht Phaetons Schwestern waren, die in Pappeln verwandelt wurden und seitdem Bernsteintränen über ihren Bruder vergossen?
Publius vernahm dumpfe Schläge. Die Legionäre zerstörten die Brücke, weil der Feind sie nicht benutzen sollte. Publius wandte sich wieder der Kutsche zu. Der Vater war erwacht. Besorgt musterte er den düsteren Wald und das jenseitige Ufer des Po. Nach der Niederlage am Ticino hatte er es nicht mehr eilig, den Feind zum Kampf zu stellen; im Gegenteil, er bemühte sich, jeder kriegerischen Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen, bis das andere Heer, das vom Konsul Sempronius befehligt wurde, aus Sizilien eingetroffen war.
Am selben Tage erreichten die Römer Piacenza und schlugen dort ihr Lager auf.
Während die Legionäre sich ausruhten, erhielt der Konsul die erfreuliche Nachricht, daß Sempronius sich ihm in Eilmärschen näherte und in Piacenza eintreffen würde, noch bevor Hannibal den Po überqueren konnte.
Doch kurz darauf wurde bekannt, daß sich Hannibal schon mit seinem gesamten Heer diesseits des Po befand. Das war wie ein Wunder. Einige sagten, Hannibal hätte seine Elefanten am Oberlauf des Flusses in einer Reihe aufgestellt, um den Druck der Strömung abzuschwächen, und wäre dann mit allen Truppen hinübergewatet. Andere behaupteten, daß er aus den Booten italischer Gallier eine Brücke gebaut hätte. Auf jeden Fall hatte er es fertiggebracht, in zwei Tagen das zu schaffen, zu jeder andere Feldherr eine Woche gebraucht hätte. Das machte dem Konsul klar, daß Hannibal ihm trotz seiner Jugend an Erfahrung und Talent überlegen war. Er befahl, die Wachen zu verstärken, weil er einen unerwarteten Angriff fürchtete.
Der Angriff fand dort statt, wo ihn niemand erwartete. Bei Tagesanbruch gellten Schreie durch das Lager. Der Konsul eilte aus dem Feldherrnzelt, auf die Schulter seines Sohnes gestützt. Er begriff nicht, was geschehen war. Die Wachen standen auf ihren Posten. Das Tor war geschlossen, die Lagerstraßen leer. Aber in den Zelten ging irgend etwas vor sich. Wer war der unsichtbare Feind, der unbemerkt ins Lager eingedrungen war? Die Hörner bliesen Alarm. Die Krieger rannten zum Feldherrnzelt und formierten sich. Ein Blick auf ihre Reihen genügte, um alles zu begreifen. Die Gallier und ihre römischen Offiziere fehlten. Als die konsultreuen Legionäre zu den Zelten stürzten, stellten sie fest, daß die Gallier spurlos verschwunden waren und die Offiziere als enthauptete Leichen zurückgelassen hatten. Jede Verfolgung war sinnlos. Die Mörder, die sich in dieser Gegend genau auskannten, hatten ihre heimatlichen Wälder schon erreicht.
Ein weiterer Mißerfolg, dessen Folgen noch schwerwiegender sind als die Niederlage am Ticino! dachte der Konsul niedergeschlagen.
Nun gab es an der feindseligen Haltung der Gallier keinen Zweifel mehr. Die Römer konnten sich nur noch auf die eigenen Kräfte verlassen. Schon in der folgenden Nacht verließen Konsul Scipios Legionen das Unglückslager und marschierten zur Trebia, einem Nebenfluß des Po, um sich mit dem Heer des Konsuls Sempronius zu vereinigen.
Zur selben Zeit empfing Hannibal die gallischen Überläufer. Sie traten einzeln vor ihn hin und legten ihm die blutigen Häupter der Römer zu Füßen. Hannibal lächelte ihnen freundlich zu und schenkte jedem eine Handvoll Silbermünzen.
„Geht heim", sagte er. „Mögen eure Eltern sich über die Befreiung ihrer Söhne freuen. Dieses Silber wird euch wohl in eurer Freude kaum stören, nicht wahr?"
Der danebenstehende Dukarion machte ein verständnisloses Gesicht. Solche ausgezeichneten Krieger, die obendrein Überläufer waren und sich deshalb aus Angst vor der Bestrafung niemals in römische Gefangenschaft begeben würden, heimkehren zu lassen! Das war doch Unsinn!
Als die Gallier gegangen waren, betrachtete Hannibal belustigt sein fassungsloses Gesicht. „Wenn diese Leute zu den Ihren heimgekehrt sind, werden sie meine besten Fürsprecher sein", setzte er ihm auseinander. „Jeder von ihnen wird drei, vielleicht sogar vier mitbringen, wenn er zu mir zurückkommt. Du hast mir deine Ergebenheit bewiesen, deshalb ernenne ich dich zum Kommandeur dieser künftigen Truppeneinheit."
Hannibal hatte recht. Nach knapp einer Woche strömte eine gewaltige Menge Krieger auf das karthagische Lager zu.
Und Hannibal nahm alle Ankömmlinge in sein Heer auf. Es waren siebentausend Mann.
Nach altem römischen Brauch wurde der Krieger, der einen Kameraden gerettet hatte, hoch geehrt. Außerdem war der Gerettete verpflichtet, ihn Vater zu nennen und ihm in jeder Beziehung gefällig zu sein. Aber ein Vater kann seinen Sohn schließlich nicht Vater nennen. So mußte sich der junge Publius damit begnügen, daß er den Schikanen seines Zenturios entronnen war und von nun an das Recht hatte, im Feldherrnzelt zu wohnen.
Sein Vater lehnte jede ärztliche Behandlung ab und behandelte sich mit erprobten Hausmitteln, die in Kräutertees und Gebeten zu den Schutzgöttern der Familie bestanden. Als die Wunde am Arm dennoch nicht heilte, schickte er Kylon, einen in Capri geborenen griechischen Seefahrer, der in seinen Diensten stand, mit einem kunstvoll geschmiedeten Silberarm nach Antium, zum Tempel des Äskulap, der bei den Römern als Gott der Heilkunst verehrt wurde. Kylon sollte den Silberarm auf dem Altar des Gottes niederlegen und dadurch für den Konsul Genesung erbitten. Während Kylon unterwegs war, verband Publius seinem Vater die Wunde. Er pflegte den Verwundeten so liebevoll und sachkundig, daß dieser am liebsten öffentlich verkündet hätte: Meine Genesung habe ich allein meinem Sohn zu verdanken! - Aber er schwieg, weil er den Zorn der Götter fürchtete.
Wenn er mit seinem Sohn allein war, teilte er ihm häufig seine Überlegungen mit und weihte ihn in seine Pläne ein.
„Die größte Sorge macht mir das Schicksal der Legionen, die ich unter dem Befehl meines Bruders Gnaeus auf dem Seewege nach Iberien geschickt habe", sagte er. „Es ist unwahrscheinlich, daß Hannibal sein gesamtes Heer nach Italien geführt hat. Er muß doch wissen, daß er bei den Iberern ebenso unbeliebt ist wie wir bei den Galliern. Aber wen hat er als seinen Stellvertreter in Iberien zurückgelassen? Und wie viele Truppen? Wird es Gnaeus gelingen, in Iberien Fuß zu fassen und die Iberer zum Kampf gegen Karthago aufzurufen?"
Publius war auch dabei, wenn sich sein Vater von den Kommandeuren über die im Lager eingetroffenen Verstärkungen, über die Stimmung unter den Truppen und über die Bewegungen des Gegners Bericht erstatten ließ, wenn er gefangene karthagische Kundschafter verhörte und die Abgesandten des Senats empfing, die sich nach seinen Schwierigkeiten und Absichten erkundigten.
Eines Tages kam Sempronius, der zweite Konsul, sichtlich erfreut zu seinem Vater ans Krankenbett.
„Du kannst mich beglückwünschen!" rief er. „Meine Legionäre haben die numidischen Reiter, als diese einen Raubzug unternahmen, bis zum karthagischen Lager verfolgt. Da hast du Hannibals unbesiegbare Reiterei! Sie flohen wie die Hasen. Meine Legionäre triumphieren. Ich habe ihnen die Siegesgewißheit zurückgegeben."
Der Vater machte ein ungerührtes Gesicht. Dieses Ereignis schien für ihn ganz unwichtig zu sein.
„Jetzt brauchen wir nicht mehr zu zögern", fuhr Sempronius fort.
„Wir wollen unsere Heere vereinigen und den Feind gemeinsam schlagen."
„Überschätze deinen Sieg in diesem Geplänkel nicht!" warnte Publius' Vater. „Du kennst Hannibal nicht. Er ist ein hinterlistiger, gefährlicher Feind. Wir müssen noch warten."
„Warten? Worauf?" fuhr Sempronius hoch. „Auf den dritten Konsul mit seinem Heer oder darauf, daß die Gallier ganz und gar zum Feind überlaufen?"
Publius wußte, daß die Bemerkung über den dritten Konsul nichts als Spott war - es gab in Rom nach dem Gesetz nur zwei Konsuln.
„Vergiß nicht", erwiderte sein Vater gelassen, „daß ein Krieg nicht allein durch erfahrene, mutige Feldherren und ihre Heere entschieden wird, sondern auch durch andere Mächte. Ja, ich warte auf das, was du als dritten Konsul bezeichnest. Dieser Konsul wurde nicht vom Volke gewählt und vom Senat bestätigt. Dieser Konsul ist die Zeit, und seine Legionen sind die Tage, Wochen und Monate der Untätigkeit des feindlichen Heeres. Bedenke, daß Hannibal sich im Ausland befindet und daß es in Afrika keinen zweiten Hannibal gibt, der seinen Alpenübergang wiederholen und ihm Verstärkungen bringen könnte. Den Galliern wird bald die Lust vergehen, den gefräßigen karthagischen Heuschreckenschwarm zu füttern. Die Gallier sind ungeduldige Leute, sie wollen schnelle Siege sehen. Und wenn solche Siege ausbleiben, werden sie zu unseren Bundesgenossen."
Unter widersprüchlichen Gefühlen lauschte Publius dem Streit der beiden Konsuln. Die klugen Einwände seines Vaters flößten ihm Achtung ein. Dennoch vermochte er als junger Kommandeur nicht zu begreifen, warum sein Vater sich nicht zur Schlacht stellen wollte, obwohl der Feind das Land verheerte und sich Rom unablässig näherte.
In den früheren Kriegen hatte Rom doch auch mit der Waffe in der Hand den Sieg errungen! sagte er sich. Zweimal stellten sich unsere Vorfahren dem König Pyrrhos zur Schlacht, und beide Male erlitten sie schwere Niederlagen. Trotzdem wichen sie einer dritten Schlacht nicht aus, und diese entschied dann den Ausgang des Krieges zu ihren Gunsten.
Bei einer späteren Gelegenheit legte Publius seinem Vater diese Zweifel dar.
„Häufig lassen sich die Menschen von ihrem Ehrgeiz leiten", erwiderte der Konsul seufzend. „Sempronius findet den dritten Konsul höchst unwichtig, obgleich er Rom bestimmt den Sieg bringen wird. Sempronius denkt nur daran, daß die Konsulwahlen vor der Tür stehen und daß der Siegesruhm einem anderen zufallen würde, wenn er nicht wiedergewählt wird. Das fürchtet er, und aus diesem Grunde will er unbedingt eine Schlacht schlagen. Was für entsetzlichen Schaden kann ein einziger unvernünftiger Mensch doch der Republik zufügen, wenn ihm die höchste Macht übertragen ist!"
Wenige Jahre später sollten alle Römer, auch der junge Publius, begreifen, daß es im Kampf gegen einen Gegner wie Hannibal tatsächlich keinen besseren Verbündeten gab als die Zeit. Doch einstweilen wirkte Vorsicht noch wie Feigheit und Unvernunft wie Tapferkeit. Der ehrgeizige Sempronius bauschte seinen unbedeutenden Erfolg dermaßen auf, daß er in Rom als echter Sieg betrachtet wurde. Obendrein ließ er durch seine Anhänger in der Stadt das Gerücht verbreiten, Konsul Scipio wolle deshalb keine Schlacht, weil er wegen seiner Verwundung nicht daran teilnehmen könne und zu verhindern trachte, daß Sempronius den Siegeslorbeer gewinne.
Dieses Gerücht drang auch ins Feldlager, und wiederholt hörte der junge Publius, daß die Legionäre spöttische Bemerkungen über seinen Vater machten.
Hannibal kannte die Stimmung der römischen Legionäre genau, und er freute sich, daß sich alles so entwickelte, wie er es geplant hatte. Magarbal, der Kommandeur der numidischen Reiterei, erhielt eine Belohnung dafür, daß er die Fluchtszene so meisterhaft ins Werk gesetzt hatte. Auch seine Reiter, die befehlsgemäß die Flüchtlinge gespielt hatten, wurden nicht vergessen.
„Ich hätte nie gedacht, daß du uns für einen Rückzug auch belohnen würdest!" sagte Magarbal.
Hannibal lachte. Er erklärte Magarbal nicht, wie erfreulich es für ihn war, daß er in den unerfahrenen und schlecht ausgebildeten römischen Legionären Siegeshoffnungen geweckt hatte. Fast die Hälfte seines eigenen Heeres bestand aus Galliern, um deren Stimmung er sich einstweilen noch keine Sorge zu machen brauchte. Da die Römer vor Überheblichkeit geradezu blind waren, da der Konsul Sempronius überdies eine erstaunliche Beschränktheit an den Tag legte und der viel scharfsinnigere Konsul Scipio wegen seiner Verwundung das Bett hüten mußte, hatte Hannibal in der Wahl von Tag und Ort der künftigen Schlacht völlig freie Hand.
Mit erfahrenen Augen nahm er jeden Vorteil wahr, die ihm die zwischen seinem Lager und dem der Römer befindliche Tiefebene bot. Sie wurde durchschnitten von der Trebia, einem kleinen Fluß, dessen abschüssige Ufer mit Dornensträuchern bewachsen waren. Hannibal wußte, daß die Römer um jedes Waldstück einen Bogen schlugen, weil sich die italischen Gallier dort häufig in den Hinterhalt legten. Doch die strauchbewachsenen Flußufer würden bestimmt nicht ihren Argwohn erregen.
„Sieh her!" sagte er zu Magon. „In diesem Dornengebüsch verbirgst du dich mit tausend Fußsoldaten und ebenso vielen Reitern. Vergiß nicht, ihnen zu befehlen, daß sie die blitzenden Rüstungen und Helme ausziehen und auf den Boden legen sollen."
„Kann ich gehen?" fragte Magon.
„Ja!" Hannibal nickte. „Nein, warte noch!" rief er dann.
Magon blieb stehen. Nichts verriet einem Außenstehenden, daß Hannibal und Magon nicht bloß Feldherr und Untergebener, sondern auch Brüder waren, im Gegenteil - in der Öffentlichkeit behandelte Hannibal seinen Bruder bewußt kühl. Jetzt aber klang seine Stimme überraschend zärtlich.
„Paß gut auf dich auf, Magon. Wir haben noch viele Schlachten vor uns. Stürz dich nicht als erster in den Kampf. Du bist kein Krieger wie jeder andere. Denke daran, was uns der Vater lehrte."
Magon hob den Kopf. Tränen standen ihm in den Augen. Was hatte sie hervorgerufen? Die Erinnerung an den Vater und die ferne Kindheit oder Hannibals überraschende Freundlichkeit?
„Geh und ruh dich aus", murmelte Hannibal. „Auch deine Krieger sollen sich noch ein Stündchen aufs Ohr legen." Er wurde wieder sachlich. „In der Nacht beziehst du die Stellung. Verstanden?"
Ein römischer Legionär war nicht sehr gesprächig. Wenn man ihn fragte, wo er gekämpft und wofür er seine Kriegsmedaillen erhalten hatte und wo er verwundet worden war, erhielt man höchstens ein Gebrumm zur Antwort. Erkundigte man sich dagegen, welche Speisen er in bestimmten Ländern zu sich genommen hatte, wurde er plötzlich ungeheuer lebhaft und entwickelte eine ausgesprochene Rednergabe. Er konnte eine in Milch und Honig gedämpfte Gänseleber, marinierte Oliven oder einen Schweinebraten mit knuspriger Kruste so anschaulich beschreiben, daß seinem Zuhörer das Wasser im Munde zusammenlief. Das war übrigens kein Wunder. Denn woraus bestand das Leben eines Legionärs? Aus den Flüchen des Zenturios, aus Rutenstreichen, Verwundungen, Gefahr für Leib und Leben. Und dieses harte, mühselige Dasein wurde nur durch das Essen verschönt.
Auch an jenem kalten Morgen, als die Krieger des Konsuls Sempronius frierend aus ihren Zelten krochen, dachten sie ans Essen. Was würde ihnen der Koch Mummius - möge Jupiter ihn mit seinem Blitz treffen - heute zum Frühstück geben? Seitdem sie aus dem sonnigen Sizilien in dieses rauhe, unwirtliche Land gekommen waren, hatte er ihnen nur Bohnensuppe vorgesetzt.
„Mummius kocht uns schon bei Lebzeiten den Totenschmaus", sagten die Legionäre.
Denn in Rom war es Sitte, den verstorbenen Ahnen an bestimmten Gedenktagen gekochte Bohnen aufs Grab zu legen.
Aber diesmal roch der dampfende Kupferkessel nicht nach Bohnen, sondern nach Fleisch, und Mummius zwinkerte den Legionären verheißungsvoll zu, als sie sich mit ihrem Kochgeschirr bei ihm einstellten.
Im selben Augenblick erklang das Alarmsignal.
„Antreten!" schrien die Zenturionen.
Wahrhaftig! dachte Sempronius. Die Karthager werden immer unverschämter! Ihre Reiterei treibt sich bereits dicht vor unserem Lager herum, und ihre Speere fliegen bis vor mein Feldherrnzelt. Offensichtlich will mich Hannibal zur Schlacht herausfordern. Kann ich mir diese Gelegenheit entgehen lassen? Zwar ist es noch reichlich früh am Morgen, und meine Legionäre haben noch nicht gefrühstückt. Doch das ist nicht so wichtig, dann werden sie eben nach der Schlacht mit um so größerem Appetit zu Mittag essen!
Und der Konsul gab das Zeichen zum Angriff. Die Kavallerie und die Infanterie verließen das Lager. Auf Helmen wippten schwarze und rote Federbüsche. Speere und Schwerter blitzten. In Bewunderung betrachtete der Konsul sein eindrucksvolles Heer. Die Karthager hatten sich inzwischen bis zur Trebia zurückgezogen.
Nachts hatte es in den Bergen geregnet. Der Fluß war angeschwollen. Die Legionäre wateten bis zum Gürtel im Wasser. Der Konsul befahl ihnen, sich an den Händen zu halten, damit sie von der starken Strömung nicht fortgerissen wurden; ihre Waffen und Rüstungen ließ er auf Packpferden übersetzen. Als die ganze Legion den Fluß überquert hatte, war es Mittag geworden. Die Sonne schien durch die Regenwolken. Aber sie hatte nicht die Kraft, die Krieger zu trocknen, die von der Kälte und obendrein vom Hunger wie erstarrt waren. Mummius, wo ist deine Bohnensuppe? Die Legionäre sehnten sich nach ihr wie nach dem Vaterhaus. Aber Mummius war mit seinem Kupferkessel am anderen Ufer dieses scheußlichen Flusses zurückgeblieben.
Zur selben Zeit verließ Hannibal mit seinem Heer das karthagische Lager. Seine Krieger waren gesättigt und ausgeruht, sie hatten ihre Pferde gefüttert und sich am Lagerfeuer mit Öl gesalbt.
Sie bildeten eine gerade Reihe. Die Reiterei besetzte die Flanken. Vor dem Heer marschierten die Kampfelefanten auf. Im Zentrum standen die balearischen Schleuderer, dahinter schlossen sich die Afrikaner, Iberer und Gallier an. Die Balearer empfingen die römischen Schützen mit einem so wohlgezielten Steinhagel, daß diese hinter ihrer schweren Infanterie Zuflucht suchten. Diese war durch ihre Helme und Schilde geschützt. Die Balearer konnten ihr nur wenig anhaben. Deshalb setzte Hannibal die Schleuderer gegen die römische Kavallerie ein, die in Verwirrung geriet, als sie mit den Steinen überschüttet wurde, und sich zur Flucht wandte.
Die römischen Infanteristen im Zentrum widerstanden trotz Kälte und Erschöpfung dem Angriff der Elefanten. Sie ließen sie vorbei und stürzten sich dann von beiden Seiten mit Speeren und Wurfspießen auf die erschrockenen Tiere. Diese machten kehrt, und ohne das Können Richads und der anderen Treiber hätten sie die karthagischen Krieger zertrampelt.
Auch an der linken Flanke standen gallische Truppen. Als sie das Signal zum Angriff vernahmen, warfen sie ihre Umhänge ab. Sie wollten die Feinde durch den Anblick ihrer muskulösen Arme erschrecken und ihre Verachtung gegenüber Wunden und Tod kundtun; vielleicht aber fürchteten sie auch, daß die Umhänge am Gesträuch hängenbleiben und sie im Kampf hindern würden. In der ersten Reihe standen Gallier, die alle eine goldene Kette um den Hals trugen - das Zeichen für ihre vornehme Abstammung. Unter ihnen befand sich auch Dukarion. Heute wollte er Rache nehmen für die Versklavung, für die Narben auf seinem Rücken! Rache! Seine Schwerthiebe prasselten. Rache!
Aber der Ausgang der Schlacht wurde von der karthagischen Reiterei entschieden. Sie überrannte die römischen Kavalleristen, trieb sie bis zur Trebia zurück und umzingelte gleichzeitig die römische Infanterie, die im Zentrum immer noch tapfer kämpfte. Dann brachen Magons Reiter aus dem Hinterhalt hervor und griffen die Römer im Rücken an. Magon an der Spitze, auf die Mähne seines Rappens geduckt. Vergessen waren alle Mahnungen des Bruders, sich nicht als erster in den Kampf zu stürzen. Sein Schwert fuhr wie ein Blitzstrahl auf die Feinde nieder.
„Zerschmettere sie, Magon!" flüsterte Hannibal, der die Schlacht von einem Hügel aus beobachtete. „Versenge sie wie unser heißer afrikanischer Wüstenwind!"
Staubwolken verhüllten das Schlachtfeld. Als sie sich zerteilten, sah Hannibal, daß das Ufer der Trebia mit Leichen und zerbrochenen Waffen übersät war. Nur zehntausend Legionären mit Sempronius an der Spitze gelang es, die Umzingelung der Karthager zu durchbrechen und zu entkommen.
Als Dukarion eines Morgens zu Hannibal ging, stand vor dessen Zelt ein Krieger in knöchellangen Hosen und leichtem Umhang. Der Kleidung nach also ein Iberer. Der Unbekannte nahm den Helm ab, und der Morgenwind spielte in seinem rotblonden Haar.
Dukarion kannte alle Freunde Hannibals, die Zugang zu seinem Zelt hatten, aber diesen Rotblonden sah er zum erstenmal.
„Tritt ein, Dukarion!" redete der Mann ihn an und schlug höflich den Zeltvorhang zurück.
„Woher kennst du mich?" fragte der Gallier erstaunt.
„Ich bin Hannibals neuer Leibwächter. Er sagte mir, daß du kommen würdest, und beauftragte mich, mit dir zu reden."
Besorgt trat Dukarion ins Zelt. Bisher hatte Hannibal immer ohne Mittelsmänner mit ihm gesprochen, wenn er seinen Rat einholen oder ihm einen Befehl geben wollte. Und das schmeichelte dem Gallier, erhob ihn über seine Stammesgenossen. Ob Hannibal mir zürnt? fragte er sich. Oder ob ihm etwas zugestoßen ist?
Neben dem Eingang, auf dem Teppich, wo Hannibal zu schlafen pflegte, lag sein Schwert, von dem er sich niemals trennte. Verständnislos sah Dukarion es an. Noch besorgniserregender fand er die beiden Löcher in der Zeltwand, genau über dem Teppich.
„Was ist Hannibal zugestoßen?" rief er entsetzt. „Woher stammen diese Löcher?"
„Beruhige dich", erwiderte der Rotblonde, „und setz dich auf den Teppich. Hannibal lebt noch. Die Verschwörer haben sich verrechnet. Sie wußten nicht, daß der Feldherr Tag und Nacht keine Ruhe kennt."
„Wer waren diese Verschwörer?" forschte Dukarion.
„Die Spuren führen zum Zelt jener Gallier, die erst vor kurzem zu unserem Heer stießen, zu den Männern, die unter deinem Befehl stehen. Zudem bist du selbst ein Gallier. Du mußt am besten wissen, aus welchem Grunde die Gallier dem Feldherrn nach dem Leben trachten."
„Hat dich Hannibal beauftragt, mir diese Frage zu stellen?"
„Ja, das ist sein Wille, nein, seine Bitte", verbesserte sich der Rotblonde.
Dukarion überlegte.
„Bist du schon einmal irgendwo zu Gast gewesen?" fragte er dann.
Der Rotblonde nickte.
„Dann müßtest du wissen", fuhr Dukarion fort, „daß der Hausherr den Gast, der nicht allzu lange bleibt, am höchsten schätzt. Ein Gast muß wissen, wann er zu gehen hat, weil sonst beim Hausherrn der Eindruck entsteht, als wollte er für immer in seinem Hause bleiben."
„Ich verstehe, Dukarion", antwortete der Rotblonde. „Aber wenn der Hausherr seines Gastes überdrüssig wird, weshalb sagt er ihm das nicht offen ins Gesicht?"
„Das könnte der Hausherr tun", räumte Dukarion ein. „Aber er kennt seinen Gast nicht genau und fürchtet, daß eine solche Offenheit dessen Zorn erregen würde. Dadurch" - er wies auf die Löcher im Zelt -„wollten die Gallier Hannibal warnen."
„Und was rätst du ihm?"
„Es steht mir nicht zu, Hannibal Ratschläge zu erteilen, doch wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich nicht bis zum Frühjahr warten, sondern unverzüglich nach Rom abrücken."
„Vielen Dank für den Rat, Dukarion", sagte der Rotblonde. „Ich habe deinen Verstand und deine Ergebenheit schon immer geschätzt."
„Du?" fragte Dukarion erstaunt. „Ich sehe dich zum erstenmal."
Der Rotblonde lächelte, riß sich mit einem Ruck die Perücke ab, und vor dem verblüfften Dukarion stand Hannibal.
„Mach kein so erstauntes Gesicht", lachte er. „Ich weiß, daß du mein Freund bist. Wenn ein römischer Konsul ums Leben kommt, wählen die Römer einen neuen. Doch wenn mir etwas zustößt, löst sich das Heer auf. Magon ist noch zu jung, Hasdrubal ist in Iberien. Deshalb wird von nun an ein rotblonder Leibwächter im Zelt des karthagischen Feldherrn schlafen. Hast du verstanden?"
Die waldbedeckten Höhen des Apennins wirkten wie der zottige Rücken eines sprungbereiten Raubtieres. Furchtlos zog das Heer ihm über die schmale, gewundene Straße entgegen. An der Spitze gingen die Elefanten, ihnen schlossen sich die afrikanischen, gallischen und iberischen Fußsoldaten an. Den Schluß der Kolonne bildete die Reiterei. Es war ein klarer Wintermorgen, und die Sonne schien auf die Helme der Krieger und auf ihre blankgeputzten Schilde, auf die numidischen Pferde und die Proviantfuhrwerke, die die Gallier Hannibal zur Verfügung gestellt hatten aus Erleichterung darüber, daß ihr Dauergast endlich aufgebrochen war.
Hannibal hatte beschlossen, die Poebene zu verlassen, ohne das Frühjahr abzuwarten. Er wußte, daß sich die Römer von den ersten beiden empfindlichen Niederlagen noch nicht erholt hatten. Je schneller er ihnen die dritte zufügte, um so begründeter würde die Hoffnung auf einen endgültigen Sieg sein.
Dukarion kannte den Apennin genau, und er hatte versichert, daß dem Heer dort keine Abgründe oder feindliche Überfälle drohten, im Gegensatz zu den Alpen. Daraufhin hatte sich Hannibal trotz der winterlichen Jahreszeit zum Weitermarsch entschlossen.
Gegen Mittag schoben sich schwarze Wolken vor die Sonne. Von den Felsenhängen kam ein kalter Hauch. Mit Schnee vermischter Regen peitschte den Kriegern ins Gesicht, daß sie nach Atem rangen. Augenbrauen und Bart bereiften, die nassen Kleider vereisten.
Hannibal befahl, Zelte aufzuschlagen. Der Sturm riß sie ab. Wie gigantische Vögel klatschten sie mit den Schwingen ihrer Leinenbahnen. Kurz darauf fielen spitze Eisstückchen vom Himmel. Hannibal hatte schon früher von dieser seltsamen Naturerscheinung gehört, die man Hagel nennt, und jetzt spürte er sie auch am eigenen Körper. Die Hagelkörner prasselten auf Helme, Rücken und Knie der Krieger, die sich hastig die Schilde über den Kopf hielten und schutzsuchend zu überhängenden Felsen rannten.
Nur die Balearer blieben mitten im Hagel stehen. Sie spähten unter der vorgehaltenen Hand zum Himmel. Viele nahmen sich sogar die Schnur vom Hals, als wollten sie ihre Kraft mit diesen unsichtbaren Himmels-schleuderern messen.
„Lagerfeuer anzünden!" befahl Hannibal.
Er wußte, daß schnelle Bewegungen jetzt die einzige Rettung für seine Krieger waren. Wenn er ihnen keine Arbeit gab, würden sie sich in Eiszapfen verwandeln. - Er schalt, befahl, drängte zur Eile.
Hastig fällten die Krieger mit den Schwertern Sträucher und junge Bäume, die an den Felshängen wuchsen; kurz darauf loderten die Feuer auf. So dicht wie möglich hockten sich die Krieger davor, aber der ätzende Rauch trieb ihnen die Tränen in die Augen, und bei jedem Windstoß wurden sie von einem Funkenregen überschüttet. Dazu zuckten Blitze, und das Echo warf die Donnerschläge mit dreifacher Lautstärke zurück.
Der Sturm hörte so schnell auf, wie er gekommen war. Die Wolken zogen ab, die Sonne schien wieder auf die Straße.
Erst jetzt erkannte Hannibal, welch einen entsetzlichen Verlust das Heer erlitten hatte. Aus Angst vor dem Hagel hatten die indischen Treiber ihre Elefanten sich selbst überlassen - diese aber waren davongerannt und abgestürzt.
Nur Richad hatte Sur nicht im Stich gelassen. Er preßte das Gesicht gegen die rauhe Haut des gewaltigen Tieres. In diesem wilden, fremden Land kam er sich unendlich einsam vor. Was gingen ihn Hannibals Pläne an! Er hatte alles getan, was von ihm verlangt worden war. Und daß von der aus fünfzig Elefanten bestehenden Herde nur noch das Leittier übrig war, lag nicht an ihm.
Er streichelte Surs Rüssel. „Sur, mein Junge!" flüsterte er. Sur war ein Teil seines Vaterlandes, das fern, hinter Meeren, Bergen und Wüsten lag. Vielleicht würde er es niemals wiedersehen.
Hannibal befahl, in das alte Lager zurückzukehren. Wer die von den Bergen hinabsteigenden Karthager sah, konnte annehmen, daß sie kurz zuvor eine schwere Niederlage erlitten hatten, denn sie taumelten vor Erschöpfung.
Das Siebengestirn stieg am Himmel empor und wies den Schiffern den Weg. Von Süden blies ein feuchter Wind, der Föhn. Die Sonne leuchtete, von den Bergen des Apennins schäumten die Tauwässer und überschwemmten die Täler. Der Frühling war gekommen, heftig und ungeduldig, der erste Frühling, den Hannibal in Italien erlebte.
Man sagt, der Frühling sei die Zeit der Liebesgöttin. Aber zu hören waren nicht die Seufzer verliebter Paare, sondern gluckerndes Wasser und schmatzender nasser Lehm, in dem Menschen und Pferde steckenblieben. Da waren keine Nachtigallenlieder, sondern das angestrengte Schnauben von Pferden und die Peitschenhiebe, die auf ihre nassen Rücken klatschten. Das Frühjahr ist auch die Jahreszeit des Krieges. Deshalb tauften die Römer den ersten Frühlingsmonat, den März, nach ihrem Kriegsgott Mars.
In diesem Frühjahr hatte der furchteinflößende Mars einen ebenbürtigen Gegner erhalten, den Gott Melkart aus dem heißen Afrika mit seinen feurigen numidischen Pferden und dunkelhäutigen Reitern. Das karthagische Heer zog durch die Sümpfe der italischen Provinz Etrurien. Hannibal hatte erfahren, daß Flaminius wiederum zum Konsul gewählt worden war und ihm die Straße nach Rimini versperren wollte. Deshalb zog er quer durch die überschwemmten Täler.
Plötzlich zuckte sein Pferd zusammen und begann zu taumeln. Er sprang aus dem Sattel, ohne die Zügel aus der Hand zu lassen. Das Pferd knickte in den Knien ein, versuchte mit einer letzten verzweifelten Anstrengung sich wieder aufzurichten und sank dann endgültig zu Boden. Tränen standen ihm in den sanften Augen. Dieses Pferd hatte Hannibal noch von seinem Vater zum Geschenk erhalten. Er erinnerte sich noch ganz genau an die Worte des Vaters: „Du mußt lernen, besser zu reiten als jeder andere." Diese weinenden Pferdeaugen hatten in die Flammen von Sagunt, auf die schäumende Rhone und auf die Schneegipfel der Alpen geblickt. Hannibal war so traurig, als würde er von seinem besten Freund verlassen.
Niedergeschlagen erklomm er den Elefanten, den Richad lenkte. Erstaunlich, wie zäh Sur war! Er hatte sämtliche Elefanten überlebt.
Die gewaltigen Knochen seiner indischen und afrikanischen Brüder bleichten nun in den Alpen und im Apennin. Nach hundert oder gar tausend Jahren würden die Menschen sie finden und staunend fragen: Haben hier einst Elefanten gelebt? Und dann würde man ihnen antworten, daß es in dieser Gegend niemals Elefanten gegeben hätte, ausgenommen jene, mit denen er, Hannibal, einst hergekommen war, um den Letzten Willen seines Vaters zu erfüllen. „Die Elefanten müssen Rom zertreten, hört ihr, junge Löwen?" hatte der Vater auf dem Totenbett gesagt. Und Hannibal hatte diese Worte vernommen, obgleich ihn zu jener Stunde viele Meilen von seinem Vater trennten. Er hatte die Elefanten über Berge, Flüsse, Sümpfe gegen Rom geführt.
Von Surs Rücken aus konnte er das ganze Heer überblicken. Hinter den Afrikanern und Iberern marschierten die Gallier. Oft versanken sie bis zum Gürtel im Schlamm, den viele tausend Füße vor ihnen zerwühlt hatten, und würden vermutlich mit größter Freude auf sämtliche künftigen Beutezüge verzichten, falls sie die Möglichkeit zur Heimkehr hätten. Doch hinter ihnen ritt die Reiterei, von Magarbal und Magon befehligt; sie hielt jeden Flüchtling mit Gewalt zurück.
Fünf Tage und fünf Nächte dauerte dieser Marsch. Klebriger Schweiß stand Hannibal auf Gesicht und Körper. Er war am Sumpffieber erkrankt. Man erzählte sich, daß die Bewohner dieser Gegend dem Fieber sogar Altäre errichteten und es wie eine Gottheit verehrten. Richad, der neben Hannibal saß, schlang ihm ein in Sumpfwasser getauchtes Tuch um den Kopf.
„Vater!" schrie Hannibal mit ausgestreckten Armen. „Ich war außerstande, deinen Auftrag auszuführen! Sophonisbe stellte sich mir in den Weg. Masinissa verschwand in der Steppe, dort, wo die Elefanten grasen!"
Richad hörte kopfschüttelnd zu. Hannibal phantasierte und sprach mit seinem Vater, der doch schon lange im Lande der Ahnen weilte. Er sprach von einer Sophonisbe. Wer mag das sein? überlegte der Inder. Dagegen war ihm Masinissas Name bekannt. So hieß doch der junge Numidier, der Sohn des Königs Gula, der einst das Seil durchgehauen hatte, mit dem ein störrischer Elefant an den Pfahl gefesselt gewesen war. Neun Jahre lag das nun schon zurück. Aber der Feldherr dachte noch immer an diesen eigensinnigen jungen Mann. Seltsam!
Gegen Morgen schlief der Inder ein und erwachte erst, als Hannibal ihm die Hand auf die Schulter legte.
„Weißt du, Richad", sagte er, „wir haben beide etwas verloren - du all deine Elefanten bis auf einen und ich ein Auge."
Richad blickte auf. Hannibals rechtes Auge war stark entzündet. Aber man würde es noch retten können. Es brauchte Ruhe und gründliche ärztliche Behandlung. - Da nahm sich der Inder wortlos den schwarzen Stoffgürtel ab und verband seinen Feldherrn.
Der schwarze Augenverband verlieh Hannibals Gesicht einen düsteren Ausdruck, aber Hannibal war froh. Er hatte sein Ziel erreicht - Flaminius umgangen und die Heere der beiden Konsuln gehindert, sich zu vereinigen.
Es war ein trüber Morgen. Die Oberfläche des großen Sees dampfte wie eine Schale, unter der ein Feuer brennt. Langsam krochen die grauen Nebelschwaden in die Berge, verdeckten alle Umrisse, füllten Täler und Schluchten und zerstreuten sich erst auf den Gipfeln, die von den ersten Strahlen der Morgensonne getroffen wurden. Nichts störte die Stille. Nur manchmal klang ein schwermütiger Vogelschrei aus den schilfbewachsenen Uferwiesen.
Doch dann klirrten Waffen. Maultiere schnaubten, Pferde wieherten, Räder knarrten. Dumpfer Marschtritt näherte sich, und bald konnte man hören, wie die Zenturionen die zurückbleibenden Legionäre mit heiserer Stimme beschimpften, ihnen mit Rutenstreichen drohten und den Zorn der Götter auf ihr Haupt herabwünschten. Das römische Heer kam auf der von Cortona nach Rom führenden Straße heranmarschiert, die an dieser Stelle an den Trasimenischen See stieß.
Flaminius sprengte auf seinem Schimmel an den Soldaten vorbei. Er hatte es so eilig, daß er durch eine ungeschickte Bewegung ein Feldzeichen umstieß. Das galt als schlechtes Vorzeichen, aber Flaminius kümmerte sich nicht darum. Er hielt das Heer deshalb auch nicht an, um den Göttern ein Sühneopfer darzubringen. Mit seinen Gedanken war er völlig bei der bevorstehenden Schlacht. Als beschränkter Mann nahm er an, daß sich der Gegner so benehmen würde, wie er, Flaminius, es wünschte und für logisch hielt. Aber in Hannibals Vorgehen fand er diese Logik nicht. Zwar konnte er noch begreifen, daß Hannibal das Gebiet der Gallier deshalb so schnell verlassen hatte, weil er seine Verbündeten nicht mit Einquartierungen und Abgaben belasten wollte, und daß er einen Umweg um die Straße gemacht hatte und durch die Sümpfe gezogen war, um die nächste Schlacht in einer Tiefebene schlagen zu können und nicht in den Bergen, wo Servilius, der zweite neu gewählte Konsul, sein Lager aufgeschlagen hatte.
Doch aus welchem Grunde zieht Hannibal in Eilmärschen weiter nach Süden, obgleich die etrurische Tiefebene, in der er sich zur Zeit befindet, für die Aktionen seiner Reiterei ein besonders günstiges Gelände ist? Will er Rom angreifen, obgleich er weiß, daß meine vier Legionen in seinem Rücken stehen? Oder hat er ganz einfach Angst gekriegt, als er erfuhr, daß ich der Oberbefehlshaber des römischen Heeres bin?
Dieser Gedanke erfüllte Flaminius mit Stolz, und er richtete sich in den Steigbügeln auf und rückte seinen vergoldeten Helm zurecht.
Ja, dachte er, meine Eltern waren nur Plebejer, aber dennoch hat Rom mir in einer Zeit höchster Gefahr sein Schicksal anvertraut! Kein einziger von diesen hochmütigen Patriziern, die stolz darauf sind, wächserne Ebenbilder von ihren Ahnen zu besitzen, kommandiert in meiner Armee auch nur eine einzige Hundertschaft! Nach meinem Sieg über die Gallier hatten sie mir den Triumph, den feierlichen Einzug in Rom, verweigert und sich dabei auf den angeblichen Willen der Götter berufen. Nun aber, da Hannibals Horden auf Rom losmarschieren, brauchen sie mich wieder und haben mich geradezu angefleht, Konsul zu werden!
Flaminius lächelte höhnisch, als er sich vorstellte, welch saure Miene der ehemalige Konsul Publius Scipio ziehen würde, wenn er erführe, daß er, Flaminius, den angeblich unbesiegbaren Hannibal geschlagen hätte.
Wo mag sich der Karthager wohl augenblicklich befinden? Vermutlich auf derselben Straße wie ich. Das macht nichts, er wird nicht weit kommen. Für ihn und seine Krieger sind die Ketten schon bereit, in die wir sie schmieden werden. Ich habe zehn Fuhren mit Eisenketten bei mir.
Flaminius blickte sich um. Die Wagen, die im Zentrum der Marschkolonne fuhren, waren nicht zu sehen. Der vom Trasimenischen See heranziehende Nebel hatte sich verdichtet, und Flaminius konnte nur noch die verschwommenen Umrisse der vordersten Kolonne erkennen.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es schien aus der Luft zu kommen. Ein Hagel von Steinen und Speeren prasselte auf ihn und seine Soldaten herab.
Ein Überfall! schoß es ihm durch den Kopf. Im selben Augenblick traf ihn etwas Schweres gegen den Helm. Er taumelte und klammerte sich mit beiden Händen an die Mähne seines Pferdes, aber das Tier war ebenfalls verwundet, es sank um.
Er sprang aus dem Sattel, um nicht zerquetscht zu werden, und betastete sich den Kopf. Der Helm war weg, links über dem Ohr blutete es, aber der Knochen war anscheinend heil geblieben. Die Feinde griffen an. Wegen des Nebels konnte Flaminius nicht erkennen, wie viele es waren.
An dieser Stelle wurde die Straße durch Felshänge eingeengt, so daß sich die Legionäre nicht zur Schlachtordnung formieren konnten. Die in der Mitte befindlichen Truppen versuchten, nach rechts und links auszubrechen, doch von dort kamen ihnen die anderen entgegen, auf der Flucht vor der karthagischen Reiterei.
Viele Legionäre stürzten sich in den See, um zu den kleinen Inseln zu gelangen, die ungefähr eine halbe Meile vom Ufer entfernt waren. Während sie mit hochgehaltenen Waffen durch das Wasser wateten, wurden sie zur Zielscheibe der balearischen Schleuderer, die eine regelrechte Jagd auf die Wehrlosen veranstalteten. In ihrer Verzweiflung versuchten die römischen Legionäre zu schwimmen, wurden aber von ihren Rüstungen in die Tiefe gezogen.
Andere versuchten, über die steilen Felshänge zu flüchten, rutschten aber ab und stürzten in die Tiefe. Viele baten die Karthager jammernd um Gnade. Aber auch sie starben unter den Schwerthieben.
Wo der Konsul Flaminius stand, entspann sich ein erbitterter Kampf.
Eine Gruppe von Legionären schützte ihn mit dem eigenen Leib.
„Formiert euch!" brüllte er mit blutüberströmtem Gesicht.
Die Legionäre bildeten einen Halbkreis und wehrten sich mit Todesmut gegen die andrängenden Gallier, deren Schwerthiebe pausenlos gegen ihre Schilde dröhnten. Dukarion beobachtete den Verlauf des Kampfes und hielt seinen Galliern den Rücken frei.
Plötzlich richtete er sich in den Steigbügeln auf. Sein Blick war auf Flaminius gefallen.
„Das ist er!" schrie er und stürzte sich ins dichteste Kampfgetümmel.
Als die Sonne höher stieg, zerteilte sich der Nebel. Die Inseln im See und das gegenüberliegende felsige Ufer wurden deutlicher erkennbar. Magarbal verfolgte mit den numidischen Reitern jene Römer, denen es gelungen war, unter dem Schutz des Nebels zu fliehen. Hannibals Söldner begannen das Schlachtfeld abzuernten, wie sie sich ausdrückten. Das war die Entschädigung für die Wunden und Qualen der Schlacht.
Am eifrigsten waren die Gallier. Sie machten sich nicht die Mühe, die Quersäcke der Legionäre durchzukramen, denn sie wußten, daß sie darin kaum etwas anderes finden würden als getrocknete Gerstenfladen, bronzene Rasiermesser, die vom langen Gebrauch schartig geworden waren, und ein paar Amulette. Sie suchten nach den Kommandeuren, die zum Zeichen ihres Ranges goldene Ringe an den Fingern trugen. Wenn Hannibal wissen wollte, wie viele römische Kommandeure in einer Schlacht ums Leben gekommen waren, brauchte er nur von den Galliern die Ringe zählen zu lassen, die sie gesammelt hatten.
Langsam schritten der Baleare Tirnes und seine Schleuderer über das Schlachtfeld, schwere Eichenknüppel auf den Schultern. Die Wertsachen der Toten ließen sie liegen - sie hatten Angst, daß ihnen diese Dinge Unglück bringen würden. Sie suchten nach Landsleuten, um sie nach dem Brauch ihrer Väter zu begraben. Aber bevor sie das taten, brachen sie dem Toten mit ihren Eichenknüppeln die Beine, um ihn zu hindern, ihnen nachts als Gespenst zu erscheinen. Außerdem beschwerten sie sein Grab mit Steinen - erst dann fühlten sie sich endgültig vor ihm sicher.
Hannibal stand auf einem Hügel, von wo er die Straße, die Bergkette im Norden, das Uferschilf und die spiegelglatte, graue Wasserfläche des Sees überblicken konnte. Eine Staubwolke näherte sich - Magarbais Reiter kehrten mit den Gefangenen zurück. Aus der Länge der Kolonne zu schließen, hatte Magarbal mindestens fünftausend Römer gefangengenommen. Ungeduldig spähte Hannibal nach Dukarion aus, der nach der Leiche des Konsuls Flaminius suchte. Er war neugierig, den Mann zu Gesicht zu bekommen, über den er in letzter Zeit soviel nachgedacht hatte.
Am Fuße des Hügels hoben seine Krieger neben der Straße bereits ein Grab aus, in dem der Konsul zur letzten Ruhe gebettet werden sollte. Hannibal wollte ganz Italien kundtun, daß er seinen toten, tapferen Feinden ein ehrenvolles Begräbnis zuteil werden ließ. Als Hannibal Pferdegetrappel hörte, blickte er sich um. Es war Dukarion.
„Wir haben das ganze Schlachtfeld abgesucht, Flaminius ist nirgendwo zu finden", meldete er hilflos.
„Wo ist er denn geblieben?" forschte Hannibal verärgert.
„Das weiß ich nicht!" Der Gallier zuckte die Schultern. „Wenn ich ihn nicht mit eigener Hand getötet hätte, würde ich annehmen, daß er geflohen ist."
Hannibal wandte sich mit finsterem Gesicht ab. Das Verschwinden des toten Flaminius war ihm im Grunde gleichgültig. Er ärgerte sich über etwas anderes. Er hatte angenommen, daß nun die Stadtväter der italischen Städte zu ihm kommen würden, um ihm ihre Unterstützung im Krieg gegen Rom anzubieten. Doch niemand stellte sich ein. Wußten die Italiker etwa noch nichts von den beiden Niederlagen der Römer, oder war ihre Angst vor den Römern noch immer so stark, daß sie erst eine dritte Niederlage abwarten wollten?
Auf dem Janiculus, einem der sieben Hügel Roms, flatterten die Fahnen. Der Prätor, der als höchster Staatsbeamter galt, wenn die beiden Konsuln nicht in Rom weilten, hatte die Bürger auf dem Marsfeld zusammengerufen. Dort versammelten sie sich nach altem Brauch in Zenturien, die aus je hundert bewaffneten Bürgern im Alter von siebzehn bis sechsundvierzig Jahren bestanden. Unter den vielen tausend Römern, die an diesem Tag aus allen Teilen der Stadt und allen umliegenden Dörfern zum Marsfeld gekommen waren, befand sich auch der junge Publius. Er trug wie alle anderen eine funkelnde Kupferrüstung. In der rechten Hand hielt er den runden Schild, am Gürtel hing das kurze Schwert.
Nach der Schlacht am Ticino war er mit dem Vater nach Rom zurückgekehrt. Der Vater war nun nicht mehr Konsul, sondern nur noch Senator. Als stolzer Patrizier, der Emporkömmlinge wie Flaminius verachtete, hatte er seinem Sohn verboten, unter dem Kommando eines Plebejers zu dienen.
„Erst wenn das römische Heer wieder einen wirklichen Feldherrn erhält, werde ich dir erlauben, erneut die Waffen in die Hand zu nehmen!" hatte er gesagt.
Publius fand, daß der Vater ungerecht gegenüber Flaminius war. Flaminius hat doch keine Schuld, daß seine Vorfahren Plebejer sind und in seinem Hause nicht ihre wächsernen Abbilder stehen! dachte er. Die Geschichte Roms kennt viele Beispiele für die hohen Tugenden von Niedriggeborenen. Zudem hat Flaminius durch seine Siege über die Gallier doch die höchste Würde erworben, die Rom zu vergeben hat, nämlich die Stellung eines Konsuls!
Trotzdem stellte sich nur wenig später heraus, daß der Vater im Recht gewesen war. Flaminius hatte das römische Heer ins Verderben geführt -allerdings nicht wegen seiner niedrigen Herkunft, sondern wegen seiner Überheblichkeit.
„Bürger!" Der Prätor hob ruhegebietend die Hand. „Es ist euch bekannt, daß unsere ruhmreichen Legionen schon wiederholt gegen Hannibal kämpften. Aber den Meldungen, die die Feldherren an den Senat sandten, ließ sich nicht immer entnehmen, wie die Schlachten ausliefen. Bis gestern glaubten wir noch, daß das römische Heer zwar keinen entscheidenden Sieg errungen, aber auch noch keine Niederlage erlitten hätte."
Publius errötete. Er begriff, was der Prätor meinte. Weder sein Vater noch Sempronius hatten dem Senat die Wahrheit über die Schlacht am Ticino gesagt.
„Jetzt ist Konsul Flaminius tot", fuhr der Prätor fort. „Er kann dem Senat keine Meldung mehr machen. Aber auch wenn er noch lebte, würde es ihm nicht gelingen, den Untergang der Legionen vor dem römischen Volke zu verheimlichen. Unser Staat ist in Gefahr. Nach unseren Gesetzen ist ein Konsul berechtigt, einen Diktator zu ernennen. Doch zur Zeit befindet sich kein Konsul in Rom. Servilius, der einzige jetzt noch lebende Konsul, ist mit seinen Legionen weiter von Rom entfernt als Hannibal. In Anbetracht dessen schlägt der Senat euch vor, einen Diktator zu wählen. Nach sorgfältiger Überlegung haben wir uns für Quin-tus Fabius entschieden. Nun müßt ihr euch darüber klarwerden, ob ihr ihm die Vollmacht eines Diktators übertragen wollt."
Quintus Fabius! Publius kannte diesen gebeugten, kleinen Mann ziemlich genau. An Festtagen pflegte er das gastliche Haus von Publius' Vater häufig zu besuchen. In der lärmenden Runde der Gäste verhielt er sich immer unauffällig. Man erzählte sich, daß er einst in Sizilien und Gallien erfolgreich gekämpft hätte, doch er selber sprach nie von seinen Siegen. Er hörte lieber den anderen zu und machte auch dann ein freundlich aufmerksames Gesicht, wenn die betreffende Geschichte offenkundig erlogen war. Er verlor nie seine Würde, gleichgültig, ob er grüßte, aß, sich die Hände wusch; er heuchelte andererseits aber auch nie. Trotzdem stellte sich Publius den Feldherrn, der Hannibal besiegen würde, anders vor - kraftvoller, entschlossener, furchtloser.
Die Bürger schritten zur Abstimmung. Zuerst traten die Mitglieder der achtzehn Ritterzenturien vor, die reichsten Bürger, die nach altem Brauch verpflichtet waren, ihr eigenes Pferd zu reiten. Zu diesem Zeitpunkt waren allerdings viele Ritter außerstande, sich ohne die Hilfe eines Sklaven aufs Pferd zu schwingen. Sie waren Großgrundbesitzer, Kaufleute, Wucherer und Steuerpächter. Zum Zeichen ihres hohen Ranges trugen sie einen goldenen Ring am Finger.
Nach den Rittern stimmten die Zenturien erster Klasse ab, die Patrizier, zu denen auch Publius gehörte. Sie wählten Quintus Fabius einmütig zum Diktator, und die Zenturien der Plebejer folgten ihrem Beispiel.
Es war üblich, daß der Diktator unmittelbar nach seiner Wahl eine Rede hielt, in der er seinen Mitbürgern für ihr Vertrauen dankte und versprach, sein Bestes zu leisten.
Mit den Wahrzeichen seiner Macht - der Purpurtoga und einem Gefolge von vierundzwanzig Liktoren - trat auch Quintus Fabius vor die Römer hin.
„Bürger!" rief er. „Wir erlitten unsere Niederlagen nicht etwa, weil unsere Brüder und Söhne feige gekämpft haben. Wir erlitten sie, weil wir die Götter mißachteten. Konsul Flaminius hielt es für überflüssig, ihnen Opfer zu bringen und einen günstigen Ausgang der Schlacht von ihnen zu erflehen. Um die Götter zu versöhnen, gelobe ich, ihnen den gesamten Zuwuchs an Ziegen, Ferkeln, Lämmern und Kälbern zu opfern, der in diesem Frühjahr in den Bergen und Tälern, auf den Wiesen und Weiden Italiens das Licht der Welt erblickt."
Die Anklage gegen Flaminius ist lächerlich! dachte Publius. Er ist doch überfallen worden und konnte den Göttern deshalb vor der Schlacht kein Opfer darbringen! Trotzdem ist es sehr klug, was Quintus Fabius sagt. Er will dem Volk einreden, daß Rom nicht durch Hannibals Feldherrnkunst und die Tapferkeit seiner Krieger eine Niederlage erlitt, sondern nur deshalb, weil Flaminius die Götter mißachtete. Dadurch hat Quintus Fabius einen Schuldigen gefunden und gleichzeitig auch Maßnahmen zur Versöhnung der Götter eingeleitet.
Er fuhr aus seinen Gedanken auf. Die Versammlung war beendet, die Römer gingen heim.
Die Räder des geschlossenen Wagens, in dem Hannibal den Schlaf der Erschöpfung schlief, ratterten auf etwas Festes und rollten gleichmäßig auf einer ebenen Fläche weiter.
Hannibal erwachte und steckte den Kopf aus der Öffnung.
„Halt!" rief er dem Krieger zu, der die Pferde lenkte. Das war die erste römische Pflasterstraße, die er zu Gesicht bekam. Und sie hieß Flaminische Straße nach dem Manne, der kürzlich in der Schlacht den Tod gefunden hatte. Die Römer bauten gute Straßen. Diese hier sollte Rom mit den gallischen Gebieten verbinden und deren Niederhaltung und Beraubung erleichtern. Die Römer hatten sich schon daran gewöhnt, ganz Italien zu beherrschen, und kamen überhaupt nicht auf den Gedanken, daß auch ein anderer ihre Straßen benutzen könnte. In drei Tagesmärschen hätte Hannibal die verhaßte Stadt, die ihre Straßen nach allen Seiten ausreckte wie ein Krake seine Arme, erreichen können. Aber das war noch zu früh. Seine Leute waren erschöpft, Kleidung und Schuhwerk waren verschlissen, die Pferde lahmten.
„Diese gerade, glatte Straße ist nichts für uns", sagte Hannibal. „Wir müssen einen anderen Weg nach Rom finden."
Nach einigen Stunden weiteren Marsches erblickte das Heer vor sich eine sonnenflimmernde Wasserfläche, die am Horizont mit dem Himmel verschmolz und mit Segeln wie mit Blüten besetzt war. Das Meer! Zum erstenmal nach den monatelangen Märschen durch Gebirge und Wälder hatten die Karthager wieder ihr vertrautes Element vor sich. Das Meer war von allen Seiten ihrer großen Heimatstadt zu sehen, und jetzt schien es seine Kinder mit ausgebreiteten Armen zu empfangen. Das Meer war Karthagos Mutter, und die Flotte war seine Wiege. Deshalb nannten sich auch Hannibals Vorfahren Nomaden der Meere. Mit ihren hochbordigen Segelschiffen bezwangen sie die Stürme, die - verblüfft über die Zähigkeit der Seefahrer - vor ihnen die grauen Häupter ihrer Wogen neigten. In unzähligen Buchten waren karthagische Seefahrer vor Anker gegangen, mit unzähligen Waren hatten sie den gierigen Rachen ihrer Laderäume vollgestopft, gegen unzählige Völker hatten sie gefochten. Häufig brachten sie die Bugspitzen feindlicher Schiffe, die wie die Stoßzähne eines Elefanten gebogen waren, als Siegestrophäen heim. Aber das Meer hatte Karthago verraten, war zu den Römern übergelaufen. Die karthagische Flotte mußte im vorigen Krieg mehrere schwere Niederlagen erleiden. Und die Aegatischen Inseln hatten das größte Unheil - den Untergang von Karthagos Seefahrtsruhm - mit angesehen.
Ja, überlegte Hannibal, es ist sinnlos, das Schicksal noch einmal herauszufordern. Mein Vater Hamilkar hat das als erster erkannt. Er drehte dem Meer den Rücken und versuchte sein Glück an Land. Da Karthago keine Flotte mehr besaß, führte er den Krieg gegen Iberien auf festem Boden. Er schuf das aus vielen Völkerstämmen bestehende Heer und befahl mir, ebenfalls einen Landkrieg zu führen. Es ist doch seltsam! Damals wurden die besten Seeleute der Welt von Landratten besiegt, die noch nie ein Ruder in der Hand gehalten hatten, und jetzt besiegen Seeleute an Land die als unbesiegbar geltenden römischen Landtruppen. Ja, mein Vater hatte recht. Die Meeresgötter haben Karthago verraten und besitzen jetzt neue Günstlinge. Dennoch ist noch nichts verloren. Es gibt noch die Götter der Berge, der Wälder und Steppen. Mit ihrer Hilfe werden wir den Sieg erringen!
Das waren Hannibals Gedanken, während er in Betrachtung des Meeres versunken war.
Die erschöpften Krieger warfen sich am Strand hin und streckten erleichtert die wunden Füße aus. Dumpf brandeten die Wellen gegen die Ufersteine, die manchmal unter dem Wasser verschwanden und dann wieder mit glänzend schwarzem Buckel zum Vorschein kamen. Die Krieger fühlten sich im frischen Seewind wohl. Sie dachten nicht darüber nach, aus welchem Grunde das Meer Karthago verraten hatte.
Der Baleare Tirnes betastete den Ledergürtel, in den er seine Ersparnisse eingenäht hatte - zwanzig Silbermünzen, die wegen des galoppierenden Pferdes, das darin eingeprägt war, Renner genannt wurden. Noch zehn Renner! dachte er, dann kann ich einen Bauernhof erwerben. Es würde auch nicht schaden, ein paar Sklaven zu kaufen. Während sie den Acker pflügen, könnte ich mit meinem Vater auf die Ziegenjagd gehen.
Die Gallier aus Dukarions Abteilung grölten ein Lied. Sie hatten bereits die Keller des naheliegenden Dorfes durchsucht und dort so viel Wein gefunden, wie sie in einem Jahre nicht austrinken konnten.
„Warum soll der Wein umkommen!" lachte Dukarion. „Rollt die Fässer an den Strand. Wir wollen die Pferde in Wein baden."
Der Vorschlag wurde mit Freudengebrüll begrüßt.
Die Afrikaner luden auf Hannibals Befehl die am Trasimenischen See erbeuteten Waffen von den Fuhrwerken. Er musterte sie und stellte fest, daß sie den karthagischen Waffen überlegen waren. Das spitze römische Eisenschwert war wegen seiner Kürze handlicher im Nahkampf. Schade, daß die gefährlichen römischen Wurflanzen nicht gegen die Römer zu gebrauchen waren, denn die lange dünne Lanzenspitze würde sich beim Aufprall auf die Schilde und Rüstungen verbiegen. Der römische Schild war etwas ungefüge, schützte jedoch den ganzen Körper. Er war mit Leinen und Kalbfell bezogen und mit Blechstreifen beschlagen, die die Schwerthiebe abhielten. Gut waren auch die aus Blechbändern bestehenden römischen Rüstungen.
Am Strand wurden die Waffen zu Haufen aufgetürmt. Es waren so viele, daß sie für das ganze Heer ausgereicht hätten. Aber Hannibal ließ nur den Afrikanern, seinen erfahrensten, treuesten Kriegern, einige davon aushändigen. Die übrigen wurden ins Meer geworfen, um sie für den Feind unbrauchbar zu machen.
Dann besichtigte er mit seinem Gefolge die in einer Bucht vor Anker liegenden kleinen Schiffe. Er schritt ein Deck ab, prüfte die Takelage und die Ruder und stieg in den engen Laderaum hinab, der höchstens zehn Faß Süßwasser und zwei Dutzend Ledersäcke mit Mehl faßte. Mit einem dieser Schiffe würde Magon nach Karthago segeln. Er sollte dort und auch in Iberien melden, daß sich Hannibal mit dem Heer am Ufer der Adria befände und Verstärkung brauchte. Denn sonst würde er nicht in der Lage sein, den Römern die entscheidende Niederlage beizubringen.
Ja, sagte sich Hannibal seufzend, ich brauche unbedingt noch mehr numidische Reiter und Pferde. Falls Gula keine mehr hat, wird Syphax sie mir vielleicht zur Verfügung stellen, denn es ist durchaus möglich, daß er nun, nach der Schlacht am Trasimenischen See, seinen Sinn geändert hat und begreift, daß von den Römern nichts mehr zu erwarten ist.
Publius nahm wieder einmal Abschied von Rom. In wenigen Tagen würde er in die Legion des Diktators Fabius eintreten. Das hatte der Vater vor seiner Abreise nach Iberien bestimmt. Aber bis dahin streifte Publius noch durch die Stadt.
Auf einem seiner Streifzüge kam Publius auch ins Theater, wo nach dem Willen des Diktators Wettspiele auf dem Gebiet der Schauspielkunst stattfanden. Es lag am Palatinischen Hügel. Zu dieser Zeit besaß Rom noch kein ständiges Theatergebäude mit Bühne, Orchester und Zuschauerplätzen. Am Fuße des Hügels war nur ein überdachtes Holzpodium errichtet, und auf dem Hang, der sich davor erhob, versammelten sich die Zuschauer - die Senatoren stehend, weil sie ihre schneeweißen Togen nicht beschmutzen wollten, die Plebejer auf Matten sitzend, die sie sich von daheim mitgebracht hatten.
Es wurde das Stück „Achilles" von Livius Andronicus aufgeführt. Es war eine lateinische Übersetzung der „Ilias" von Homer, jenes unsterblichen Versepos über den trojanischen Krieg, der zwischen den Griechen und Trojanern entbrannte, weil der trojanische Prinz Paris die wunderschöne Helena, die Gemahlin des griechischen Königs Menelaos, geraubt hatte. Dieser Krieg dauerte zehn lange Jahre. Er wurde auf beiden Seiten mit Tapferkeit geführt, aber er brachte beiden Völkern Tod und Jammer und endete mit der vollständigen Zerstörung Trojas.
Allerdings war die lateinische Fassung des Werkes so weit vom griechischen Original entfernt wie die Erde vom Himmel. Um den Römern zu schmeicheln, die sich für die Nachkommen der Trojaner hielten, hatte Livius Andronicus im Gegensatz zu Homer den trojanischen Königssohn Hektor mit weit mehr Körperkraft ausgestattet als den griechischen Helden Achilles, und als die beiden ihren berühmten Zweikampf ausfochten, ließ er Achilles - auch im Gegensatz zu Homer - vor Hektor Reißaus nehmen, so daß dieser den edlen Griechen vielleicht sogar umgebracht hätte, wäre nicht eine jugendliche Gestalt vom Holzdach der Bühne herabgeschwebt, die dem trojanischen Helden von oben auf den Kopf schlug. Bei dieser Gestalt handelte es sich um Hera, die Gemahlin des Götterkönigs Zeus, die, wie alle Frauen im römischen Theater, von einem Mann dargestellt wurde. Die Zuschauer bekundeten jedoch keine übermäßig große Achtung vor der Göttin, denn sie bewarfen sie mit den Resten der Äpfel und Fladen, die sie sich vorsorglich mitgebracht hatten, weil die Theatervorstellungen vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang dauerten.
Als Publius hinter sich Stimmen hörte, drehte er sich um. Ein etwa vierzigjähriger Mann kam den Hügel herabgehinkt. Er war schmutzig und offenbar seit Wochen nicht mehr rasiert. Fast konnte man annehmen, daß er in Trauer war, weil sich die Römer dann nicht zu rasieren pflegten, aber er machte ein ausgesprochen fröhliches Gesicht. Als er näher kam, sprangen viele Plebejer von ihren Plätzen und grüßten ihn lärmend.
„Gnaeus Naevius! Sei gegrüßt! Setz dich zu uns!"
„Ich danke euch, Freunde!" Gnaeus Naevius legte die Hand aufs Herz. „Verzeiht mein Aussehen. Aber im Gefängnis erhält man kein Rasiermesser. Als Schreibstift konnte ich meine Phantasie benutzen und als Papyrusrolle mein Gedächtnis. Aber ein Rasiermesser ist unersetzlich."
„Deine Gedichte schneiden schärfer als jedes Rasiermesser!" rief ein Plebejer. „Du hast das hochmütige Patriziergeschlecht der Meteller so scharf mit ihnen rasiert, daß sich kein Meteller mehr in der Volksversammlung zu zeigen wagt!"
Das ist also der gefürchtete Gnaeus Naevius! dachte Publius. Seine beißenden Verse gegen die Meteller sind noch immer in aller Munde. Er blickte zur Bühne hinüber. Dort saß Achilles in seinem Zelt, von düsteren Todesahnungen gequält. Priamos, der greise Trojanerkönig, trat leidgebeugt ein, denn er hatte mitansehen müssen, wie Achilles seinen geliebten Sohn Hektor tötete, den Leichnam an seinen Streitwagen band und ihn dreimal um die Stadt Troja schleifte.
Sieger und Besiegter. Achilles und Priamos. Erbitterte Feinde. Aber beides Sterbliche. Der Greis kniete vor Achilles nieder, küßte dem Manne, der seinen Sohn umgebracht hatte, die Hand, um den Toten von ihm zu erflehen. Achilles stieß ihn nicht zurück. Er umarmte ihn und weinte mit ihm.
Noch in Jahrhunderten werden die Sänger den Sieg über die Feinde rühmen. Aber es gibt etwas Größeres als Heldentaten. Das ist die Menschlichkeit. Sie triumphiert über das Böse, das die Sterblichen einander zufügen, über Feindschaft und Rache, über die Grausamkeit der Götter und sogar über das Schicksal.
Das wurde dem jungen Publius klar, während er den Vorgängen auf der Bühne folgte.
„Verzeih", redete er den Mann an, der sich kurz zuvor neben ihn gesetzt hatte. „Ich hörte, daß du dich Gnaeus Naevius nennst. Würdest du mir deine Meinung über das Stück und die Kunst der Schauspieler sagen?"
„Sie spielen nicht gut!" rief Gnaeus Naevius. „Du hörst, daß dem Darsteller des Achilles die Stimme zittert und glaubst, das geschehe aus Mitleid mit dem unglücklichen Priamos, nicht wahr? Nein, vor Angst zittert ihm die Stimme! Der Sklave, der den Achilles spielt, fürchtet, daß die Zuschauer mit der Vorstellung unzufrieden sein könnten. In diesem Falle würde man ihn nämlich dermaßen verprügeln, daß er eine Woche lang nicht mehr sitzen kann. Die gleiche Angst haben auch die übrigen Schauspieler. Bei einem meiner Theaterstücke äußerten die Zuschauer so laut ihren Unwillen, daß der Aufsichtsbeamte befahl, die Vorstellung abzubrechen. Anschließend rissen die Liktoren den Schauspielern gleich auf der Bühne die Kleider vom Leibe und peitschten sie aus. Dieses Schauspiel gefiel den Zuschauern weit besser als das Stück. Sie gerieten vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen."
„Du hast recht", erwiderte Publius. „Die Vorführung eines Faustkampfes geht den Römern über alles. Aber es ist doch die Aufgabe des Theaters, die Zuschauer zu erziehen. Die Griechen nannten es eine Schule für Erwachsene. Um das römische Volk zu belehren, brauchen wir Tragödien und Komödien, die aus seinem Leben gegriffen sind. Rom muß seine eigenen Dichter haben."
„Rom kann keine eigenen Dichter erwarten, solange es die Wahrheit nicht verträgt. Du kennst vermutlich die Komödien des Griechen Aristophanes. Er schrieb sie zu Lebzeiten des athenischen Politikers Kleon, der beim Volk große Achtung genoß. Bei der Uraufführung der Komödie ,Die Ritter' war Kleon zugegen, und in der Gestalt eines frechen Gerbers, der mit den schlimmsten Schimpfworten belegt wird, erkannte er sich wieder. Ganz Athen lachte über ihn. Doch was machte er mit Aristophanes? Ließ er ihn köpfen? Ins Gefängnis werfen? Nichts von alledem, im Gegenteil, er verlieh ihm einen Lorbeerkranz. Aus diesem Grunde hatte Athen einen Aristophanes und auch Tragödiendichter vom Range eines Euripides. Rom dagegen besitzt nur so einen Nachahmet wie den Livius Andronicus."
„Nein, Rom besitzt auch einen Gnaeus Naevius!" widersprach Publius, „und es liebt seine Gedichte. Jetzt erwartet es von ihm ein Poem über den Krieg gegen Hannibal."
„Über diesen Krieg soll mein Enkel schreiben."
„Dein Enkel?" wiederholte Publius verwundert. „Wie alt ist er denn?"
„Einen Monat. Er kam an dem Tag zur Welt, als ich ins Gefängnis geworfen wurde."
„Aber er weiß dann kaum mehr etwas von Hannibal und von den Schlachten, die er schlug! Auch die römischen Feldherren wird er nur noch vom Hörensagen kennen."
„Das bringt ihm nur Vorteile. Es ist ungefährlicher, über Vergangenes zu schreiben. Und noch besser ist es, die Werke der Griechen zu übersetzen. Allerdings muß man sich dabei vorsehen, daß sich ein römischer Patrizier nicht etwa in der Gestalt des prahlerischen Kriegers, dieser typischen Figur der griechischen Komödie, wiedererkennt. Du rätst mir, über den Krieg gegen Hannibal zu schreiben, aber wie soll ich denn die Konsuln Scipio und Sempronius schildern, die ihre Niederlagen als Siege ausgaben?"
Publius wurde rot.
Gnaeus Naevius nahm sein Schweigen als Zustimmung, er fuhr fort: „Ja, Scipio und Sempronius hätten wenig Freude an so einem Poem, falls ich es schreiben würde. Dagegen würde es Hannibal mehr Vergnügen machen, denn er dürfte darin nicht schlecht wegkommen. Ja, es tut mir doch leid, einen so interessanten literarischen Stoff meinem Enkel zu überlassen. Vielleicht befasse ich mich selber damit. Aber wie soll ich über jemanden schreiben, den ich nicht gesehen habe? Was weiß ich von Hannibal? Daß er geschworen hat, ein ewiger Feind Roms zu sein. Und daß er nur ein Auge besitzt."
„Als wir uns begegneten, hatte er noch zwei Augen", erwiderte Publius. „Aber ich weiß von Hannibal auch nicht mehr als du."
„Du sahst Hannibal?" fragte der Dichter erstaunt.
„Publius Scipio der Jüngere soll sich melden", schrie der Ausrufer.
„Publius Scipio der Jüngere!"
Publius erhob sich.
„Leb wohl, ich werde gerufen."
„Du bist der Sohn des ehemaligen Konsuls?" fragte Gnaeus Naevius verblüfft. „Ach, ich Esel. Nie werde ich es mir abgewöhnen können, mich mit fremden Leuten zu unterhalten."
„Keine Sorge!" lachte Publius. „Mich kann die Wahrheit nicht beleidigen. Ich freue mich, dich kennengelernt zu haben, und ich wäre glücklich, wenn wir uns wiedersehen und unser Gespräch fortsetzen könnten. Leb wohl!"
Fabius schlenderte an den schnurgeraden Reihen der Leinwandzelte vorüber. Er war nun schon seit einem Monat Diktator, und während der ganzen Zeit hatte er keine einzige ruhige Nacht verbracht. Die Diktatorwürde brachte ihm außer Ehre und Ruhm auch Aufregung und Schlaflosigkeit. Durch die Niederlagen hatte Italien das Vertrauen in die eigene Kraft verloren und sein Schicksal ihm, Fabius, in die Hände gelegt. Es erwartete, daß er es von Hannibals Horden befreite, aber was gab es ihm zu diesem Zweck?
Ein paar tausend im Kriegshandwerk notdürftig ausgebildete Bauernjungen, mit denen er die erfahrenen iberischen und afrikanischen Fußtruppen und obendrein die gefährliche numidische Reiterei besiegen sollte. Auf dem Erdwall stand die dunkle Silhouette eines Postens, der sich auf seinen Speer stützte. Bei diesem Anblick mußte Fabius an seine Jugend denken, die er im römischen Feldlager in Sizilien verbracht hatte. Wie einfach war damals alles für ihn gewesen. Wachablösung und anschließend tiefer Schlaf. Jetzt dagegen kannte er keine Ruhe bei Tag und Nacht, als hätte Italien ihn als immer wachen Dauerposten eingesetzt.
Das römische Feldlager lag auf einem Hügel, von dem man einen weiten Blick auf die Ebene, die verschwommenen Umrisse kleiner Wälder und Weingärten hatte. Vielleicht schlief Hannibal zu dieser Stunde auch nicht und war mit den Vorbereitungen eines neuen Überfalls beschäftigt. Hannibal will den Krieg so schnell wie möglich beenden! sagte sich Fabius. Denn jeder Tag seines Aufenthaltes auf fremdem Boden zehrt an seinen Kräften. Er ist ungeduldig, dieser Afrikaner, er hat heißes, südliches Blut. Im Kampf gegen ihn ist Geduld die beste Waffe. In den Zelten schnarchten die Legionäre. Sie waren erschöpft. Fast täglich mußten sie ein neues Feldlager bauen, Gräben ausschachten, den Erdwall mit Rasenstücken bedecken und mit einem Pfahlzaun absichern. Und wenn einmal kein Lager gebaut wurde, fanden sich genügend andere Arbeiten. Dann mußten sie Korn schroten oder mit einem Gemisch von Kreide und Essig ihre Waffen reinigen. In einem Zelt unterhielten sich zwei Legionäre. Fabius lauschte. „Wie lange sollen wir hier noch hocken wie die Glucke auf dem Nest? Es sieht fast so aus, als wollte das Schäfchen uns bloß zuschauen lassen, wie Hannibal Italien verheert."
Schäfchen! Fabius lächelte trübe. Das war in der Schule mein Spitzname. Den kennt man also hier auch schon.
„Was ist von ihm zu erwarten?" antwortete der andere. „Er würde sich am liebsten hinter den sieben Bergen vor Hannibal verkriechen. Der Kommandeur Minucius dagegen, der ist ein wahrhafter Held. Wenn der Diktator wäre, hätte Hannibal schon längst Reißaus genommen." Langsam ging Fabius zum Feldherrnzelt zurück.
Wer sind diese Leute, die so verächtlich über mich reden? fragte er sich. Bauern oder Hirten? Auf jeden Fall stammen sie aus Italien, und Hannibal hat ihnen Heim und Familie geraubt. Nun warten sie auf den Kampf und vergessen dabei das Los, das Flaminius und sein Heer erlitten. Mögen die Götter ihren Irrtum verzeihen! Es ziemt sich nicht, daß ich zu einem Zeitpunkt, da sich das Schicksal des Vaterlandes entscheidet, den Beleidigten spiele. Schon Flaminius wurde von seinem Ehrgeiz ins Verderben geführt. Meinetwegen sollen die Legionäre mich für einen Feigling oder Verräter halten. Das wird mich nicht umstimmen.
Gegen Morgen ging Fabius zur Ruhe, aber sein Schlaf war nur von kurzer Dauer. Ein lauter Wortwechsel vor dem Zelteingang weckte ihn. Jemand wollte ihn unbedingt sprechen; aber der Posten verwehrte ihm den Eintritt.
„Warte draußen!" befahl er. „Der Diktator schläft noch." „Ich habe schon lange gewartet!" widersprach eine unbekannte Stimme. Fabius warf sich die Toga über und trat aus dem Zelt. Ein etwa vierzigjähriger hagerer Mann hinkte auf ihn zu. Er kam Fabius bekannt vor. „Sei gegrüßt!" sprach der Unbekannte. „Ich höre dich!" erwiderte Fabius.
„Ich werde mich kurz fassen. Nimm mich in dein Heer auf."
„Du solltest lieber daheim bleiben. Feldzüge und Schlachten sind nichts mehr für dich."
„Das gleiche erwiderten die Spartaner dem hinkenden athenischen Dichter Tyrtäus", wandte der Unbekannte auf griechisch ein. „Doch dann ..." „Ich weiß, was du sagen willst", fiel Fabius ihm ins Wort. „Doch dann schrieb Tyrtäus seine Kriegsgedichte, die den Kriegern so viel Mut einflößten, daß sie ihre Feinde besiegten. Aber ich brauche deine Gedichte nicht, Gnaeus Naevius. Du bist etwas zu spät gekommen. An Flaminius hättest du dich wenden müssen."
„Brauchen denn deine Krieger in diesen schweren Zeiten keinen Mut?" „Es gibt verschiedene Arten von Mut", antwortete Fabius ausweichend. „Die Dichter besingen nur jene Krieger, die sich in den Kampf stürzen. Ich aber will meinen Legionären beibringen, daß sie sich von jeder Schlacht fernhalten müssen. Nicht umsonst habe ich den Spitznamen Schäfchen. Verstehst du jetzt, daß du hier nicht am rechten Platz bist?"
„Nein, denn erst jetzt begreife ich, daß mein Platz nur an deiner Seite sein kann. Weiß doch der Dichter besser als jeder andere, daß der Mann den meisten Mut braucht, der sich der allgemeinen Meinung entgegenstellt und Spott und Verleumdung über sich ergehen lassen muß. In Rom nennt man dich den Zauderer, aber in Wirklichkeit hast du den Namen Maximus - der Größte - verdient. Und ich bin überzeugt, daß unsere Nachfahren dich auch so nennen werden."
An jenem Tag im Theater war der junge Publius in den Senat gerufen worden. Nein, man schickte ihn nicht ins Heer, wie er angenommen hatte. Er erhielt einen weitaus gefährlicheren und gleichzeitig auch ehrenvolleren Auftrag, den der Senat nur einem entschlossenen, zähen jungen Mann anvertrauen konnte, nicht aber einem hinfälligen, verkalkten Senator. Kurz, Publius sollte dem numidischen König Syphax, der mit den Römern verbündet war, eine Botschaft des Senats überbringen.
Der Grieche Kylon, der als der gerissenste Seefahrer des ganzen Mittelmeeres galt, erhielt den Befehl, den jungen Abgesandten mit dem Schiff nach Numidien zu bringen.
Und wieder wurde Publius vom Meer gewiegt, wieder plätscherten die Wellen gegen die Bordwände des Schiffes, in dem die Rudersklaven in drei Reihen übereinandersaßen. Delphine sprangen aus dem Wasser, schwarzköpfige Möwen schossen blitzschnell über die Wellen dahin. Bei Sonnenuntergang hatte das Schiff den Anker gelichtet, und als der Tag graute, erblickte Publius seitlich eine bewaldete Halbinsel, auf deren Spitze sich ein weißer Säulentempel erhob.
„Das ist Antium!" rief der gesprächige Kylon ihm zu. „Siehst du, dort steht der Tempel des Äskulap, dem ich damals im Auftrage deines Vaters einen silbernen Arm opferte. Der Gott hat deinem Vater auch wirklich die Gesundheit zurückgegeben."
„Du kennst ja alle Gegenden der Erde, Kylon", meinte Publius nicht ohne Spott. „Ich würde mich nicht wundern, wenn ich eines Tages erführe, daß du auch in die Unterwelt hinabgestiegen bist und sie, ähnlich wie der sagenhafte Held Odysseus, lebendig wieder verlassen hast."
„Ich habe überhaupt vieles mit Odysseus gemeinsam", bestätigte Kylon ungerührt. „Beide kamen wir auf einer Insel zur Welt, beide wurden wir von rachsüchtigen Göttern verfolgt, beide waren wir Bettler und von unseren Freunden verlassen." Er überlegte. „Allerdings gibt es zwischen uns doch einen Unterschied", sagte er dann. „Welchen meinst du?" Publius lächelte.
„Auf Odysseus wartete zwanzig Jahre lang seine Gemahlin, die edle Penelope, ich dagegen, den Göttern sei Dank, bin unvermählt. Ein Seemann braucht keine Penelope, er hat schon ohnedies genug am Halse. Er muß aufpassen, daß er nicht gegen ein Felsenriff fährt, nicht in einen Sturm gerät und keinen Piraten begegnet, daß sich keine Ratten im Laderaum und keine Muscheln am Schiffskiel ansiedeln, daß seine Seile nicht verfaulen und seine Segel nicht platzen. Und wenn es ihm gelingt, all das zu vermeiden, kommt ihm ein neues Unglück aufs Haupt. Zum Beispiel wird er nach Rom gerufen und erhält den Befehl: ,Kylon, fahre nach Numidien!' Den Leuten, die ihre Toga nur durch das Stillsitzen verschleißen, macht es ja keine Mühe, so etwas zu befehlen. Aber zur Zeit ist Krieg, und wenn die Karthager erfahren, wen ich an Bord habe, kümmern sie sich nicht darum, daß ich ein friedfertiger Grieche bin, sondern hängen mich da oben auf!" Er zeigte auf den Mast.
„Aber du hast dir deinen gefährlichen Beruf doch selbst gewählt, deshalb solltest du den Senatoren auch keine Vorwürfe machen, daß sie dich mit einem gefährlichen Unternehmen betrauen. Zudem erhältst du zweihundert Goldstücke, falls du mich wohlbehalten nach Rom zurückbringst."
„Was nützen mir die Goldstücke", brummte Kylon. „Aber um eins bitte ich dich: Falls man mich am Mast aufhängt, du aber wohlbehalten nach Rom zurückkehrst, dann, kaufe für die Goldstücke so viel Wein, wie sämtliche Seeleute von Capri austrinken können, während sie vor dem Auslaufen darauf warten, daß das Siebengestirn am Himmel erscheint. Versprichst du mir das?"
„Ja", erwiderte Publius, „aber nur dann, wenn es mir gelingt, die Botschaft des Senats dem König Syphax zu übermitteln." Eine Insel glitt vorbei, die an der Mündung eines kleinen Flusses lag. Sie hieß Astura und war der Erholungsort des römischen Adels. Nach einigen Stunden sah Publius den weißen Gipfel des Vesuvs in der Ferne liegen, von Olivenhainen und Weinbergen umkränzt. Er gehörte zu der fruchtbaren Provinz Kampanien. Rechts von ihm erstreckten sich die Phlegräischen Felder, wo der Sage nach einst die Götter mit den Riesen kämpften. Und den Menschen blieb späterhin nichts anderes übrig, als dem Beispiel der Götter zu folgen und ebenfalls zu kämpfen. Das schöne Land am Vesuv hatte zahllose Eroberungszüge über sich ergehen lassen müssen, und jetzt waren die Karthager offenbar an der Reihe. Vor seiner Abreise aus Rom hatte Publius erfahren, daß Hannibal auf Kampanien zumarschierte. Vielleicht war er jetzt schon in Capua! Und Fabius? Ob er wieder zurückweichen würde? Ob er auch diese Provinz den Karthagern überlassen wollte?
Das Schiff fuhr jetzt durch die Meerenge, die die Halbinsel Salerno von der Insel Capri trennte. Capri war Kylons Heimat. Mit den feurigsten Worten beschrieb er Capris Schönheit, aber sie verblaßten vor den leuchtenden Farben, vor dem Zauber der steinigen und grünen Hügel, die sich gegen den hellblauen Himmel abhoben. Südlich von Salerno wurde das Ufer höher und ging in eine bucklige dunkle Hügelkette über. Hier konnten sie schon auf eine Begegnung mit karthagischen Schiffen gefaßt sein, deshalb fuhren sie nur noch nachts. Tagsüber legte Kylon sein Schiff in einer versteckten Bucht des Westufers von Sizilien vor Anker. Dort betrachtete Publius den malerischen Ätna, der sein stolzes graues Haupt über die grünen Fluren erhob. Wahrscheinlich konnte man vom Gipfel des Ätna bis nach Karthago sehen. Aber außer dem weisen griechischen Philosophen Empedokles hatte es noch niemand gewagt, den Ätna zu erklimmen. Oben angelangt, hatte sich Empedokles in den feurigen Krater gestürzt, um seinen Verfolgern zu entrinnen, und am nächsten Tage, so erzählte man sich, hätte der Ätna dann seine Sandalen wieder ausgespien.
Bei den Aegatischen Inseln wurde das Schiff von einem Wachboot der Karthager gestellt. Kylon befahl, die Segel zu bergen. „Was für Fracht hast du?" fragte der dicke karthagische Kapitän, als die Schiffe Bord an Bord lagen.
„Friede sei mit dir, guter Mann!" gab Kylon zur Antwort. „Ich freue mich aufrichtig, einem Manne wie dir mitten auf dem weiten Meer zu begegnen. Manchmal fährt man eine ganze Woche, ohne ein einziges Segel auszumachen. Mit diesen Barbaren" - er zeigte auf Publius und die neben ihm stehenden Matrosen - „kann man sich doch nicht vernünftig unterhalten."
„Fasel nicht soviel!" bremste der dicke Kapitän Kylons Redestrom. „Sag mir klar und deutlich, woher du kommst, wohin du fährst und was du im Laderaum hast."
„Beim Herakles!" fuhr der schlaue Grieche ungerührt fort. „Seitdem Hannibal und seine Krieger wie Götter von den Alpen herabgestiegen sind, läßt es sich in unserem Neapel leben. Die Römer treiben keine Steuern mehr ein, und ihre Soldaten brauchen wir auch nicht mehr zu verpflegen. Ich besitze am Fuße des Vesuvs mehrere Weinberge und kann mich im Wein geradezu baden. Deshalb bringe ich zwanzig Tonkrüge davon nach Karthago; dort will ich sie verkaufen." „Ist der Wein gut?" Der Karthager wurde freundlicher. Kylon schnalzte mit der Zunge. „Echter Falerner, der köstlichste aller Weine. He, du", befahl er einem Matrosen, „lauf in den Laderaum und bring mir den versiegelten Krug, der dort in der Ecke steht." Der Matrose gehorchte, und Kylon überreichte den Krug dem Karthager.
„Öffne ihn aber erst nach einer Woche!" prägte er ihm ein. „Solange muß der Wein nämlich noch lagern."
„Leb wohl", sagte der Karthager. „Halte dich rechts, sonst fährst du auf ein Riff. Und falls du einem von unseren Schiffen begegnest, dann sage, daß du mit Heskon bekannt bist. Daraufhin wird man dich unkontrolliert weiterfahren lassen."
„Mögen dir die Götter gnädig sein!" erwiderte Kylon und gab das Zeichen zum Segelhissen.
Sie fuhren mit Rückenwind davon, und schon nach kurzer Zeit hatte sich das karthagische Wachboot in einen winzigen Punkt verwandelt. Kylon brach in schallendes Gelächter aus. „Was hast du?" forschte Publius.
„Falerner"! Der Grieche platzte fast vor Lachen. „Der wird staunen, wenn er meinen Falerner kostet."
Cirta, die Hauptstadt des Numidierkönigs Syphax, lag auf einem Hochplateau mit steilen Felsenhängen und war nur im Südwesten über eine schmale Landenge zugänglich. Offenbar fühlte sich die Stadt nicht bedroht, denn auf der Zugangsstraße begegnete Publius keinem einzigen Bewaffneten. Zur Vorsicht hatte er sich von Kylon ein griechisches Gewand geliehen und sah nun wie einer der vielen griechischen Händler aus, die häufig nach Cirta kamen.
Am Stadttor wurde Publius von einem jungen numidischen Krieger angehalten, der sich bis auf einen Schopf am Hinterkopf den Schädel kahlrasiert hatte, wie es hierzulande üblich war. Als er erfuhr, wen er vor sich hatte, führte er Publius höflich in die Stadt. Aus den achtungsvollen Blicken und Verbeugungen der Vorübergehenden schloß Publius, daß sein Begleiter mehr war als ein einfacher Krieger. Nach kurzer Zeit erreichten sie ein großes Gebäude mit flachem Dach, auf dem ein Blumengarten angelegt war. Publius wußte, daß sich die reichen Karthager von ihren Sklaven Erde auf die Dächer bringen und Blumen und Bäume darin einpflanzen ließen. Offenbar ahmte der Numidierkönig Syphax sie nach.
Die Innenausstattung des Hauses bestätigte diese Vermutung. Wände und Fußböden waren nach karthagischer Art mit Teppichen bedeckt. Die wenigen Diener trugen so lange Gewänder, daß der Saum über den Boden schleifte und die Ärmel über die Fingerspitzen reichten. Unwillkürlich dachte Publius an die Sklaven im Hause seines Vaters. Sie trugen eine knapp bis zum Knie reichende Tunika - ein Unterkleid aus weißer Wolle -, die sie beim Arbeiten nicht behinderte.
König Syphax empfing den römischen Abgesandten auf seinem Thron sitzend und in numidische Tracht gekleidet, eine Federkrone auf dem Kopf.
Wortlos überreichte Publius ihm die Schriflrolle mit der Botschaft des Senats. Während Syphax sie umständlich studierte, blieb sein zerfurchtes Gesicht völlig ausdruckslos. Die Beschuldigung der Senatoren, daß er sein Wort gebrochen hätte, schien ihn ebensowenig zu beeindrucken wie ihr Versprechen, ihn mit Reichtümern zu überschütten, falls er ihnen mehrere hundert Berittene zur Verfügung stellte. Als er endlich mit der Lektüre fertig war, warf er die Schriftrolle beiseite, stieg von seinem Thron herab und legte Publius freundlich die Hand auf die Schulter.
„Ich kenne deinen Vater", sagte er. „Er besuchte mich im selben Jahr, als Hamilkar von den Iberern getötet wurde. Zu jener Zeit war dein Vater noch ein junger Mann. Wenn man aber mit ihm sprach, erkannte man, daß er es weit bringen würde. Ich freue mich, daß der Senat dich zu mir sandte. Hat dein Vater noch mehr Söhne?"
„Ich habe einen Bruder, der Lucius heißt", gab Publius sachlich Auskunft. Er ärgerte sich, daß Syphax ihn nach seinem Vater und seinen Verwandten ausfragte, anstatt auf die Bitten des Senats einzugehen. Syphax änderte den Gesprächsgegenstand.
„Es gibt auf der Welt kein Volk, das tückischer wäre als die Karthager", begann er. „Ich würde Tage benötigen, wenn ich alle Kränkungen und Demütigungen aufzählen wollte, die sie mir zufügten. Seitdem sie den Krieg gegen euch begannen, werden sie allerdings freundlicher. Sie haben sogar Gulas Reich meinem Sohn Wermino versprochen." Er wies auf den Jüngling, der Publius zu ihm geführt hatte. „Aber ich weiß, daß sie es in Wirklichkeit Masinissa geben wollen."
„Und wer ist Masinissa?" Publius tat, als hörte er diesen Namen zum erstenmal.
„Die Götter schenkten Gula ein langes Leben, aber nur einen Sohn, der sich obendrein mit seinem Vater überwarf, seinen Palast verließ und sich seitdem im Lande der Schwarzhäutigen umhertreibt. Ich kenne den Wert der karthagischen Versprechungen!" fuhr Syphax zornig fort. „Meine einzige Hoffnung ist, daß ihr Römer es fertigbringt, ihnen den Hals umzudrehen! Dabei will ich euch nach besten Kräften helfen. In genau einer Woche werde ich dir mitteilen können, wie viele Reitet ich euch zur Verfügung stelle. Wir werden uns auch überlegen, wie wir sie mit Schiffen nach Italien schaffen können. In meiner Hauptstadt gibt es keine Truppen. Alle befinden sich an der Grenze zu Gulas Reich."
Die Unterredung war beendet. Wermino führte Publius in ein Haus, wo ihn gutes Essen und ein Nachtlager erwarteten. Schlafen! Zum erstenmal seit Tagen in dem ruhigen Bewußtsein, daß er nicht auf einem karthagischen Schiff als Gefangener erwachen würde. Publius war über das Ergebnis seiner ersten Unterredung mit König Syphax zufrieden. Anscheinend wußte Syphax nichts von Flaminius' Niederlage, oder sie hatte an seinem Vertrauen auf die Macht Roms nichts geändert.
Darüber, daß ausgerechnet Hanno sich erbot, mit Syphax zu verhandeln, wunderte sich nicht nur Magon, der in Hannibals Auftrag nach Karthago gekommen war. Auch viele Stadträte, die zu Hannos Anhängern zählten, konnten nicht begreifen, aus welchem Grunde er zu Syphax reisen und ihn um eine Reitereinheit für Hannibals Heer bitten wollte, obgleich er doch noch vor ganz kurzer Zeit diesem Heer den Untergang und seiner karthagischen Vaterstadt schreckliches Unheil prophezeit hatte! Weshalb wollte er außerdem Magon, den Sohn seines Feindes, in seiner Begleitung haben? Ob die Schlacht am Trasimenischen See auf ihn einen so tiefen Eindruck gemacht hatte? Oder fürchtete er, daß er von dem Beutestrom, der in Kürze aus Italien nach Karthago fließen würde, nichts abbekäme?
Auf jeden Fall reiste Hanno nun zu Syphax. Begleitet wurde er von seiner Tochter Sophonisbe. Fünf Jahre waren seit jenem Tag vergangen, als sie dem jungen Masinissa vor dem Tempel der Tanit begegnete. Vieles war in diesen Jahren geschehen. Das von Hannibal geführte Heer hatte die eisbedeckten Berge überquert und war in Italien eingedrungen. Auf den Ebenen dieses Landes, das den Römern gehörte, hatten Schlachten stattgefunden, die von der ganzen Welt mit angehaltenem Atem beobachtet wurden. Doch von allen Ereignissen war nur ein schwacher Widerhall durch die Steinmauern von Hannos Palast gedrungen. Dadurch, daß Hanno den jungen Masinissa aus dem Haus gejagt hatte, fühlte sich Sophonisbe ihrem Vater entfremdet. Sie hörte kaum mehr zu, wenn er ihr nach alter Gewohnheit weitschweifig seine Pläne auseinandersetzte. Was ging sie Italien an, von dem er so häufig sprach. Ihr Herz weilte nach wie vor im Lande Masinissas. Und gerade in der Zeit, als sie zu der Überzeugung kam, dieses Land für immer verloren zu haben, teilte der Vater ihr mit, daß er mit ihr nach Numidien reisen würde.
Das war also Masinissas Heimat, mit dem kniehohen Gras, den Wildpferden, der bläulichen Gebirgskette am Horizont! Würden die Vögel, die mit ausgebreiteten Flügeln am Himmel schwebten, Sophonisbe ihre Flügel leihen, dann würde sie sicherlich das Zelt finden, in dem Masinissa auf sie wartete, und dann würde sie niemand mehr trennen! An der Grenze zu Syphax' Herrschaftsbereich wurden Hanno und sein Gefolge von Reitern erwartet. An ihrer Spitze befand sich ein stämmiger, breitschultriger Mann - König Syphax. Er starrte Sophonisbe mit entzückten Blicken an, ohne Hanno zuzuhören, der ihn in wohlgesetzten Worten bat, dem karthagischen Staat eine Kavallerieeinheit zur Verfügung zu stellen. Oh, Vater, dachte Sophonisbe entsetzt, siehst du nicht, begreifst du nicht, daß Menschen, die diesen Ausdruck in den Augen haben, dir mehr als eine Kavallerieeinheit zur Verfügung stellen würden, um ihr Ziel zu erreichen?
Hanno zwinkerte ihr lächelnd zu. Hab keine Angst, Töchterchen, sollte das heißen, ich würde dich niemals mit einem Numidier verheiraten. Aber warum soll man ihm das auf die Nase binden, bevor man genügend Nutzen aus seiner Verliebtheit gezogen hat?
Am selben Tage erschien Wermino bei Publius.
„Mein Vater läßt dir bestellen, daß er eure Bitte ablehnen muß", sagte er kurz.
Das kam so überraschend, daß Publius die Kehle zugeschnürt war. „Aber er hat es uns doch schon zugesagt!" stieß er hervor. „Ich muß ihn sofort sprechen!"
„Das ist unmöglich. Und für dich ist es am besten, Cirta auf dem schnellsten Wege zu verlassen, wenn du nicht gefangengenommen werden willst. Wir erhalten in den nächsten Stunden Besuch aus Karthago." Publius begriff, daß jedes weitere Wort nutzlos sein würde. Offenbar hatte Syphax von Flaminius' Niederlage erfahren oder durch andere Umstände seine Meinung geändert. Jedenfalls mußte Publius so schnell wie möglich den Hafen erreichten, wo ihn Kylon mit dem Schiff erwartete. Als er sich ungefähr eine Meile von Cirta entfernt hatte, hörte er in der Ferne Hufgetrappel.
Man verfolgt mich! dachte er. Als aber die Staubwolke, die von den Pferdehufen aufgewirbelt wurde, näher kam, stellte er fest, daß es sich um zwei- bis dreitausend Reiter handeln mußte. Und, so sagte er sich, es ist unwahrscheinlich, daß man so viele Krieger aussendet, um einen einzigen Mann zu fangen. Trotzdem verließ er zur Sicherheit die Landstraße und legte sich in eine Grube. Von hier aus konnte er alles beobachten, ohne gesehen zu werden.
Die Reiter kamen näher. Es waren Numidier, und an ihrer Spitze ritt ein Karthager, der über seiner Rüstung einen roten Umhang trug. Publius kam das Gesicht bekannt vor. War das Hannibal? Genauso hatte er am Ticino ausgesehen, als die Staubwolke verwehte und er den Römern von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Nein, Hannibal konnte sein Heer nicht verlassen. Er befand sich in Italien. Aber wer war dieser Mann, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah? Und auf welche Weise hatte er König Syphax umgestimmt? Und weshalb hatte Syphax sein Versprechen gebrochen? Was war der Grund?