«Der Wind hat noch einen Strich gedreht, Sir!»
Die grobe Stimme des Bootsmanns veranlaßte Bolitho, Dancer mit einem Rippenstoß zu wecken. Verling und Tergorren beugten sich über den Kompaß. Oben am Mast flatterte der zerfetzte Wimpel in der aufkommenden Bö. Der Himmel wurde schon bleicher; mühsam, mit schmerzenden, verkrampften Muskeln rappelte Bolitho sich hoch.
«Auf alle Fälle sind wir klar vom Festland«, lautete Verlings gleichmütiger Kommentar. Schwarz hob sich sein ausge-streckter Arm vom dämmrigen Himmel ab.»Da! Ich sehe Brandung unterhalb der Landspitze!«Der Arm schoß herum.»Midshipmen unter Deck, die Mannschaften wecken! Meine Hochachtung an Major Dewar, und bestellen Sie ihm, wir segeln hart unter der Küste. Ich will keinen Seesoldaten oder Matrosen an Deck sehen, außer auf meinen ausdrücklichen Befehl!»
Eine Talje quietschte, und Bolitho sah, wie eine große Flagge am vordersten Lateiner-Segel hinaufstieg. Bei Tageslicht hätte Bolitho erkennen können, daß sie schwarz war, ebenso wie die, welche auf der Pegaso geweht hatte. Trotz seiner Spannung überfiel ihn ein Frösteln.
«Los, Martyn! Beeil dich!«Er rülpste vor unterdrücktem Brechreiz und bedeckte Mund und Nase mit dem Ärmel, als er in den geräumigen Schiffsraum hinabkletterte. Im düsteren Schein einer einsamen Laterne sahen die zusammen-gepferchten Matrosen und Seesoldaten auch nicht viel anders aus als eine Ladung Sklaven. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter: wenn diese Aktion schiefging, würde es den Überlebenden nicht besser ergehen als den Sklaven, die Kapitän Conway freigelassen hatte. Zwar rekrutierte Rais Haddam, der Korsar, zahlreiche weiße Söldner für seine Schiffe, aber er hielt nicht viel von ihnen. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was man sich von ihm erzählte, war es mehr als wahrscheinlich, daß er sich an den britischen Matrosen, die ihm als Gefangene in die Hände fielen, für die freigelassenen Sklaven schadlos halten würde.
Dewar grunzte, als er die Meldung entgegennahm.»Wird auch Zeit, Mir tun alle Knochen so weh wie einer kranken Kuh.»
Dancer hustete.»Bin ganz schön froh, daß wir an Deck waren, Sir.»
Die Seesoldaten wechselten belustigte Blicke, und Dewar sagte:»Verwöhnte junge Teufel! Mich stört nur die Unbequemlichkeit. Der Gestank ist auch nicht schlimmer als auf einem Schlachtfeld. «Er grinste in Dancers grünlich-bleiches Gesicht.»So nach ein paar Tagen, wenn die Krähen schon fleißig an der Arbeit waren — eh?»
Er erhob sich und stand gebückt unter den Decksbalken.»Marine-Infanterie — Achtung! Sergeant Halse — Waffeninspektion!»
Bolitho stieg an Deck. Zu seiner Überraschung war es bereits so hell, daß er voraus die Küste sehen konnte und den tanzenden Schaum zwischen ein paar bösartigen Klippen.
«Eine Leeküste«, murmelte Dancer.»Wenn der Erste auch nur eine Stunde länger gebraucht hätte, wäre es verdammt schwierig, da klarzukommen.»
«Sir! Da steht einer an der Landspitze!»
Verling hob das Fernrohr ans Auge.»Ja. Aber jetzt ist er wieder außer Sicht. Wahrscheinlich ein Ausguckposten. Er kann zwar nicht auf die Insel hinüber, aber vielleicht hat der Korsar eine Art von Signalsystem eingerichtet«, murmelte er nachdenklich.
Die mächtigen Segel flappten laut im Wind, und die primitive Takelung sah aus, als wolle sie jeden Moment in Stücke gehen. Aber sie mußte wohl doch stärker sein, als es den Anschein hatte. Hoggett gab den Rudergasten eine kurze Anweisung, und Bolitho staunte, wie elegant die Dhau nach Steuerbord abfiel und dicht an den gefährlich nahen Klippen vorbeiglitt — in knappen zwanzig Fuß Abstand. Die Dhau segelte sich tatsächlich gut. Kein Wunder, dachte er mit einem flüchtigen Lächeln; arabische Seeleute fuhren diesen Schiffstyp schon seit Hunderten von Jahren, lange bevor man von solchen Schiffen wie der Gorgon auch nur zu träumen wagte.
«Da ist die Festung«, sagte Pearce und verzog das Gesicht.»Mein Gott, von dieser Seite sieht sie um einiges größer aus!»
Aber noch lag die Dunkelheit wie ein Tuch über ihr; nur der obere Turm und die Zinnen bekamen das erste schwache Licht.
Ein Kanonenschuß — eine Sekunde lang glaubte Bolitho, die Männer in der Festung hätten Kapitän Conways List durchschaut und nähmen die Dhau unter Feuer.
Er duckte sich, als die Kugel hoch oben vorüberrauschte und in einem Fächer aus schäumendem Wasser zwischen den Klippen verschwand.
«Das war die Sandpiper, Sir! Sie hat auf uns gefeuert!«Aufgeregt deutete ein Matrose nach Backbord und stieß dabei Verling beinahe in die Rippen.
Verling setzte das Glas ab und musterte den Mann kalt von oben bis unten.»Danke sehr. Ich habe nicht angenommen, daß es der liebe Gott persönlich war.»
Ein zweiter Schuß krachte, und diesmal schlug die Kugel kurz vor dem Bug der Dhau ein, genau auf Kurs.
Verling lächelte säuerlich.»Lassen Sie etwas abfallen, Mr. Hoggett! Ich weiß, daß Mr. Dallas einen ausgezeichneten Geschützführer auf der Sandpiper hat; aber wir wollen doch lieber nicht zu viel riskieren.»
Der Mann am Ruder hielt etwas schärfer auf die Insel zu, und die Dhau legte sich hart über.
«Das, äh, Heckgeschütz — Feuer frei!»
Verling ging etwas beiseite, als einige Matrosen, die sich an der alten Bronzekanone zu schaffen gemacht hatten, die Lunte in das trichterförmige Zündloch stießen und dann rasch wegsprangen. Das alte Bronzerohr war ziemlich ausgeleiert, aber der Schuß krachte unerwartet laut.
«Das reicht«, sagte Verling.»Beim nächsten Schuß zerplatzt das Ding und fliegt uns um die Ohren, fürchte ich.»
Jetzt er sah Bolitho die Brigg. Hart gebraßt, krängte sie mächtig, und im Frühlicht türmten sich ihre Segel zu einer einzigen bleichen Pyramide auf.
Wieder blitzte ein Geschütz, und Bolitho zuckte zusammen, als die Kugel dicht an ihrer Wasserlinie aufschlug und die Matrosen wie die unters Schanzkleid geduckten Seesoldaten mit Spritzwasser durchweichte.
Ärgerlich sagte Verling:»Mr. Dallas will es zu gut machen. Noch ein paar solche Dinger, und er kann was erleben! Später natürlich — wenn wir zurück sind«, sagte er mit einem leichten Lächeln zum Bootsmann.
Dancer spähte übers Schanzkleid und raunte Bolitho zu:»Der Erste hat Angst. Ich habe noch nie erlebt, daß er einen Scherz macht.»
«Horcht mal!«Verling hob die Hand.»Eine Trompete! Jetzt haben wir sie endlich wachgekriegt. «Er wurde ernst.»Teilen Sie die Leute ein, Mr. Tergorren. Sie wissen ja Bescheid. Weiter östlich ist so eine Art Mole, direkt unterhalb der Festung. Da sollen die Händler ihre Sklaven ausladen, heißt es, und von dort werden sie mit Booten auf die seegehenden Schiffe gebracht.»
Er legte seinen Hut aufs Deck und musterte die Umstehenden mit raschen Blicken.
«Legt alles ab, was nach Uniform aussieht, und laßt euch überhaupt so wenig wie möglich sehen. Befehl an die Marine-Infanterie: Unten bleiben und Angriffssignal abwarten ganz egal, was passiert!»
Die Brigg holte schnell auf; mehrere ihrer agilen Sechspfünder feuerten, und hier und da spritzte eine Kugel gefährlich dicht bei der Dhau ins Wasser.
Jetzt erschütterte ein mächtiges Krachen die Luft, und Sekunden später sah Bolitho, wie eine Fontäne dicht am Bugspriet der Sandpiper zum Himmel aufschoß.
Die Segel der Brigg flappten, als Leutnant Dallas noch dichter heranging und dabei die Flagge an der Gaffel hissen ließ, um den Feind noch mehr zu reizen.
Sofort blitzte es an mehreren Stellen hinter der Brustwehr der alten Festung auf. Aber die Schüsse waren ungenau; die spritzenden Einschläge, ebenso heftig wie der erste, lagen weit ab von der Brigg.
Wahrscheinlich, dachte Bolitho, waren die Geschütz-bedienungen noch halb im Schlaf, oder sie konnten nicht glauben, daß sich so ein zierliches Schiffchen, das außerdem erst vor wenigen Tagen im Bereich eben dieser Kanonen geentert worden war, noch näher herantrauen würde.
Er biß sich auf die Lippen, als eine schwere Kugel genau zwischen den beiden Masten der Brigg hindurchflog. Es war ein Wunder, daß kein Mast getroffen wurde, jedoch mehrere Enden gerissener Takelung wehten im Wind wie Lianen im Urwald. Dicht an seinem Ohr vernahm er Verlings Stimme:»Glotzen Sie nicht dauernd auf die Sandpiper! Richten Sie Ihre Augen und Ihre Gedanken nach vorn! Vielleicht irren wir uns mit der Einfahrt. Vielleicht ist Mr. Starkies Gedächtnis doch nicht so zuverlässig.»
Bolitho warf einen verstohlenen Blick auf Verling. Jetzt, da der Leutnant seinen Hut nicht aufhatte, der normalerweise als Gegengewicht zu seiner Nase wirkte, glich diese mehr denn je einem Geierschnabel. Und noch etwas fiel ihm auf: Verlings Gesicht trug den Ausdruck äußerster Konzentration und Entschlossenheit aber es war auch das Gesicht eines Mannes, dem jetzt alles gleichgültig geworden war.
Bolitho blickte weg. Er hatte diesen Ausdruck schon einmal gesehen auf dem Gesicht eines Straßenräubers, der auf dem Schinderkarren zum Galgen gefahren wurde.
Behutsam tastete sich das Sonnenlicht über das Land und spielte auf den Festungsmauern. Hinter den verwitterten Zinnen sah man ein paar spähende Köpfe, und dann erblickte Bolitho am Fuß der entfernteren Mauer so etwas wie einen Flaggenmast.
Verling hatte ihn bereits gesehen.»Die Einfahrt. «Er drehte sich zu Hoggett um.»Das da drinnen muß ein Mast sein. Da liegt schon ein Schiff. Auch eine Dhau, höchst-wahrscheinlich. «Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von seinem hageren Gesicht.»Halten Sie darauf zu.»
Tergorren eilte nach achtern; nur unter Schwierigkeiten konnte er seinen massigen Körper hinter einem Haufen Reservesegel und Fischereigerät verbergen, die überall auf dem schmutzigen Deck herumlagen.
«Alles klar, Sir.»
Bolitho blickte ihn fest an; Tergorren zuckte mit keiner Wimper.
Trotz? Mißachtung? Es war schwer, im Antlitz dieses Mannes eine Gemütsbewegung zu entziffern. Sogar seine gesunde Gesichtsfarbe kehrte langsam wieder, und Bolitho fragte sich, was wohl passieren würde, wenn Tergorren vor dem Angriff Zeit fand, etwas zu trinken.
«Die Sandpiper geht über Stag, Sir. Anscheinend will sie nochmals feuern.»
Bolitho hielt den Atem an, als zwei Kugeln zu beiden Seiten des schlanken Rumpfes der Brigg einschlugen, während sie mit gefierten Rahen durch den Wind ging, um die Dhau abzufangen. Die Geschütze auf den Mauern erglänzten im ersten Sonnenschein, und Bolitho stellte sich vor, wie die Festungsbesatzung sich über die Brigg lustig machte. Sie mochte ja ein kleines Schiff sein, aber jetzt, der Gewalt der Piraten entrissen, war sie eine schwer zu schluckende Herausforderung. Und außerdem war sie trotz allem ein Symbol für die Macht der größten Flotte der Welt. Doch der starken Festungsartillerie gegenüber war sie so hilflos wie ein lahmes Pferd.
«Männer auf dem Landungssteg, Sir«, meldete Pearce, der im Bug neben einem Drehgeschütz kniete.»Sie beobachten uns.»
Hoggetts verwittertes Gesicht wurde auf einmal ganz hart. Die nächsten Minuten waren entscheidend. Merkten die Piraten, was gespielt wurde, so hatte man sehr bald das Artilleriefeuer der Festung um die Ohren. Und ein paar Sekunden später lag die Insel zwischen ihnen und dem offenen Meer, dann konnten sie nicht mehr weg. Laut rumpelten ihm die Eingeweide im Leib, und er warf Dancer einen raschen Blick zu. Sein Freund atmete sehr heftig und fuhr erschrocken auf, als Bolitho ihn bei der Schulter faßte und an Deck niederzog.
Bolitho versuchte zu lächeln.»Wenn die dein blondes Haar sehen, dann wissen sie, daß wir wahrscheinlich nicht als Freunde kommen!»
Er wandte sich um, als Verling knurrte:»Gut, daß Sie das sagen. Daran hätte ich selbst denken sollen. «Aber dann blickte er wieder voraus; seine Gedanken waren schon viel weiter als die Dhau.
Wieder donnerten die Geschütze, aber es klang gedämpfter, denn die Brigg war jetzt durch einen Vorsprung der Festungsmauern verdeckt.
Näher, immer näher. Über der Stelle, wo Bolitho lag, tauchte die Turmspitze auf, und er versuchte mühsam, sich die trockenen Lippen zu lecken. Kannte der Feind die Dhau? War sie schon einmal hiergewesen?
Er blickte Verling an, der mit untergeschlagenen Armen neben den beiden Rudergängern stand. Einer von diesen war ein Neger; es gab mehrere Neger unter den Matrosen der Gorgon. Dadurch würde die kleine Gruppe echter wirken, dachte Bolitho; und Verling — jeder Zoll ein Sklaventreiber, das konnte man wahrhaftig sagen.»Laß fallen Großsegel!«kommandierte er.
Die Masse von geflickter Leinwand und Lederschlingen rauschte zu Boden und versank im Schiffsraum, und auf einmal lag das Deck in der hellen Sonne.
Am Kopf der Mole standen ein Dutzend Männer oder noch mehr. Regungslos sahen sie zu, wie die Dhau den brüchigen Steindamm umrundete. Jenseits der Mole befand sich ein hoher, grottenartiger Felseinschnitt, direkt unterhalb der Festungs-mauer. Dort lagen mehrere Schiffe vor Anker; und das größte, eine der ihrigen sehr ähnliche Dhau, lag noch außerhalb, denn ihre Masten waren zu hoch für die Einfahrt gewesen.
Dreißig Fuß. Noch zwanzig. Dann stieß einer der Männer auf der Mole einen Ruf aus, ein anderer kam die Stufen hinuntergerannt und spähte mißtrauisch in das Innere der Dhau.
Gepreßt rief Verling:»Anlegen! Sie haben uns erkannt!«Damit riß er seinen Degen aus der Scheide und sprang mit seinen langen Beinen vom Heckaufbau hinunter auf die Mole, noch ehe Hoggett und seine Leute das lange Ruder herumdrücken konnten.
Jetzt schien alles auf einmal zu geschehen. An Bug und Schanzkleid flogen die Persennige von den Drehgeschützen, und eine Salve fuhr krachend in die Gruppe auf der Mole. Die vordersten fielen, wanden sich schreiend unter einem Hagel von gehacktem Blei, und die weiter hinten Stehenden wurden vom Heckgeschütz reihenweise niedergemäht.
Bolitho merkte plötzlich, daß seine Beine ihn hinter dem Leutnant her auf die Mole getragen hatten, obwohl er sich nicht erinnern konnte, daß und wie er über das Schanzkleid gesprungen war. Matrosen quollen aus allen Luken, sprangen mit wildem Hurrageschrei von Bord und stürmten auf die Hafeneinfahrt zu. Musketenfeuer empfing sie von der Mauer her, und einige fielen bereits, ehe sie zwanzig Meter zurückgelegt hatten.
Aber das Überraschungsmoment tat seine Wirkung. Vielleicht waren die Insassen der Festung auch sorglos und träge geworden. Zu oft hatten sie wahrscheinlich mit angesehen, wie verängstigte, verprügelte Sklaven über diese Mole getrieben wurden. Auf viele von ihnen wirkte die wilde Attacke der Matrosen, das tödliche Blitzen der Entersäbel und — beile so lähmend, daß sie sich von den Männern der Gorgon ohne Widerstand niedermachen ließen.
«Mir nach, Leute!«brüllte Verling — seine mächtige Stimme brauchte kein Sprachrohr.»Auf sie!»
Sie stürmten unter dem Bogengang hindurch und an einigen kleineren Booten vorbei; von der Festung her kam Musketenfeuer die Besatzung schien jetzt begriffen zu haben, was vorging.
Keuchend, fluchend, atemlos fanden sich die attackierenden Seeleute schließlich zwischen zwei Wänden eingezwängt und kamen nicht mehr voran, weil sich ihnen von den oberen Mauern mehr und mehr Verteidiger entgegenwarfen.
Bolitho kämpfte Degen an Degen mit einem wüsten Riesen, der bei jedem wilden Hieb seiner schweren Klinge aus vollem Hals schrie und fluchte. Etwas glitt an seinen Rippen entlang, und er hörte einen Matrosen, es war Fairweather, hinter sich keuchen:»Nimm das, du Hund!«Was ihn berührt hatte, war Fairweathers Pike gewesen, die dem Matrosen fast aus den Händen gerissen wurde, als der Korsar mit einem lauten Schrei über die Treppenbalustrade in die Tiefe stürzte.
Aber rechts und links fielen Matrosen im Kampf. Bolitho spürte, wie seine Schuhe an hingestreckte Arme und Beine stießen, als er sich Schulter an Schulter mit Dancer und Hoggett weiter vorkämpfte. Schon waren Entersäbel und Degen schwer wie Blei in ihren Fäusten. Ein Mann sank seitwärts nieder und geriet unter die Füße der Kämpfenden. Bolitho konnte nur einen Blick auf ihn werfen: es war Midshipman Pearce. Blut rann aus seinem Mund; die Augen waren schon starr und sahen nichts mehr.
Schluchzend, vom Schweiß halb geblendet, hieb Bolitho seinen Degen einem Mann an den Kopf, der einem verwundeten Matrosen den Todesstoß versetzen wollte. Der Mann taumelte zur Seite; Bolitho bekam festen Stand und jagte seine Klinge in die Achselhöhle des Piraten.
«Durchhalten, Leute!«schrie Verling. Er blutete an Hals und Brust und wurde durch eine Meute kreischender, säbelschwingender Piraten fast von der Hauptmasse seiner Truppe abgedrängt.
Bolitho hörte Dancer schreien und drehte sich um. Dancer war in einer Blutlache ausgeglitten und hatte seinen Entersäbel verloren, der klirrend außer Reichweite rutschte. Er wälzte sich herum und starrte mit schreckgeweiteten Augen auf einen Kerl in flatterndem, weißem Gewand, der sich mit erhobenem Scimitar auf ihn stürzte.
Bolitho mußte erst einen Angreifer niederhauen, ehe er an Dancer herankam. Da wurde er zurückgestoßen: Tergorren brach wie ein Stier durch die Menschenmasse und hieb dem Piraten seinen Säbel quer übers Gesicht, das sich vom Ohr bis zum Kinn spaltete.
Und dann übertönte ein Trompetensignal den Kampfeslärm, und Bolitho vernahm die wohlbekannte, mächtige Stimme von Major Dewar, der kommandierte:»Marine-Infanterie zur Attacke, marsch!»
Bolitho zerrte seinen Freund aus dem Getümmel heraus; sein ganzes Inneres zog sich bei so viel Wut und Haß und Kampfgetöse zusammen.
Verlings kühner Angriff hatte einen ganz bestimmten Zweck gehabt: die Hauptmasse der Piraten sollte aus der Festung herauskommen, um die Einfahrt vor der anstürmenden Mannschaft der Dhau zu verteidigen. Was die im Bauch des Schiffes versteckten Seesoldaten empfunden haben mußten, als sie hörten, wie ihre Tischgenossen und Freunde dort oben zusammengeschlagen wurden, während sie selbst auf das Signal zum Vorgehen warteten — das konnte sich Bolitho kaum ausmalen.
Aber jetzt kamen sie. Ihre roten Uniformröcke mit dem weißen Lederzeug glänzten in der Sonne; Verling schwenkte den Degen, um seine Leute von der Treppe zurückzurufen, und Major Dewar brüllte:»Erstes Glied — Feuer!»
Die Musketensalve fegte durch die dichtgedrängten Piraten auf den Stufen; und als die Seesoldaten ihre Gewehre neu luden und die Ladestöcke in einem einzigen Doppeltakt hinab- und wieder hinauffuhren, trat das nächste Glied durch die Lücken, kniete nieder, zielte und feuerte.
Das war mehr als genug. Kopflos flohen die Verteidiger durch den Eingang ins Innere.
Dewar hob den Degen.»Bajonett pflanzt auf! Marine-Infanterie zur Attacke, marsch — marsch!«Und die Männer vergaßen alle Disziplin und rasten brüllend auf den Eingang zu.
«Hurra! Hurra!«Atemlos, blutend, senkten die Matrosen ihre Waffen und ließen die Seesoldaten vorbeistürmen.
Dancer sagte:»Wir wollen George beiseite schaffen. «Gemeinsam zerrten sie Pearces hingestreckten Leichnam in den Schatten der Mauer. Blicklos waren seine offenen Augen in den Himmel gerichtet; die schreckliche Starre des Todes lag bereits wie Eis über seinem Antlitz.
Hoggett brüllte:»Hier durch, Sir!«Er deutete auf ein großes, eisenbeschlagenes Tor.»Alles voller Sklaven!»
Noch zitternd stand Bolitho auf und faßte seinen krummen Entersäbel fester. Tergorren blickte zu ihm hinüber und fragte kurz:»Sind Sie in Ordnung?»
«Aye, Sir«, antwortete Bolitho mit unsicherer Stimme.
«Schön«, nickte Tergorren,»nehmen Sie ein paar Mann und folgen Sie den Seesoldaten. . «Er brach ab. Ein Ton wie ferner Donner rollte über die Bucht auf das Festland zu. Dann — Krachen von berstendem Eisen und fallenden Steinen.
Verling wickelte einen Fetzen Tuch um sein blutendes Handgelenk und zog den Knoten mit den Zähnen fest.»Die Gorgon ist da«, sagte er, mehr nicht.
Eine Breitseite nach der anderen feuerte das Linienschiff in die Festungsmauern. Die Verteidiger merkten wenig von diesem Bombardement; aber sie wurden in der Festung von den brüllenden Seesoldaten zusammengehauen, und draußen warteten zwei intakte Kriegsschiffe — das reichte ihnen.
Oben auf den Stufen erschien Major Dewar. Sein Hut war weg, und er hatte einen tiefen Hieb über dem einen Auge. Aber er meldete freudig grinsend, die Verteidigung sei zusammengebrochen.
Zum Beweis seiner Worte sank die schwarze Fahne flatternd am Turm herab wie eine sterbende Krähe, und unter wildem Hurrageschrei stieg dafür ein Schiffswimpel der Gorgon auf.
Noch halb von Sinnen nach dem wilden Kampf, stiegen sie die Stufen zur hohen Brustwehr empor, wo sich die unbemannten Kanonen ohnmächtig und ziellos auf das blaue Wasser richteten. Überall lagen Tote und Sterbende, aber es war auch mancher Rotrock dabei.
Bolitho und Dancer standen an der Mauer und blickten auf die Schiffe hinunter. Die Kontur der kleineren Brigg verschwamm bereits im Frühdunst, aber die Gorgon stand klar und prachtvoll vor dem blauen Himmel und näherte sich gravitätisch der Insel; die erschöpften Toppgasten refften die Segel, aber sie fanden Zeit, ihren Kameraden auf der Mauer zuzuwinken und Hurra zu rufen, wenn ihre Stimmen auch nicht zu hören waren.
Es war sehr still, und Bolitho sah, daß Dancer weinte — die Tränen suchten sich ihren Weg durch Schweiß und Schmutz auf seinen Wangen.
«Ist ja alles gut, Martyn«, sagte er.
«Ich denke an George Pearce«, entgegnete Dancer,»ebenso hätte es mich erwischen können. Oder dich.»
Bolitho wandte sich ab. Der mächtige Anker der Gorgon fiel eben klatschend in das spiegelglatte Wasser.
«Ich weiß«, sagte er leise,»aber wir leben noch, und dafür müssen wir dankbar sein.»
Verlings Schatten vereinte sich mit dem ihren.»Verdammt faule Bande!«Er sah in die Gesichter der beiden.»Denkt ihr, ich kann alles allein machen?«Mit einem müden Lächeln blickte er an ihnen vorbei auf das Schiff.»Aber ich weiß schon, wie euch zumute ist. «Wie ein Schatten fiel der angespannte Ausdruck von seinen scharfen Zügen ab.»Hätte selbst nicht gedacht, daß ich die alte Dame noch einmal wiedersehen würde.»
Unvermittelt wandte er sich ab; und schon brüllte er seine Befehle in die Gegend. Nachdenklich blickte Bolitho ihm nach.»Da kannst du's mal wieder sehen. Man kennt einen Menschen doch niemals ganz genau.»
Sie stießen sich von der Mauer ab. Müde, aber gehorsam sammelten sich Matrosen und Seesoldaten unter der Flagge.
Als Verling die Männer anredete, klang seine Stimme nicht anders als sonst.
«Bringt euch in Ordnung. Und merkt euch eins, aber merkt es euch gut: Ihr seid von der Gorgon. Das ist eine Verpflichtung, für deren Erfüllung ihr lebt, was schwer ist. «Ein ganz kurzer Blick auf Bolitho.»Oft genug passiert es, daß man sogar dafür stirbt. Jetzt legt die Gefangenen in Eisen und kümmert euch um unsere Verwundeten. Und anschließend. . «Er schaute zu der ruhig wehenden Flagge auf und über sie hinaus in den blauen Himmel, schien sich zu wundern, daß er beides noch sehen konnte. .,»werden wir uns denen widmen, die nicht so viel Glück hatten wie wir.»
Gegen Abend waren die meisten Verwundeten auf die vor Anker liegende Gorgon überführt. Die Gefallenen waren an der Mauer begraben; und Bolitho hatte gehört, wie ein alter Seemann, auf seinen Spaten gelehnt, sagte:»Um diesen Ort wird noch oft und oft gekämpft werden, schätze ich — deshalb werden die armen Kerls nächstes Mal von hier die beste Aussicht haben.»
Abendliche Schatten verdeckten die Spuren, welche die Kanonenkugeln der Gorgon gerissen hatten. Bolitho und Dancer standen Seite an Seite an der Backbordreling und blickten in die letzten Sonnenstrahlen, die um die tief hängende Flagge über der Mauerkrone spielten. Man hatte überall sorgfältig gesucht, aber keine Spur von Rais Haddam gefunden. Vielleicht hatte er entkommen können, oder er war überhaupt nicht in der Festung gewesen. Die gefangenen Piraten wollten über ihn nichts aussagen, und schon gar nichts über seinen Aufenthalt. Sie hatten mehr Angst vor Haddam als vor den Siegern. Von denen konnte ihnen nichts Schlimmeres passieren, als daß sie gehängt wurden.
Das alles muß Kapitän Conway nun auseinandersortieren, dachte Bolitho, und vor Müdigkeit fielen ihm die Augen zu. Die Sklaven mußten aufs Festland gebracht werden. So viele Dinge. .
Hinter sich hörten sie Schritte; sie wandten sich um und rissen sich zusammen, denn es war der Kapitän, der bei ihnen stehenblieb und zum Sprechen ansetzte. Er war untadelig gekleidet. Als ob nichts gewesen, als ob kein Mann gefallen wäre.
Unbewegt sah er sie an:»Der Erste Leutnant hat mir berichtet, daß Sie sich sehr gut gehalten haben. Freut mich zu hören. «Sein Blick schweifte ein wenig ab.»Er hat mir berichtet, daß besonders Sie, Mr. Bolitho, beim Kampf die besten Eigenschaften eines Offiziers der Königlichen Flotte an den Tag gelegt haben. Ich werde dem Admiral entsprechend berichten.»
Er nickte kurz und schritt nach achtern.
Dancer drehte sich um, aber sein Lächeln schwand, als er sah, daß Bolitho sich über die Reling beugte und daß seine Schultern krampfhaft zuckten.
Aber Bolitho weinte nicht etwa er konnte nur sein Lachen nicht unterdrücken. Beruhigend legte er Dancer die Hand auf den Arm. Zwischendurch gelang es ihm, Dancer zu erklären, warum er so lachen mußte.
«Es hat sich was geändert, Martyn. Jetzt weiß der Kapitän endlich, wie ich heiße!«