IV» Klar Schiff zum Gefecht!»

Die Offiziersmesse der Gorgon, direkt unter der großen Kapitänskajüte gelegen, war voller Menschen, vom Schott bis zu den Heckfenstern. Um sie herum lagen die kleinen, weißgestrichenen Offizierskajüten. Die Messe diente als Gemeinschafts- und Speiseraum für die Leutnants, den Steuermann, die Offiziere der Marine-Infanterie, und den Schiffsarzt Laidlaw.

Aber jetzt, im roten Schein der untergehenden Sonne, der durch die Heckfenster einfiel und von den kreisenden Deckenlampen verstärkt wurde, bevölkerte so ziemlich alles die Offiziersmesse, was einen höheren Rang als den eines Maats innehatte, mit Ausnahme derjenigen, die gerade Schiffsdienst taten.

Bolitho und Dancer hatten an einem offenen Fenster an der Backbordseite Platz gefunden und spähten hoffnungsvoll nach einer Erfrischung aus. Aber wenn auch die Offiziersmesse ihren Raum für Dienstbesprechungen zur Verfügung stellen mußte, war sie jedoch anscheinend nicht geneigt, ihre ungebetenen Gäste auch noch zu bewirten.

Den ganzen Tag lang, während die Gorgon und ihr kleines Begleitschiff unter halb gerefften Segeln geistergleich dahinschlichen, hatten Bolitho und Dancer gegrübelt und spekuliert, wie es weitergehen würde, und was sie wohl dabei für eine Rolle zugeteilt bekämen. Endlich holte ein Boot sie ab und brachte sie auf die Gorgon zurück. Thorne, der Bootsmannsmaat, bemerkte dazu mit gerade soviel Ironie, wie er glaubte, riskieren zu können:»Ich hoffe, ich kann zur Not allein fertig werden, bis die jungen Herren zurückkommen, Sir. «Er hatte zehn Dienstjahre bei der Kriegsmarine hinter sich.

Nun beobachteten Bolitho, Dancer und die anderen Midshipmen, von den Leutnants und den Offizieren der Marine-Infanterie vornehm übersehen, die Tür beim Besanmast, der die Offiziersmesse vom Fußboden bis zur Decke durchlief. Es war wie im Theater, wenn man auf das Erscheinen des Hauptdarstellers wartet; oder bei Gericht auf Seine Lordschaft den Richter, welcher die Verhandlung eröffnen wird.

Bolitho sah sich, nicht zum erstenmal, in der Messe um. So sehr sie sich von der geräumigen Kapitänskajüte unterschied, war sie doch immer noch ein Palast gegen das Midshipmen-Logis und die Batterie. Selbst die winzigen Türen der Offizierskammern, hinter denen nur für eine Koje und ein Spind Raum war, ließen an etwas Persönliches und an eine Art Privatleben denken. Ein richtiger Tisch, und, hier und da zwischen den stehenden Männern, ein paar gute Stühle — das war schon etwas anderes als die aufgereihten schwarzen Seekisten an der ewig tropfenden Rumpfbeplankung des Orlopdecks.

Er wandte sich um und lehnte sich aus dem geöffneten Fenster. Blutrot in der Abendsonne, flog die Gischt vom Ruder ab; und am Horizont zog die Sonne einen breiten Streifen aus Millionen tanzender, blitzender Spiegel. Es war schwer, dabei an Mord und Gefahren zu denken, an den Erschlagenen in der Barkentine, die jetzt im Lee der Gorgon segelte.

Noch zwei Jahre, dachte Bolitho, dann stand auch ihm ein Anteil an einer Offiziersmesse wie dieser zu. Eine Sprosse die Leiter weiter hinauf.

Plötzlich sagte Dancer:»Sie kommen!«, und man hörte am Scharren der Füße, daß alle Haltung einnahmen.

Verling erschien als erster; er hielt die Tür auf, so daß Kapitän Conway eintreten konnte, ohne die gekreuzten Hände vom Rücken nehmen zu müssen.

Conway trat zum Tisch und sagte:»Die Herren können sich setzen, wenn sie wünschen.»

Fasziniert beobachtete Bolitho den Kapitän. Obwohl ihn die Leutnants, Deckoffiziere und Midshipmen eng umstanden, gelang es ihm doch, den Eindruck einer gewissen Distanz hervorzurufen. Er trug einen tadellos gebügelten, blauen Rock mit Goldknöpfen und weißen Aufschlägen, so neu, als käme er frisch vom besten Schneider Londons. Seine Kniehose und die Strümpfe sahen ebenso aus, und sein Haar war im Nacken mit einem ganz neuen Band zusammengebunden. Die Midshipmen pflegten solche Bänder für besondere Gelegenheiten aufzuheben. Bolitho zum Beispiel hatte sein langes schwarzes Haar in Kragenhöhe mit einem Ende Angelschnur gebunden.

«Achtung!«kündigte Verling kurz an.»Der Kapitän wünscht, Ihnen eine Eröffnung zu machen.»

Die ganze Messe schien den Atem anzuhalten; deutlich hörte man von draußen das Sausen der See und des Windes, das unregelmäßige Knarren des Ruders tief unten vor den Heckfenstern. Und Bolitho wurde sich mit Erstaunen darüber klar, daß sie viertausend Meilen weit gesegelt waren, ohne wirklich zu wissen, warum.

Gemessen sprach der Kapitän:»Ich habe Sie alle hierhergerufen, um Zeit zu sparen. Wenn ich zu Ende bin, werden Sie in Ihre Divisionen gehen und nach eigenem Ermessen den Leuten klarmachen, was wir vorhaben. Das ist meines Erachtens weit besser als alle schönen Reden vom Achterdeck hinunter. «Er räusperte sich und blickte in die erwartungsvollen Gesichter.»Ich habe Befehl, das Schiff an die Westküste Afrikas zu bringen und dort Patrouille zu fahren. Falls es im Verlauf des Auftrags wichtig oder wünschenswert erscheint, kommt auch der Einsatz von Matrosen und Marine-Infanterie bei einem Landeunternehmen in Frage. Seit ein paar Jahren bedrohen Piraten in wachsendem Maße diese Küste, und manches Schiff ist beschossen worden oder ganz verschwunden.»

Er sprach ohne jede Erregung, und Bolitho war es unbegreiflich, wie solche äußere Ruhe überhaupt möglich war. Da hatte dieser Mann eine Reise von mehreren tausend Meilen hinter sich und noch viele Meilen vor sich und trug dabei die Verantwortung für die Gesundheit und Führung einer ungeübten Mannschaft, wobei es außerdem vollkommen ungewiß war, was er am Ziel der Reise finden würde. Ein Schiff zu kommandieren war wohl doch nicht so einfach, wie er es sich vorstellte.

Conway fuhr fort:»Nach den Berichten, die der Admiralität vorliegen, hat sich eine Piratenbande an der Küste von Senegal festgesetzt. «Sekundenlang hafteten seine Augen auf dem unruhigen Haufen der Midshipmen.»Welche Küste jetzt nicht ganz dreißig Meilen voraus in Lee liegt, wie mir Mr. Turnbull versichert.»

Der rotgesichtige Segelmeister lächelte grimmig und nickte.»Beinahe könnte man hinspucken, Sir.»

«Gewiß. «Der kurze Anflug von Humor war schon wieder vorbei.»Es ist meine Pflicht, diesen Schlupfwinkel zu entdecken; und ich beabsichtige, ihn zu zerstören und alle zu bestrafen, die für diese Verbrechen verantwortlich sind.»

Trotz der stickigen Hitze in der Messe erschauerte Bolitho — er erinnerte sich an die verwitterten Leichname einiger Seeräuber, die vor seiner Heimatstadt Falmouth in Ketten am Galgen baumelten.

«Natürlich«, sprach der Kapitän mit einem Anflug von Sarkasmus weiter,»haben Ihre Lordschaften in ihrer erhabenen Weisheit für diese Aufgabe einen Vierundsiebziger gewählt«- der Steuermann und ein paar von den Älteren nickten grinsend zu diesen Worten — ,»ein Schiff, das zuviel Tiefgang hat, um dicht unter der Küste operieren zu können, und das zu langsam ist, um ein Piratenschiff auf hoher See fangen zu können! Immerhin haben wir jetzt die Barkentine. Mr. Tergorren hat sie inzwischen so weit in Ordnung gebracht, daß sie im Dienst des Königs zu verwenden ist.»

Mehrere Köpfe drehten sich nach dem massigen Leutnant um, und Conway fuhr fort:»Er hat mir berichtet, was er über das Schicksal dieses Schiffes festgestellt hat, und daß die Angreifer möglicherweise wegen des Auftauchens eines weiteren Schiffes geflohen sind. Da sich das vermutlich gestern abgespielt hat, können es durchaus unsere Bramsegel gewesen sein, die der Pirat gesichtet hat. Wenn es um diese Zeit war, und wenn man Wind und Strömung in Betracht zieht, kann die Athen durchaus so im Dunst gestanden haben, daß wir sie nicht stehen konnten, während wir selbst gegen die untergehende Sonne standen, so wie es jetzt wieder der Fall ist.»

Er zuckte die Achseln, als habe er genug von diesen Spekulationen.

«Sei dem, wie ihm wolle — sie haben ein friedliches Kauffahrteischiff beraubt und zweifellos die Mannschaft vor die Haie geworfen oder durch Drohungen gezwungen, sich ihnen anzuschließen, so daß diese Männer zusammen mit ihren Überwältigern hängen werden, wenn wir sie kriegen — und kriegen müssen wir sie!»

Verling merkte, daß der Kapitän Schluß machen wollte.»Irgendwelche Fragen?«erkundigte er sich.

Dewar, der Major der Marine-Infanterie, fragte unumwunden:»Mit was für Widerstand ist zu rechnen, Sir?»

Der Kapitän blickte ihn sekundenlang stumm an.»Ungefähr eine Meile vor der Küste liegt eine kleine Insel. Vor etwa vierhundert Jahren wurde sie entdeckt und war seitdem meistens besetzt: von den Holländern, den Franzosen und sogar von uns. Gegen Angriffe von der Küste her ist sie gut zu verteidigen. Die See dort ist voller Haie. . «Er machte eine Pause, und sein Blick wurde ungeduldig.

«Noch Fragen?»

Hope, der Fünfte Leutnant, fragte zögernd:»Wieso gegen Angriffe von der Küste, Sir?»

Überraschenderweise lächelte Kapitän Conway ein bißchen.»Eine gute Frage, Mr. Hope. Ich freue mich, daß wenigstens einer aufgepaßt hat. «Er ignorierte sowohl Hopes freudiges Erröten als auch Tergorrens finstere Miene.»Aus einem einfachen Grund: die Insel ist als Sammelplatz für Sklaven zur Verschiffung nach Amerika benutzt worden. «Er spürte das plötzliche Unbehagen bei den Offizieren und fuhr unwillig fort:»Ein übles Geschäft, aber nicht direkt illegal. Die Händler sammeln dort ihre menschliche Ware, und jeder, der ihren Ansprüchen nicht genügt, geht zu den Haien. Diese ›Einrichtung‹ hindert auch eventuelle Freunde und Verwandte der Gefangenen, diese vor dem Höllenleben zu retten, das sie erwartet.»

Major Dewar warf seinem Leutnant einen Blick zu und murmelte grimmig:»Bei Gott, denen werden wir's zeigen, was? Sklaverei, so oder so, interessiert mich einen Dreck, aber Piraten sind für mich einfach Ungeziefer.»

Leise sagte Dancer:»Mein Vater hat oft gesagt, Sklaverei und Seeräuberei gehen Hand in Hand. Die einen leben von den anderen, oder wenn es ihnen in den Kram paßt, verbünden sie sich gegen die Staatsmacht.»

Aufgeregt murmelte der kleine Eden:»Wartet b-bloß, bis die Gorgon euch über den Hals k-kommt!«Er rieb sich die Hände.»Wartet b-bloß ab!»

«Ruhe da drüben!«blaffte Verling. Gelangweilt ließ der Kapitän seine Blicke durch die Masse schweifen.»Wir werden beigedreht liegenbleiben und dann morgen dicht unter Land segeln. Die Küste hier ist sehr gefährlich; ich habe keine Lust, den Kiel auf ein Riff zu setzen. Unser neues Begleitschiff wird die Vorhut bilden. Bei Sonnenaufgang werden die Landekommandos eingeteilt. «Er schritt zur Tür.»Machen Sie weiter, Mr. Verling!»

Der Erste wartete, bis die Tür sich hinter dem Kapitän geschlossen hatte, und sagte dann:»Wegtreten auf Divisionen. «Dann wandte er sich an den Steuermannsmaaten:»Mr. Ivy, Sie übernehmen die Athen für diese Nacht. Ich schlage vor, Sie lassen sofort ein Boot klarmachen.»

Dancer seufzte.»Erst stiehlt Tergorren dir deine Idee, Dick, und nun werden wir auch noch unser erstes Kommando los. «Er grinste.»Aber ich muß sagen, ein bißchen sicherer fühle ich mich doch auf dieser dicken alten Dame!»

Auch der kleine Eden grinste.»Ich r-rieche Essen!«Eilends, als würden seine Füße von seinem Magen getrieben, verließ er die Offiziersmesse.

«Wir gehen auch, Dick!«Aber als sie auf dem Geschützdeck waren, hörten sie hinter sich Tergorrens Stimme:»Belegen! Ich habe Arbeit für Sie beide! Entern Sie zur Bramsegelrahe auf und sehen Sie nach, ob diese faulen Hunde richtig gespleißt haben, als wir an Bord der Prise waren!«Er warf ihnen einen kalten Blick zu.»Doch nicht etwa zu dunkel für Sie? Oder zu gefährlich?»

Dancer öffnete schon den Mund zu einer Entgegnung, aber Bolitho sagte rasch:»Aye, aye, Sir.»

«Aber gefälligst nicht schummeln!«rief der Leutnant hinter ihnen her.

Draußen fing es schon an dunkel zu werden. Bei den Webeleinen murmelte Bolitho vor sich hin:»Ob ich wohl jemals im Leben diese verdammte Höhenangst loswerde?»

Sie blickten zu dem schwarzen Kreuz und Quer der Takelung auf, zu dem großen Vormarssegel und zu dem Segel darüber. In dem schwindenden Abendlicht, das die Decksplanken schon nicht mehr erreichte, erglühte es in tiefem Rot.

«Ich gehe allein hinauf, Dick«, sagte Dancer.»Er merkt es schon nicht.»

Bolitho lächelte grimmig. »Der merkt das bestimmt, Martyn. Das will er ja gerade. «Er legte Hut und Rock ab und stopfte sie unter eine Klampe.»Also los! Wenigstens wird es uns Appetit machen.»

Achtern, bei dem mächtigen, doppelten Steuerrad, beobachteten die Rudergasten die schwingende Kompaßnadel und ließen die Speichen ganz leicht spielen. Mit ihren nackten Füßen standen sie wie angewachsen auf den Planken. Ruhelos schritt der Wachoffizier an der Luvseite auf und ab und warf gelegentlich einen Blick nach Lee, wo die einzige Laterne der Barkentine einen winzigen Reflex auf die Wasserfläche warf.

Kapitän Conway trat aus dem Achterkastell hinter das Ruder, die Hände, wie immer, auf dem Rücken gefaltet. Automatisch paßte er seine Körperhaltung den Schwankungen des Schiffes an. Der Erste Rudergänger stieß seinen Kameraden an und rief:»Südost bei Süd liegt an, Sir.»

Conway nickte und wartete, bis der Leutnant ebenso diskret wie eilig nach Lee hinübergewechselt war, damit der Kapitän die nötige Ruhe und Einsamkeit für seinen Abendspaziergang hatte.

Auf und ab, hin und zurück tappten seine Schritte auf den glatten Planken. Einmal verhielt er und warf einen kurzen Blick durch die Riggen auf die beiden schattenhaften Gestalten, die hoch oben auf der Bramsegelrahe hockten wie Vögel auf ihrer Stange. Aber im Weitergehen und Nachdenken über den nächsten Tag hatte er sie bald vergessen.

An diesem Morgen wurde die gesamte Mannschaft sehr früh aus den Hängematten gescheucht, und es gab ein hastiges Frühstück aus Hafergrütze und geröstetem Schiffszwieback, mit einem Krug Ale zum Anfeuchten. Jedoch ein älterer Matrose bemerkte dazu mit düsterer Miene:»So früh und so reichlich — das heißt, der Kapitän rechnet damit, daß was passiert.»

Und dann, als sich im Osten die ersten Spuren der Morgendämmerung bemerkbar machten und die Köche die Kombüsenfeuer löschten, kam das Pfeifsignal vom Achterdeck:»Alle Mann achteraus! Alle Mann achteraus, und klar Schiff zum Gefecht!»

Von der Kampanje her tönten die hektischen Wirbel der Trommeljungen, die Befehle und Beschimpfungen der Deckoffiziere und Maaten, und wieder einmal wurden die Männer der Gorgon zu einem Manöver getrieben, auf das sie gedrillt und geschliffen worden waren, bis alle Knochen schmerzten, im strömenden Regen und bei brennender Sonne, bis sie ganz genau wußten, wo jeder Mann, jedes Gerät, jedes Tauende, jedes Fall seinen Platz hatte, wenn es hieß»Klar Schiff zum Gefecht».

Manche unter den erfahrenen Matrosen gaben sich diesmal mehr Mühe als sonst; vielleicht spürten sie, daß das heutige Exerzieren mehr zu bedeuten hatte, als es auf den ersten Blick schien. Andere, und besonders die ganz jungen wie Eden rannten so zappelig wie aufgeregte Kinder auf ihre Stationen und ließen sich weder durch die Flüche der nervösen Leutnants, noch durch die Beschimpfungen ihrer Kameraden beruhigen.

Bolithos Station war das untere Geschützdeck. Er fühlte, wie sein Herz klopfte, schneller als sonst. In dem niedrigen, fast finsteren Deck sah er die Matrosen geduckt um die mächtigen Zweiunddreißigpfünder herumkriechen, hörte unter ihren nackten Füßen den Sand knirschen, den die Schiffsjungen reichlich gestreut hatten, damit niemand während des Manövers ausrutschte oder hinfiel.

Vom Oberdeck her sickerte ein bißchen Licht durch den Niedergang, und er konnte erkennen, wie die Geschützmannschaften ihr Gerät kontrollierten und die Persennigen abnahmen, um ihr Gerät zu kontrollieren und die Blöcke der Zugleinen und die Handspeichen zu überprüfen.

Von oben konnte er das gedämpfte Quietschen der Taljen hören, als die Netze über das Deck gezurrt wurden, welche die Kanonen und ihre Bedienungen vor fallenden Spieren und Rahen schützen sollten. Wie oft hatten sie das während der Viertausend-Meilen-Reise geübt?

Oben trieb die mächtige Stimme des Bootsmanns die Matrosen an ihre Plätze; die Decksplanken über Bolithos Kopf erzitterten unter dem Getrampel ihrer eilenden Füße.

Unten, in der Finsternis, dröhnte Tergorrens Stimme:»Beeilung, ihr verdammte Bande! Das dauert schon viel zu lange!»

Im mittleren Geschützdeck befanden sich, abgesehen von den Matrosen, die zur Bedienung der doppelten Reihe von Zweiunddreißigpfündern nötig waren, zwei Leutnants (nämlich Tergorren, der den Oberbefehl führte, und sein Adjutant, der Sechste Leutnant Mr. Wellesley) sowie vier Midshipmen. Diese letzteren waren gleichmäßig über alle Geschützdivisionen verteilt. Sie sollten Befehle weiterleiten, notfalls selbständig Feuerbefehl erteilen und als Gefechtsläufer zum Achterdeck fungieren. Bolitho und Dancer waren auf der Backbordseite; ein mürrischer Jüngling namens Pearce und der kleine Eden hatten die Steuerbordbatterie.

In der Mitte des Decks stand Tergorren mit dem Rücken zum Hauptmast, die Arme verschränkt, und überspähte mit gesenktem Kopf seinen Bereich. Nicht weit von ihm stand ein Posten der Marine-Infanterie am Niedergang, ebenso wie an den anderen Luken. Diese Posten sollten verhindern, daß im Durcheinander des Gefechts einer, den der Kampfesmut verließ, etwa irgendwo im Schiffsrumpf Zuflucht suchte.

Wellesley, der Sechste, lief säbelrasselnd die Backbordseite ab, wo er bei jedem Geschütz gerade so lange stehenblieb, bis der Geschützführer meldete:»Feuerbereit, Sir!»

Endlich war alles ruhig, nur das leise Heben und Senken des Schiffs, das regelmäßige Quietschen der Blöcke, wenn die Kanonen gegen die Taljen arbeiteten, unterbrach die Stille.

Bolitho konnte die Spannung, die über dem ganzen Schiff lag, förmlich riechen. Er versuchte, nicht an das Midshipmen-Logis im Orlopdeck zu denken, das ebenfalls umgeräumt war. Dort befanden sich jetzt der Schiffsarzt und seine Sanitätsgasten. Laternen brannten, chirurgische Instrumente blinkten in ihren offenen Behältern. Jedesmal, wenn Kapitän Conway» Klar Schiff zum Gefecht «befohlen hatte, sah das Midshipmen-Logis so aus — kaum zu zählen, wie oft er es schon so gesehen hatte.

Tergorren schrie:»Mr. Wellesley! Warum dauert das so lange?»

Der Sechste rannte schlurfend zu ihm, stolperte über einen Ringbolzen und wäre beinahe lang hingefallen.

«Untere Batterie klar zum Gefecht, Sir!«Er verschluckte sich beinahe.

Auf dem Deck über ihnen gellte eine Pfeife, und jemand rief:»Klar zum Gefecht, Sir!»

Tergorren fluchte lästerlich.»Die haben uns schon wieder geschlagen, hol sie der Teufel!«Wütend fügte er hinzu:»Mr. Eden! Stellen Sie die Zeit fest! Aber marsch, marsch!»

Eden kam zurück und meldete keuchend:»Kompliment vom Ersten Leutnant, Schiff gefechtsklar in zwölf Minuten. «Er zögerte.»Aber…»

«Was — aber?»

Der Junge schluckte.»Aber wir haben länger als alle anderen Divisionen gebraucht, Sir.»

Weitere Befehle wurden gepfiffen; die Signale der Bootsmannspfeifen schrillten wie die Stimmen der Vögel auf einem Moor in Norfolk.

«Stückpforten auf!»

Bolitho beugte sich vor, weil eine übereifrige Geschützmannschaft aus der Reihe tanzte. Es war erstickend heiß im unteren Deck, aber gleich würden sich alle Pforten mit einem Schlag öffnen, hier und auf dem nächstoberen Deck. Jetzt — die Luken gingen hoch, und sofort spürte er die kühle Luft einströmen, und die Männer in seiner nächsten Umgebung gewannen Persönlichkeit und Bedeutung; matt glänzten ihre nackten Oberkörper im fahlen Frühlicht. Er warf einen raschen Blick nach achtern und sah, wie Dancer ihm flüchtig zuwinkte.

Während der Morgenwache hatte die Gorgon ihren Kurs geändert und steuerte jetzt Ostsüdost, denn der Wind hatte sich etwas nach Norden gedreht und war so geblieben. Das Schiff krängte leicht, und da der Wind von Backbord achtern kam, zeigten die Geschützläufe in Bolithos Abschnitt etwas nach oben und blieben frei von Gischt. Er konnte die lebhaften weißen Wellenkämme sehen, und auch ein paar seltsame Fische, die aus dem Wasser sprangen und wie Seevögel, auf der Fahrtwelle hüpfend, das Schiff ein Stück begleiteten. Er lehnte sich weiter hinaus, blickte um die Mündung eines Geschützes herum und sah drüben etwas Dunkles auf dem Wasser — das mußte die

Athen sein. Er versuchte zu erraten, was an Deck geschah. Das Prisenschiff kam aus seiner geschützten Leeposition heraus und nahm einen Kurs, der es offenbar zwischen die Gorgon und das Festland bringen sollte — aber wo sich das Festland befand, das wußte er nicht.

«Können Sie Land sehen, Sir?«fragte ein junger Matrose. Er war ein gutaussehender Bursche, der von Devon an Bord gekommen war. Während der Nachtwachen und bei heißen Exerziermanövern hatte er erzählt, daß seine gesamte Familie für einen dortigen Gutsherrn arbeite. Ein harter Mann, der dazu neigte, die Töchter seiner Pächter und Tagelöhner zu mißbrauchen. Mehr hatte er ihm nicht anvertraut, aber Bolitho war sicher, daß er den Gutsbesitzer verprügelt hatte und dann geflohen war, um an Bord eines Schiffes, irgendeines Schiffes, zu gelangen und so der Strafe zu entgehen.

Bolitho antwortete:»Wir müssen ganz dicht heran sein, Fairweather. Da sind schon ein paar Seevögel. Die wollen sich wohl mal unser Schiff ansehen würde mich nicht wundern.»

«Ruhe in der Batterie!«Tergorrens Wut schien sich über Offiziere und Matrosen gleichermaßen zu entladen.

Ein Mann schrie schmerzlich auf, als sein Geschützführer das Tauende sausen ließ; und von achtern her quäkte Wellesleys wenig imponierende Stimme:»He — schreiben Sie den Mann auf!»

Kein Mensch wußte, welchen Mann er meinte, und an wen der Befehl gerichtet war — nach Bolithos Schätzung wollte der Leutnant nur einen Anpfiff Tergorrens vermeiden.

Seltsam, hier unten kam man sich vor, als sei man vom ganzen übrigen Schiff abgeschnitten. Es wurde draußen heller, und auf der See malte sich ein Muster von Schwarz und Gelb, aber man konnte Himmel und Horizont noch nicht deutlich voneinander unterscheiden. Der quadratische Ausschnitt der Stückpforte in der dicken, eichenen Rumpfbeplankung wirkte wie der Rahmen eines Bildes; aber als das Licht stärker wurde und auf dem langen Rohr des Zweiunddreißigpfünders spielerisch entlanglief, schienen sie alle zu Teilen dieses Bildes zu werden. Jetzt bekam nämlich auch das Innere des Batteriedecks Farbe. Jetzt wurde der dunkelrote Anstrich der Innenseite des Schiffsrumpfes und eines Teils der Decksplanken unter ihren Füßen sichtbar. Warum ausgerechnet rot — das wußte jeder, auf dieser Farbe sah man das Blut der Toten und Verwundeten nicht so deutlich. Bolitho blickte über das abfallende Deck zur Gegenseite hinüber. Dort lagen die offenen Stückpforten noch im Dunkel, in das nur manchmal der Kamm einer Woge oder ein paar Schaumfetzen hineinblitzten.

Er blickte zu Tergorren hin. Der sprach ganz ruhig mit Jehan, dem Stückmeister. Dieser trug, wie immer, wenn er in seiner geliebten Pulverkammer arbeitete, dicke Filzschuhe, so daß er sich völlig lautlos bewegte. Eben verschwand er in der Luke, wo der Posten stand, und Bolitho überlegte sich, ob Dancer wohl daran dachte, daß er so ziemlich auf der gefährlichsten Stelle des ganzen Schiffes stand; denn genau unter seinen Füßen lagerte eine Unmenge Schießpulver, das bei einem Gefecht jederzeit in die Luft fliegen konnte.

Etwas wie ein Seufzer wurde in der Batterie laut, als sich die ersten Sonnenstrahlen durch die offenen Geschützpforten hineinwagten. Auf einen Geschützverschluß gestützt, beobachtete Bolitho, wie der Horizont immer wirklicher und greifbarer wurde: dort lag das Festland.

Aufgeregt fragte Fairweather:»Is' das Afrika?»

Der Geschützführer entblößte seine unregelmäßigen Zähne.»Kann dir ganz egal sein, wo du bist, mein Junge. Kümmer' dich um unsere alte Tante hier und füttere sie anständig, ganz egal, was kommt — mehr brauchst du nicht zu wissen!»

Ein Midshipman kam vom oberen Deck und sah sich nach Tergorren um. Das Bürschchen war Midshipman Knibb, nicht größer und nur einen Monat älter als der kleine Eden.

«Kompliment von Mr. Verling, Sir. Vorläufig noch nicht laden!»

«Was ist denn los?«blaffte Tergorren.

«Ausguck hat zwei Schiffe bei der Landspitze vor Anker gemeldet, Sir.»

Sein Selbstvertrauen wuchs in dem Bewußtsein, daß alle diese schattenhaften Gestalten ihm aufmerksam zuhörten und neugierig waren, was in der Oberwelt vor sich ging.

«Der Kapitän hat befohlen, daß die Barkentine Segel setzen und rekognoszieren soll, Sir.»

Der Geschützführer neben Bolitho gab seiner Mannschaft Erklärungen:»Ich kenne diese Gewässer, Jungs. Überall Riffe und Untiefen. Unser Kapitän hat bestimmt schon zwei gute Männer auf Lotstation, die regelmäßig die Tiefe nehmen. Wir müssen uns richtig in die Küste hineintasten.»

Bolitho hörte nicht weiter hin. Er dachte an die aufgegebene Barkentine und an den toten Mann in ihrer Kajüte. Ob wohl Tergorren deshalb so schlechter Laune war, weil ein anderer das Kommando über die Athen bekommen hatte?

Der Dritte Leutnant, Tergorrens unmittelbarer Vorgesetzter, kommandierte sie statt seiner, und Grenfell, der dienstälteste Midshipman, war sein Adjutant. Wenn alles gut ging, würde dieses bißchen Sonderverantwortung dem Midshipman auf dem Weg zu seiner Beförderung ein Stück weiterhelfen. Bolitho freute sich für ihn, wenn er ihn auch um seine Freiheit beneidete. Grenfell hatte sich seinerzeit alle Mühe gegeben, um ihm und den anderen unsicheren Neulingen den Anfang leichter zu machen. Es kam oft genug vor, daß sich Männer in Grenfells Stellung wie kleine Tyrannen benahmen.

Zwei Schiffe vor Anker, hatte Knibb gesagt. Piraten oder Sklavenhändler? Sie würden beide einen schönen Schreck kriegen, wenn die Gorgon aufkreuzte.

Dumpfes Fußgetrampel von oben, und das Quietschen von Taljen und Blöcken — die Segel wurden entsprechend der Kursänderung umgebraßt.

Er verließ die Stückpforte und stützte sich auf das große Spill, mit dem schwere Spieren oder Boote in Stellung gehievt wurden, und lauschte auf Tergorrens grobe Stimme, der mit Wellesley und Midshipman Pearce sprach. Auf der gegenüberliegenden Schiffsseite hoben sich jetzt die offenen Stückpforten schärfer ab, und einen Moment lang glaubte Bolitho, daß ihn seine Augen täuschten: das Land schien sich der Gorgon entgegenzustrecken, um sie zu grüßen aber das war natürlich unmöglich, denn das Land lag ja, wie deutlich zu sehen, hier an seiner Seite. Doch plötzlich fiel ihm wieder ein, daß der Kapitän von einer Insel gesprochen hatte. Das mußte sie sein, und das Schiff steuerte in die Enge zwischen Insel und Festland hinein. Die ankernden Schiffe mußten direkt voraus liegen, so daß sie von den beiden Geschützdecks aus nicht zu sehen waren.

Tergorren sagte eben:»Seht mal, da steht ja eine Festung auf der Insel. Muß so alt sein wie Moses. «Er lachte glucksend.»Wartet bloß, bis ihr die schwarzen Weiber zu sehen kriegt. Manche sind so schön wie. . «Er kam nicht weiter.

Bolitho sah etwas über die kabbelige, landein strömende See springen erst dachte er, es sei ein Delphin, aber dann hörte er, weit weg, das Dröhnen einer Explosion. Die Linie der weiß beschäumten, anbrechenden Wellen war auf einmal nicht mehr da, und unter einem Chor von Schreien und Flüchen schlug eine große Kanonenkugel hart neben dem Schiffsrumpf ein.

Ungläubig brüllte der alte Geschützführer:»Diese Teufels-bande hat uns zuerst beschossen, bei Gott!»

Das ganze Schiff wurde lebendig. Ein Tohuwabohu von Befehlen. . Eine Trompete gellte ein Signal für die Seesoldaten. . Taljen knarrten, die Haltegiens der schweren Geschütze wurden angeholt, und dann kam der Ruf:»Alle Geschütze laden und klar zum Ausrennen! Steuerbordbatterie feuert zuerst!»

Tergorren starrte auf die Kniehose des Gefechtsläufers, die sich kreideweiß vom dunklen Niedergang abhob; anscheinend konnte er nicht glauben, was er da gehört hatte.

Aber dann stieß er einen Grunzer aus und brüllte:»Steuerbordbatterie klar zum Laden!»

Der Matrose Fairweather rannte hinter Bolitho her zur Gegenseite, wo die halbnackten Geschützbedienungen die mächtigen Pulverkartuschen und die Pfropfen in die Rohre rammten und die Geschützführer an den Halterungen standen und sich die Kugeln aussuchten, tastend ihre Rundung prüfend; mancher schliff sogar noch schnell eine rauhe Stelle nach, ehe er sie zum Einrammen und Bepfropfen an die wartende Mannschaft weitergab.

Nacheinander kamen die Handzeichen von den einzelnen Geschützen, und aller Augen waren auf den bulligen Leutnant gerichtet.

«Alles geladen, Sir!»

«Ausfahren!»

Die Männer warfen sich auf die Taljen und verholten die schweren Geschütze zu den offenen Stückpforten; jedes einzelne Haltegien protestierte quietschend wie ein Schwein, das zum Markt soll.

Eine Stimme gellte:»Steuerbord klar zum Feuern! Maximale Elevation, Abziehen bei steigendem Rumpf!»

Ein Deckoffizier versetzte einem Matrosen einen so heftigen Stoß gegen die Schulter, daß dieser hochsprang wie von einer Kugel getroffen.

«Wickel dir dein Halstuch um die Ohren, Mensch, wenn du nicht dein Leben lang taub sein willst!»

Er blinzelte Bolitho zu. Vermutlich war die Warnung für ihn bestimmt gewesen; aber sogar Midshipmen haben Anspruch auf ein bißchen Respekt.

«Klar zum Schuß!»

Das Schiff rollte unter dem Einfluß von Wind und Ruder, und hinter jeder Kanone kauerte der Geschützführer, das Auge über das lange schwarze Rohr zum Himmel und zur Festung gerichtet.

«Feuer!»

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