BLENDE

ABBLENDEN

AUFBLENDEN

Ein Saal mit riesigen Teppichen, Gobelins, alten Gemälden und antiken Möbeln. Einander gegenübersitzend und für Fotografen und Kamerateams posierend: Roosevelt und Stalin.

SPRECHER

28. November 1943: Erste Unterredung Stalin – Roosevelt in der sowjetischen Botschaft. Beginn: 15 Uhr Ortszeit, Ende: 16 Uhr Ortszeit. Anwesend außerdem: zwei Dolmetscher, ein Stenograf.

BLENDE

Ein großer Sitzungssaal. Etwa zwei Dutzend Männer, teils in Uniform, teils in Zivil.

SPRECHER

Erste Vollsitzung am 28. November 1943 in der sowjetischen Botschaft. Beginn: 16 Uhr. Ende: 19.30 Uhr. Teilnehmer: Präsident Roosevelt, sein persönlicher Berater Harry Hopkins, Admiral Leahy, Admiral King, Major General Deane, Captain Royal und Charles Bohlen. – Premierminister Churchill, Außenminister Eden, Field Marshall Dill, General Brooke, Admiral of the Fleet Cunningham, Air Chief Marshall Portal, Lieutenant General Ismay, Major Birse. – Marschall Stalin, Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Molotow, General Woroschilow, Pavlov und Berezkov ...

BLENDE

Daniel Ross, der Bluejeans und ein weißes Netzhemd trug, fuhr hoch. Atemlos sagte er: »Beidseitiges Geheimprotokoll – neunzehnhundertdreiundvierzig schon?«

»Gewiß. Und was für eins! Meinst du, ich habe dich zum Spaß von Mercedes herholen lassen? Meinst du, ich bin zu Unrecht der Ansicht, daß man mit diesem Film die Welt aus den Angeln heben kann? Sei ruhig und hör zu!«

Ross sank in den Fauteuil zurück.

»Ich habe es Ihnen prophezeit«, flüsterte Mercedes. Inzwischen hatte das Bild auf dem Fernsehschirm gewechselt und zeigte die erste gemeinsame Sitzung der Militärvertreter der drei Großmächte am 29. November 1943 – wieder in der Botschaft der UdSSR – Beginn 10 Uhr 30, Ende circa 13 Uhr

30. Es folgten Bilder von der zweiten Unterredung Stalin – Roosevelt am 29. November 1943 in der Sowjetbotschaft, Beginn: 14 Uhr 45. Ende: 5 Uhr 30.

Als nächstes waren Aufnahmen von der zweiten Vollsitzung am 29. November 1943 in der Sowjetbotschaft zu sehen. Beginn: 16 Uhr. Ende: 19 Uhr 30.

Olivera sagte: »Auch diese Treffen werden in dem Werk Ziegers minuziös aufgeführt. Was folgt, natürlich nicht ...«

BLENDE

Der kleine Botschaftsraum, darin Harry Hopkins und General Woroschilow. Ein mit vielen Papieren bedeckter Schreibtisch, an dem die beiden Männer einander gegenübersitzen.

SPRECHER

30. November 1943, 1 Uhr 30 morgens. Zweites geheimes Treffen zwischen Harry Hopkins und General Woroschilow in dem abgelegenen Salon der sowjetischen Botschaft. Anwesend später: die beiden Dolmetscher, ein Stenograf. Zwei absolut zuverlässige Spezialisten der amerikanischen Armee haben diese Aufnahmen und die vom ersten geheimen Treffen gemacht. Es war zwischen Roosevelt und Stalin verabredet, daß diese geheimen Treffen im Bild festgehalten werden sollten. Die Spezialisten standen selbstverständlich unter Schweigepflicht. Zweck des Treffens: endgültige Ausarbeitung des beidseitigen Geheimprotokolls. Ende des Treffens 3 Uhr 45 früh.

SPRECHER

1. Dezember 1943, 6 Uhr früh. Stalin und Roosevelt unterzeichnen das von ihren persönlichen Beratern ausgearbeitete und in englischer und russischer Sprache mit der Maschine geschriebene Geheimprotokoll. Auch diese Aufnahmen wurden auf Wunsch der beiden Staatschefs von den erwähnten amerikanischen Spezialisten gemacht, so wie es der Wunsch Roosevelts und Stalins war, das Protokoll selber abzufilmen, und zwar Seite für Seite so langsam, daß der Text unter allen Umständen leicht zu verfolgen ist. – Hier nun dieser Text.

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Die erste Seite des Protokolls, oberer Teil. Sehr klar zu lesen, obwohl diese Partie wie der ganze Film vom Alter mitgenommen und leicht »verregnet« ist, einzelne Risse und Tonsprünge aufweist, dazu Kratzer und Flecken.

BLENDE

»Phantastisch«, sagte Ross. »Warte ab!« sagte Olivera. Es folgten Bilder der Unterredung Stalin-Churchill am 30. November, Beginn 12 Uhr 40, Ende zirka 13 Uhr 30, Ort: britische Gesandtschaft; danach Aufnahmen von einer Unterredung während des Lunch am 30. November 1943 im Speisesaal der Sowjetbotschaft, Beginn: 13 Uhr 30, Ende: 15 Uhr 45; sodann Bilder der dritten Vollsitzung am 30. November 1943, Beginn: 16 Uhr, Ende: 18 Uhr 15. Ort: sowjetische Botschaft; anschließend eine Sitzung am runden Tisch am 30. November 1943 in der Sowjetbotschaft, Beginn: 18 Uhr, Ende: 19 Uhr 40.

»Das alles«, sagte Olivera, »kann man bei Zieger in ›Die Teheran-Konferenz neunzehnhundertdreiundvierzig‹ nachlesen. Daten und Zeiten stimmen präzise überein. Das Folgende wird nicht erwähnt, denn Zieger ahnte nichts davon ...«

Der Bildschirm zeigt den kleinen Salon in der Sowjetbotschaft. Anwesend: Stalin, Roosevelt, Harry Hopkins, Woroschilow, zwei Dolmetscher. Roosevelt und Stalin sitzen nebeneinander an dem Schreibtisch. Jeder signiert ein in einer Ledermappe liegendes dünnes Schriftstück. Sie wechseln die Mappen und signieren noch einmal.

Es ist nun totenstill in der Bibliothek. Ross liest: BEIDSEITIGES PROTOKOLL STRENGST GEHEIM Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und der

Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken haben ihre politischen Berater beauftragt, die langfristigen Perspektiven der Politik ihrer beiden Staaten zu formulieren. Aus Anlaß der Unterzeichnung der Verlautbarung vom 1. Dezember 1943 über Verlauf und Ergebnisse der Konferenz der Hohen Alliierten in Teheran erklären die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika und die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken – im folgenden Mächte genannt – diese Grundsätze ihrer zukünftigen Politik:

DIE KAMERA GLEITET SEHR LANGSAM TIEFER VON ZEILE ZU ZEILE

Die Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken – im Bewußtsein, daß sie die Hauptlast des Kampfes gegen das Deutsche Reich und seine Verbündeten tragen, – vereint in der Entschlossenheit, sich der Verantwortung für den Weltfrieden auch nach der siegreichen Beendigung dieses Kampfes nicht zu entziehen und diese gemeinsam zu tragen, – in der Überzeugung, daß nur zwei starke und unabhängige Mächte für das alleinige Ziel der Aufrechterhaltung von Frieden, Gerechtigkeit und Wohlergehen auf der Welt wirklich eintreten können, – bewußt ihrer Verantwortung, sich selbst und die Völker der Welt von den Bedrohungen einer Angriffspolitik zu befreien, – in der Erkenntnis der Notwendigkeit, einen geordneten Übergang vom Krieg zum Frieden zu sichern und die internationale Sicherheit künftig zu garantieren, erklären gemeinsam:

1.

Die Mächte verpflichten sich, sich in ihren gegenseitigen Beziehungen jedes Gewaltaktes, jeder aggressiven Haltung und jedes Angriffs gegeneinander, und zwar sowohl einzeln als auch gemeinsam mit anderen Mächten, zu enthalten. Falls eine der Mächte Ziel aggressiver Handlungen seitens eines dritten Staates werden sollte, wird die andere Macht in keiner Weise den dritten Staat unterstützen.

Diese Übereinkunft hindert keine der Mächte daran, einem ... Die erste Seite wird weggehoben, die KAMERA fotografiert

den oberen Teil der Seite 2.

... dritten Staat zu Hilfe zu kommen, auch wenn diese Anstrengungen gegen die andere Macht oder eine Gruppe von Mächten, der die andere Macht angehört, gerichtet sind. In einer solchen Situation werden die beiden Mächte jedoch jede direkte und unmittelbare Konfrontation ihrer Truppen und ihres Militärpersonals vermeiden.

2.

Die Mächte erkennen gegenseitig die besondere Verantwortung an, die jede Macht hinsichtlich bestimmter Gebiete innehat.

I.

Die Gebiete besonderer Verantwortung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden in Europa begrenzt durch die Linie, die die sowjetischen Truppen bei Abschluß eines Waffenstillstands mit dem Deutschen Reich erreicht haben werden, bzw. durch eine zwischen den Alliierten und assoziierten Mächten vereinbarte Demarkationslinie. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken strebt eine politische und territoriale Umgestaltung dieser Gebiete an.

»Und bei Gott, die Sowjetunion hat diese Gebiete umgestaltet, politisch und territorial!« sagte Mercedes. Sie war aufgestanden und hatte den Film durch einen Druck auf die Stoptaste des Videogerätes angehalten. Ihre Stimme klang ungemein sachlich. »Ungarn! Riesiger Bevölkerungsaustausch mit der Tschechoslowakei. Großgrundbesitz, Banken und Industrie verstaatlicht. Kirchliche und private Schulen verstaatlicht, Landwirtschaft brutal verstaatlicht. Neunzehnhundertsiebenundvierzig können die Kommunisten, gestützt auf die Rote Armee, die Opposition ausschalten. Um den Widerstand des Klerus zu brechen, wird Kardinal Mindszenty zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Unbequeme Politiker werden in grausigen Schauprozessen als ›Titoisten‹ und ›imperialistische Agenten‹ zum Tode verurteilt und hingerichtet. Unter Imre Nagy werden sie dann rehabilitiert – was für ein Hohn, wenn man daran denkt, daß Ende sechsundfünfzig die Truppen der Roten Armee einfallen, Imre Nagy stürzen und er später umgebracht wird. Haben die Amerikaner mit einer Wimper gezuckt bei alldem? Nicht mit einer einzigen! Haben sie den Ungarn geholfen? Nicht mit einer einzigen Handbewegung. Warum nicht? Weil es doch so vereinbart worden ist in Teheran!«

Mercedes zündete sich eine neue Zigarette an. Ross betrachtete sie fasziniert.

»Tschechoslowakei!« sagte Mercedes, immer sachlich. »Ein Teil, die Karpato-Ukraine, geht sechsundvierzig – unter Druck natürlich – an Rußland. Auseinandersetzungen zwischen nichtsozialistischen Parteien ermöglichen den Kommunisten zwei Jahre später den Staatsstreich. Außenminister Jan Masaryk, der Sohn des großen Tomas Masaryk, stürzt unter mysteriösen Umständen aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in den Tod. Selbstmord? Mord? Auf Wunsch Stalins wird vielen prominenten Kommunisten der Prozeß wegen nitoistischer und zionistischer Umtriebe gemacht. Alle werden hingerichtet. Viele Tausende werden ermordet. Die Amerikaner? Mit einer Wimper gezuckt? Nicht mit einer. Geholfen? Nicht mit einer Handbewegung. Warum nicht? Weil es doch so vereinbart worden ist in Teheran!«

Die Mattscheibe des Fernsehers warf flackerndes Licht über Mercedes. Der goldfarbene Hausanzug leuchtete. Sie redete immer gleich – scheinbar ruhig und scheinbar kalt. Ross starrte sie überwältigt an.

»Polen!« sagte Mercedes. »Die Exilregierung wird seit Juli fünfundvierzig nicht mehr anerkannt und aufgelöst. Freie Wahlen sind nicht durchzusetzen und die Sowjetisierung Polens ist nicht aufzuhalten. Die Sowjetunion erzwingt den Austausch eines verkehrsmäßig und durch Bodenschätze wertvollen Gebietes gegen ein anderes ohne jede Bedeutung. Nach der Angleichung folgt ab neunundvierzig die völlige Beugung unter die sowjetische Politik. Neunzehnhundertfünfundfünfzig kommt Polen wie die DDR, die Tschechoslowakei, Ungarn und andere Ostblockländer in den Warschauer Pakt. Alle diese Länder sind zu Satelliten der UdSSR geworden. Der Eiserne Vorhang hat sich längst gesenkt. Haben die Amerikaner auch nur das Geringste, das Allergeringste einzuwenden gehabt? Nichts und niemals. Warum nicht? Weil es doch so vereinbart worden ist in Teheran!« Mercedes sagte: »Ich bin keine Russenfresserin. Die Amerikaner kommen auch gleich an die Reihe. Wir gehen nur das Protokoll der Reihe nach durch, dieses wunderbare Protokoll.« Sie drückte eine andere Taste des Videogeräts. Der Film lief weiter.

Die KAMERA gleitet an das Ende von Seite 2. Auf dem Bildschirm steht zu lesen:

Die Vereinigten Staaten von Amerika übernehmen eine besondere Verantwortung hinsichtlich der westlich und südlich dieser Linie gelegenen Gebiete Europas ...

Mercedes hielt den Film wieder an.

»Und haben die Amerikaner sich da vielleicht nicht bemüht?« fragte sie. »Was die Sowjets mit Gewalt schaffen mußten, weil sie keine Milliarden hatten, das schafften die Amerikaner ohne Gewalt, denn sie haben Milliarden. Der Marshall-Plan. Europa wird wieder aufgebaut, besonders Deutschland, damit kein Land im Elend kommunistisch wird. Eine Bundeswehr für Westdeutschland – unter alten Nazigenerälen, weil es gerade keine anderen gibt. Macht das den Amerikanern etwas aus? Überhaupt nichts macht es ihnen aus. Im Gegenteil: Sie wissen, die Nazigeneräle sind besonders zuverlässige Verbündete. Daraufhin gibt’s in der DDR natürlich sofort eine Nationale Volksarmee. Auch mit alten Nazigenerälen. General muß man sein. Am besten deutscher General. Wird immer gebraucht. Wird immer geehrt. Von Freund und Feind. Ob er den Krieg gewinnt, ob er ihn verliert – er wird geehrt. Warum? Weil man ihn doch gleich wieder brauchen wird! Weshalb sind Sie nicht General, Daniel! Unverzeihlich. Ein feines Leben hätten Sie – und keine Sorgen. Hurra, das Wirtschaftswunder wird geschaffen. Mit amerikanischem Geld und deutschen ehemaligen Wehrwirtschaftsführern! Na und? Der Staatssekretär Globke, persönlicher Referent Adenauers, ist Verfasser eines Kommentars zu den Nürnberger Rassengesetzen. ›Auf den Mann kann ich nicht verzichten‹, sagt Adenauer. Tja, wenn er nicht auf ihn verzichten kann! Freundschaft mit dem faschistischen Diktator Franco. Wenn der nur Luftstützpunkte für die US-Air-Force zur Verfügung stellt – für Hunderte Millionen Dollar jährlich, die in seine Tasche fließen. Freundschaft mit übelsten Typen in der Türkei und Griechenland. Millionen auch für sie. Wenn ihre Regierungen nur stramm antikommunistisch sind. Wenn sie später nur alle reingehen in die NATO oder zumindest Stützpunkte vermieten für die Bomber und Schlachtschiffe der ›freien Welt‹! Protest der Russen? Ernsthafter Protest? Warum denn? Wenn es doch so vereinbart worden ist in Teheran!«

Der Film läuft weiter.

II. Als Gebiete besonderer Verantwortung der Vereinigten Staaten von Amerika betrachten die Mächte den amerikanischen Doppelkontinent einschließlich der vorgelagerten Inseln sowie Grönland und Island.

III. Die Mächte werden ihren Einfluß geltend machen, damit die derzeit unter der Verwaltung der europäischen Mächte stehenden Gebiete Afrikas in die vollständige Unabhängigkeit entlassen werden. Die Mächte erklären, daß sie auf dem afrikanischen Kontinent nicht einseitig Interessen wahrnehmen und Positionen anstreben werden, die mit den Interessen der anderen Macht nicht zu vereinbaren sind. Entsprechende Bestrebungen dritter Staaten werden sie mit geeigneten Mitteln zurückweisen.

»Mit geeigneten Mitteln zurückweisen, Daniel! In Angola, im Kongo haben die Sowjets entsprechende Bestrebungen dieser Staaten mit geeigneten Mitteln zurückgewiesen. Die Amerikaner haben kein Wort gesagt. Das heißt, gesagt haben sie viel, getan haben sie nichts. Sie waren sich ja mit den Sowjets einig.« Mercedes trat nahe an den Fernsehapparat.

Nein, dachte Ross, nein ...

IV. Mit Zustimmung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken betrachten die Vereinigten Staaten von Amerika die Türkei und die Länder des Nahen Ostens südlich der Südgrenze der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bis zur Ostgrenze des Kaiserreichs Iran als Gebiete der besonderen Verantwortung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Mächte sind sich dabei darin einig, daß das Problem des heimatlosen jüdischen Volkes einer Lösung zugeführt werden muß, und sie stimmen darin überein, die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina zu unterstützen.

»Das haben sie getan«, sagte Mercedes, immer mit der gleichen sachlichen Stimme. »Die Amerikaner haben Israel unterstützt mit Geld und Waffen und Beratern, und die Sowjets haben die Araber, die Syrer und die Saudis unterstützt mit Beratern und Waffen und Geld. Genau wie es weiter oben im Protokoll heißt: ›Diese Übereinkunft hindert keine der Mächte daran, einem dritten Staat zu Hilfe zu kommen, auch wenn diese Anstrengungen gegen die andere Macht gerichtet sind.‹« Sie drückte die Zigarette aus. »›In einer solchen Situation‹, Daniel, Sie haben es gelesen, ›werden die beiden Mächte jedoch jede direkte und unmittelbare Konfrontation ihrer Truppen und ihres Militärpersonals vermeiden!‹ Und wie das geklappt hat. Bravo! Alles ging wie am Schnürchen. Hat im Nahen Osten oder sonst irgendwo auf der Welt seit Kriegsende auch nur ein amerikanischer Soldat auf einen russischen Soldaten geschossen oder umgekehrt – selbst wenn es sich um ein Krisengebiet wie Israel gehandelt hat? Niemals, nein. Das tun die Herren nicht. Einander tun die Herren niemals etwas. Hundertachtundvierzig Kriege hat es seit neunzehnhundertfünfundvierzig gegeben. Kleine Kriege. Millionen sind in diesen kleinen Kriegen verreckt. Hundertachtundvierzig Kriege, in denen eine Seite oder auch beide Seiten von den Sowjets und Amerika unterstützt worden sind, natürlich ohne daß es jemals zu einer ›unmittelbaren Konfrontation ihrer Truppen kam‹.« Mercedes blieb nach wie vor sachlich: »Neue Waffensysteme haben die beiden in diesen Kriegen erprobt! Trainingsplätze brauchten sie. Sie mußten doch gleich stark bleiben, nicht wahr, sonst wäre dieses Geheimprotokoll sinnlos gewesen. Sehen Sie jetzt, Daniel, was die Sowjets und die Amerikaner dreiundvierzig in Teheran getan haben? Sie haben die Welt unter sich aufgeteilt! Die Supermächte müssen sich einigen, schreien heute alle. Einigen? Sie haben sich doch längst geeinigt!« Mercedes hatte die Stoptaste des Videogeräts gedrückt. Film und Protokollauszug waren stehengeblieben, während sie sprach. Jetzt ließ sie die Kassette weiterlaufen. Die Kamera filmte den untersten Teil von Seite 3.

V. Die Abgrenzung der Verantwortung auf dem indischen Subkontinent und im Fernen Osten wird einer besonderen Übereinkunft der Mächte nach der endgültigen Niederwerfung des Kaiserreichs Japan vorbehalten. Die Mächte werden diese Frage im Wege einer freundschaftlichen Verständigung lösen. Dabei werden sie der zukünftigen Rolle Chinas besonderes Gewicht beimessen. Sie gehen davon aus, daß Korea und die Länder der indo-chinesischen Halbinsel sowie des südostasiatischen Archipels die volle ... Seite 4

... politische Selbständigkeit erhalten werden. Mercedes drückte wieder auf die Stoptaste des Videogeräts.

»Volle politische Selbständigkeit!« sagte sie. »Indem man sie teilte. Korea! Achtunddreißigster Breitegrad. Nord- und Südkorea. Jedem das Seine. In ›freundschaftlicher Verständigung‹. Vietnam! Nord- und Südvietnam, bis die Amerikaner einfielen. In ›freundschaftlicher Verständigung‹. Teilen! Der brillanteste Einfall der Politiker unserer Zeit. Berlin. Deutschland. Ost und West. Alles in ›freundschaftlicher Verständigung‹!« Sie ließ den Film weiterlaufen.

VI.

Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken anerkennt die besondere Verantwortung der Vereinigten Staaten von Amerika hinsichtlich Australiens, Neuseelands und der pazifischen Inseln.

3.

Die Mächte stimmen in der Auffassung überein, daß nach der vollständigen militärischen und politischen Niederwerfung des Deutschen Reiches die Errichtung eines einheitlichen, neuen deutschen Staates erst wird erfolgen können, wenn Sicherheit besteht, daß von diesem Staat keine Bedrohung des internationalen Friedens und der durch diese Übereinkunft geschaffenen Ordnung ausgehen kann.

»Also nie«, sagte Mercedes. »Deutschland muß für immer geteilt bleiben. Gleich zwei Trainingsplätze!«

Die Mächte betrachten die Arktis und die Antarktis als einer besonderen Verantwortung nicht bedürftig. Sie werden sich allen Ansprüchen seitens dritter Staaten widersetzen. Für künftige Aktivitäten auf dem antarktischen Kontinent wird eine internationale Lösung unter Beteiligung dritter interessierter Staaten angestrebt.

5.

Die Freiheit der Meere bleibt unangetastet. Die Mächte behalten sich jedoch vor, die an ihre Küsten angrenzenden Gewässer zu Zonen zu erklären, in denen sie besondere Zuständigkeiten ausüben können. Die Mächte stimmen darin überein, daß der Grundbesitz der Freiheit der Meere insbesondere auch die Ausbeutung der in und unter den Meeren aufgefundenen nutzbaren Vorkommen einschließt.

Die Videokopie des alten Films flimmerte und flackerte ein wenig. Das Bild sah vergilbt aus. Aber die Schreibmaschinenschrift war deutlich zu erkennen. Olivera lehnte sich auf der Couch zurück.

»Hübsch, Daniel, wie?« sagte er. »Ach, und es kommt noch viel hübscher.« Er streckte sich zufrieden.

Seite 5 wird aufgedeckt.

6.

Sollten Meinungsverschiedenheiten über die Ausdehnung der Gebiete besonderer Verantwortung der beiden Mächte entstehen, werden diese unverzüglich in Verhandlungen darüber eintreten und die Frage im Wege einer freundschaftlichen Verständigung lösen.

»Freundschaftlich! Schon wieder dieses Wort!« sagte Mercedes und unterbrach die Projektion. »Verstehen Sie, Daniel? Sie sind Freunde, die beiden Superfeinde, die einander gleich nach dem Krieg und bis heute immer wüster, immer infamer beschimpfen, bedrohen, verfluchen, zum ›Hort alles Bösen‹ erklären, zum ›kapitalistischen Verbrechersumpf, zu Mördern und Banditen‹ die allein auf Macht bedacht seien, zur tödlichen Gefahr für die Menschheit, weshalb man rüsten muß, rüsten, rüsten, um diese Welt vor dem Untergang zu retten. Theater, Daniel, Theater! Kasperletheater. Die ergebnislosen Abrüstungsgespräche: Theater! Hereinspaziert, meine Herrschaften, immer hereinspaziert! Hier sehen Sie das große, das Superwelttheater. Hier zeigen wir Ihnen, wie wir uns hassen. Was für ein gefährlicher, skrupelloser Schwerstkrimineller der andere ist. Wie man ihn deshalb ausmerzen, ausbrennen, vom Antlitz der Erde tilgen muß. Und wir alle, Milliarden, wir leben in diesem Zirkus des Betrugs, wir glauben den Betrügern, wir zittern um unsere Welt. Wir sehen ein, es muß weitergerüstet werden, weiter, weiter, weiter. Nur so haben wir noch eine Chance, den einen Bösen niederzuringen oder den anderen, den einen Bösen in Schach zu halten oder den anderen. Wählen Sie, Herrschaften, immer nur wählen! Es ist ganz gleich, was Sie wählen. Die Großen haben sich verständigt neunzehnhundertdreiundvierzig in Teheran, als sie die Welt aufteilten unter sich. Das Spiel wurde schon damals gemacht. Rien ne va plus!«

»Aber ich verstehe nicht ...«

»Was verstehen Sie nicht, Daniel?«

»Rüsten, rüsten! sagen Sie. Die rüsten ja wirklich, die rüsten so wahnsinnig, die beiden Supermächte, daß ihre Volkswirtschaften dabei draufgehen.«

»Natürlich!«

»Ja, aber warum, verflucht, wenn sie sich die Welt doch geteilt haben und in allem einig sind – menschenverachtend und zynisch?«

»Ah«, sagte Olivera und streckte sich wieder. »Eine sehr gute Frage. Du wirst eine sehr gute Antwort darauf bekommen, Daniel, wenn du Punkt fünfzehn gelesen hast. Dann wirst du alles verstehen, was Mercedes sagt. Punkt fünfzehn. Warte Punkt fünfzehn ab. Weiter, Mercedes, mein Liebling, bitte!«

Sie ließ den Film wieder laufen und sagte: »Punkt sieben und acht, Daniel, passen Sie auf jetzt!«

7.

Sollten in den Gebieten besonderer Verantwortung einer der Mächte Situationen entstehen, die diese veranlassen, ihrer Verantwortung aktiv nachzukommen, wird diese alle Maßnahmen ergreifen, die sie für notwendig erachtet, um gegen jede Verletzung des Friedens und der Sicherheit Vorsorge zu treffen. Die andere Macht wird diese Maßnahmen respektieren und sich ihrerseits bei allen von ihr selbst aus diesem Anlaß zu ergreifenden Maßnahmen der Verpflichtungen aus dieser Übereinkunft bewußt sein und nichts unternehmen, was die Stellung der anderen Macht beeinträchtigen könnte.

»Na, bitte!« Mercedes drückte wieder auf die Stoptaste. Das Bild blieb stehen. »Offener kann man es doch wahrhaftig nicht formulieren! Wo überall sind solche Situationen angeblich schon entstanden? Beim Prager Frühling? Als ihn Sowjetpanzer niederwalzten? Als die Rote Armee die ganze Tschechoslowakei besetzte und den ›Frühling‹ in einem Meer von Blut und Tränen untergehen ließ? Die Amerikaner wußten durch den deutschen Bundesnachrichtendienst schon vorher von dem Überfall. Die Sowjets hatten sie indirekt verständigt. Der Überfall war einfach unumgänglich, um gegen jede Verletzung des Friedens und der Sicherheit Vorsorge zu treffen! Was haben die Amerikaner getan? Sie haben sich an das Protokoll gehalten – genauso wie die Sowjets sich an das Protokoll halten und einsehen, daß die Amerikaner in Nicaragua, Grenada und ganz Mittelamerika ›gegen jede Verletzung des Friedens und der Sicherheit Vorsorge‹ treffen müssen. Die Sowjets betragen sich genauso korrekt wie die Amerikaner. Hut ab! So, wie man es von Gentlemen erwartet.«

Mercedes drückte die Zigarette aus. Ross starrte sie an. »Neunzehnhundertfünfzig, Korea! Nordkoreanische Truppen überschreiten den achtunddreißigsten Breitengrad nach Südkorea. Der Status quo zwischen den vereinbarten Einflußgebieten der beiden Supermächte ist bedroht, militärisch und politisch. Der Sicherheitsrat verurteilt Nordkorea als Aggressor. Aufstellung einer UN-Streitmacht gegen den Aggressor. Die Amerikaner, die ein besonderes Interesse am Status quo in Korea haben, tragen die Hauptlast des Krieges. Die Amerikaner müssen eingreifen. Nach dem Wortlaut des Protokolls! ›Frieden und Sicherheit‹ eines Gebietes ihrer ›besonderen Verantwortung‹ stehen auf dem Spiel! Die Sowjets sehen das ein. Sie unterstützen Nordkorea nicht. Höchstens mit Waffen und Geld. Hunderttausende fallen – für Frieden und Sicherheit.« Mercedes fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. »Libanon!« sagte sie, immer in der gleichen übersachlichen, unnatürlich ruhigen Art. »Libanon achtundfünfzig und Libanon heute. Achtundfünfzig müssen die Ledernacken der Amerikaner landen, um einen Bürgerkrieg zu ›befrieden.‹ Heute müssen sie das wieder. Es geht um Frieden und Sicherheit. Die Sowjets sehen es ein. Warum? Weil es doch so vereinbart worden ist in Teheran!«

Ross starrte Mercedes immer noch an.

»Ungarn neunzehnhundertsechsundfünfzig!« fuhr sie fort. »Aufstand gegen die kommunistischen Machthaber. Sowjetpanzer und Sowjettruppen schlagen den Aufstand blutig nieder. Zehntausende werden getötet. Hunderttausende fliehen ins Ausland. Was tut Amerika? Nichts tut Amerika. Es respektiert das sowjetische Vorgehen. Die Sowjets halten sich genau an Punkt sieben des Geheimprotokolls. ›Frieden und Sicherheit‹ eines Gebiets ihrer ›besonderen Verantwortung!‹ Und Frieden und Sicherheit kehren ein in Ungarn – wie in Korea, wie in der Tschechoslowakei ...«

»Und Afghanistan«, sagte Olivera. »Nach der Vertreibung des Königs gibt es verschiedene kommunistische Parteien, die nichts von Moskau wissen wollen. Die Moskautreuen Kommunisten aber geraten immer mehr ins Hintertreffen und laufen Gefahr, aus dem Land gejagt zu werden. Es handelt sich nur um eine kleine Splittergruppe. Aber bitte: Anruf genügt, schon fallen die Freunde in Afghanistan ein.« Olivera räusperte sich. »Spekulationen im Westen unterstellen den Sowjets freilich, daß sie den Zugang zum Indischen Ozean wollen. Der ›Weg zum warmen Meer‹ gehörte schon zur zaristischen Politik. Wir alle müssen der Sowjetunion danken, daß sie Afghanistan Frieden und Sicherheit gebracht hat.«

»Nicht ohne – wie immer – zuvor die Amerikaner davon verständigt und deren Zustimmung eingeholt zu haben«, sagte Mercedes. »Was tun die Amerikaner? In ihren Medien protestieren sie empört, genauso wie die sowjetischen Medien jedes Mal empört reagieren. Tun? Was tun die Amerikaner? Nichts. Wirklich, sie sind ehrbare Vertragspartner. Jedem seine halbe Welt!« Sie holte Atem. »Siebzehnter Juni dreiundfünfzig: Aufstand in der DDR gegen das SED-Regime. Sowjetische Soldaten mit Panzern schlagen ihn blutig nieder.« Mercedes wurde immer eisiger. »Was tun die Amerikaner? Nichts.«

»Dreizehnter August einundsechzig. Die Berliner Mauer wird gebaut. Was tun die Amerikaner?« fragte Olivera. »Nichts. Ein Dutzend Panzer, ein halbes Dutzend hätte genügt, um die Mauer niederzuwalzen. Taucht ein einziger Panzer auf? Natürlich nicht. Wieder haben die Sowjets ihre Vertragspartner zuvor verständigt und auf das Protokoll verwiesen. Die Amerikaner sehen ein, daß die Mauer für die Sowjets notwendig ist wie für sie Südkorea. Aber bitte sehr, sagen die Amerikaner, bedient euch, baut die Mauer! Ihr habt da einen schweren Krisenherd. Schafft ›Frieden und Sicherheit‹! Wir wünschen euch alles Gute.«

Er hatte immer schneller gesprochen, noch schneller fiel jetzt Mercedes ein: »Vietnam! Wieder eine Situation, die Amerika veranlaßt, seiner Verpflichtung nachzukommen. Ein langer, langer Krieg! Viele Hunderttausende Tote, Verstümmelte, von Napalm verbrannte, von abgesprühtem Gift getötete Menschen! Kleine Menschen, unwichtige Menschen. Auch Amerikaner. Ein Land zerstört. Eine uralte Kultur zerstört. Unwichtig! Amerika muß seiner Verpflichtung nachkommen, ›Frieden und Sicherheit‹ in einem ›Gebiet seiner besonderen Verantwortung‹ herzustellen. Mit einem bestialischen Krieg. Die Sowjets sehen es ein. Die Sowjets liefern dem Norden Waffen, aber sie greifen nicht aktiv ein. Die Sowjets können ganz ruhig sein. Alles wurde in Teheran festgelegt. Jeder hat das Seine. Jeder achtet das, was dem anderen gehört. Sollen Menschen doch verrecken zu Millionen, wenn es sein muß, Amerika und die Sowjetunion sind die Besitzer der Welt! Die Welt gehört ihnen, jedem die Hälfte. Aber muß das Schlachtvieh Menschheit das wissen? Darf es das wissen? Niemals! Nie!«

»September dreiundachtzig«, sagte Olivera. »Sowjetische Jäger schießen einen Jumbo der südkoreanischen Gesellschaft KAL mit zweihundertneunundsechzig Menschen an Bord ab, weil er südwestlich von Sachalin in den sowjetischen Luftraum eingedrungen ist. Zuerst ungeheuere Empörung. Der amerikanische Präsident droht mit dem Ärgsten. Dann ist es sehr schnell wieder still, ganz still um diesen Massenmord. Flog da nicht im Schatten des Jumbos ein amerikanisches Spionageflugzeug? Reden wir nicht mehr darüber! Sarajewo, der angeblich polnische Überfall auf den Sender Gleiwitz – sie haben den Ersten und den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Und diesmal? Nichts geschieht. Überhaupt nichts. Welch ein Segen für die Menschheit ist doch das beidseitige Geheimprotokoll von Teheran!«

Der Film läuft weiter.

8.

Die Mächte gehen davon aus, daß die Staaten Europas versuchen werden, ihre durch Ereignisse des gegenwärtigen Krieges verlorene politische Bedeutung wiederzuerlangen.

»Jetzt paß auf, Daniel!« sagt Olivera.

Sollten sich daraus Situationen ergeben, welche die durch diese Übereinkunft errichtete Ordnung der Sicherheit und des Friedens gefährden könnten – beispielsweise in dem ständigen Unruheherd Deutschland –, wird sich jede Macht gegenüber den zu ergreifenden Maßnahmen der anderen Macht verständnisvoll verhalten, und die Mächte werden notwendigerweise gemeinsam gegen diese Bedrohung von Frieden und Sicherheit vorgehen.

»Notwendigerweise gemeinsam!« rief Mercedes. »Und tun die Mächte das nicht? Tun sie das nicht mit allem, was in ihren Kräften steht? Hat die Nachrüstung nicht noch einmal Hunderte von Atomwaffen nach Deutschland gebracht, in diesen ständigen Unruheherd, der Frieden und Sicherheit gefährdet? Pershings-Zwei und Cruise Missiles? In dieses Deutschland, in dem schon fünftausend Atomsprengköpfe lagerten – mehr als in irgendeinem anderen Land Europas? Und haben die Sowjets daraufhin nicht in der DDR neue Abschußrampen für ihre SS-Zwanzig errichtet? Ist nicht ganz Deutschland eine einzige Atomrampe? Niemand weiß wirklich, was geschieht, wenn eine Atombombe der heutigen Stärke – Hiroshima war nur ein Witz dagegen – explodiert. Niemand! Niemand weiß, was geschieht, wenn fünfzig, hundert, zweihundert Wasserstoffbomben explodieren. Keine Ahnung haben die Wissenschaftler. Die Militärs erst recht nicht. Aber man muß es doch wissen! Man muß doch informiert sein! Es gibt begrenzte Atomkriege, sagt Reagan.

Man kann sie sogar gewinnen. Na, also dann los! Lassen wir den ständigen Unruheherd Deutschland, lassen wir das ganze verdammte Europa hochgehen! Gehen damit sechshundert Millionen Menschen hops! Na und! Die Erde ist ohnedies unerträglich übervölkert. Zeit, daß etwas geschieht. Sechshundert Millionen. Was ist das schon? Tropfen auf einen heißen Stein. Also vorwärts! Hoch die Pershings-Zwo! Hoch die SS-Zwanzig! Hoch die Cruise Missiles! Dann werden wir wissen, was passiert.« Mercedes hielt sich am Fernsehapparat fest und unterdrückte ein Beben ihres Körpers. Ross fiel ihr Ausbruch in Frankfurt ein. Sie war eine Fanatikerin.

»Für den Frieden, ja. Für den Frieden alles. Mein Leben sofort! wenn das den Frieden erhalten hilft.« Das hatte sie gerufen, er erinnerte sich genau. Staunend sah er sie an. Was für eine Frau! »Aber ich verstehe nicht ...« Ross blickte zu Olivera. »Wieso Atomkrieg in Deutschland? ... In Europa? Die beiden Supermächte wollen doch keinen Atomkrieg, in den sie selbst hineingezogen werden! Konventionelle Kriege, ja! Vietnam, okay! Aber doch keinen Atomkrieg, der sie selber treffen muß!«

»Natürlich wollen sie das nicht, Daniel«, sagte Olivera. »Aber Mercedes ...«

»... hat die Nerven verloren. Sieht alles zu nah. Nah genug ist es. Aber noch nicht ganz so nah. Noch ist keiner der beiden Großen sicher, ob er den anderen auch wirklich schaffen kann. Sie bereiten sich vor, gewiß, sie stopfen die Welt voll mit Atomraketen, besonders Europa. Aber sie wollen absolut geschützt sein vor einem Atomangriff auf das eigene Land. Warte Punkt fünfzehn ab, Daniel, dann wirst du verstehen. Bitte, Mercedes, Laß den Film weiterlaufen! Und beruhige dich, du mußt dich beruhigen ...«

»Ich muß mich nicht beruhigen, ich muß mich aufregen!« rief sie.

Der Film läuft weiter.

9.

In Situationen, in denen es sich als notwendig erweisen sollte, daß eine der Mächte Maßnahmen in Wahrnehmung ihrer besonderen Verantwortung ergreift, wird sie zuvor die andere Macht in ...

Seite 6 ist jetzt auf dem Fernsehschirm zu sehen. ... geeigneter Weise unterrichten.

»Na, das ist ja bisher auch jedes Mal geschehen«, sagte Olivera. Mercedes war auf einen Hocker neben dem Videogerät gesunken. »Vergessen wir übrigens nicht das arme Polen. Als es da losging und die Sowjets bereit waren, beim Ausbruch von Auseinandersetzungen zwischen polnischen Zivilisten und polnischem Militär sofort mit Panzern ins Land zu kommen, teilten sie das der Regierung Reagan natürlich auch mit. Die Amerikaner konnten eine strenge Haltung Polen gegenüber nur richtig finden. Sie sahen ein, daß die Sowjets nicht ein Gebiet ihrer ›besonderen Verantwortung‹ aus den Ländern des Ostblocks mit einer freien Gewerkschaft und anderen Freiheiten ausbrechen lassen durften, und so sperrten die Amerikaner Polen die Lebensmittellieferungen, obwohl sie wußten, daß die Menschen dort hungerten – aber sie lieferten den Sowjets wie zuvor riesige Weizenmengen. Auch da hatte alles seine Ordnung. Genau nach dem Protokoll.«

Für die Übermittlung dringender Informationen in Situationen, die der sofortigen Klärung bedürfen, werden die Mächte eine direkte Fernmeldeverbindung zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken einrichten. Darüber hinaus werden die Mächte weitere notwendige Informationen unter höchster Geheimhaltung auf jedem anderen Wege einschließlich diplomatischer Kanäle austauschen. Die Botschafter der Mächte haben jederzeit das Recht, mit der respektiven Regierung vorrangig in Verbindung zu treten. Die Regierungschefs der Mächte werden sich treffen, wenn die Lage es angezeigt erscheinen läßt.

10.

Die Mächte anerkennen die Notwendigkeit, eine allgemeine internationale Organisation zur Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit zu schaffen. Die Mächte werden in dieser künftigen Organisation der Vereinten

Nationen nach Kräften mitarbeiten.

»Nach Kräften mitarbeiten!« sagte Mercedes, die sich gefangen hatte, mit wieder ruhiger Stimme. »Und wie sie mitarbeiten! Welche Erfolge, welche großartigen Erfolge hat die UNO doch zu verzeichnen!«

Sie sind sich indessen bewußt, daß sie die Existenz einer solchen Organisation nicht der besonderen Verantwortung enthebt, die sie nach dem Inhalt dieser Übereinkunft wahrzunehmen haben.

»Womit der Wert der UNO gleich Null ist, wie man jeden Tag sehen kann«, sagte Olivera. Er lachte. »Gefällt dir, was ich da biete, Daniel? Es ist doch eine ganze Menge, wie?«

Ross antwortete nicht.

Bei der bevorstehenden Ausarbeitung der Satzung dieser Organisation werden die Mächte dafür Sorge tragen, daß eine Beeinträchtigung der von einer Macht in Wahrnehmung ihrer besonderen Verantwortung ergriffenen Maßnahmen seitens der Organisation der Vereinten Nationen oder eines dritten Staates nicht stattfinden wird.

»Das ist für mich der schönste Satz«, sagte Olivera. »Ich kann ihn immer wieder lesen.«

Plötzlich war da die Angst. Sie schoß in Ross hoch wie eine Fontäne. Angst ... Angst ... Er schluckte ... Die Luftblase, die es nicht gab, pochte gegen sein Herz ... Schnell holte er das Röhrchen hervor, öffnete es, ließ Tabletten auf die Hand fallenfünf, sechs, sieben, acht – und schluckte sie. Seine Knie schlotterten. Er sah, daß Mercedes bemerkt hatte, was er tat. Egal, sie weiß, was mit mir los ist, dachte er. Dieser Lump da hat es nicht gesehen. Das allein ist wichtig.

11.

Die Mächte werden für den Bereich der Gebiete ihrer besonderen Verantwortung zur Aufrechterhaltung und Sicherung von Frieden und Sicherheit geeignete Staatenverbindungen ins Leben rufen ...

»Die NATO, den Warschauer Pakt! Organisationen, die beide Seiten gegründet haben zum Schutz voreinander, zum gegenseitigen Angriff. Und ihre Entstehung haben sie in Teheran in freundlichstem Einvernehmen beschlossen, um die Welt aufzuteilen«, sagte Mercedes.

... um durch diese Zusammenschlüsse militärischer, politischer oder wirtschaftlicher Zielsetzung in Zukunft in den betreffenden Gebieten eine kontinuierliche Politik zu bewirken.

Ross atmete flach und vorsichtig. Es ging ihm ein wenig besser. Nein, dachte er, zuerst muß ich schnellstens zu Sibylle und mich wieder auf die Beine bringen lassen. Dann erst habe ich die Kraft, mich um diese Geschichte zu kümmern. Die

größte Geschichte des Jahrhunderts.

Seite 7 ist nun im Bild.

12.

Im Bewußtsein, daß ihr langfristiger Bedarf an Erdöl und anderen Mineralien erheblich zunehmen wird, betrachten die Mächte ihre Versorgung mit diesen Rohstoffen als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse.

Die Mächte erwarten große Fortschritte bei der Erkundung und Nutzung des Weltraums. Sie betrachten den Weltraum und die sich dort eröffnenden Möglichkeiten als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse.

14.

Die Mächte erwarten eine schnelle Weiterentwicklung von unbemannten Flugkörpern mit Raketenantrieb für militärische Zwecke sowie von Waffen auf der Basis der Anwendung der Kernspaltung. Damit diese Entwicklung nicht zu einer Gefährdung der Ziele dieser Übereinkunft führt, werden die Mächte bei diesen Waffen keine entscheidende Überlegenheit über die andere Macht anstreben. Andererseits werden die Mächte durch gemeinsame Anstrengungen dafür Sorge tragen, daß die durch diese Techniken eröffneten Möglichkeiten nicht in die Verfügungsgewalt dritter Staaten gelangen. Sollten sich die Mächte genötigt sehen, von diesen Waffen Gebrauch zu machen, wird deren Einsatz in einer solchen Weise erfolgen, daß die Hoheitsgebiete der Mächte unter keinen Umständen in Mitleidenschaft gezogen werden.

»Wasserstoffbomben, Atomraketen auf die ganze Welt, auf das verfluchte Europa, aber niemals eine sowjetische Rakete auf Amerika, niemals eine amerikanische auf Sowjet-Rußland!« rief Mercedes, wieder erregt. »Daß Hopkins und Woroschilow nicht an dieser Formulierung erstickt sind! Sie haben doch damals

schon genau gewußt, daß alle Erforschung des Weltraums ausschließlich militärischen Zwecken dienen wird! Heute haben wir Satelliten im All, die abrufbare atomare Sprengköpfe tragen. Heute haben wir die Himmelsspione, die aus ihrer irrsinnigen Höhe noch das Nummernschild eines Autos auf dem Territorium fotografieren und melden können, das sie gerade überqueren. Heute haben wir Killersatelliten, die anfliegende Raketen in der Luft zerstören. Jetzt werden Sie gleich alles begreifen, Daniel, die ganze ungeheuerliche Infamie, die wirkliche Infamie dieses Abkommens, den wahren Grund dafür, daß dieses Abkommen neunzehnhundertdreiundvierzig geschlossen worden ist. Es ist ärger, als ein Menschenhirn fassen kann. Warten Sie! Noch einen Moment ... Warten sie auf Punkt fünfzehn!«

Schlußbestimmungen:

15.

Die vorstehende Übereinkunft soll Gültigkeit haben bis zum

1. Januar 2000. Bis dahin bindet sie die gegenwärtigen und künftigen Regierungen der beiden Mächte. Jede der beiden Mächte ist in Ausübung ihrer staatlichen Souveränität berechtigt, von dieser Übereinkunft zum Zeitpunkt des 1. Januar 2000 zurückzutreten, wenn sie entscheidet, daß durch außergewöhnliche, mit dem Inhalt dieser Übereinkunft zusammenhängende Geschehnisse eine Gefährdung ihrer höchsten Interessen eingetreten ist. Jede der beiden Mächte muß dabei jedoch eine rechtzeitige Kündigung dieser Vereinbarung beachten, die wir auf fünf Jahre vor Ablauf festlegen, also auf den 1. Januar 1995. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist der anderen Macht der eventuelle Rücktritt von der Vereinbarung mitzuteilen. Die Mitteilung hat eine Darlegung der außergewöhnlichen Geschehnisse zu enthalten, durch die nach Ansicht der die Mitteilung machenden Macht eine Gefährdung ihrer höchsten Interessen eingetreten ist.

Mercedes drückte die Stoptaste des Videogeräts. Das Bild auf dem Fernsehschirm blieb stehen.

»Und jetzt«, sagte sie, »wären wir soweit. Jetzt werden Sie verstehen, Daniel, warum dieses beidseitige Geheimabkommen damals in Teheran überhaupt geschlossen worden ist.«

»Weil Amerika und Sowjet-Rußland eine Atempause brauchten«, sagte Ross, und seine Stimme war klanglos. Er preßte eine Hand gegen die andere.

»So ist es! Weil diese beiden Mächte eine Atempause brauchten und das wußten.« Mercedes war nun sehr erregt.

Er dachte: Wenn ein Mensch auf der Welt ahnt, was wir drei hier wissen, was wir als Beweis haben. Wenn ein Mensch einer der beiden Mächte das auch nur als Vermutung mitteilt ... Mercedes rief: »Deutschland war noch nicht besiegt! Die Amerikaner wußten, daß die Invasion für sie eine ungeheuere militärische Anstrengung – die größte der Geschichte – sein würde. Die Sowjets hatten vom Osten her noch gegen Deutschland zu kämpfen. Der sowjetische Geheimdienst meldete – das steht heute fest –, daß die Amerikaner bereits eine Atombombe bauten. Die sowjetische Forschung lag weit, viel zu weit, zurück. Die Sowjets mußten aufholen, sie mußten ebenfalls die Atombombe haben, bevor es ein Gleichgewicht der Mächte gab. Rußland war zerstört bis zum Kaukasus. Zwanzig Millionen Menschen waren getötet worden. Das Land stand nahe am Kollaps, das wußten die Sowjets, und sie wußten, daß die Amerikaner das wußten. Und die Amerikaner wiederum wußten, daß die Sowjets wußten, daß die Amerikaner nach der deutschen Kapitulation beinahe ihr ganzes Volksvermögen in das zerstörte Europa würden stecken müssen, jedenfalls in den westlichen Teil, um die verwüsteten Länder wieder aufbauen zu helfen, um die Menschen in diesen Ländern zu Feinden des Kommunismus zu machen, um neue europäische Armeen zu schaffen, auch eine deutsche, die mit ihnen gegen die Sowjets kämpfen würden. Und die Russen wußten dasselbe von den Ländern, die nun unter ihre Herrschaft fielen bei der Teilung der Welt. Auch sie brauchten neue Armeen in diesen Ländern, die mit ihnen gegen die Amerikaner kämpften, darunter eine deutsche Armee. Deutsche Armeen brauchte es zwei! Die Sowjets wußten, daß sie ihre Bevölkerung am Leben halten mußten. Und die Amerikaner befürchteten nach den irrsinnigen Ausgaben für die Rüstung Arbeitslosigkeit für viele Millionen Menschen und den Zusammenbruch der Wirtschaft. Ja, eine Atempause brauchten sie. So lange, bis sie wieder oben waren. Stark. Bis an die Zähne gerüstet. Bis an die Grenzen der Möglichkeit in ihrem Territorium – alle anderen waren ihnen egal – unverwundbar.«

»Glauben Sie das wirklich?« fragte Ross erschüttert. »Ich meine: Glauben Sie wirklich, Hopkins und Woroschilow gingen schon in Teheran davon aus, daß ihre beiden Riesenländer sich den nächsten Riesenkrieg liefern würden? Ist das nicht zu phantastisch? Schlimm genug, wenn sie sich daranmachten, die Welt zu teilen, aber das kann ich mir eben noch vorstellen. Dafür sprach bei Roosevelt und bei Stalin vielleicht wirklich der – ebenfalls schwer erträgliche – Gedanke, auf diese Weise mit vielen Millionen Menschen zwar selbstherrlich und willkürlich zu verfahren, aber so doch eine Katastrophe vom Ausmaß der letzten zu verhindern. Sie brauchten eine Atempause, sagte ich – aus heutiger Sicht. Damals ... vielleicht wollten Roosevelt und Stalin damals wirklich den Frieden sicherer machen, indem sie ihre Interessen – die Interessen der beiden Supermächte – gleich von vornherein festlegten. Kann es nicht auch so gewesen sein?« Stockend sagte Mercedes: »Vielleicht, Daniel. Zugegeben, das ist eine Möglichkeit. Ich glaube nicht an sie, aber es ist eine Möglichkeit. Die beiden Großen wollten sich ein für allemal arrangieren auf Kosten des Rests der Welt – und dann sollte es Frieden geben oder nur kleine, begrenzte Kriege. Lassen Sie uns unterstellen, daß die Verfasser dieses Protokolls wenigstens noch solcher – auch schon dubioser – menschlicher Gefühle fähig waren. Eines ist sicher: Sie mißtrauten einander bereits damals zutiefst! Ganz gewiß wußte kein Mensch auf beiden Seiten auch nur mit einiger Sicherheit vorauszusagen, ob zwei so unterschiedliche Gesellschaftssysteme auf Dauer in Koexistenz leben können würden. Sie können es nicht, wir sehen es. Schon neunzehnhundertachtundvierzig kam es zur Blockade Berlins. Da prallten die beiden Mächte bereits zum erstenmal zusammen. Nach drei Jahren Ruhe nur, nur nach drei Jahren Ruhe! Sie wissen, was Churchill, den sie nicht mitspielen ließen – sie ließen niemanden mitspielen –, gesagt hat. Er hat gesagt: ›Ich fürchte, wir haben das falsche Schwein geschlachtet.‹ Sehr, sehr verzweifelt, sein Zynismus. Was geschah achtundvierzig? Nichts. Jeder der beiden Riesen war noch viel zu schwach, um dem andern den Todesstoß versetzen zu können. Spätestens von da ab muß aber selbst der Blauäugigste das Protokoll so auffassen, wie Sie, Daniel, es sofort instinktiv aufgefaßt haben.«

»Aus heutiger Sicht!« wiederholte der laut. »Und weil ich mich zu glauben weigere ...« Er stockte.

»Weil Sie sich zu glauben weigern, der Mensch könne ein derartiger Abgrund sein. Daniel, lieber Daniel, ich fürchte, der Mensch ist ein derartig grauenvoller Abgrund. Wenn die Verfasser und Unterzeichner dieses Protokolls wirklich nicht an die ›Atempause‹ dachten – in ihrem Unterbewußtsein, in the back of their minds, war er da, dieser Gedanke. Davon bin ich überzeugt. Ich kann mir vorstellen, daß alle Beteiligten tiefste Trauer erfüllt hat über die Zukunft der menschlichen Rasse. Ehrliche Trauer. Verzweifelte Trauer. Das Fazit aber war Verantwortung nur der eigenen Nation gegenüber. Und grenzenlose Naivität: Soll doch der Rest der Welt zum Teufel gehen – unsere beiden Nationen müssen überleben! Und dazu brauchten die beiden Mächte eine Zeit der Ruhe, die nicht gestört wurde durch Gezänk in der restlichen Welt, durch – Alptraum im Zeitalter der Atomwaffen – einen zu früh ausgebrochenen neuen Krieg, in den sie hineingezogen wurden, obwohl sie noch nicht perfekt unverwundbar und superstark waren. Diese Gefahr sollte das Protokoll verhindern, unter allen Umständen. Und darum hielten beide Seiten sich so lange Zeit auch so genau daran.«

››Und die Raumfahrt sollte sie dann perfekt unverwundbar und superstark machen«, sagte Ross.

»Ja, Daniel, ja! Die friedliche, allein wissenschaftlichen Zwecken dienende Raumfahrt, die allein mörderischen, militärischen Zwecken diente. Wann wären für friedliche, vernünftige, der Menschheit dienliche Zwecke jemals solch aberwitzige Geldsummen investiert worden? Wissenschaft? Fortschritt? Lächerlich! Krieg! Krieg! Krieg! Dafür war natürlich Geld da, war schon immer Geld da!«

»Und so wetteiferten sie also und wetteifern noch immer bis zu dieser Stunde«, sagte Daniel, und er hatte das Gefühl, wie in einem Traum zu sprechen. »Sowjets und Amerikaner – um Überlegenheit im Weltall. «

»So ist es, Daniel.« Mercedes nickte. »Die Bombe haben sie beide. Die Raketen auch. Aber die Weltraum-Verteidigungssysteme, die Killersatelliten und sämtliche anderen phantastischen Instrumente, die heute im All kreisen und so etwas wie einen Zaun, eine Mauer gegen anfliegende Raketen bilden sollen, sie genügen noch nicht. Der Zaun ist noch durchlässig. Die Killersatelliten sind nicht die Lösung. Es gibt schon Killersatelliten-Killer! Oh, man wird den Zaun undurchlässig machen. Keine Angst! Es dauert nicht mehr lange. Sehen Sie, deshalb wird bereits alles vorbereitet für einen Atomkrieg, deshalb starren Europa und insbesondere Deutschland- die beiden Deutschland – vor Raketen mit Atomsprengköpfen, deshalb wird die politische Lage immer mehr und mehr verschärft.« Mercedes wurde wieder leidenschaftlich und rief: »Damit in dem Moment, im gleichen Moment, in dem eine der beiden Mächte den totalen Schutz für ihr Territorium gefunden hat, damit dann sofort, in der nächsten Minute, der atomare Angriff gegen die andere Macht geführt werden kann! Erster Januar zweitausend! Einen Dreck werden die beiden Supermächte sich an die Laufdauer des Vertrages und an den ersten Januar fünfundneunzig, die letzte Frist für seine Aufkündigung, halten. Noch ein Jahr. Noch zwei Jahre. Es dauert auf keinen Fall mehr lange. Dann ist eine der beiden Mächte der anderen voraus beim Schutz ihres Landes. Dann ist dieses Protokoll vergessen. Dann schlägt diese Macht zu. Und beide wissen das. Und vier Milliarden Menschen wissen es nicht und beten um Frieden, hoffen auf Frieden, kämpfen für den Frieden. Weil sie die Wahrheit nicht kennen. Weil sie die Wahrheit nicht kennen ...« Ihr Körper bebte wieder.

Ross stand auf, trat zu ihr, drückte sie an sich und strich ihr über den Rücken.

»Hier muß sogar der Teufel weinen«, sagte Mercedes, »und sich abwenden in Grausen vor solchem Menschenfrevel. Die beiden Supermächte arbeiten fieberhaft daran, ihre Länder vollkommen zu sichern. Sie werden es schaffen. Sie werden es schaffen, natürlich! Die Möglichkeit besteht. Es dauert nicht mehr lange. Es dauert nicht mehr lange, dann haben sie es geschafft. Dann schlägt der erste los. Dann kommt die Apokalypse. Und weil das so ist, müssen wir schnell handeln. Schnell. Schnell. Verstehen Sie jetzt, warum die Zeit so drängt? Die Zeit, sie jagt uns wirklich. «

»Ich verstehe«, sagte Ross.

»Dann lesen Sie auch noch den Schluß«, sagte Mercedes und ließ den Film weiterlaufen.

16. Diese Übereinkunft wird in zwei Exemplaren unterfertigt, dessen eines in englischer und dessen anderes in russischer Sprache abgefaßt ist. Die Sprachfassungen sind identisch. Diese Übereinkunft tritt mit der Unterzeichnung in Kraft. Sie wird jetzt und für alle Zeit als strengst geheim behandelt. Zur Sicherung dessen werden beide Exemplare der Übereinkunft nach ihrer Unterzeichnung abgefilmt und in Gegenwart der Unterzeichner vernichtet. Jede Macht erhält ihr Exemplar des Films. Beide Mächte werden das Dokument so behandeln, daß es auf alle Zeiten gegen eine Veröffentlichung, insbesondere durch die Öffnung der normalen Staatsarchive, gesichert ist.

Gegeben zu Teheran am ersten Dezember eintausendneunhundertdreiundvierzig

Der Präsident der In Vollmacht des Rates

Vereinigten Staaten der Volkskommissare der von Amerika Union der Sozialistischen

Sowjetrepubliken

Unterschrift (Franklin D. Roosevelt) (J. W. Stalin)

Das Bild der Seite 8 unten bleibt noch eine Weile stehen, dann BLENDET es aus.

Olivera erhob sich und schaltete den Videorecorder und den Fernseher ab. Er schaltete das Licht von zwei großen Lüstern an. Niemand sprach, als er die Kassette wieder in den Tresor einschloß. Niemand sprach, als er danach von Fenster zu Fenster wanderte und die schweren Eisenrolläden hochgleiten ließ. Er öffnete eines der Fenster. Dann setzte er sich auf die Couch und blickte in den dunklen Kamin.

Mercedes sagte: »Sie fragen sich, warum dieses Protokoll abgefilmt worden ist, Daniel, nicht wahr?«

»Ja«, sagte dieser. »Das frage ich mich allerdings. Die Niederschrift hätte doch genügt.«

»Eben nicht«, sagte Mercedes. »Verstehe ich nicht.« »Die Amerikaner haben den Sowjets schon damals nicht

getraut. Die Amerikaner hatten Angst, daß die Sowjets die Existenz dieses Protokolls, wenn es nur schriftlich vorlag, einfach ableugnen würden, falls es ihnen einmal nicht mehr in den Kram paßte. Dieses Protokoll haben wir nie unterzeichnet, dieses Protokoll hat es nie gegeben, hätten die Sowjets sagen können. Das ist eine Erfindung der Amerikaner, und die Unterschriften sind nicht echt. Ohne Film hätten aber auch die Amerikaner leicht leugnen können, daß es das Abkommen gibt. Darum, verstehen Sie, Daniel, wurde der Film gedreht. Der ganze Film! Die Treffen zwischen Hopkins und Woroschilow. Die Unterzeichnung des Protokolls durch Roosevelt und Stalin. Der Film zeigt die wichtigsten Personen. Was der Film zeigt, kann man nicht einfach ableugnen. Man kann nicht sagen, daß man sich niemals getroffen hatte, um das Protokoll zu unterzeichnen. Auch nicht, daß es das gefilmte Protokoll nie gegeben hat.«

»Nein, das nicht«, sagte Ross. »Aber die Sowjets oder die Amerikaner oder beide hätten trotzdem zumindest sagen können – und das können sie im übrigen noch heute: ›Der ganze Film mitsamt dem Protokoll ist eine Fälschung.‹ Eine Fälschung der Nazis in erster Linie.«

»Das werden sie auf jeden Fall sagen, wenn die Öffentlichkeit nun von dem Film erfährt«, schaltete sich Olivera ein. »Vollkommen richtig überlegt, Daniel. Sie werden es sagen müssen, es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Und wenn der Film tausendmal echt ist.«

»Auch wenn der Film tausendmal gefälscht ist«, sagte Ross. »Er ist echt, Daniel«, sagte Olivera. »Die Bilder sind nun einmal nicht aus der Welt zu schaffen. Die Männer wurden gefilmt. Die Amerikaner, die den Film ja drehten, wollten, wie gesagt, verhindern, daß die Russen die Existenz des Protokolls einfach bestritten. Darum kein schriftlicher Vertrag. Darum ein gefilmter Vertrag mit dem Film seiner Vorgeschichte.«

Ross ging zu dem offenen Fenster. Der abendliche Park und seine wunderbaren Bäume, Sträucher und Blumen lagen vor ihm. Die Luft war süß und schwer vom Duft des blühenden Jasmins. Ross atmete tief.

Dann bemerkte er, daß Mercedes neben ihn getreten war. Ihre Hand ergriff die seine und hielt sie fest. So standen sie stumm, lange Zeit.

Sie aßen schon um acht Uhr zu Abend. Die Lichtbahnen der sinkenden Sonne durchfluteten noch den Park und drangen in das dunkelgetäfelte Eßzimmer mit seinen Gobelins, dem großen Tisch und den Stühlen, die hohe, geschnitzte Lehnen aus schwarzem Ebenholz besaßen. Die lange, viereckige Tafel bot Platz für sechzehn Personen. Miguel hatte nur an einem Ende gedeckt. Mercedes saß zwischen Ross und Olivera. Sie hatten sich umgezogen.

Der so gut aussehende Diener Miguel – er trug noch die weißen Hosen und die weiße, am Hals geschlossene Jacke vom Nachmittag – servierte geschickt und diskret wie der Maitre eines Luxusrestaurants. Schwere Teppiche machten seine Schritte unhörbar. Die Speisen kamen mit einem Aufzug aus der Küche herauf und wurden auf einer ebenfalls geschnitzten Anrichte abgestellt. Der Diener war von größter Höflichkeit. Daniel Ross erfuhr, warum so früh gegessen wurde: Von Freitag abends bis Sonntag früh hatte Miguel frei. Olivera, der immer wieder von seinem Angestellten schwärmte, erklärte, er achte sehr darauf, daß dieser seinen Dienst nicht verspätet beende. Zu besonderen Anlässen, beispielsweise wenn Olivera just am Freitag eine Einladung gab und Miguel Morales benötigt wurde, verschob der Diener natürlich seine Freizeit.

Miguel offerierte den zweiten Gang. Mercedes nahm sehr wenig, desgleichen Ross. Olivera hatte guten Appetit.

»So geht das aber nicht«, sagte er. »Ihr müßt ordentlich essen, meine Kinder!«

»Mir ist immer wieder elend, wenn ich den Film sehe«, sagte Mercedes. Sie trug jetzt ein dunkelgrünes Kleid.

Ross schaute Miguel nach, der mit einer schweren Silberplatte zur Anrichte zurückging, dann sah er Olivera an. »Versteht er wirklich nicht Deutsch?«

»Kein Wort, Daniel. Köstlich, der Fisch. Ganz köstlich.« Olivera sprach spanisch mit Miguel, welcher erfreut lächelte und sich verneigte. Der Diener sagte etwas. »Er ist sehr betrübt darüber, daß ihr so wenig eßt«, übersetzte Olivera. Und wieder spanisch zu dem Diener: »Der weite Flug, weißt du. Der Klimawechsel.«

»O natürlich, Senor. Wie dumm von mir, daran nicht zu denken.«

Der dritte Gang kam: Fleisch. Olivera nahm ein großes Stück. Er schien bester Laune zu sein. Mercedes und Ross lehnten ab. Mercedes sagte zu Miguel: »Morgen ist wieder alles in Ordnung.«

»Ich hoffe es von Herzen, Senorita«, sagte der Diener ernst. Auch vom Käse und vom Dessert aß nur Olivera. Mokka tranken sie dann alle. Miguel hatte zuvor Teller und Bestecke fortgeräumt und sie wie die Servierplatten mit dem Aufzug hinunter in die Küche geschickt.

Olivera sah auf die Uhr. Es war Viertel vor neun. »So«, sagte er, »Schluß für dich, Miguel. Wir werden nachher

wieder in die Bibliothek gehen. Drinks kann ich selber machen. Also hopp, verschwinde!«

»Ich danke, Senor.«

»Was hast du vor heute Abend?«

»In Chacarta gibt es eine neue Diskothek.«

Olivera übersetzte für Ross. Er sagte: »Das ist ein Stadtteil weiter westlich.« Und wieder spanisch zu Miguel: »Hast du noch immer die niedliche Rothaarige?«

»Carmelita? Nein, Senor.« Miguel wurde verlegen. »Ich habe Schluß gemacht mit ihr.«

»Warum?«

»Sie war zu eifersüchtig.«

»Natürlich hast du schon eine andere.«

»Ja, Senor. Sie heißt Maria Perichole.«

»Schwarz?«

»Blond. Fast golden. Langes, goldenes Haar.« »Der Knabe wechselt die schönsten Mädchen der Stadt wie

seine Hemden. Kunststück, wenn man so aussieht!« Miguel verneigte sich noch einmal und sagte ein paar Worte.

»Er wünscht uns allen einen schönen Abend«, übersetzte Mercedes.

»Sei brav, Junge!« sagte Olivera. »Und wenn du schon nicht brav sein kannst, sei vorsichtig!«

Miguel lachte, zeigte dabei seine schönen Zähne und verschwand.

»Im ganzen Land findest du nicht noch so einen Diener wie Miguel«, sagte Olivera. »Ich muß meinem Freund, dem General Alvarez, wirklich dankbar sein, daß er ihn mir geschickt hat. So etwas von Treue, von Ergebenheit! Hat er nicht perfekt serviert? Genauso perfekt fährt er Auto. Hält den Garten in Ordnung. Repariert einfach alles, was kaputtgeht. Und ist ein phantastischer Masseur, also wirklich.« Zu Ross sagte er: »Er soll dich auch massieren, Daniel. Dein Körper braucht es dringend.«

»Ja, ja«, sagte Ross.

»Nein, nein! Du bist nicht mehr so jung. Dein Herz, dein Kreislauf. Schau mich an! Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht mindestens zwei Stunden etwas für meine Gesundheit tue. Das mußt du einfach auch machen. Versprich mir das, ja?«

»Ja«, sagte Ross. »Ja, verflucht.« Olivera lachte. »Schau nicht so erschreckt, Mercedes! Daniel will jetzt mit

dem gehaßten Vater zusammenarbeiten. Das ist schon arg. Nein, wirklich, ich kann mich in deine Lage versetzen, Daniel.« Olivera lachte wieder schallend.

Miguel Morales hörte ihn. Er war gerade in die Bibliothek getreten und hatte das Licht angeknipst. Nun kroch er unter den niedrigen Marmortisch, der beim Kamin stand, legte sich auf den Rücken und suchte kurze Zeit. Dann nahm er von der Unterseite der Marmorplatte einen halbkugelförmigen Gegenstand ab. Der Gegenstand war aus Metall und hatte die Größe eines Zweimarkstückes. Es war eine sogenannte Wanze, ein winzig kleines elektronisches Instrument, das ein hochempfindliches Mikrofon und einen starken Transmitter hatte. Die Wanze – japanisches Erzeugnis – konnte Gespräche, welche das Mikrofon aufnahm, bis zu dreihundert Meter weit senden, selbst durch Betonwände und Betondecken. Miguel hatte sie an die Unterseite des Marmortisches geklebt, als er am Nachmittag die Teetassen forträumte. Er hatte dabei einen Löffel fallen lassen, um einen Vorwand dafür zu haben, sich tief bücken und unter dem Tisch suchen zu müssen. Niemandem war etwas aufgefallen. Olivera hatte recht: Miguel war in der Tat ungemein geschickt.

Der junge Mann mit der glatten, dunkelgetönten Haut und den großen schwarzen Mandelaugen steckte die Wanze in eine Tasche seines weißen Anzugs. Aus einer anderen Tasche nahm er eine neue, noch ungebrauchte. Gleich darauf hatte er sie anstelle der alten unten an der Marmortischplatte befestigt.

Nun verließ er die Bibliothek und ging in den zweiten Stock des Hauses hinauf. Dort hatten die Angestellten ihre Zimmer. Miguel sperrte das seine auf, trat ein und verschloß die Tür hinter sich wieder. Der Raum war groß, nebenan gab es ein Bad. Die Wände des Zimmers hatte Miguel mit Fotografien und Plakaten von berühmten Filmstars und den beliebtesten argentinischen Schlagersängern vollgeklebt. In einer Ecke befand sich ein Tischchen mit einer sehr bunten Madonna aus bemaltem Ton. Eine Vase voll Blumen stand daneben; Miguel sorgte immer für frische. Oft kniete er vor dem Tischchen. Miguel war fromm.

Er ging ins Bad und dort zum Klosett. Wieder kauerte er auf dem Boden. Hinter der Muschel zog er einen elektronischen Empfänger vom Ausmaß einer Zigarillopackung sowie einen etwas größeren Recorder hervor. Empfänger und Recorder waren durch ein dünnes Kabel miteinander verbunden und ebenfalls in Japan hergestellt. Es handelte sich um Spezialanfertigungen, zu denen größere Kassetten gehörten. Eine Seite konnte bis zu drei Stunden aufnehmen, und die Kassette mußte, wenn diese Zeit abgelaufen war, nicht umgedreht werden. Ohne Wenden nahm der Recorder auf der zweiten Kassettenseite weitere drei Stunden auf. Ferner schaltete sich das Gerät selbständig ein, sobald es vom Empfänger Geräusche, Gespräche oder Einzelstimmen übermittelt bekam, welche die Wanze sendete. Der Recorder schaltete sich aus, falls er länger als fünf Minuten keine Impulse erhielt, und er schaltete sich sofort neuerlich ein, wenn der Empfänger von der Wanze neue Angebote zur Registrierung bekam.

Miguel öffnete den Recorder und nahm die große Kassette. Er ging in sein Zimmer zurück, das mit Möbeln eingerichtet war, die ihm gehörten und die er mitgebracht hatte, wie seinen Kleiderschrank mit zwei Schubladen für Unterwäsche und Strümpfe. Die linke Lade zog Miguel heraus. Dreimal schlug er mit dem Handballen kräftig auf eine Ecke des Sperrholzbodens, der sich danach öffnete. Die Platte schwang nach oben, ein etwa zehn Zentimeter tiefes Fach von der Größe der Schublade wurde sichtbar. In dem Fach lagen zahlreiche Kassetten gleich jener, die Miguel dem Recorder entnommen hatte, sowie mehrere Wanzen. In einer kleinen weißen Plastiktüte, die Miguel aus dem Fach hob, befanden sich zwei Kassetten – offenbar bespielt, denn er steckte jetzt die aus dem Gerät zu ihnen. Danach riß er den Folienschutz von einer neuen Kassette, ging wieder ins Bad und legte sie aufnahmebereit in den Recorder ein. Wenn Olivera, wie er angekündigt hatte, in die Bibliothek zurückkehrte und sich mit seiner Tochter und dem Mann, der angeblich sein Sohn war – das hatte er Miguel gesagt, aber der hatte es keinen Moment geglaubt; ein Mensch von der anderen Seite der Erde, mit dem Olivera sich stundenlang bei herabgelassenen Eisenjalousien einschloß! –, wenn die drei sich nun weiter unterhielten, dann würde ihre Konversation auf der neuen Kassette festgehalten werden.

Miguel stellte den Recorder wieder hinter die Klomuschel, ging in sein Zimmer und verschloß das Versteck, indem er die Sperrholzplatte niederdrückte und die Schublade in den Schrank schob.

Er nahm ein blaurot gestreiftes Hemd und eine blaue Hose aus dem Schrank, dazu blaue Socken und blaue Stoffslipper. Er duschte und zog die ausgewählten Stücke an. Mit größter Sorgfalt hängte er den weißen Anzug auf Kleiderbügel. Bevor er sein Zimmer verließ, kniete er vor der bunten Madonna nieder und sprach murmelnd, die Hände gefaltet, ein Gebet als Dank für bislang geleistete Hilfe und Fürsorge, dem er eines mit der Bitte um weiter währenden Schutz und niemals endende Gnade folgen ließ.

Dann erhob er sich, nahm die Plastiktüte mit den Kassetten und eine Handtasche aus Leder, wie sie hier alle Männer trugen und in der sich Geld, seine Papiere und Autoschlüssel befanden. Er sperrte die Tür auf und hinter sich wieder zu. Wenige Minuten später fuhr er in seinem Volkswagen durch den großen Park zum Eingangstor.

»Au!« sagte der große Mann, der nackt auf dem Bauch lag. »Nicht so fest, Kleiner! Du tust mir weh.«

»Ich bitte um Vergebung, mein General«, sagte Miguel Morales. »Aber ich muß fester zupacken. Ihre Nackenmuskeln sind wieder völlig verkrampft.«

Der nackte, zu Fettleibigkeit neigende Mann lag auf einer hohen Massagebank, deren Schaumgummibelag von Laken verborgen wurde. Miguel, in weißer Hose, weißen Sandalen und kurzärmeligem weißem Hemd, stand neben dem Tisch im großen Badezimmer des Generals Carlo Maria Alvarez und massierte ihn. Dies geschah fast vier Monate zuvor, am Vormittag des 25. Oktober 1983, einem Dienstag.

Miguel schüttelte Talkumpuder auf die Handflächen und fuhr fort, die Nackenmuskeln des Generals zu bearbeiten.

»Höre mir jetzt gut zu«, sagte Alvarez. »Es ist sehr wichtig. Du bist mir doch wirklich und ehrlich ergeben, Kleiner, wie?«

»Ja, mein General.«

»Du tust bedingungslos alles, was ich von dir verlange.« »Alles bedingungslos, mein General.«

»Ich liebe dich auch. Noch nie ist mir ein Bursche mit so gutem Charakter, so großer Treue begegnet. Du vergißt nicht, daß ich dich aus dem Elend geholt habe.«

»Nie, mein General, werde ich das vergessen.« »Gut, gut. Du kennst Senor Olivera, Kleiner? Meinen guten

Freund Eduardo Olivera?«

»Gewiß, mein General.« Miguel bearbeitete jetzt den Rücken des dicken Mannes.

»Er möchte dich so gerne haben. Ob er wirklich mein guter Freund ist – verflucht, tut das weh!«

»Es muß sein, mein General.«

»Schon gut. Das weiß ich eben nicht, ob er wirklich mein guter Freund ist. Vergiß nicht: wieder ordentlich die Schenkel, Lieber, ja? Die Beine werden so schnell müde.«

»Ja, mein General.« Miguel verbrauchte viel Talkum. Es wurde ihm heiß. Dies war Schwerstarbeit. »Ich habe das nicht verstanden«, sagte er. »Sie wissen nicht, ob Senor Olivera wirklich Ihr guter Freund ist?«

»Richtig.« Alvarez grunzte. »Da! Ja, da! Mach da weiter! Das tut gut. Olivera ist ein seltsamer Mann, weißt du. Er hat mir und den Kameraden immer sehr geholfen. Nicht nur als Bankier. Auch mit Informationen.« Miguel walkte Alvarez’ Gesäßbacken. Der General redete weiter: »Aber ist er treu? Treu wie du, Kleiner? Nur halb so treu? Fester! Da kannst du ruhig fester zupacken. Wird er jetzt nicht die Seite wechseln und ein Freund unserer Feinde werden?«

»Ich verstehe nicht, mein General ...«

»Wir stehen vor Wahlen«, sagte Alvarez. »In fünf Tagen finden sie statt. Wir werden sie verlieren. Alfonsin wird gewinnen.«

»Heilige Maria – nein, das glaube ich niemals!« rief Miguel. »Du wirst es sehen. Wir erwarten die Niederlage. Seit dem Falklandkrieg haßt uns das Volk. Auch früher wurden wir von den Menschen gehaßt, aber gefürchtet. Jetzt werden wir nur noch gehaßt. Die Oberschenkel noch einmal bitte!«

»Ja, mein General.« Miguel schlug mit beiden Handkanten schnell und exakt den rechten Oberschenkel entlang. Dasselbe tat er beim linken Bein – mehrere Male.

»Alfonsin wird siegen«, sagte Alvarez. »Und natürlich wird er der Junta den Prozeß machen.«

»Auch Ihnen, mein General?« Miguel war entsetzt. Er hörte auf zu massieren. Er begann zu weinen.

»Weine nicht, Lieber! Das hat keinen Sinn. Man wird uns den Prozeß machen, ganz bestimmt.«

»Sie meinen ... Sie werden ins Gefängnis kommen?« Miguel stand noch immer fassungslos da. Er fuhr sich mit einem Arm über die nassen Wangen.

»Ja, sicherlich, Kleiner. Hat keinen Sinn, die Augen davor zu verschließen. Ich weiß, du bist mit allem einverstanden, was ich tue, nicht wahr?«

»Mit allem, mein General. Meine Dankbarkeit und Liebe zu Ihnen sind ohne Grenzen. Ich bin immer zu Ihren Diensten.« Carlo Maria Alvarez wälzte sich stöhnend auf den Rücken. Er hatte fast weibliche Brüste. Miguel begann, die Brüste zu bearbeiten.

»Ich habe dich ihm schon vermacht, Liebster«, sagte der General.

»Herr General haben ...«

»Wenn sie kommen und mich holen, kannst du sofort bei ihm anfangen. Nimm all deine Sachen mit – das wird lange dauern.« General Alvarez bewohnte eine riesige Villa an der Straße Dorrego im Prominentenviertel Palermo. Elf Straßenzüge entfernt verlief die lange Cespedes, an der Olivera sein Haus hatte. »Aber ... aber ich will nicht, mein General! Ich will nicht zu Senor Olivera. Wenn man Sie wirklich verhaftet und verurteilt, bringe ich mich um.« Miguel hatte wieder Tränen in den Augen. »Das wäre ganz lieb von dir und ganz dumm«, sagte Alvarez. »Als Toter kannst du niemandem nützen. Als Lebender, und gerade bei Olivera, meinem guten Freund, kannst du enorm nützlich sein – uns.«

»Ihnen?« Miguel massierte jetzt von der Brust abwärts in Richtung des großen, schlaffen Bauchs des Generals.

»Uns, ja, Liebster«, sagte Alvarez. »Uns allen, die wir nun stürzen. Dies bleibt keine Demokratie, glaube mir! Wir kommen wieder.«

»Sie kommen wieder?« Miguel versetzte dem schlaffen Bauch klatschende Schläge. Das welke Fleisch rutschte hin und her. »Wir sind noch immer wiedergekommen. So viele man nun auch einsperren wird – sie können nicht alle einsperren. Es bleiben genügend in Freiheit, in Aktion. Dazu kommt der gewaltige Verbund von Kameraden im ganzen Land. Keiner kennt diesen Verbund, und darum bleibt er ebenfalls intakt. Für den Widerstand. Für große Anschläge. Um Unsicherheit und Furcht zu verbreiten. Um den Boden zu bereiten für unsere Rückkehr. Du siehst, du hast wirklich mein ganzes Vertrauen, Kleiner.«

»Das können Sie mir auch schenken, mein General. Ich würde – bei der Heiligen Jungfrau – auch mein Leben für Sie geben.«

»Solltest du mich trotzdem enttäuschen, überlebst du deinen Verrat keinen Tag, Liebster. Du bist natürlich nicht der einzige Vertrauensmann. Wir haben Tausende, wie du dir denken kannst. Aber du wärest einer der Wichtigsten. Jeder wird über wacht werden von unseren Leuten, jeder. Und es ist absolut notwendig, daß jemand Olivera überwacht. Ich muß abnehmen, ich weiß, ich weiß. Nun, jetzt werde ich ja Gelegenheit dazu haben. Die Oberschenkel vorne, bitte!«

Miguel arbeitete schwer atmend. Er war überwältigt von dem, was er gehört hatte.

»Olivera war unser aller guter Freund. Ich höre indessen aus sicherer Quelle, daß er bereits in Kontakt mit Männern aus der Umgebung von Alfonsin stehen soll.«

»Nein!«

»Du kennst die Menschen nicht, kleiner Unschuldiger. Olivera hat offenbar schon die Seite gewechselt. Er wird jetzt der gute Freund unserer Feinde werden, ihnen helfen – als Bankier und mit Informationen. Er wird sie in sein Haus einladen. Er ist wirklich klug. Sie werden seinen Rat suchen. Sie werden ihn als einen der Ihren betrachten. Und deshalb mußt du jetzt zu ihm gehen.« Alvarez fuhr Miguel, der ihm nun den Rücken zuwandte, während er ihm die Oberschenkel bearbeitete, zärtlich zwischen die Beine. »Du tust es für mich, Liebster. Durch dich werden wir im Gefängnis informiert sein über so vieles, was die neuen Herren planen, wollen, vorhaben. Und wir müssen informiert sein, das verstehst du doch, nicht wahr? Nur so ist der Kampf im Dunkeln möglich ... ein Aufstand ... ein Staatsstreich später ...«

»Aber ... aber was soll ich tun, mein General? Ich bin nur ein dummer Junge, den Sie in Ihrer unendlichen Güte aus dem Schmutz gezogen haben.«

»Du bist ein kluger Junge, Liebster. Du wirst die Gespräche abhören, die Olivera hinter verschlossenen Türen führt. Alles, was dir wichtig erscheint. Wirst du das tun?«

»Ich tue alles, mein General.«

»Auch töten?«

»Wenn es sein muß, auch töten, mein General. Aber wie soll ich diese Gespräche abhören?«

»Nun, es gibt da die hervorragendsten Instrumente. Du wirst bekommen, was du brauchst. Man wird dir alles erklären. Meine Freunde und ich denken an eine moderne Anlage. Du bist doch ein großer Bastler! Ich habe Olivera schon gesagt, daß du bei

mir immer von Freitag abends bis Sonntag früh frei hast und daß er dir da auch freigeben muß. Er wird es gerne tun. Er ist ganz wild darauf, dich zu bekommen. Sei völlig ruhig! Er ist nicht so, wie wir es sind. Du wirst nicht in Gefahr kommen, mich zu betrügen.«

»Das würde ich niemals tun!« Miguel fuhr herum. Sein hübsches, offenes Gesicht zeigte ehrliche Empörung.

»Das weiß ich doch. Ein Scherz«, sagte der General und faßte Miguel wieder an. »Mein Liebster, mein Bester. Was ich sagen wollte: In deiner freien Zeit wirst du dann immer die Ernte der Woche an einen bestimmten Ort bringen... Man wird dir noch mitteilen, wohin... Du sollst dir Verdienste um die Revolution erwerben, Kleiner. Das willst du doch – wenn es mir nützt?«

»Alles, mein General«, sagte Miguel überwältigt. »Alles, was Sie von mir verlangen.«

Miguel erreichte mit seinem Volkswagen das schmiedeeiserne Tor der Einfahrt. Auch er besaß ein kleines Kunststoffkästchen, mit dessen elektronischer Hilfe sich die Torhälften langsam öffneten. Miguel ließ den Wagen auf die Straße hinausrollen. Das Tor schloß sich hinter ihm. Er bog nach links ein. Entlang der Cespedes standen zu beiden Seiten viele Wagen unter den alten Palmen. Der Junge sah, daß Nachbarn ein großes Gartenfest feierten. Er hörte verwehte Musik und erblickte Paare, die im Freien auf einem Acrylglasparkett tanzten.

Ein schwarzer Buick und ein blauer Lincoln, in denen junge Männer saßen, parkten etwas entfernt in verschiedenen Fahrtrichtungen; der Lincoln in jener, die Miguels VW nun nahm. Der Mann am Steuer hob ein kleines Mikrofon aus seiner Halterung und sagte: »Peru, hier ist Cuba.«

In dem schwarzen Buick antwortete ein Mann über Mikrofon: »Hier Peru. Was ist los, Cuba? Fahrt ihr dem VW nach?«

»Ja. Wenn da noch jemand rauskommt, folgt ihr ihm. Wir bleiben in Funkkontakt.«

»Okay, Cuba, viel Glück! Ende.«

Der blaue Lincoln glitt aus der Parklücke. Sein Fahrer, der sich bei einem Telefongespräch mit dem alten Mann namens Cristobal Roberto genannt hatte, trug noch immer das grüne Hemd vom Vormittag und die weißen Hosen. Neben ihm saß

jetzt der junge Mann im roten Hemd. Als sie Mercedes und Daniel Ross vom Flughafen in die Stadt hinein verfolgten, hatte er am Steuer des roten Ferrari gesessen. Die Organisation verfügte über eine Menge Wagen. Es war noch immer hell und sehr heiß, aber die Sonne sank. Bald würde es dunkel sein.

An der Avenida Cabildo bog Miguel nach rechts ab. Er fuhr die breite Straße hinab südwärts. Der blaue Lincoln folgte. Miguel erreichte den Polo-Club, der zu seiner Linken lag, und die Kreuzung mit der Avenida J. B. Justo. Hier wechselte die Avenida Cabildo ihren Namen in Avenida Santa Fe und führte weiter südwärts vorbei am Zoologischen und Botanischen Garten und vielen Parks mit kleinen Seen. Sie verlief dann leicht nach Südosten.

»Rufe Peru«, sagte Roberto ins Mikrofon. »Rufe Peru. Hier ist Cuba.«

»Hier ist Peru. Was gibt’s?«

»Der VW fährt die ganze Avenida Santa Fe hinunter. Wenn er so weitermacht, ist er bald bei den Docks und am Hafenbecken. Bleibt auf Empfang! Irgendwas ist da komisch.«

»Bleiben auf Empfang, Cuba. Ende.«

»Was will der am Hafen, Esteban?« fragte Roberto den jungen Mann mit dem roten Hemd, der den Ferrari gefahren hatte. »Keine Ahnung«, sagte Esteban. Er war verärgert. »Der alte Cristobal hätte uns längst ablösen müssen. Mensch, seit vormittag geht das nun! Jetzt ist es halb zehn. Ich bin müde. Das ist ein Scheißjob.«

»Zum Retiro fährt der Kerl, Esteban! Zum Retiro!« Tatsächlich bog Miguel jetzt oberhalb der Plaza General San Martin und der Plaza Britania, hinter denen wieder große Parks lagen, nach links ein und erreichte den riesigen Parkplatz vor dem massigen Gebäude des Kopfbahnhofs von Buenos Aires. Von den sechs verschiedenen Eisenbahnnetzen in Argentinien tragen fünf die Namen von Generälen mitsamt ihren Titeln, drei laufen im Retiro zusammen, die anderen haben eigene Stationen in Constitucion, Once und Lacroze. Der Parkplatz vor dem Retiro war fast besetzt. Hier drängten sich sehr viele eilige Menschen. Roberto fand in der Nähe des VW eine Lücke. Er manövrierte den großen Wagen geschickt hinein, während Esteban das Mikrofon nahm.

»Rufe Peru, hier ist Cuba.«

»Hier ist Peru.«

»Wir sind jetzt auf dem Parkplatz des Retiro. Der VW hat gehalten. Ein junger Mann steigt aus. Er trägt eine Handtasche und eine weiße Plastiktüte. Er geht zum Retiro. Wir hängen uns ran ...«

Miguel bahnte sich einen Weg durch die vielen Autos. In einiger Entfernung folgten ihm Esteban und Roberto. Miguel erreichte den gewaltigen Block des Kopfbahnhofs und die Bahnsteige vor der großen Halle mit ihren vielen Geschäften, die alle noch geöffnet waren. Er ging an Zeitungsläden, fliegenden Händlern, Reiseproviantständen vorbei bis zu einer großen Wand von Schließfächern. Seine Verfolger hinter den ausgehängten Pornomagazinen eines Zeitungsstandes beobachteten ihn genau. Miguel holte einen bizarr gezackten Schlüssel aus der kleinen Ledertasche und sperrte Fach zweihundertvierzehn auf. Das tat er jeden Freitag um diese Zeit, seit er bei Olivera arbeitete. Die weiße Plastiktüte legte er in das Schließfach. Er hatte schon viele Kassetten in solchen Tüten hier deponiert. Sie wurden von einem Vertrauensmann des Generals Alvarez, dem man gerade den Prozeß machte, abgeholt. Miguel kannte diesen Mann nicht. Der Plan war noch mit Alvarez besprochen worden, und Miguel hatte von ihm, den er so verehrte und liebte, den Schlüssel und eine Erklärung erhalten.

»Dieses Fach zweihundertvierzehn muß wie alle anderen mit Münzen gespeist werden, damit es abgeschlossen werden kann. Spätestens alle zweiundsiebzig Stunden müssen neue Münzen eingeworfen werden, sonst läuft die Uhr ab, und nur noch die Aufsicht kann öffnen. Darum hast du dich aber nicht zu kümmern, Kleiner. Darum kümmern sich andere. Allerdings: Jedes Mal, wenn man das Fach aufschließt, wird die Uhr unterbrochen. Du mußt also, sooft du Kassetten deponierst, vor dem Absperren Münzen in den Schlitz stecken. Die Leute, die die Kassetten abholen, müssen das natürlich ebenfalls tun, Liebster ...«

Miguel drückte die Tür des Schließfachs zu, warf Münzen ein und sperrte ab. Den Schlüssel steckte er in seine kleine Ledertasche zurück. Er trug die eingehämmerten Buchstaben RETIRO und die Zahl 214. Wenige Minuten später war Miguel wieder auf dem überfüllten Parkplatz und setzte sich hinter das Steuer des Volkswagens. Er startete und lenkte den Wagen aus der Parklücke. Im nächsten Moment stieß er mit einem großen, blauen Lincoln zusammen, der plötzlich vor ihm auftauchte. Miguel hatte ihn nicht gesehen. Die beiden Wagen krachten an den vorderen Kotflügeln zusammen. Metall kreischte. Miguel würgte vor Schreck den Motor ab. Aus dem Lincoln war ein Mann in einem grünen Hemd gestiegen und kam auf ihn zu.

»Sie sind besoffen, was?« schrie er.

»Sie haben es notwendig!« schrie Miguel. »Das ist keine Rennbahn hier! Sie hatten mindestens vierzig Meilen drauf!«

»Machen Sie sich nicht lächerlich!«

»Doch, der Senor hat recht!« rief eine Frau und attackierte Roberto. »Viel zu schnell sind Sie gefahren!«

»Das stimmt. Ich bin Zeuge.«

»Ich auch!«

Plötzlich waren da viele Menschen. Die Hitze, die auch abends nicht erträglicher wurde, machte alle nervös und gereizt.

In diesem Durcheinander hatte sich Esteban dem Volkswagen genähert, dessen linke Vordertür offenstand. Auf dem rechten Sitz lag die Ledertasche. Ihr Außenfach besaß einen Reißverschluß. Esteban war ein genauer Beobachter. Er wußte, daß der junge Mann mit der dunklen Bronzehaut den Schließfachschlüssel in das Außenfach gesteckt hatte. Er griff nach der Tasche, öffnete den Reißverschluß, während hinter ihm das Geschrei immer heftiger wurde.

Da – der Schlüssel! Esteban machte, daß er fortkam. Er rannte zu den Bahnsteigen, stieß mit Menschen zusammen, wurde verflucht, rannte weiter, erreichte die Wand der Schließfächer. Gleich darauf hatte er zweihundertvierzehn geöffnet und die Plastiktüte herausgenommen. Er warf Münzen ein, schloß das Fach ab und rannte, so schnell er konnte, zum Parkplatz zurück. Erleichtert hörte er zorniges Stimmendurcheinander. Sie stritten also noch immer, und noch mehr Menschen waren versammelt. Miguels VW hatte den rechten vorderen Kotflügel des Lincoln ziemlich weit eingedrückt. Er und Roberto untersuchten zum wiederholten Mal den Schaden. Die Umstehenden gaben Kommentare ab. Esteban drängte sich vor, erreichte den VW mit der offenen Fronttür und ließ unbemerkt den Schlüssel in das Außenfach der Handtasche fallen, dessen Reißverschluß er zuzog. Die Plastiktüte hielt er unter dem Hemd versteckt.

Inzwischen hatte ein Mann vorgeschlagen, die Polizei zu rufen. Scheiße, dachte Esteban, und Roberto dachte dasselbe, da rief Miguel erschrocken: »Nein, nicht die Polizei!«

»Warum nicht? Der Lincoln war doch eindeutig schuld!« »Trotzdem ...« Miguel stotterte vor Aufregung. Nur keine

Polizei, dachte er. Wenn die fragen, was ich hier gemacht habe. Er sagte mühsam: »Das ist nicht mein Wagen ... Ich ... ich habe ihn mir ausgeborgt ... Jetzt will ich keinen Arger mit meinem Freund ... Ich gebe Ihnen meine Adresse ... Sie lassen den Wagen richten und schicken mir die Rechnung, bitte, ja?« Er sah Roberto flehend an.

»Falsche Adresse, wie?« sagte der.

»Nein, nein! Ich zeige Ihnen meine Papiere.« Miguel fuhr herum, neigte sich in den Volkswagen, holte die Ledertasche und präsentierte Führerschein und andere Dokumente. »Bitte, sehen Sie ... Ich wohne Cespedes eintausendsechs ... bei Senor Olivera ... da arbeite ich ... Hier, der Meldezettel ... Ich bin erst seit ein paar Wochen dort ...« O verflucht, dachte er, daß mir das passieren muß. O Mutter Maria, hilf!

»Na schön«, sagte Roberto, »wenn Sie das also bezahlen wollen.« Er nahm Block und Bleistift aus einer Gesäßtasche. »Zeigen Sie mal, Herr ...«

»Miguel Morales, bitte.«

»Sie sind ja verrückt!« schrie eine Frau. »Sie bezahlen, und der da ist schuld.«

Zustimmung von allen Seiten.

»Das ist meine Sache. Ich habe doch gesagt, der Wagen ist geliehen.«

Inzwischen hatte Roberto, auf die Kühlerhaube des Lincoln gestützt, Miguels Anschrift und die Nummer seiner Versicherung notiert.

»Also okay, Sie kriegen die Rechnung. Passen Sie das nächste Mal besser auf! Gute Nacht.«

»Gute Nacht ... und vielen Dank für Ihr Verständnis«, stammelte Miguel.

Die Zuschauer gingen debattierend auseinander. Sie waren mit dieser Lösung nicht einverstanden.

»Der Scheißkerl in dem protzigen Lincoln«, sagte eine Frau zu dem Mann an ihrer Seite. »Der Kleine in seinem VW hat vor so was natürlich in die Hosen gemacht. Sich nur nicht mit Großkopferten anlegen! So sind wir alle. Darum bringen wir es auch nie zu was.«

»Hör schon auf, Evita!« sagte ihr Begleiter. »Jetzt kommen wir zu spät ins Kino. Aber nein, du hast dir das ja unbedingt ansehen müssen.«

In Cristobals Wohnung im zweiten Stock des Hauses fünfundzwanzig an der Straße mit Namen Husares im Westen der Stadt schrillte das Telefon. Der etwa sechzigjährige, kahlköpfige Mann, mit dem Roberto am Mittag telefoniert hatte, um bekanntzugeben, daß der Wagen, den er vom Flughafen an verfolgte, in den Park der Villa an der Straße Cespedes tausendsechs eingebogen war, saß in einem zerschlissenen Lehnstuhl des tristen Wohnzimmers unter einer Stehlampe vor einem alten Radio und hörte das Ende einer Dramatisierung der »Brücke von San Luis Rey« von Thornton Wilder.

Das Telefon schrillte und schrillte. Cristobal stand auf und eilte in das Nebenzimmer, dessen Fenster auf das riesige Areal des »Regimento 3 de Infanteria General Belgrano« mit seinen Exerzierplätzen und Kasernen hinausging. Das Gelände war nun von zahlreichen Scheinwerfern, die an hohen Masten angebracht waren, strahlend erhellt. Der alte Mann trug ein Handtuch um die Lenden. Er hatte alle Fenster geöffnet, um ein wenig Zugwind abzubekommen. Nun hob er den Hörer ab.

»Ja?«

»Hier ist Roberto«, kam eine Stimme, die er kannte. »Wir haben etwas, das Sie sofort kriegen müssen.«

»Was ist es?« Cristobal war nur telefonisch zu erreichen. Techniker der Organisation hatten die Leitung so präpariert, daß Gespräche nicht abgehört werden konnten. Funkverkehr mit Cristobal wäre zu riskant gewesen.

Roberto berichtete, was geschehen war.

Cristobal wurde lebhaft. »Bringt die Kassetten sofort her! Ich komme runter. Wie lange braucht ihr bis zu mir?«

»Etwa dreißig Minuten. Viel Verkehr.«

»Gut. Ich stehe dann im Schatten des Tores. Ihr fahrt langsam vorbei und reicht mir die Plastiktüte aus dem Wagen.«

»Okay, Cristobal. Ende.«

Der alte Mann legte auf, ging in das Wohnzimmer mit den schadhaften Möbeln zurück und setzte sich wieder. Er hörte eine Sprecherstimme aus dem Radio, welche die Übertragung der »Brücke von San Luis Rey« beendete.

»Bald aber werden wir alle sterben, und alles Angedenken jener fünf wird dann von der Erde geschwunden sein, und wir selbst werden für eine kleine Weile geliebt und dann vergessen werden.

Doch die Liebe wird genug gewesen sein; alle diese Regungen von Liebe kehren zurück zu der einen, die sie entstehen ließ. Nicht einmal eines Erinnerns bedarf die Liebe. Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe – das einzig Bleibende, der einzige Sinn.« Cristobal stellte den Apparat ab. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Er wiederholte den letzten Satz und sah ins Leere. Er war ein sehr trauriger alter Mann und sehr einsam.

Als der blaue Lincoln fünfunddreißig Minuten später mit Abblendlicht langsam durch die Straße Husares glitt, stand Cristobal im Dunkel des Hauseingangs. Eine Hand streckte sich ihm aus einem Fenster des Wagens entgegen. Geschickt nahm der alte Mann die kleine weiße Plastiktüte. Der Lincoln fuhr weiter und bog um die nächste Ecke.

Cristobal versperrte das Haustor und ging in seine Wohnung zurück. In seinem Arbeitszimmer sah er sich die drei Kassetten an. Er besaß Recorder der verschiedensten Typen, doch die Kassetten paßten in keinen. Das hatte Cristobal auch nicht erwartet. Sobald er sie sah, war ihm klar gewesen, daß diese Kassetten für einen besonderen Zweck und ein besonderes Gerät angefertigt worden waren. Im Handel war so ein Gerät gewiß nicht zu kaufen.

Er stand auf und schloß alle Fenster. Nun setzte er sich, schaltete den Zerhacker ein und wählte 00441, die Vorwahl von London, und danach eine siebenstellige Nummer.

Das Signal ertönte, sodann eine sanfte Männerstimme: »Hallo.« Cristobal sprach jetzt Englisch. Er nannte seinen Namen und entschuldigte sich für die späte Störung.

»Keine Ursache!« Die Stimme aus London klang freundlich. »Einen Moment!« Es knackte in der Verbindung. »So, Zerhacker eingeschaltet. Was ist los?«

»Es tut mir wirklich leid, Mister Morley. Hier ist es halb zwölf. Da ist es bei Ihnen schon halb drei. Sie haben sicher schon geschlafen.«

»Das macht nichts. Ich habe Ihnen doch erklärt, daß Sie mich Tag und Nacht sofort anrufen müssen, wenn etwas geschieht.

Sie sagen, Sie haben den Namen des Mannes, der die Kassetten in das Schließfach gelegt hat?«

»Ja. Aus seinem Führerschein und seinem Meldezettel. Miguel Morales heißt er. Geboren am fünfzehnten Mai neunzehnhundertsechzig in Buenos Aires. Meine Leute sind sehr zuverlässig. Auf dem Meldezettel standen auch die vorherige Adresse und der letzte Arbeitgeber. General Carlo Maria Alvarez, Dorrego achthundertsiebzig, Stadtteil Palermo. Das ist ganz in der Nähe von Oliveras Villa.«

Mr. Morley in London pfiff. »Alvarez – der Juntageneral?« »Ja, Sir. Ich habe im Telefonbuch nachgesehen. Das ist seine

Adresse. Besser: sie war. Er ist seit Wochen verhaftet. Am zwanzigsten Dezember hat man ihn abgeholt. Am einundzwanzigsten ist Morales zu Olivera übersiedelt.«

»Sieht fast so aus, als hätte er einen Auftrag gehabt, wie, Cristobal?«

»Sieht so aus, Sir, ja.«

»Eine Abhöranlage zu installieren und die Gespräche seines neuen Arbeitgebers mitzuschneiden. Von wem kann er eine so komplizierte Spezialanfertigung bekommen haben? Doch nur von Alvarez und dessen Freunden. Wurde bei Olivera eingeschleust – so sieht es aus, wie?«

»So sieht es aus, Sir.«

»Sagen Sie, Cristobal, diese Kassette ... haben die auf dem Etikett links oben drei kleine ineinanderhängende Ringe – wie die olympischen Ringe, nur zwei weniger?«

Der alte Mann sah nach.

»Ja, Sir. Und unter den Ringen stehen die Buchstaben E und X.«

»Scheiße. Habe ich vermutet. Eine Privatanfertigung. Kann niemand abspielen. Nur Techniker in einem Speziallabor. Hören Sie, weiß Gott, was auf den Kassetten drauf ist – ich muß sie sofort haben. Schnellstens, haben Sie verstanden?«

»Ja, Sir«, sagte Cristobal. Seine Stimme klang müde und demütig.

»Schicken Sie sie mir mit Ihrem besten Mann, den, der Alain Delon so ähnlich sieht. Wie heißt er?«

»Garcia, Sir. Garcia Lopez.«

»Wo steckt der?«

»In der Stadt, Sir. Er ist mit den beiden von Frankfurt herübergeflogen. Hat sich vor ein paar Stunden gemeldet – zur vorgeschriebenen Zeit. Er lebt bei seiner Freundin. Ich habe die Telefonnummer. Aber vor morgen früh geht keine Maschine mehr.«

»Es ist mir egal, wie er fliegt und wie oft er die Maschine wechseln muß, wenn es nicht sofort einen Direktflug gibt. Er fliegt am Morgen los, ist das klar?«

»Vollkommen klar, Sir«, sagte Cristobal ergeben. »Er nimmt die erste mögliche Maschine. Und wenn er noch so oft umsteigen muß. Er bringt Ihnen die Kassetten unverzüglich, sobald er in London ankommt, Sir.«

»Ich verlasse mich auf Sie, Cristobal. Wir müssen endlich wissen, was hier vorgeht.«

In London wurde der Hörer aufgelegt. Cristobal tat dasselbe. Er hätte gute Nacht sagen können, dieser Mr. Morley, dachte er, während er den Zerhacker ausschaltete. Wie ich das alles hasse. Aber man muß leben. Ich werde Garcia um fünf Uhr früh wecken. Ich kann doch nicht schlafen. Seit Jahren kann ich nicht mehr richtig schlafen. Höchstens ein oder zwei Stunden manchmal, wenn ich Glück habe. Um fünf Uhr werde ich Garcia wecken und ihm sagen, daß er zu mir kommen muß, um die Kassetten abzuholen. Und um sofort nach London zu fliegen. Laß ihm jetzt noch ein wenig Zeit für die Liebe, sagte der alte Mann zu sich selbst. Ein wenig Zeit nur.

DER REICHSFÜHRER SS UND

CHEF DER DEUTSCHEN POLIZEI

Berlin, 31. März 1944 SS-Oberf. Prof. Dr. Walther Wüst, Kurator des Ahnenerbes und Chef Amt Ahnenerbe / Pers.Stab RFSS und

SS-Staf. Wolfram Sievers, Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes

Bei der künftigen Wettererforschung, die wir ja nach dem Krieg systematisch durch die Organisation ungezählter Einzelbeobachtungen aufbauen wollen, bitte ich, auf folgende Tatsache das Augenmerk zu richten:

Die Wurzeln bzw. die Zwiebel der Herbstzeitlose sind in den verschiedenen Jahren in unterschiedlicher Tiefe im Boden. Je tiefer sie wachsen, desto stärker der Winter; je näher sie der Oberfläche sind, um so milder der Winter.

Auf diese Tatsache machte mich der Führer aufmerksam. gez. H. Himmler

Eduardo Olivera, der diesen Brief vorgelesen hatte, ließ ein Taschenbuch sinken und nahm die horngefaßte Brille ab. »Was soll das?« fragte Daniel Ross. Er, Olivera und Mercedes saßen wieder in den Korbsesseln am Rande des Pools, auf dessen Grund hinter dickem Glas starke Lampen angebracht waren, die jetzt brannten und das Wasser des Bassins blau aufleuchten ließen. Licht fiel auch auf die drei Menschen. Sie hatten zuerst in die Bibliothek zurückkehren wollen, doch dann schlug Olivera vor, noch an die Luft zu gehen. Eine Bar auf Rädern stand neben ihnen. Sie tranken Whisky. Die Bibliothek lag verlassen. Der Recorder hinter der Klosettmuschel in Miguels Badezimmer hatte sich noch kein einziges Mal eingeschaltet. Es war kurz vor halb zehn.

Zu dieser Zeit verfolgten die beiden jungen Männer in dem blauen Lincoln den Diener in seinem Volkswagen die Avenida Santa Fe hinunter zum Retiro, dem Hauptbahnhof.

»Das soll dir zeigen, weshalb Himmler mich warten ließ, als ich ihn am einunddreißigsten März vierundvierzig abholte, um ihn ins Auswärtige Amt zu bringen und was für Sorgen er vierundvierzig, Ende März, hatte. Er begrüßte mich in seinem Arbeitszimmer, entschuldigte sich und diktierte einer Sekretärin, mit der er vor meiner Ankunft gearbeitet hatte, noch diesen Idiotenvermerk für das ›Ahnenerbe‹, dessen Chef er war. Ribbentrop hatte ihm am Telefon gesagt, daß er ihn und Goebbels in einer Angelegenheit von größter Bedeutung sprechen müsse. Himmler wollte mir auf diese Weise natürlich auch vorführen, was er von Ribbentrop hielt. Ich habe diese Herbstzeitlosen-Notiz nie vergessen, weil ich äußerst wütend über Himmlers Verhalten war. Später fand ich den genauen Wortlaut des Vermerks dann in diesem Taschenbuch mit fast vierhundert Briefen an und von Himmler. Unter Nummer dreihundertfünf steht tatsächlich der so ungeheuer wichtige Beitrag Hitlers zur Wetterforschung, um den zu diktieren Himmler mich stehend warten ließ.« Olivera legte das Buch auf den Gartentisch. »Ich sollte Himmler um vier Uhr nachmittags abholen. Nachdem er mit dem Unfug fertig war, verlangte er noch eine dicke Mappe und unterzeichnete Briefe. Gegen halb fünf verließen wir endlich die Reichsführung in der Prinz-Albrecht-Straße acht. Nummer neun war der Hauptsitz der Gestapo. Wir fuhren mit einem Wagen, den ein SS-Mann steuerte, neben dem ein zweiter saß, zum Auswärtigen Amt in der Wilhelmsstraße vierundsiebzig bis sechsundsiebzig. Auch Himmler trug die schwarze Uniform mit dem silbernen Totenkopf auf der Tellerkappe. Das Wetter war schön, und darum hatte es den mittäglichen Angriff der Amerikaner gegeben. Die Amerikaner kamen nur bei schönem Wetter und immer am Tage, die Engländer kamen bei jedem Wetter nachts, manchmal zweimal. Ich erinnere mich, daß viele Brände noch nicht unter Kontrolle gebracht waren. Eine riesige Rauchwolke stand über der Stadt. Übrigens – es ist unfaßbar in der Rückschau – waren die Amtssitze von Ribbentrop, Goebbels und Himmler trotz der ununterbrochenen Luftangriffe, bei denen nach und nach die ganze riesige Millionenstadt in Trümmer fiel und viele Tausende ihr Leben verloren, noch immer – von häufig brechenden Fensterscheiben, die sofort ersetzt wurden, abgesehen – völlig intakt, und es wurde ungestört in ihnen gearbeitet. Nur das Propagandaministerium hatte Ende Januar vierundvierzig einige leichte Bombentreffer erhalten. Die Schäden waren beseitigt worden. Unfaßbar – ja, wirklich. Als hätte Gott selber darauf geachtet, daß die Herren nicht daran gehindert wurden, das Volk in den höllischen Abgrund zu führen, in dem es dann bei Kriegsende landete ...«

Olivera, der Demokrat, trank einen Schluck – sozusagen in memoriam Germaniae patriae.

Er fuhr fort: »Im Auswärtigen Amt führte ich Himmler in den Keller. Dort hatten wir mehrere Filmvorführräume. Ribbentrop und Goebbels warteten schon, beide wie ich in Zivil. Frostige Begrüßung. Goebbels und Ribbentrop waren über Himmlers Verspätung verärgert, der wiederum zeigte seine Verachtung für Ribbentrop und seine Furcht vor Goebbels, den er bewunderte und beneidete, weil er das Vertrauen Hitlers hatte, auf die für ihn typische Weise: indem er besonders forsch auftrat. Vor Hitler bekam er regelmäßig weiche Knie und keinen zusammenhängenden Satz heraus.«

»Ein vielgesichtiger Mensch, dieser Himmler«, sagte Daniel Ross.

Olivera setzte die Brille auf, blätterte in dem Taschenbuch und nickte.

»Als ›Schulmeister‹ und ›Schreibtischmörder, in dessen Gesamtbilanz nicht allzu viel an zehn Millionen Menschenleben fehlt‹, wird er hier bezeichnet, ein ›Subalterner‹ und doch ›Oberbefehlshaber‹, ein ›Okkultist‹, ›Kräutergärtner‹ und ›Besessener‹.«

Olivera ließ das Buch sinken. Er trank. »Ja«, sagte er, »und hundert andere Gesichter hatte er auch noch.«

»Ein blutsaufender Kleinstbürger«, sagte Ross. »Mein Gott, waren deine Kollegen Psychopathen, verkrachte Existenzen, Spinner und Schwerstkriminelle!« Er wandte sich an Mercedes: »Sie haben Politologie studiert. Wissen Sie, daß eines der wichtigsten Hochschulfächer nicht existiert? Ich meine Politpsychologie. Müßte an jeder Universität gelehrt werden! Die psychologischen Hintergründe historischer Ereignisse. Was ist die psychologische Erklärung dafür, daß ein obdachloser Asozialer vom deutschen Volk zum Führer gewählt wurde, und daß dieses Volk dann die ganze Welt unglücklich machte? Entschuldige!« wandte er sich an Olivera, »ich habe dich unterbrochen.«

»Aber bitte, Daniel, sprich weiter! Das ist hochinteressant. Also!«

»Ja, also«, sagte Ross, »mit Politpsychologie meine ich die psychologische Betrachtung der Menschheitsgeschichte. In ihr gibt es immer wieder dieselben Konflikte, immer wieder den gleichen Ausgang, immer wieder dieselben Persönlichkeiten, die gleichen nichtigen Anlässe, die ins Verderben führen und die genau untersucht werden müßten. Wir können – ein Beispiel – die Wiederkehr des Faschismus nur verhindern, wenn wir uns psychologisch genau mit der Ausgangssituation und den Menschen beschäftigen.«

»Weiß Gott, das stimmt«, sagte Mercedes.

»Es gibt Historiker, und es gibt Psychologen – aber es gibt keine Geschichtspsychologen. Und das ist verblüffend, weil die Menschheit ja bekanntlich nicht imstande ist, aus der Geschichte zu lernen, aber auch gar keine Bemühungen unternimmt, etwas zu lernen. Dabei wäre Geschichtspsychologie die einzige Chance, welche wir noch besitzen, um prospektiv, also auf die Zukunft gerichtet, Übel zu verhindern. Und diese Chance nimmt die Menschheit auf der ganzen Welt – ausnahmslos – nicht wahr. Unfaßbar, nicht? Das Interessante an der Geschichte sind doch nicht die Ereignisse, sondern die psychologischen Zusammenhänge, die zu den Ereignissen geführt haben! Das wäre das einzig Lehrreiche für uns. Das einzig Rettende. Aber kein Mensch denkt daran, eine solche Wissenschaft zu etablieren.« Eine lange Pause trat ein. Mercedes sah Ross unverwandt an. Der bemerkte den Blick und sagte leicht verlegen zu Olivera: »Was geschah also in Berlin?«

»Nun ja«, sagte der, »Ribbentrop erklärte, ich – vielmehr mein Dienst natürlich – sei eben in den Besitz eines ungeheuerlichen Films gelangt, und er wolle diesen Film Goebbels und Himmler sofort zeigen ...

»... Ihnen, lieber Doktor, und Ihnen, Reichsführer, denn ich möchte diesen Film dem Führer erst mit einem präzisen Vorschlag von uns vorführen«, sagte Ribbentrop. »Bitte, nehmen Sie Platz!« Goebbels hinkte zu einem Polstersitz in der ersten Reihe des kleinen Vorführraums, Ross und Ribbentrop setzten sich neben ihn, Himmler nahm am anderen Ende der Reihe Platz. Ribbentrop hob eine Hand für den Vorführer in seiner Kabine. Das Licht im Raum erlosch langsam, der Film lief an. Während der nächsten vierunddreißig Minuten sprach keiner der Männer ein einziges Wort. Keiner bewegte sich. Georg Ross betrachtete der Reihe nach ihre Gesichter. Das von Goebbels glich einer Maske. Auf Ribbentrops Lippen lag ein selbstgefälliges, dummes Lächeln. Himmler war überwältigt. Sein Mund stand offen. Einmal fiel ihm der Kneifer auf die Knie. Seine Hand zitterte, als er ihn wieder auf die Nase klemmte. Ross, der den Film schon zum drittenmal sah, fühlte auch dieses Mal große Erregung in sich aufsteigen. Das Atmen fiel ihm schwer, die Hände wurden feucht. Dann war der Film zu Ende, weiß blendete die Leinwand, wurde fahl, die Lichter im Vorführraum gingen wieder an. Noch immer sprach niemand, noch immer bewegte sich niemand. Erst nach Minuten brach der Bann. Goebbels erhob sich und sagte: »Gehen wir zu Ihnen hinauf, Ribbentrop!«

»Gehen wir zu Ihnen hinauf, Ribbentrop!‹« wiederholte Olivera vierzig Jahre später. »Das war alles, was Goebbels zunächst sagte. Himmler begann: ›Wer garantiert uns ...‹, aber Goebbels unterbrach ihn schneidend: ›Nicht hier! Seien Sie ruhig, Reichsführer!‹ Er humpelte schon voraus zum Ausgang. Mit einem Lift fuhren wir empor zu Ribbentrops riesigem, protzigem Arbeitszimmer. Alles in diesem Amt war riesig, protzig und geschmacklos. Ausländische Politiker und Diplomaten sollten von den mächtigen Gängen, den gewaltigen Säulenhallen, den Statuen und Gobelins beeindruckt und zugleich eingeschüchtert werden. Nur bei Hitler sah es noch ungeheuerlicher aus ... Einen Schluck, Mercedes?«

»Bitte.«

»Und du, Daniel?«

»Ja.«

»Wieder pur, nur mit Eis?«

»Wieder pur, nur mit Eis, ja«, sagte Ross. Er sah Olivera zu, der die neuen Drinks machte. »Ich nehme an, alle waren sehr aufgeregt«, sagte er.

»Natürlich«, sagte Olivera und ließ Eiswürfel in ein Glas gleiten. »Goebbels fragte mich ...«

»Wie ist dieser Film in Ihren Besitz gelangt, lieber Herr Ross?« Goebbels wanderte auf einem riesenhaften Teppich zwischen einem Marmorschreibtisch und einer Marmorsäule, die den überlebensgroßen Kopf Hitlers, in Bronze gegossen, trug, hin und her. Schreibtisch und Bronzekopf waren gut dreißig Meter voneinander entfernt. Die drei anderen Männer saßen in mächtigen Lederfauteuils. Ross wollte sich erheben, doch Goebbels winkte ab.

Ross sagte: »Herr Minister wissen, daß ich zuständig bin für den Dienst Mittlerer Osten. Wir ...«

Goebbels unterbrach ihn: »Ihre Männer in Teheran haben den Film in ihren Besitz gebracht, eine Kopie offensichtlich. Ich gratuliere zu solchen Leuten. Hervorragende Leistung. Ich meinte: Wie ist der Film hier in Berlin in Ihren Besitz gelangt?«

»Auf die übliche Weise, Herr Minister. Der Resident in Teheran hat mich – natürlich codiert – über Funk wissen lassen, daß eine Kopie dieses Films erbeutet worden ist. Üblicherweise wird dabei nicht die Arbeitsmethode mitgefunkt.«

»Das wissen wir auch«, sagte Himmler aggressiv. »Weiter, Herr Ross!«

Goebbels sah Himmler an. In seinem Blick lag Verachtung. Er humpelte an ihm vorbei über den großen Teppich.

»Heute ist Freitag«, sagte Georg Ross. »Der Funkspruch kam Montagnacht um drei Uhr vierzig. Angekündigt wurde Agent CX einundzwanzig mit der Filmrolle. Sein genaues Eintreffen war nicht festzulegen. Sobald er in Berlin sei, hieß es in dem Funkspruch, würde er den Film in einem Koffer mit Nummernschlössern bei der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs Zoo deponieren. Den Gepäckschein würde er in ein Kuvert legen und mit einem fingierten Absender an meine Privatadresse in Dahlem schicken. Heute Vormittag traf ein Brief ein. Ich hatte meine Haushälterin gebeten, mich in einem solchen Fall sofort anzurufen. Sie rief an, ich fuhr nach Dahlem, holte den Brief – es lag tatsächlich ein Gepäckschein darin. Ich fuhr zum Bahnhof Zoo und holte den Koffer ab. Dann fuhr ich hierher und öffnete die Schlösser. Ihre Nummern waren über Funk gekommen. Sorgfältig verpackt, lag eine Filmrolle im Koffer. Ferner ein langer Codetext. Meine Abteilung hat ihn sofort dechiffriert. Es war eine Mitteilung von CX einundzwanzig darüber, wie er in den Besitz der Kopie gekommen ist.«

»Und wie?« fragte Himmler. »Auf welche Weise? Durch wen? Nennen Sie Namen, Einzelheiten!«

»Es ist üblich«, schaltete sich Ribbentrop hochmütig ein, »daß ein Dienst seine Agenten schützt, Reichsführer.«

»Das weiß ich ebenfalls«, sagte der wütend. »Ich bin kein Idiot, Ribbentrop. Wenn wir mit dem Zeug etwas anfangen sollen, dann werden wir den Menschen sagen müssen, woher wir es haben und wie es in unseren Besitz kam.«

»Nicht unbedingt«, sagte Goebbels. »Ich meine: Wir müssen den Menschen nicht unbedingt die Wahrheit sagen. Wer tut das schon, Himmler? Seien Sie nicht kindisch!« Er wandte sich an Ross. »Es interessiert mich allerdings, wie Ihre Leute vorgegangen sind.«

Georg Ross sagte: »Schon am neunundzwanzigsten November vergangenen Jahres erhielt ich einen Funkspruch meines Residenten in Teheran. Er deutete an, daß der Agent CX einundzwanzig ... «

»Wer ist das, zum Teufel?« rief Himmler.

»Das weiß ich nicht, Reichsführer. Das weiß niemand – nur der Resident in Teheran. Ein Mitglied eines Netzes kennt nie mehr als ein anderes Mitglied.«

»Wollen Sie mich gefälligst nicht belehren! Das ist mir bekannt.«

»Warum fragen Sie dann, Himmler?« Goebbels sah ihn im Vorübergehen ironisch an, »Ich ... Bitte, nicht in diesem Ton, Doktor, ja?«

Goebbels reagierte überhaupt nicht. Er sagte zu Ross: »Man hat Sie unterbrochen. Entschuldigen Sie!«

Ross verneigte sich im Sitzen.

»Ich wollte sagen: In dem Funkspruch vom neunundzwanzigsten November deutete mein Resident in Teheran an, daß der Agent CX einundzwanzig Verbindung zu einem Amerikaner hergestellt hatte, der mit der Produktion dieses Films beschäftigt war. Nun, jener Amerikaner schien sich in größten finanziellen Schwierigkeiten zu befinden. Er war bereit, CX einundzwanzig eine Kopie des Films zu verschaffen, wenn wir auf ein Konto in der Schweiz fünf Millionen Dollar einzahlten.«

»Wie viel?« Himmler nahm ungläubig seinen Kneifer ab. »Fünf Millionen Dollar«, sagte Goebbels ärgerlich.

»Erscheint Ihnen das etwa zuviel für ein solches Dokument?« Dann fragte er Ross, ohne Himmler weiter zu beachten: »Und?«

»Und ich besprach die Sache mit dem Chef des Dienstes und mit dem Herrn Minister. Wir waren der Meinung, daß wir es riskieren mußten. Der für die Schweiz zuständige Mann veranlaßte das Nötige.«

»Gott sei Dank!« sagte Goebbels. Er sah Himmler an. Der setzte seinen Kneifer wieder auf und machte das Gesicht eines gekränkten Kindes.

»Sie wissen natürlich nicht, wer dieser Amerikaner ist.« »Natürlich nicht«, sagte Ross. »Aber wenn wir es wissen

wollen, wenn wir den Namen – sehr gegen unsere Prinzipien preisgeben müssen, kann ich die Identität des Mannes und seine Position natürlich jederzeit feststellen lassen, Doktor.«

»Gut. Fahren Sie fort, Ross!«

Ross sagte: »Nachdem die Message dechiffriert war, verständigte ich sofort den Herrn Minister, und wir sahen uns den Film an.«

»Zweimal«, sagte Ribbentrop. »Danach telefonierte ich mit Ihnen, meine Herren. Ich bin der Meinung, daß wir mit diesem Film den Krieg gewinnen können, und das schnell.«

»Der Meinung bin ich auch«, sagte Goebbels. Sein Gesicht hatte sich gerötet. »Das ist das Ungeheuerlichste, was mir je untergekommen ist. Die Folgen, die das Bekannt werden dieses Films – wenn es nur geschickt vorbereitet wird – haben kann, sind überhaupt nicht abzusehen.« Er setzte seine behinderte, aber rasche Wanderung quer über den Riesenteppich wieder fort, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Zunächst müssen wir sehr viele Kopien ziehen«, sagte er. »Der Film muß bei den diplomatischen Missionen des Deutschen Reiches in allen neutralen Ländern – in der Schweiz, in Schweden, in Spanien, Portugal, in ganz Südamerika, in der Türkei und so weiter und so weiter – allen dort akkreditierten Gesandten oder Botschaftern vor geführt werden, deren Länder sich mit uns im Kriegszustand befinden.« Goebbels lachte. »Was für eine schöne Überraschung wird das für Churchill sein – zum Beispiel!« Er sprach immer schneller. »Ferner müssen diesen Film alle von uns eingesetzten Politiker in den Ländern sehen, die wir erobert haben und besetzt halten: in Frankreich, Polen, Norwegen, Griechenland, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Ungarn, der Sowjetunion so weit sie in unserem Besitz ist. Die Politiker und die Millionen Menschen dort überall.« Er war vor dem Bronzekopf stehen geblieben und starrte ihn an. Dann drehte er sich um und hinkte weiter. »Ferner in Ländern, die an unserer Seite kämpfen. Rumänien. Bulgarien, das hat schnell zu gehen, meine Herren! Sie alle kennen die Lage. Bulgarien und Rumänien werden wir in ein paar Monaten räumen müssen. Aber es ist von größter Wichtigkeit, daß gerade die Menschen in Osteuropa den Film sehen, denn nach dem Geheimprotokoll sollen sie ja unter sowjetische Versklavung fallen. Stellen Sie sich vor, welche Panik dort ausbrechen wird!«

»Genau daran haben wir gedacht«, sagte Ribbentrop. »Deshalb haben wir Sie beide hergebeten. Sie, Doktor, weil Sie am besten wissen, wie man so etwas am effektvollsten aufzieht, und Sie, Reichsführer, weil Sie die Macht haben, in Deutschland und sämtlichen besetzten Ländern alles durchzusetzen, was der Doktor wünscht. Auf diese Weise kann es uns gelingen, praktisch der ganzen Welt – nach Amerika dringt es von Südamerika aus und nach Rußland aus dem von uns besetzten Teil – also wirklich der ganzen Welt exemplarisch vor Augen zu führen, wie zwei Männerzwei Männer, sage ich! – sich brutal, zynisch und menschenverachtend über das zukünftige Schicksal von Abermillionen geeinigt und die Welt in Teheran unter sich aufgeteilt haben. Meinen Sie nicht, Doktor?«

»Ich meine«, sagte der kleine Mann mit dem Klumpfuß und blieb stehen, »daß die Idee, Rußland und Amerika könnten sich die Welt wirklich geteilt haben, so abwegig in der Tat nicht ist. Ein Mann wie Churchill zum Beispiel wird sich das gewiß ebenso gut vorstellen können wie ich. Und er wird es sich um so besser vorstellen können, je heftiger Amerikaner und Russen protestieren und diesen Film als deutsche Propaganda hinstellen, was sie natürlich tun werden, tun müssen.« Er ging weiter. »Lassen Sie mich meine Gedanken zu Ende spinnen. Wir müssen diesen Film vor allem auch in alle Kinos des Großdeutschen Reichs bringen. Unsere Menschen sollen erfahren, was man mit ihnen und ihrem Land vorhat. daß man es teilen will, teilen für alle Zeit. daß der östliche Teil in die Hände der Bolschewiken fallen soll. daß die Menschen in diesem östlichen Teil wie die Menschen in ganz Ost- und Südosteuropa geknechtet und unterjocht werden sollen von Rußland. Stellen Sie sich die Wirkung auf unsere deutschen Menschen vor! Das Vaterland – aufgeteilt! Zerrissen! Besetzt!« Er atmete jetzt heftig. »Dieser Film muß ferner in den neutralen Ländern des Fernen Ostens und vor allem in Japan gezeigt werden, das einen heroischen Krieg gegen die Amerikaner führt. Denken Sie bloß, wie diese stolze Nation auf einen solchen Film reagieren wird! Stellen Sie sich vor, wie Frauen, Söhne, Töchter und Verlobte in den von uns eroberten Gebieten reagieren werden, die den Mann, den Vater, den Verlobten verloren haben! Ungeheuerlich ... ungeheuerlich ...« Er hinkte jetzt fast stolpernd. »Welche fanatische Entschlossenheit, um jedes Haus, um jeden Baum zu kämpfen, wird deutsche Menschen und die Menschen in ganz Südosteuropa ergreifen bei dem Gedanken, was ihnen bevorsteht! Wie werden die Schwerverletzten, die Krüppel, die Amputierten reagieren, dieses Heer von Millionen Menschen so vieler Nationen? Wofür haben sie gekämpft? Für die Freiheit von Furcht und Not? Nein! Zum größeren Ruhme von zwei Männern, die meinen, die Welt gehöre ihnen.«

»Natürlich müssen die Filme mit einer Stimme in der jeweiligen Landessprache unterlegt werden«, sagte Ribbentrop. Goebbels sah ihn ironisch an. »Sie meinen wirklich, Ribbentrop? Wir wissen, daß die Anglo-Amerikaner eine Invasion an der französischen Küste planen. Eine gewaltige Operation! Wir hätten dann zwei Fronten, wenn diese Invasion gelingt. Darum muß jetzt alles schnell gehen, schnell, sage ich noch einmal. Die amerikanischen und britischen und kanadischen Soldaten müssen von diesem Film wissen, bevor sie zum Angriff auf die Festung Europa antreten. Was wird dann in ihnen vorgehen, was muß dann in ihnen vorgehen? Mit welchen Gefühlen werden sie ihr Leben einsetzen in dem gefährlichsten Unternehmen der Kriegsgeschichte? Mit welchen Gefühlen werden die schon jetzt zu Tode erschöpften Soldaten der Roten Armee weiterkämpfen? Wie werden alle, die heute gegen uns kämpfen, auf diese Infamie reagieren? Italien hat kapituliert. Aber unsere Truppen stehen noch dort im Kampf mit den Anglo-Amerikanern. In Oberitalien müssen wir diesen Film natürlich auch zeigen! Die Menschen! Was werden die Menschen tun? Wenn wir es geschickt anfangen, werden ganze Armeen revoltieren, ganze Völker sich erheben – dann muß die alliierte Allianz zusammenbrechen ...« Er schwieg außer Atem.

In die Stille hinein sagte Himmler: »Wunderbar! Herrlich! Und wenn der Film nun eine Fälschung ist?«

»Dasselbe wollte ich schon lange fragen«, sagte Daniel Ross. Er stach mit einem Finger nach Olivera. »Und wenn der Film, den du mir da gezeigt hast, nun eine Fälschung ist?«

»Darauf kann ich dir nur mit den Worten des Doktor Goebbels antworten, Daniel«, sagte Olivera lächelnd ...

»Was heißt hier Fälschung, Himmler?« rief Goebbels. »Noch einmal: Die Amerikaner und die Russen werden sowieso sagen, daß es eine Fälschung ist – müssen es sagen. Aber jetzt unter uns: Wer sollte den Film gefälscht haben? Unter uns, habe ich gesagt! Herr Ross, haben Ihre Leute hier in Berlin den Film gefälscht?«

»Nein, Herr Minister. Ich habe schon erzählt, wie er in meinen Besitz gekommen ist.«

»Ribbentrop?«

»Nein, Doktor. Ich habe heute Vormittag zum erstenmal von seiner Existenz erfahren.«

»Dann kann er also nur in Teheran gefälscht worden sein«, sagte Goebbels. »Die Möglichkeit besteht. Sie ist unwahrscheinlich, aber sie besteht. Warum sollen sich Ihre Leute in Teheran eine so gewaltige Arbeit machen, Herr Ross? Haben sie überhaupt die Mittel dazu? Ich meine, über eines sind wir uns doch klar, Himmler: Die Personenaufnahmen sind nicht gefälscht. Wir alle wissen, wie Stalin und Churchill und Roosevelt aussehen, nicht wahr? Diese Aufnahmen müssen also echt sein. Auch die Aufnahmen mit Harry Hopkins und Woroschilow. Die beiden müssen sich getroffen haben. Oder meinen Sie, das waren Schauspieler, Himmler? Ich bitte Sie!«

Der Reichsführer erwiderte wütend: »Schon gut, schon gut. Aber wer sagt uns, daß bei diesem Treffen der beiden nicht etwas ganz anderes besprochen worden ist? Etwas ganz und gar Harmloses! Wer sagt uns, daß Roosevelt und Stalin da nicht irgendein belangloses Dokument unterschrieben haben, irgendeine Abmachung zwischen ihren beiden Staaten? Was denn? Sie, Ribbentrop, haben den Nichtangriffspakt mit Rußland unterschrieben und sind dabei mit Molotow gefilmt worden, ganz öffentlich. Obwohl das nun ein wirklich wichtiger Vertrag war, weil wir einfach noch nicht bereit gewesen sind, Rußland anzugreifen.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Himmler?« fragte Goebbels. »Meinetwegen sollen alle Personenaufnahmen echt sein! Aber ist der gesprochene Kommentar echt? Soll heißen: Sagt der Sprecher die Wahrheit? Und vor allem: Ist das Geheimprotokoll echt? Das wäre doch das Einfachste für einen Fälscher, echte Aufnahmen mit einem gefälschten Dokument zusammenzumontieren, oder?«

»Ich will Ihnen mal was sagen, Himmler«, erklärte Goebbels. »Natürlich werden wir das ganze Protokoll von unseren besten Spezialisten prüfen lassen, ob es sich um ein echtes Dokument handelt. Das ist selbstverständlich. Vorher darf den Film niemand sehen, klar. Ich gehe davon aus, daß das Protokoll zumindest genau in der Sprache und der Art abgefaßt ist, in der solche Dokumente angefertigt werden. Selbst wenn wir annehmen, das Ganze ist eine Fälschung – meinen Sie, der oder die Fälscher hätten sich so viel Mühe gemacht, wenn nicht auch das Protokoll absolut echt wirken würde? Niemals! Außerdem: Wer, Himmler, wer soll hier gefälscht haben? Und wenn gefälscht wurde ich sage Ihnen: Das macht für eine Zuschauerschaft von unzähligen Millionen nicht den geringsten Unterschied. Warum nicht? Weil sich jedermann vorstellen kann, daß ein solches Abkommen zwischen Amerikanern und Russen geschlossen wurde. Weil es möglich ist! Darum wird man auch eine Fälschung für echt halten. Mehr: Darum ist es ganz egal, ob der Film echt oder gefälscht ist.«

»Sehr richtig!« rief Ribbentrop.

Goebbels fuhr fort: »Nichts ist so wirksam wie das Visuelle. Es hat die größte Überzeugungskraft. An der Echtheit der Personenaufnahmen kann niemand zweifeln. Eine solche Fälschung hätte keiner zustande gebracht. Also werden die Menschen auch an die Echtheit des Protokolls glauben. Weil es so wahrscheinlich ist!«

»Weil es so wahrscheinlich ist, Daniel«, sagte Eduardo Olivera. Er trank einen Schluck Whisky. »Das ist die Antwort auf deine Frage. Weil es – und heute Tausende Male mehr als damals – so ungeheuer wahrscheinlich ist, daß ein solches Protokoll tatsächlich abgefaßt wurde.«

»Die Zeiten haben sich aber geändert!« rief Ross. »Durch das Fernsehen ist die Welt klein geworden. Keine Fernsehanstalt der Welt würde es wagen, diesen Film auszustrahlen, ohne genauestens zu recherchieren, ob es nicht Zeugen gibt für seine Echtheit. Oder dafür, daß er doch gefälscht wurde – ich weiß nicht, von wem. In Deutschland ist man noch zu sehr geschockt von dem Skandal, den der STERN mit den gefälschten Hitlertagebüchern hervorrief.«

»Das war aber auch eine Idiotenfälschung«, sagte Olivera aufgebracht. »So idiotisch, daß ich nie den Verdacht losgeworden bin, hinter den Kulissen ging es da in Wirklichkeit um etwas ganz anderes.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Ross. »Es gab weltweite Empörung und weltweit Schaden für den STERN. Wenn dieser Film hier eine Fälschung ist, dann ist er eine unvergleichlich raffiniertere, die unvergleichlich größere Empörung hervorrufen würde. So etwas will keiner haben. Schon gar kein Fernsehsender. Nein, nein, das muß dir klar sein: Einfach ausstrahlen wird diesen Film niemand. Unter allen Umständen werden da zunächst größte Anstrengungen unternommen werden, um glaubhafte Zeugen zu finden – für eine Fälschung, für die Echtheit. Das wird schwer sein, denn das alles ist lange her, und die meisten der Leute, die damals mit dieser Sache beschäftigt waren, sind tot. Nicht alle. Du lebst ja noch, Vater. Es müssen auch andere leben. Wir müssen sie finden! Es können ruhig solche sein, die erzählen, daß der Film echt ist, und es beweisen, und solche, die bezeugen, daß er gefälscht wurde. Wir präsentieren dem Zuschauer dann den Film mit beiden Versionen. Wir lassen den Zuschauer urteilen. Warum siehst du mich so an?«

Olivera sagte mit erstickter Stimme: »Du hast zum erstenmal Vater zu mir gesagt.«

»So, habe ich.« Ross stand auf, ging zur Bar und machte sich einen neuen Drink. Er trank hastig und sprach gleich weiter: »Und das Entscheidendste, weshalb wir unbedingt recherchieren müssen: Alles, was ich jetzt weiß – und was Mercedes schon lange weiß –, wissen wir nur von dir. Du hast gerade erzählt, wie das damals in Berlin gewesen ist, was du gesagt hast, was Goebbels, Ribbentrop und Himmler gesagt haben. Die drei sind längst tot. Und wenn du lügst? Wenn sich alles ganz anders abgespielt hat?«

»Warum sollte ich lügen? Wie sollte es sich abgespielt haben?«

»Nun«, sagte Ross, »zum Beispiel so: Aus authentischem Material, das aus Teheran stammte, und aus gefälschtem Material – ich meine das Protokoll –, das aus Deutschland kam, ist in Berlin von ersten Fachleuten ein Film montiert worden mit aller Raffinesse. Und über den Film und die Möglichkeiten, die seine Verbreitung bot, habt ihr euch unterhalten. Ich muß sagen, diese Version erscheint mir äußerst wahrscheinlich – auch wenn die Kopie jetzt, vierzig Jahre später, durch das, was inzwischen in der Welt passiert ist, so aussieht, als sei sie keine Fälschung, sondern echt.«

»Der Film ist echt«, sagte Olivera mit Nachdruck. »Sagst du. Laut sagst du es. Man muß dir glauben? Du willst

den Film doch verkaufen – für viel Geld, nicht wahr? Oder willst du ihn umsonst hergeben?«

»Natürlich will ich ihn verkaufen. Was würdest du tun, Daniel, wenn du einen solchen Film hättest – in dieser Zeit?«

»Dasselbe.«

»Siehst du.«

»Ja, siehst du. Und deshalb mußt du darauf beharren, daß der Film echt ist – selbst wenn du weißt oder vermutest, daß er gefälscht wurde.«

»Er ist nicht gefälscht worden«, sagte Olivera jetzt sehr leise. »Und warum hat Goebbels ihn dann niemals in Hunderten

von Kopien überall dort laufen lassen, wo er ihn angeblich laufen lassen wollte?«

»Das werde ich dir gleich erzählen, Sohn. Auch wenn du deinen Vater für einen Lügner hältst. Das spielt keine Rolle. Das ist dein Recht. In einem so entscheidenden Fall ist es dein Recht. Wenn ich auch nicht gerade sehr glücklich über deine Haltung bin.«

»Es kommt jetzt nicht darauf an, ob du glücklich bist. Warum ist dieser Film niemals von den Nazis gezeigt worden?« fragte Ross aufgebracht.

»Goebbels sagte an diesem Nachmittag ...«

»Die Arbeit wird umgehend aufgenommen. Als erstes müssen Spezialisten den Text des Protokolls prüfen. Wenn sie ihn gutheißen, kann mit dem Ziehen von Kopien und Sprecherkommentaren in Babelsberg begonnen werden. Die Kopie, die uns vorliegt, muß an absolut sicherer Stelle aufbewahrt werden.«

Ribbentrop sagte: »Wir haben da ein Haus in der Meinekestraße, Doktor. Einige Abteilungen sind ausgelagert. Das Haus ist vier Stockwerke hoch und hat zusätzlich drei Kellergeschosse. In jeder Kellerdecke wurden Stahlplatten eingezogen. Drei Stockwerke unter der Erde stehen Panzerschränke mit unseren wichtigsten Dokumenten. So etwas zerstört keine Bombe, auch nicht die stärkste.«

»Also dann in die Meinekestraße mit der Filmrolle!« sagte Goebbels.

Eine Stunde später erreichten der Mercedes Himmlers und ein Opel Modell P 4, der Dienstwagen, den man Ross zur Verfügung gestellt hatte, den Kurfürstendamm und bogen in die Meinekestraße ein. Sie hielten vor einem Haus, das zum Auswärtigen Amt gehörte. Die beiden SS-Leute, Begleiter Himmlers, stiegen aus. Himmler blieb im Fond des Mercedes sitzen und zog die Vorhänge an den Seitenfenstern zu, denn er wollte nicht gesehen werden. Er hatte die größten Hemmungen, derart unerwartet in der Öffentlichkeit aufzutauchen. Die SS-Leute, riesige Burschen, holten einen Koffer aus dem Fond des P4. Einer trug ihn und folgte Ross in das Haus, der andere ging zu dem Mercedes zurück.

Ross und sein Begleiter stiegen die vielen Stufen in das dritte Kellergeschoß hinab. Ein Polizist, der neben der Portierloge gestanden hatte, schritt voraus. Er kannte Ross, der sich deshalb nicht hatte ausweisen müssen. Jeder Treppenabsatz war durch zwei schwere Stahltüren gesichert, die der Polizist umständlich aufsperrte. Im dritten Stockwerk sah der verblüffte SS-Mann dann riesige, in die Mauern eingebaute Panzerschränke. Starke Lampen erhellten den Raum. Ross nahm dem jungen Mann den Koffer ab.

»Drehen Sie sich um!« sagte er.

Der SS-Mann und der Polizist wandten ihm den Rücken zu. Ross stellte die Kombination des Nummernschlosses an einem Panzerschrank ein. Die Tür schwang auf. Ross stellte den Koffer auf ein leeres Bord aus dickem Stahl. Dann verschloß er den Schrank und drehte am Stellrad mit den Nummern. Die drei Männer gingen wieder nach oben. Der Polizist löschte die Beleuchtung in jeder Etage, die sie verließen, und sperrte die Stahltüren hinter ihnen ab.

Der SS-Mann setzte sich wieder neben seinen Kollegen hinter das Steuer des Mercedes. Ross öffnete eine Fondtür. Ängstlich fuhr der Mann mit dem Kneifer und dem Schulmeistergesicht zurück, eine Hand wie zur Abwehr eines Schlages halb erhoben.

»Ich wollte nur Heil Hitler sagen«, erklärte Ross. »Ja ... ach ja. Heil Hitler, Herr Ross!« Himmler hob die Hand

zum sogenannten deutschen Gruß, Ross desgleichen. »Wir rufen Sie morgen Vormittag an, Reichsführer«, sagte er,

warf den Schlag zu und machte dem SS-Mann am Steuer ein Zeichen. Der Mercedes fuhr los. Ross ging langsam zu seinem Opel zurück. Es war halb sieben Uhr abends. Er fuhr hinaus nach Dahlem, wo er Im Dohl eine Villa bewohnte, die in einem mächtigen Garten stand. Die Villen ringsum gehörten zahlreichen Nazigrößen und hohen Beamten der verschiedenen Ministerien und Organisationen, die ihre Dienststellen im Stadtinneren hatten. Ross ging durch den Garten, in dem schon die ersten Blumen blühten. Es war ein warmer, schöner Frühlingsabend. Das Haus hatte wie viele andere hier einem Juden gehört. In der sogenannten Reichskristallnacht vom g. zum 10. November 1938 war sein Juweliergeschäft am Kurfürstendamm, wie viele andere jüdische Geschäfte in ganz Deutschland, geplündert worden. Er und seine Frau wurden von SA Leuten totgeschlagen – wie viele andere Juden. Das Auswärtige Amt hatte Georg Ross für seine Berlinaufenthalte hier eingewiesen. Die Villa war noch mit den schönen und wertvollen Möbeln, Teppichen und Bildern des ehemaligen Besitzers eingerichtet.

In der Diele erschien, während Ross seinen Regenmantel auszog, Frau Valerie von Tresken, die Haushälterin. Ross trug einen grauen Anzug aus feinstem englischen Flanell, ein Seidenhemd mit eingesticktem Monogramm und eine Foulardkrawatte. Er ging aufrecht und federnd, er wirkte selbstsicher und sich seiner bedeutenden Stellung bewußt. Der geduckte und dabei cholerische Leiter einer Filiale der Österreichischen Sparkasse in Wien hatte nicht das geringste mit ihm gemein.

»Heil Hitler, Frau von Tresken!« Er schenkte ihr ein Lächeln. »Heil Hitler, Herr Ross!« Frau von Tresken war groß und hager, trug die Haare zu einem Knoten hochgesteckt, bevorzugte schwarze Kleider und benützte niemals Puder oder Schminke. Sie sagte: »Fräulein Holm ist schon da.«

»Nanu, so früh?«

»Es war heute für sie nichts mehr zu tun, sagt sie.« »Wo ist Dora?«

»Sie badet.« Frau von Tresken mißbilligte alles, was die junge Schauspielerin, von der die Rede war, auch tun mochte. Am meisten mißbilligte sie die ständige Anwesenheit Dora Holms in diesem Hause. Frau von Tresken stammte aus Ostpreußen und sprach mit dem Akzent jener Gegend. Sie lebte wie die Köchin und ein Stubenmädchen seit fünf Jahren in der Villa, die Ross bei seinen Aufenthalten in Berlin als Heim diente. Das erste halbe Jahr war wunderbar für Frau von Tresken gewesen. Da konnte sie die Hausherrin spielen und Ross all die Bewunderung und Liebe entgegenbringen, die sie sofort für ihn empfunden hatte. Sie war so alt wie er, und sie hatte in ihrer verzweifelten Verklemmtheit, welche die Folge allzu strenger Erziehung war, immer gehofft, daß er ihre Gefühle erwidern würde. Aber dann war dieses junge Ding gekommen, diese kleine Hure, und Ross hatte überhaupt keine andere Frau mehr wahrgenommen. Frau von Tresken begriff nie, wie ein Mann mit so viel Charme und von solcher Lebensart dermaßen den Kopf verlieren konnte angesichts eines Mädchens, das zehn Jahre jünger war und so ungemein vulgär. Bitter sah sie Ross nach, als er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufeilte.

Er lief in den ersten Stock und in ein Ankleidezimmer. Hier zog er sich um. Den Anzug hängte er über einen stummen Diener. Er wählte eine leichte Hose und ein Baumwollhemd. Als er die Kleidungsstücke aus dem Schrank nahm, sah er in der Ecke die Uniform eines Majors der Deutschen Wehrmacht. Er schloß den Schrank schnell. Dann eilte er zur Tür eines Badezimmers und klopfte.

»Ich bin es, Georg.«

»Komm herein!« Dora Holm saß in der Wanne und lachte ihm entgegen. Er sah ihr hübsches Gesicht, ihre schönen Brüste, die nasse, feine Haut, und er war glücklich und ausgeruht und fühlte sich zehn Jahre jünger.

»Guten Tag, Schatz!« Er küßte ihren nassen Mund, danach ihre Brustwarzen.

»Weiter ... mach weiter ... das tut gut ...« Sie drängte ihm die Brüste entgegen und hob den Körper aus dem Wasser, indem sie sich auf die Ellbogen stützte. »Da auch!« sagte sie. Er küßte und leckte das rosige Fleisch. »Oh ... oh ... du weißt aber genau, wo!« Sie atmete schwer. »Heute werden wir schön spielen, ja, Liebling? Mir ist so sehr nach Spielen.«

»Mir auch.« Er richtete sich auf. »Schluß jetzt! Sonst spielen wir gleich weiter.«

»Hab’ nichts dagegen.«

Er setzte sich auf einen Hocker. »Nein, nicht?« »Später, Schatz! Später, so lange du willst.« »Ich will aber jetzt! Wenn du nicht willst, fange ich schon

ohne dich an!« Eine Hand verschwand unter der schaumbedeckten Wasseroberfläche. Sie bewegte sich eine Weile, dann lachte sie. »Was ist denn mit Ihrer Hose los, Herr Ross?«

Er lachte auch.

»Nein«, sagte sie. »Ich will jetzt doch nicht. Jetzt bin ich so schön aufgeregt. Ich werde so aufgeregt bleiben bis nach dem Essen. Und nach dem Essen spielen wir, ja?«

»Ja, mein Schatz.« O Gott, dachte er, habe ich sie lieb. »Wieso bist du schon zu Hause? Ich dachte, ihr dreht bis sechs.«

Sie lachte wieder.

Eine Frau, die immer lacht, eine schöne, junge Frau, überlegte er. Und Thea in Wien. Nein, gar nicht daran denken!

»Alles wegen der Salami«, sagte Dora.

»Verstehe kein Wort.«

»Gefallen dir meine Brüste, ja?«

»Ja, mein süßer Schatz.«

»Sie sind nicht zu groß? Manchmal habe ich Angst, daß sie zu groß sind.«

»Sie sind genau richtig.«

»Das ist gut. Das ist wichtig. Sie müssen genau richtig sein für dich, Liebling.« Sie streichelte ihre Brüste.

Er dachte: Bald fünf Jahre kennen wir einander schon. Als ich sie traf, in der Königin-Bar, war sie noch an der Schauspielschule der UFA. Jetzt hat sie bereits richtige große Rollen mitberühmten Partnern. Ihre Eltern in Hamburg wissen von unserer Beziehung und daß Dora mit mir zusammenlebt. Süße Dora.

››Was war mit der Salami?« fragte er.

Sie lachte wieder. Unter einem Tuch, das sie um den Kopf gebunden hatte, sahen schwarze Haare hervor. Sie hatte hellblaue Augen und einen großen Mund. vielleicht, überlegte Eduardo Olivera, bin ich deshalb so vernarrt in meine Stieftochter Mercedes ...

»Wir drehen doch ›Die Wasser unter der Erde‹ nach der Novelle von Harsanyi, nicht wahr? Na, und heute war eine Szene dran, da frühstückt Heinrich George mit seinem Nachbarn und mir. In der Novelle und im Drehbuch steht, daß der Tisch überquillt von Fleisch, Brot, Käse, Butter, Trauben und so weiter ... und George soll eine Salami essen. Eine Salami habe ich gesagt, Liebling!«

»Hab’s gehört, Schatz. Und?«

»Und! Wann hast du zum letzten Mal Salami gegessen? Echte ungarische? Na also, siehst du! Es gibt doch keine mehr seit einer Ewigkeit.«

Sie lachte wieder. Und er dachte: Wie liebe ich sie. »Aber in der Novelle und im Drehbuch steht: ungarische

Salami! Na, George macht vielleicht ein Theater, kann ich dir sagen. Hat schon vor zwei Wochen angefangen damit. Er kann es sich leisten.« Sie ahmte Heinrich George nach: »Hier steht, ich esse ungarische Salami, also her mit ungarischer Salami! Geht mir weg mit euren Ersatzwürsten! Ich bin ein Künstler, der auf Werktreue schwört. Wenn ich keine ungarische Salami kriege, können wir die Szene gleich streichen.« Dora streckte einen Schenkel aus dem Wasser, danach den anderen. Ross küßte schnell ihre Zehen. »Naja, was sollten sie machen? Zuerst fragten sie bei Rollenhagen. Die hatten natürlich keine. Dann fragten sie einfach überall. Keine Salami. Also rufen sie die ungarische Gesandtschaft an.«

»Nein!«

»Ja doch, Liebling! Warte, es kommt noch viel verrückter! Die ungarische Gesandtschaft hat auch keine ungarische Salami. Man telefoniert mit Budapest. Kommt ein Kurier im Flugzeug von Budapest nach Berlin mit einer ungarischen Salami im Diplomatenkoffer!«

»Das ist nicht wahr!«

»Jedes Wort! Der Kurier bringt die Salami in die ungarische Gesandtschaft. Man hat sie bei Seiner Exzellenz dem Herrn Reichsverweser von Horthy ausgeliehen. Ausgeliehen, sage ich, nur ausgeliehen. Ehrenwort, daß er das größte Stück zurückbekommt. Großes deutsches UFA-Ehrenwort.«

»Hör auf, Dora!«

»Die ungarische Salami wird, begleitet von einem Gesandtschaftsattache, nach Babelsberg gebracht. Es ist abgemacht, daß George bei den Proben nur markiert, und daß er dann bei der Aufnahme nur ein ganz kleines Stück ißt. Na, und nun geht das Theater los. Zuerst passiert noch nichts. Dann, erste Aufnahme: George säbelt ein Riesenstück Salami herunter, kaut, schmatzt und verspricht sich – absichtlich natürlich.«

Ross begann zu lachen.

»Dreihundertvier, zum zweitenmal!« Dora machte den Klappenmann nach. »George futtert wieder, was er in den Hals bekommt, verschluckt sich, kriegt einen Hustenanfall. Aus. Der Gesandtschaftsattache wird immer unruhiger. Ucicky hat Tränen in den Augen – der Regisseur, weißt du. Er fleht George an: ›Heinrich, mir zuliebe, bitte, mach es jetzt gut, ja?‹ Einstellung dreihundertvier zum drittenmal!« Dora klatscht wieder in die Hände. »George mampft. Alles geht gut. Noch drei Sekunden. Noch zwei Sekunden. Da verschluckt sich George, kriegt keine Luft mehr.«

»O Gott, nein!«

»O Gott, ja! Der Tonmeister bricht ab. ›Was ist denn jetzt wieder los?‹ schreit er. Also: Dreihundertvier zum viertenmal! Diesmal fängt George mittendrin an zu lachen wie ein armer Irrer. Was soll ich dir sagen? Er hat tatsächlich die ganze Salami verputzt, er ist doch so ein Bär von einem Kerl, nicht, und erst beim letzten Stück ist Einstellung dreihundertvier dann endlich im Kasten. Aber der Mann von der Gesandtschaft bekommt einen Tobsuchtsanfall und Ucicky auch, und da steht George auf und sagt: ›Also, Herrschaften, das war’s, Feierabend!‹ Und geht.

Deshalb war heute früher Drehschluß. Meinst du, daß Ungarn uns jetzt den Krieg erklärt, Süßer?«

Als sie Stunden später glücklich und erschöpft nackt nebeneinander auf dem breiten Bett lagen und gemeinsam eine Zigarette rauchten, brach die zärtliche Radiomusik, die seit langem erklungen war, ab, und eine Männerstimme meldete sich: »Hier ist der Reichssender Berlin. Achtung, eine Luftlagemeldung: Schwere feindliche Kampfverbände im Anflug auf die Deutsche Bucht und die Mark Brandenburg.« Der Sprecher wiederholte die Meldung. Dann setzte wieder sanfte Musik ein.

Dora ließ sich aus dem Bett rollen. Ross erhob sich. Sie zogen nur Schlafkleidung und Morgenmäntel an. Dora nahm eine Krokodilledertasche, in der sich ihr Schmuck und ihre Papiere befanden, Ross trug eine große Aktentasche, als sie das Haus verließen, um durch den dunklen Garten zu dem kleinen, aber sehr dickwandigen Betonbunker zu gehen, der in die Rasenerde eingelassen war. Ribbentrop hatte darauf bestanden, daß Ross so einen Bunker bauen ließ. Sie stiegen die Treppen hinunter. Frau von Tresken, die Köchin Pikuweit und das Stubenmädchen saßen schon da. Platz war genügend. Auch hier gab es ein Radio und einen Telefonapparat – die Leitungen waren vom Haus herübergelegt worden.

Der Reichssender Berlin hatte inzwischen abgeschaltet, man hörte nur das Weckerticken des sogenannten Drahtfunks. Von Zeit zu Zeit gab eine Mädchenstimme aus dem Befehlsstand des Gauleiters bekannt, wo sich die feindlichen Maschinen befanden. Den ersten Verbänden folgten weitere. Bald schon hörte man das tiefe Gebrumm vieler Motoren und das Bellen der Flak, dann erste Explosionen – weit weg. Das Licht im Bunker ging aus, ging wieder an, flackerte. Die Köchin weinte.

Dora versuchte, ihr Mut zu machen. Sie sagte: »Frau Pikuweit. Sie müssen keine Angst haben. Hier bei uns in Dahlem passiert nichts. Auch nicht im Grunewald.«

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Frau von Tresken spitz. »Na, ist schon mal was passiert? Ein paar Bomben, ja. Aber richtig passiert? Nein! Und wissen Sie, warum nicht, Frau Pikuweit? Ein Beleuchter im Atelier hat es mir gesagt, und ich glaube es. Die wollen doch den Krieg gewinnen, die Amerikaner und die Engländer. Na, und wenn sie ihn gewinnen, dann werden sie doch nach Berlin kommen, nicht? Und da werden sie doch in den schönsten Villen in den schönsten Vierteln wohnen wollen, wo jetzt die großen Bonzen sitzen – in Dahlem und im Grunewald. Werden sie die schönsten Villen doch nicht zusammenbomben. Ist doch nur logisch, was?«

»Sprich nicht so!« sagte Ross, plötzlich schwer verärgert. »Ich sage ja nur, was der Beleuchter gesagt hat. Und weil

Frau Pikuweit solche Angst hat.«

»Ach, liebet Frollein«, sagte die bleiche Köchin mit den rotgeweinten Augen. »Ick weene doch nich, weil ick Schiß habe. Ick weene weinn meinen juten Oska. Seit fünf Wochen hab ick keene Nachricht mehr von ihm. Zuerst der Mann. Und nu ooch noch der Junge. Zwanzich issa erst, erst zwanzich ...« Sie brach erneut in Tränen aus. Dora drückte sie an sich und redete ihr gut zu, aber die blasse Frau war nicht zu beruhigen. Nun erschütterten dauernd Explosionen die Luft. Der Boden bebte. Wieder ging das Licht aus und an. Die Mädchenstimme sprach von starker Kampftätigkeit und massiven Bombenwürfen im Zentrum und im Norden der Stadt. Und immer neue Kampfverbände flogen Berlin an.

Die Köchin verlor plötzlich die Nerven. Sie schrie: »Festa! Festa! Haut allet zu Klump! Det is die Strafe Jottes dafür, det wa hurra jebrüllt ham zu allem, wat er jetan hat, der Hitla, der Leibhaftije! Als er die Tschechen ibafiel und die Polen und Beljien und Holland und Frankreich und Norwejen und Rußland. Und die Juden! Nich eene Hand hat sich erhoben jejen ihn. Warum nich? Er is so stark und wir sin so feije. Ohne Gnade bestraft uns der liebe Jott nu dafür, ohne Gnade. Darum müssense verrecken hier und an de Fronten, mein arma Paule und mein arma Oska und so ville, ville andere ...« Die Pikuweit fuhr sich mit einer Hand über die Stirn wie ein Mensch, der erwacht. »Entschuldigen Sie, gnädija Herr. Ick weeß nich, wat det war eben, ick hab den Vastand valorn vor Kumma, vazeihnse ma, bitte!«

»Verzeihen?« schrie Ross, dunkelrot im Gesicht und außer sich vor Zorn. »Das könnte Ihnen so passen, Frau Pikuweit! Sie haben gewagt, den Führer zu beschimpfen! Das ist phantastisch! Das ist verbrecherisch!«

»Nun laß doch, Georg«, sagte Dora leise. »Die arme Frau. Mann verloren. Der Junge wahrscheinlich auch tot. Wußte doch nicht, was sie sagte.«

»Halte du dich da raus, bitte, ja?« schrie Ross. »Wußte nicht, was sie sagte! Was heißt denn das? Hunderttausende verlieren ihre Liebsten in unserem heroischen Ringen. Und Frau Pikuweit meint, daß sie den Führer mit Dreck bewerfen kann. Na, da hat sie sieh aber geirrt. Da hat sie sich mächtig geirrt, die Frau Pikuweit! «

»Jawohl, das haben Sie«, rief Valerie von Tresken. »Um Jottes willen, Sie wernma doch nich anzeijen, Herr

Ross!« Die Köchin fiel auf die Knie und umklammerte seine Knie. »Bitte, eich anzeijen!«

»Natürlich werde ich Sie anzeigen!« brüllte Ross. »Das ist meine Pflicht. Sie sind ja eine Hochverräterin!«

»Herrjeses, wennse mir anzeijen, is doch die Rübe ab! Ick flehe Sie an, seinse gnädich, Herr Ross! Ick hab es doch nick so jemeint! Ich war nur so aussa mir.«

»Lassen Sie augenblicklich meine Knie los!« schrie Ross. Er trat nach ihr. Die Köchin fiel auf den Rücken.

»Nick anzeijen!« rief sie. »Bitte, bitte, bitte, nich anzeijen!« Das Telefon klingelte.

»Ruhe!« brüllte Ross. »Halten Sie den Mund, sofort!« Er hob ab und meldete sich: »Ja?«

»Herr Ross?«

»Wer ist da?«

»Verbindung Auswärtiges Amt.«

»Was ist passiert?«

»Unser Haus in der Meinekestraße hat einen Volltreffer gekriegt. Das Nebenhaus auch. Da ist nur noch ein einziger riesiger Trümmerhaufen.«

Das Dock Sur, das Süd-Dock, drang wie eine lange, schmale Feile sehr weit in das Randgebiet von Buenos Aires ein. Auf der dem Rio de la Plata zugewandten Seite standen große Raffinerieanlagen und Öltanks. Hier gab es noch viel freies Land mit Abfallhalden, Autofriedhöfen, verfaulenden Holzhütten und Abertausenden von Ratten. Es waren Riesentiere, und die Menschen, die hier wohnten, fürchteten sie sehr, denn die Ratten hatten die Angewohnheit, kleine Kinder im Schlaf anzufallen, ihnen die Kehle durchzubeißen und sie dann anzufressen. Hier wohnten die Ärmsten der Armen.

Auf der anderen Seite des Dock Sur, jenseits der Straße Debenedetti, standen in langen Reihen graue, häßliche Mehrfamilienhäuser des sozialen Wohnungsbaus. Ihre Bewohner gehörten auch zu den Armen, aber nicht mehr zu den Ärmsten der Armen. Die Debenedetti war eine soziale Grenze, welche alle respektierten, sogar die Ratten.

Ein grüner Ford holperte über die Löcher der Straße Olimpia und blieb vor einem dreistöckigen Haus stehen. Zwei Männer saßen darin.

»Nummer fünfzehn. Hier leben seine Eltern, Pio«, sagte der Mann am Steuer. »Da steht sein Volkswagen. Er wohnt im dritten Stock, ganz links. Das offene Fenster.«

»Okay«, sagte der Mann, der Pio hieß. Er stieg aus, ließ den Schlag offen, trat an den Holzzaun, der den winzigen Garten vor dem Haus säumte, bückte sich nach ein paar Kieseln und warf sie durch das offene Fenster im dritten Stock. Es dauerte nicht lange, und Miguel zeigte sich. Sein Oberkörper war nackt. Er machte einen erschrockenen Eindruck.

»Was ist los?«

»Miguel Morales?«

»Ja. Wer sind Sie?«

»Sag' ich dir gleich. Komm runter! Es ist dringend.« »Ich will wissen, wer Sie sind.«

»Leise! Weck nicht deine Eltern! Was sagte die Ameise zur Libelle?«

Miguel atmete auf. Erleichtert antwortete er: »Tanze nur, tanze! Im Winter wirst du bitterlich Hunger leiden.« Dann verdüsterte sich sein Gesicht wieder. »Es ist was passiert, ja?«

»Ja. Nun komm schon endlich runter!«

»Sofort.«

Miguel trat gleich darauf aus der Tür. Er trug der Hitze wegen nur einen Slip und sah verschlafen aus.

»Komm in den Wagen!« sagte Pio.

Miguel folgte ihm. »Guten Abend«, sagte er zu dem Mann am Steuer.

»Abend. Ich heiße Ernesto. Das ist Pio.« Sie schüttelten einander die Hände. Miguel saß mit Pio im Fond. Ernesto löschte die Scheinwerfer. Sie sprachen sehr leise.

»Du warst heute im Retiro?«

»Wie jeden Freitag.«

»Und hast du was in das Schließfach gelegt?« »Drei Kassetten.«

»Kacke.«

»Was heißt Kacke?«

»Wann hast du sie reingelegt?«

»Halb zehn oder etwas später.«

»Wir waren um zehn da. Wie immer. Das Fach war leer.« Miguel preßte beide Fäuste gegen die Brust. Plötzlich zitterte er, als würde er frieren.

»Wir haben den Leitoffizier verständigt. Er hat uns sofort zu dir geschickt. Du bist immer zum Wochenende hier, wenn du frei hast, hat er gesagt. Bringst deinen Eltern Geld und Essen. Guter Junge. Guter Junge hat Pech gehabt.«

»Heilige Mutter Maria! Jetzt verstehe ich.«

»Was verstehst du?«

»Die Scheißer.«

»Wer?«

»Die verfluchten Scheißhunde! Die haben den Zusammenstoß absichtlich arrangiert.«

»Was für einen Zusammenstoß?«

»Auf dem Parkplatz vor dem Retiro ...« Miguel berichtete, was sich dort ereignet hatte. Er schloß: »Während ich mit dem einen Kerl verhandelt habe, muß der andere die Kassetten aus dem Fach geholt haben. Ganz schnell.«

»Ganz schnell! Wie denn ganz schnell, Mensch? Hast das Fach doch versperrt, oder?«

»Natürlich. Münzen eingeworfen und versperrt. Sonst hätte ich den Schlüssel doch nicht rausziehen können.«

»Hast du ihn rausgezogen?«

»Hört mal ...«

»Hast du? Miguel, die haben drei Kassetten! Noch gar nicht abzusehen, was sie jetzt tun werden. Wenn du wirklich abgesperrt hast, mußt du ja auch den Schlüssel haben.«

»Klar hab’ ich den.«

»Wo?«

»In meiner Handtasche.«

»Hol sie!«

»Also, wißt ihr ...«

»Hol sie, Arschloch! Ist dir nicht klar, daß du schon halb tot bist?«

»Halb ...« Miguel starrte Pio an Dann sprang er ins Freie. Lautlos eilte er ins Haus. Kurze Zeit danach kam er zurück und kroch wieder in den Fond. Er hatte die Ledertasche bei sich. Den bizarr gezackten Schlüssel hielt er in der Hand.

»Hier, bitte!«

»Dann haben die Kerle ein Duplikat gehabt. Müssen dich schon länger beobachtet haben. Kannten die Nummer des Fachs.«

»Damit kriegen sie noch kein Duplikat.«

»Ich weiß nicht, wie sie’s gemacht haben«, sagte Ernesto. »Sie haben’s gemacht. Läuft der Recorder im Moment?«

»Ja.«

»Idiot, verfluchter!«

»Nenn mich nicht Idiot, ja? Olivera hat gesagt, er wird mit diesem Mann wieder in die Bibliothek gehen. Ich habe das erste lange Gespräch aufgenommen. Natürlich brauchen die auch das zweite, habe ich gedacht.«

»Gedacht, mein Arsch. Du bist aufgeflogen, Olivera weiß das vielleicht längst. Und da klebt eine Wanze, und da läuft ein Recorder!«

»Ich kann nichts dafür.« Miguel wurde trotzig. »Ich habe immer genau das getan, was man mir gesagt hat.«

Ernesto legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Pio meint es nicht so. Wir sind alle aufgeregt. Du kannst nichts dafür, klar. Aber du mußt jetzt tun, was wir dir sagen. Uns hat's der Leitoffizier aufgetragen. Du ziehst dich an und fährst nach Cespedes.«

»Was, jetzt?«

»Jetzt. Wenn Olivera oder wer anderer dich fragt – irgendeine Ausrede. Willst lieber in der Villa schlafen. Sobald es möglich ist, nimmst du die Wanze weg. Den Recorder und den Empfänger auch. Pack das ganze Zeug zusammen. Was sonst noch da ist. muß alles verschwinden. Keine Spuren.«

Miguel fuhr hoch. »Keine Spuren! Olivera weiß doch längst, daß ich es war! Der hat doch schon mein Zimmer durchsucht und alles gefunden. Er oder seine neuen Freunde – der aus Europa zum Beispiel. Da wartet doch schon die Polizei auf mich. Ihr seid wahnsinnig. Ich kann nie mehr zurück.«

»Der Leitoffizier sagt ...«

»Scheiß auf den Leitoffizier! Soll er doch hingehen!« Pio hatte plötzlich eine schwere Pistole in der Hand. Er

drückte die Mündung gegen Miguels nackten Bauch. »Du fährst zurück und tust, was wir dir gesagt haben. Vielleicht weiß Olivera auch noch gar nichts.«

»Weiß noch gar nichts! Wenn die vor mehr als zwei Stunden die Kassetten geklaut haben! Weiß von gar nichts, ihr Kretins! Klar weiß er. Klar ist die Polente da. Was krieg’ ich? Drei Jahre? Fünf?« Er wurde hysterisch.

Ernesto lehnte sich zurück und schlug ihm rechts und links ins Gesicht, so fest er konnte. »Halt’s Maul!«

Miguel zitterte wieder.

»Du fährst. Sofort! Wir sind hinter dir. Der Leitoffizier sagt, wir sollen dich umlegen, wenn du nicht zum Haus reinfährst. Kannst du wenigstens nicht quatschen, falls Olivera es wirklich schon weiß.«

»Er muß es aber nicht wissen, sagt der Leitoffizier. Und du bist der einzige, der ins Haus kann.« Der kalte Stahl von Pios Pistole bohrte sich in Miguels Bauch.

Miguel keuchte.

»Denk an General Alvarez. Du hast ihm bei der Heiligen Jungfrau geschworen, daß du dein Leben hergibst, wenn es notwendig ist. Also: ja oder nein? Wenn nein, erledigen wir es gleich.« Miguel schwieg.

»Du Saukerl!« sagte Pio plötzlich empört. »Was ist?« fragte Ernesto.

»Hat sich angepißt. Alles schwimmt. So eine verfluchte Schweinerei!« Pio hatte sich halb erhoben. Mit einer Hand stützte er sich.

»Es tut mir leid ... Ich mache alles sauber ... Es war nur, weil ich solche Angst habe ... so schreckliche Angst«, rief der hübsche Junge mit der Bronzehaut und den Mandelaugen verzweifelt. »Kusch! Im Kofferraum sind Lappen«, sagte Pio und stieß Miguel aus dem Wagen. »Los! Wisch die Pisse weg, du Sau!«

»Das war der Angriff in der Nacht zum ersten April vierundvierzig«, sagte Eduardo Olivera. »Die Trümmer zweier Häuser in der Meinekestraße übereinandergestürzt. Die Filmrolle drei Stockwerke unter der Erde. Im Boden jeder Etage Panzerplatten eingezogen. Und Tag und Nacht kamen diese Gangster, Tag und Nacht.«

»Wir wollen lieber nicht von Gangstern reden«, sagte Ross. »Du bist doch ein Demokrat, kein Nazi mehr, hast du mir erklärt.

Wer hat denn mit dem Bombardieren angefangen? Wer hat denn Rotterdam und Warschau und Coventry auf dem Gewissen? Wer hat denn brüllend und unter dem Jubel seiner Zuhörer verkündet, daß diese Städte ausradiert worden sind?«

»Es war unmenschlich, Daniel. Unmenschlich, sage ich dir«, flüsterte Olivera und verdeckte die Augen mit einer Hand, die er wie einen Schirm vor die Stirn hielt.

»Wann wart denn ihr einmal menschlich?«

»Daniel, bitte ...«

»Nein, Mercedes, nein! Dieses gottverfluchte Verbrechergesindel, und mein Vater dabei als großer Bonze! Mit Begeisterung! Im Luxus eines Hauses, das Juden gehörte, die man vermutlich totgeschlagen hatte. Hat das meinen Vater gestört? Einen Scheißdreck hat das meinen Vater gestört! Mit einer Filmhure hat er da ein feines Leben gehabt. Was denn, das war doch seine schönste Zeit! Ihm ist nichts passiert! Fünfzig Millionen sind verreckt! Er nicht!« Die letzten Sätze hatte Ross geschrieen. Er stand auf. Ihm wurde plötzlich brennend heiß und übel. »Er war bei den Mördern, nicht bei den Ermordeten, mein Vater. Jetzt habe ich viermal Vater gesagt. Bist du gerührt, ja? Kommen dir die Tränen, ja? O Gott, so etwas ist mein Vater! So etwas ist ...« Er ging schwankend zum Pool.

»Wohin gehen Sie?« rief Mercedes.

»Weg! Ich muß weg von dem Kerl!« Das bekam Ross eben noch heraus, danach schoß die alte, so wohlbekannte Angst in seiner Kehle hoch, und er blieb stehen. Mit beiden Händen hielt er sich am Stamm einer Palme fest. Das Blut hämmerte in seinen Schläfen so stark, daß es schmerzte. Das alles ist zuviel für mich, schon seit langem, sagte er zu sich, und es kommt noch mehr, das weiß ich. Und ich muß es mir anhören, denn ich muß alles wissen, die ganze schmutzige Wahrheit, wenn ich jetzt losziehen will mit dem Film. Und das will ich, das ist die Story meines Lebens, der Film und mein Vater bei den Nazis, bei dem Henker Himmler, dem Satan Goebbels, dem Lumpen Ribbentrop. Der schloß einen Nichtangriffspakt mit Rußland, das ein Jahr später prompt überfallen wurde von den Nazis, diesen Jahrtausendkriminellen, und mein Vater war einer von ihnen, einer von den Großen ...

Daniel Ross ging zum Pool, kniete nieder und wusch sein Gesicht mit kaltem Wasser. Er fühlte sich elend. Also nahm er Nobilam. Er wußte nicht einmal, wie viele Tabletten. Er schüttete sie aus dem Röhrchen in die Hand, warf sie in den Mund und schluckte sie ohne Wasser. Egal, wenn der Kerl es sah, alles egal, du muß t durchhalten jetzt, sagte er zu sich, das ist das einzig Wichtige, durchhalten mußt du. Er kam zum Tisch zurück, goß sein Glas halb voll Whisky und trank, bis seine Augen tränten. Er ließ sich in seinen Stuhl fallen.

»So geht das nicht, Sohn«, sagte Olivera. »Ich brauche dich, und du brauchst mich. Also.«

»Schon gut. Es war eben einfach mehr, als ich aushalten kann. Wird nicht mehr vorkommen – Vater! Nimm es um Himmels willen als Beleidigung, wenn ich Vater sage, und nicht etwa als Kindesliebe, die da durchbricht, ja?« Er sah Olivera an. Der war bleich geworden. Die ohnedies schmalen Lippen bildeten einen Strich. »Und weiter?« sagte Ross. »Hast du die Köchin angezeigt?«

»Selbstverständlich. Das war meine Pflicht.« »Das war deine Pflicht, Herrenmensch!« Olivera nahm sich

enorm zusammen. Er sagte: »Ich bin heute ein anderer. Das mußt du mir glauben. Damals war ich ein fanatischer Nazi, ich gebe es zu. Ich gebe alles zu. Ich verberge nichts. Ich erzähle alles. Auch Mercedes wußte das noch nicht. Es ist sehr ... sehr schwer, alles so zu erzählen, wie es war. Das kannst du mir

glauben.«

»Das glaube ich dir – Vater!«

»Sag nicht Vater zu mir!« schrie Olivera. Ross lachte. »Hör auf zu lachen!« Ross hörte auf.

»Ich habe doch an Hitler geglaubt. Ich ... für mich war er so etwas wie Gott ... Seit langem weiß ich, daß er der Teufel war ... aber damals ...«

»Was geschah mit der Köchin?«

»Wurde abgeholt, natürlich. Noch in der gleichen Nacht.« »Gratuliere! Mann verloren, Sohn verloren. Für die Frau das

Fallbeil, wie?«

»Vermutlich«, sagte Olivera. »Ich hätte euch das nicht zu erzählen brauchen mit der Köchin. Ich hätte euch vieles nicht zu erzählen brauchen. Aber ich will euch alles erzählen. Denkst du, das fällt mir leicht?«

»Es ist dir ganz leicht gefallen, die Köchin anzuzeigen.« Olivera sagte: »Wir können uns in diesem Ton weiter

unterhalten. Wir verlieren allerdings nur Zeit damit. Und es ist ganz sinnlos.«

»Das stimmt«, sagte Ross. »Da hast du recht. Lassen wir’s, Meine Mutter wußte es also: Da war eine andere Frau. Deshalb wolltest du dich scheiden lassen. Deshalb hast du Mutter gequält, beschimpft, ihr Szenen gemacht, jedes Mal wenn du nach Wien auf Urlaub kamst. Warum kamst du überhaupt noch?«

»Erstens, weil ich ja offiziell Soldat war. Major in Rußland. Meine Tarnung. Der Dienst bestand darauf, daß ich ›auf Urlaub‹ kam. Zweitens kümmerte ich mich dabei auch immer um das Wiener Büro. Das unterstand mir. Wien war das Sprungbrett zum Mittleren Osten. Du siehst: Ich mußte kommen.«

»Ja, ich sehe. Dienstlich mußtest du kommen. Wir haben dich angekotzt, alle beide.«

»Du nicht. Dich hatte ich sehr gern.«

»Aber Mutter war dir ein Greuel.«

»Natürlich«, sagte Olivera. »Die Nacht der Wahrheit. Ich habe genug gelogen in meinem Leben. Ich lüge nicht mehr. Du willst die Wahrheit hören? Das kannst du haben. Im Grunde hast du mich auch angekotzt damals – weil du mir genauso am Bein hingst wie deine Mutter. Ich sage doch, ich liebte diese junge Frau, diese Schauspielerin, Dora Holm.« Plötzlich glitzerten Tränen in seinen Augen.

Ross starrte ihn entgeistert an.

»Vater!« Mercedes war aufgesprungen und zu Olivera geeilt. Sie umarmte und küßte ihn. »Bitte, bitte, nicht weinen!«

Olivera strich über ihr schwarzes Haar. Er sah ihr in die Augen. Doras Haar, dachte er, Doras Augen.

»Diese junge Frau war wie Sauerstoff für mich. Ich habe auch deine Mutter geliebt, Mercedes. Ebenso stark. Auf andere Weise. Und ich liebe dich. Der da, der weiß nicht, was das ist, Liebe.«

»Nein«, sagte Ross. »Nie davon gehört.«

»Wenn er wüßte, wie sehr ich ihn liebe – seit vielen Jahren. Seit ich ein anderer geworden bin. Wie oft habe ich voll Liebe und Sehnsucht von ihm gesprochen, Mercedes, wie oft!«

»Ja, das ist wahr, Daniel«, sagte Mercedes. Sie ging zu Ross und küßte scheu auch ihn. Dann setzte sie sich wieder.

»Seit wann?« fragte Ross. Er bekam keine Antwort. »Und meine arme Mutter? Die hast du nie geliebt, wie?«

»Nie. Oder ja, doch. Ein halbes Jahr vielleicht. Aber das war nicht Liebe«, sagte Olivera. »Das war ...«

»Ich weiß schon, was das war«, unterbrach ihn Ross. Er starrte Olivera an. »Die arme Frau hast du unglücklich gemacht. Im Stich gelassen. Mich hast du damit verkorkst. Mir hast du damit ...« Er stockte.

»Was habe ich dir damit?«

»Nichts«, sagte Ross. Ich muß mit dem Trinken Acht geben, dachte er. »Die Feldpostnummer, die Briefe aus Rußland, das war alles genau organisiert, wie?«

»Alles. Ich war doch überzeugt davon, daß ich das alles tun mußte, damit wir den Krieg gewinnen.«

»Dann hättest du dich scheiden lassen und diese Schauspielerin geheiratet.«

»Ja.« Jetzt goß Olivera sein Glas halb voll und trank es fast leer. Er sagte verloren: »Dann hätte ich Dora ...« Er lehnte sich zurück. Seine Stimme war wieder kalt und sachlich. »Also, mit den Häusern in der Meinekestraße, das wurde eine regelrechte Katastrophe.«

»Okay. Weiter. Bringen wir’s hinter uns. Wieso Katastrophe?«

»Du kannst dir vorstellen, daß wir alles taten, um ins dritte Stockwerk hinunterzukommen. Der Film! Ein Tag nach dem andern ging verloren. Wir brauchten den Film! Wir hatten so viele Leute zur Verfügung, wie wir wollten. Wir hatten die besten Maschinen. Wir hatten einfach kein Glück. Zuerst dauerte es endlos, bis der Schutt und die Trümmer weggeräumt waren und wir anfangen konnten, die erste Stahlplatte aufzuschweißen. Von diesem tiefen Keller gab es natürlich keine Durchbrüche zu anderen Kellern mehr. Als wir die erste Platte in Angriff nahmen, schmissen die Amerikaner Luftminen, einen ganzen Teppich, von der Uhlandstraße bis zur Gedächtniskirche. Alles wieder verschüttet. Die Maschinen. Die Geräte. Ein Haufen Tote. Konnten wir von vorn anfangen. Das war am vierundzwanzigsten April. Mitte Mai waren wir wieder im ersten Stockwerk. Am fünfzehnten schlugen die Amerikaner wieder alles zusammen in der Gegend, in der es ohnedies nur noch Trümmer gab. Die Fundamente des Hauses verschoben sich. Jetzt wurde es lebensgefährlich, dort zu arbeiten.«

»Also habt ihr nur Kriegsgefangene oder politische Häftlinge genommen.«

»Natürlich. Aber die sabotierten die Arbeit. mußten wieder unsere Leute ran. Kam der Juni. Kam die Invasion in der Normandie. Kam ein schwerer Wassereinbruch, Hauptrohr geplatzt. Das Grundstück ein See. Wochenlang pumpen, bevor wir endlich weitermachen konnten. Durchnäßte Mauern. Erdreich geriet ins Rutschen. Alles krachte neuerlich zusammen. Kam der Juli.«

»Und so weiter. Wann wart ihr endlich unten?« »Am neunundzwanzigsten. Am zwanzigsten war das Attentat

auf Hitler. Stimmung bei Null. Amerikaner und Engländer im Vormarsch durch Frankreich. Großoffensive der Roten Armee. Achtunddreißig deutsche Divisionen in wenigen Tagen aufgerieben. Die Sowjets stehen in Brest-Litwosk. Schöner Tag, dieser neunundzwanzigste Juli. Ich erinnere mich noch, wie ich da runterkletterte in das dritte Stockwerk, durch die Löcher, die sie aus den Stahlplatten geschnitten hatten. Gab nur eine Strickleiter. Auch den Panzerschrank hatten sie aufschweißen müssen. Die Kombination funktionierte nicht mehr. Da lag der Koffer. Ich holte ihn raus. An einem Seil zogen sie ihn hoch. Oben war natürlich alles abgesperrt. Ich rein zur Reichsbank mit SS-Eskorte. Dort den Koffer ganz tief unten in einem Haupttresor deponiert.«

»Warum noch einmal deponiert?«

»Goebbels und Himmler waren nicht in Berlin. Als ich in der Reichsbank war, kamen prompt die amerikanischen Bomben. Angriff auf die Stadtmitte. Die Reichsbank bekam ein paar Volltreffer ab. Aber sie hielt es aus. Drei Nächte später ...«

... griffen siebenhundert Bomber der Royal Air Force Berlin in immer neuen Wellen an. Ross, die junge Dora Holm, die Haushälterin Frau von Tresken, das Stubenmädchen und eine neue Köchin namens Emma Siedeleben saßen in dem kleinen, dickwandigen Bunker im Garten hinter der Villa Im Dohl. Diesmal fiel das Licht nach einer halben Stunde vollkommen aus. Der Bunker besaß ein Notstromaggregat. Ross schaltete es ein. Nun hatten sie wieder Licht, und sie konnten auch wieder die Drahtfunkmeldungen aus dem Radio hören.

Das Brausen der Motoren immer neuer anfliegender Verbände erfüllte die Luft ebenso wie das wahnsinnige Belfern der Flak und die ungeheueren, einander pausenlos folgenden Explosionen in der Ferne. Die Sprecherin meldete, daß deutsche Nachtjäger aufgestiegen seien und bereits zwölf Bomber abgeschossen hätten. Begleitende britische Mosquito-Jäger lieferten ihnen erbitterte Luftkämpfe. Andere Einheiten deutscher Jäger griffen die Bomber bereits weit vor der Reichshauptstadt an. Zwischen den Meldungen tickte der Wecker.

Dora Hohn versuchte ihr Bestes, um die Menschen in dem kleinen Bunker abzulenken. Sie erzählte eine komische Geschichte nach der andern. Die neue Köchin Siedeleben reagierte richtig: Sie lachte. Frau von Tresken lachte nie, auch jetzt nicht. Sie saß mit hochgezogenen Brauen reglos da. Ihr Gesicht war eine Maske der Verachtung. Sie haßte die fröhliche, schöne, junge Frau von Herzen. Georg Ross lachte auch. Er dachte: Gewiß hat Dora Angst, aber sie kämpft sie nieder, sie macht Theater, damit wir unsere Angst vergessen. Ach, Dora ...

»... das ist eine richtige Klamotte, die wir da mit Willy Birgel drehen. Ich habe gehört, die Originalstory stammt von einem Amerikaner, Ben Hecht heißt er. Irgendwo haben sie den amerikanischen Film erbeutet. Goebbels hat ihn gesehen und bestimmt, daß wir die Geschichte einfach klauen.«

»Dora, bitte!« sagte Ross pikiert. Das Dröhnen der Bomberverbände, das Krachen der Explosionen, die Abschüsse der Flak untermalten ohne Unterlaß das Gespräch. »So darfst du nicht reden! Ich dulde das nicht. Außerdem ist es nicht wahr. Es werden keine alliierten Filme bei uns nachgedreht.«

»Nein, nicht?« Dora warf das schwarze Haar zurück. Sie lachte. »Und was ist mit ›Serenade‹? Willi Forst sagt, er hat es nicht gewußt, was ihm da für ein Drehbuch gegeben wurde. Also, ich habe den Roman gelesen, englisch, in einer amerikanischen Armeeausgabe: ›Rebecca‹. Daphne Du Maurier heißt die Autorin. Eine Engländerin. Und ›Serenade‹ ist absolut genau ›Rebecca‹! Warum auch nicht? Wir nehmen, was wir kriegen.« Die Explosionen wurden für einen Moment sehr laut, dann wieder schwächer. »Nach dem Endsieg können wir immer noch Tantiemen zahlen – oder auch nicht.« Sie lachte wieder.

Laß sie! sagte Ross zu sich. Laß sie! Es ist wichtiger, daß sie hier für Lachen sorgt. Die Siedeleben wird schon wieder ganz grau im Gesicht vor Angst.

»Goebbels ist schlau«, plauderte Dora weiter, während die Sprecherin schwerste Kampftätigkeit über der Innenstadt und dem Norden und Osten Berlins meldete. »Er weiß, jetzt, in diesem Schlamassel, wollen die Leute nicht ununterbrochen Propaganda. Lachen wollen sie, wenigstens ein bißchen lachen. Darum also jetzt Komödien! Diese geklaute, die ich mit Birgel drehe, da lernt er mich in der S-Bahn kennen. Das Ganze spielt in den dreißiger Jahren. Großartig überlegt von Goebbels: Keine Trümmer, kein Krieg, Frieden, alles gibt es zu kaufen, keiner sagt Heil Hitler!« Ein Verband überflog Dahlem. Sehr laut wurde das Gebrumm der Motoren. Dora sprach unbekümmert weiter: »Na ja, und das haben wir also gestern gedreht. Die Kennenlern-Szene in der S-Bahn. Birgel sitzt mir gegenüber und will unbedingt ins Gespräch kommen. Da hat es mal ein ganz berühmtes Magazin von Ullstein gegeben. ›Uhu‹ hat es geheißen. Er hält so ein Magazin in der Hand und sagt: ›Ach, liebes Fräulein, darf ich Ihnen meinen Uhu zeigen?‹« Überlaut wurde der Lärm der anfliegenden Maschinen. »Und ich antworte empört: ›Wenn Sie den ersten Knopf aufmachen, zieh’ ich die Notbremse!‹«

Die Siedeleben lacht, sogar die Tresken lächelt, dachte Ross. Auch er lachte. Am meisten lachte Dora über ihre eigene Geschichte. In das Lachen und den Motorenlärm hinein drang plötzlich ein dünnes Pfeifen, das schnell lauter wurde und sich in ein grauenvolles Schrillen verwandelte. Dazu kam ein anderes, seltsam rauschendes Getön, ein zweites Pfeifen, ein drittes. Schrillen und Rauschen wurden ohrenbetäubend, dann schlugen Bomben in unmittelbarer Nähe ein und explodierten. Der Bunkerboden schwankte heftig. Die fünf Menschen flogen gegen die Betonwände. Jetzt setzte auch das Notstromaggregat aus. Es schien, als würde der Bunker hin und her geschleudert. Die Frauen kreischten. Ross lag auf dem Boden. Er war mit dem Kopf aufgeprallt und schwer benommen.

Und so, schwer benommen, hörte er in dem Höllenlärm Doras sich überschlagende, plötzlich von panischer Furcht erfüllte Stimme: »Raus! Ich will raus hier! Hier drin krepieren wir!« Im Finstern trat sie auf ihn. Er versuchte, ihre Beine festzuhalten. Der Bunker wurde immer noch von der ungeheueren Wucht der in der Nähe explodierenden Bomben geschüttelt. Feuerschein drang in die Tiefe.

»Bleib hier!« brüllte Ross. »Du kannst jetzt nicht hinaus! Du kannst jetzt nicht ...«

Da sah er im Gegenlicht des Feuers, wie sie schon aus dem Bunker rannte.

»Dora!« Er konnte keinen anderen Gedanken mehr fassen, nur den einen, den einen: Ich muß sie zurückholen! Ich muß sie zurückholen! Die sind ja über uns! Sie rennt in den Tod.

»Herr Ross!« schrie Frau von Tresken.

Er hörte noch ihre Stimme. Er stand schon im Freien. Die Villa war getroffen worden, sah er. Sie brannte. Er drehte sich um. Viele andere Villen brannten gleichfalls.

››Dora!« brüllte er. »Dora, ver ...« Das Wort sprach er nicht zu Ende. Im Garten detonierte eine weitere Bombe. Der Luftdruck erreichte Ross wie eine unsichtbare Riesenfaust, hob ihn hoch und schleuderte ihn fort, in ein Rosenbeet hinein. Er spürte noch den Schmerz des Aufschlags, dann verlor er das Bewußtsein.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Gesicht. Es dauerte lange, bis er ganz bei Besinnung war. Im Feuerschein der brennenden Villa sah er, daß er nur noch die Hose und Streifen des Hemdes trug. Jacke und Schuhe hatte der Luftdruck weggerissen. Er fuhr sich über das Gesicht. Seine Hand wurde rot von Blut. Die Brust war gleichfalls aufgerissen, auch hier Blut, warm und klebrig. Er hörte keinen Motorenlärm mehr. Die Formation war weitergeflogen. Überall ertönte nun das Heulen von Sirenen. Krachend stürzten Balken ins Innere der Villa. Ross wollte aufstehen und fiel sofort wieder um. Beim dritten Versuch erst gelang es ihm, auf zitternden Beinen stehen zu bleiben. Er taumelte durch den Garten. Er schrie Doras Namen, wieder und wieder. Es kam keine Antwort. Stolpernd irrte er durch den verwüsteten Garten. Feuerwehren und Ambulanzen waren eingetroffen. Uniformierte und Ärzte rannten an ihm vorbei. Er bemerkte es nicht. O Gott, dachte er, laß sie am Leben sein! Nur bewußtlos. Bitte, lieber Gott, bitte! Dann fiel er über sie. Dora lag am Rande eines Bombenkraters, und nur noch Fetzen ihrer Kleidung bedeckten den schönen Körper, der nun eine einzige blutige Masse war. Ross richtete sich auf. Dann fuhr er vor Entsetzen zusammen. Doras Mund und Augen standen weit offen. Über das rechte Auge eilte geschäftig eine Ameise.

Olivera schwieg. Er saß zusammengesunken da und starrte in den dunklen Park.

Mercedes und Ross tauschten Blicke.

Olivera sagte: »Ich habe sie begraben. Auf dem Friedhof Schmargendorf. Ihre Eltern konnten nicht aus Hamburg kommen. Die Bahnlinie war zerbombt. Es gab keinen Priester. Nur die Totengräber. Als sie das Grab zuschaufelten, kam der tägliche amerikanische Angriff. Wir suchten unter den Marmorplatten eines großen, unerhört kitschigen Mausoleums Schutz. Viele Bomben fielen auf den Friedhof und wühlten die alten Gräber auf. Dieses Mausoleum rettete uns das Leben. Als der Angriff vorüber war, hingen halbe Skelette mit grinsenden Totenschädeln in den Ästen der Bäume. Ich ...« Er brach ab, denn ein Volkswagen näherte sich auf der Anfahrt dem Haus. »Miguel!« rief Olivera. Der Wagen hielt. Miguel Morales stieg aus und kam zum Pool. Er machte einen verlegenen Eindruck.

»Was ist los mit dir, Junge? Wieso kommst du zurück?« Miguel schwieg und sah auf seine Schuhe.

»Ist dir nicht gut?«

»Doch, Senor.«

»Also, was dann?«

»Ich habe Streit gehabt, Senor«, sagte Miguel und sah Olivera offen in die Augen. »Mit meinem Mädchen.«

»Mit der neuen? Der mit dem goldenen Haar?« »Mit Maria Perichole. Ja, Senor. Da war ein anderer. Sie hat

geflirtet. Dauernd haben sie miteinander gelacht und geflüstert. Ich habe sie zur Rede gestellt. Schließlich ist sie mit dem anderen Jungen weggegangen.«

»Sie hat dich verlassen?« Olivera staunte. »Ja, Senor.« »Also, das ist dir sicher noch nie im Leben passiert, wie?« »Nein, Senor. Ich war so wütend, daß ich ... daß ich gedacht

habe, es ist besser, ich fahre zurück, bevor ich noch was anstelle.«

»Sehr vernünftig von dir«, lobte ihn Olivera. »Und jetzt bleibst du da?«

»Ja, Senor. Ich werde schlafen gehen. Ich habe mich schon wieder beruhigt.«

»Wirklich?«

»Wirklich, Senor.« Miguel lächelte und verneigte sich. »Gute Nacht, Senorita, gute Nacht, Servores!« Er ging zum Wagen und fuhr ihn hinter das Haus. Von dort betrat er es offenbar auch, denn er kam nicht mehr nach vorne.

Olivera, der ihm nachgesehen hatte, wandte sich um. Er erschrak. Ross saß schief in dem Korbstuhl, er stützte die Stirn mit einer Hand. Er hatte sich mit größter Anstrengung beherrscht – Mercedes hatte es voll Besorgnis verfolgt –, aber jetzt ging es einfach nicht mehr. Die Angst. Die unwirkliche Angst, sie schnürte seinen Brustkorb ab, sie saß ihm in der Kehle, sie kroch durch sein Gehirn.

»Was ist los mit dir, Daniel?«

»Nichts«, sagte Ross mühsam. »Wirklich nichts. Die Hitze. Und ich habe mich natürlich sehr aufgeregt. Ich ... mir ist schwindlig ... Kopfweh ...« Olivera wußte nicht, welche Mühe ihn jedes Wort kostete. Mercedes wußte es, sie hatte das schon einmal mit Ross erlebt.

››Wollen Sie sich ein paar Minuten hinlegen, Daniel?« fragte sie. »Ja, ich glaube, das wäre das beste.«

»Wenn es zuviel für dich wird, Sohn, können wir auch schlafen gehen. Es ist allerdings erst elf Uhr.«

»Nein, nicht schlafen! Du mußt weitererzählen! Unbedingt. Nur eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, dann geht es mir wieder gut!« Ross stand auf. Er taumelte. Mercedes stützte ihn schnell.

»In die Bibliothek«, sagte sie. »Da ist es kühl. Wollen Sie sich in der Bibliothek hinlegen? Auf das Sofa vor dem Kamin? Wir sind ja ganz in der Nähe. Sie brauchen nur zu rufen ...«

»Ja, das ist eine gute Idee.« Ross nickte.

»Geht einem an die Nieren, das alles, ja«, sagte Olivera. »Mir auch.« Er goß sein Glas voll und trank. »Eine verfluchte Geschichte. Ich kann ebenfalls eine Pause brauchen. Gute Besserung, Daniel!«

»Danke.«

Olivera ahnte nicht, wie schwer Ross sich beim Gehen auf Mercedes stützte. Der Boden schwankte unter ihm. Alles drehte sich. Er stöhnte.

»Armer Daniel ... Ich werde beten ... Ich habe es schon die ganze Zeit getan ... Ich habe gesehen, was mit Ihnen los ist ... Aber Ihre Freundin Sibylle und dieser Doktor Reinstein sagten doch, Sie halten bestimmt durch.«

»Tu ich auch, Mercedes.« Sie erreichten das Haus, gleich darauf die Bibliothek. Mercedes führte Ross zum Sofa. Hier drinnen war es wirklich angenehm, während es im Park in dieser heißesten Zeit des Jahres selbst nachts nicht kühler würde. Ross streifte die Slipper von den Füßen und legte die Beine hoch. Mercedes schob ein Kissen unter seinen Kopf und öffnete sein Hemd.

»Doktor Reinstein hat mir Tropfen mitgegeben«, sagte Ross. »Sie erinnern sich, Sibylle hat es vorgeschlagen für den Fall, daß mir sehr mies ist. Das Fläschchen liegt in meinem Waschbeutel im Badezimmer. Würden Sie es bitte holen, Mercedes? Und ein Glas Wasser. Mit den Tropfen geht es ganz bestimmt wieder.«

»Sofort, Daniel.« Sie eilte fort.

Er fühlte die Luftblase, die es nicht gab, in seiner Brust klopfen. Du mußt auf den Beinen bleiben, sagte er zu sich. Noch zwei, drei Tage mußt du auf den Beinen bleiben. Du mußt einfach. Du mußt diese Story haben ...

Mercedes kam zurück: Sie brachte das Fläschchen und ein Glas, halb voll mit Wasser.

»Wie viele Tropfen?«

»Zehn bis fünfzehn, hat Doktor Reinstein gesagt. Geben Sie mir zwanzig, bitte.«

Im Licht der beiden Lüster ließ Mercedes die Tropfen ins Wasser fallen. Er trank das Glas leer und verzog das Gesicht. »Danke«, sagte er.

Sie kniete neben ihm. Ihr Gesicht war dem seinen ganz nahe. Er roch wieder den süßen Duft ihrer Haut und ihres Parfums. Sie streichelte seine Wangen, sie strich über sein Haar. Riesengroß waren ihre hellblauen Augen plötzlich.

»Danny«, flüsterte sie. »Bitte, lieber Danny, halte durch! Ich darf doch du und Danny zu dir sagen?«

»Natürlich.«

Sie lächelte. »Du bist so nett, Danny.«

»Du auch, Mercedes.«

Plötzlich preßte sie ihre Lippen auf die seinen und ihre Brüste an seinen entblößten Oberkörper. Er erwiderte den Kuß leidenschaftlich, und vor der Seligkeit dieses Augenblicks wichen Angst und Schwäche zurück wie durch ein Wunder. Ein Wunder, dachte er.

Jäh löste sie sich von ihm.

»Es wird dir nichts geschehen, solange ich da bin«, sagte sie. »Solange du da bist«, wiederholte er.

Sie strich ihm noch einmal über die Stirn. »Willst du das Licht?«

»Nein, bitte nicht.«

Sie knipste die Lichter aus und ging zu einem der großen französischen Fenster, um es zu öffnen.

»Ich lasse einen Flügel weit auf«, sagte sie. »Und ich komme gleich wieder und schaue nach dir. Ich will nur nicht, daß Vater unruhig wird und einen Arzt ruft.«

»Nein«, sagte er. »Keinen Arzt! Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.«

»Bis gleich, Danny!«

»Danke, Mercedes.«

Er hörte, wie sich ihre Schritte über den Kies entfernten. Dann hatte sie den Rasen erreicht, der jedes Geräusch verschluckte. Ross lag reglos auf dem Rücken. Da war noch immer ihr Duft. Er atmete tief. Er schloß die Augen. Und wenn es Liebe wird? dachte er. Eine Liebe nach so vielen Jahren? Eine Liebe wie die, die ich mit Sibylle hatte? Damals habe ich mir geschworen, daß mir das nie wieder passieren soll. Niemals wieder. Ja, dachte er, aber jetzt ...

Ganz leise und langsam öffnete sich die Tür. Ross bewegte sich nicht.

Ein Schatten glitt in den Raum. Miguel! Ross richtete sich auf.

Der Junge erstarrte. Er war zu Tode erschrocken. Aus, dachte er. Alles aus!

»Miguel«, sagte Ross verblüfft.

»Si, Senor...« Miguels Stimme kam flüsternd. »What are you doing here?« Vielleicht versteht er etwas

Englisch, dachte Ross.

»I look after you, Sir.« Miguel hatte den Schock überwunden. »You sick, Sir?«

»No, just a little tired.«

»Can I do something for you?« Miguel kam heran. Er verneigte sich tief, wie er es immer tat.

»No, thank you, Miguel. It’s allright.«

»As you wish, Sir. Always at your service.« Wieder eine Verneigung. Miguel ging ein paar Schritte zurück, dann bückte er sich entschlossen, tastete die Unterseite der Marmorplatte des niedrigen Tisches ab, fand die Wanze und riß sie ab. Er huschte zur Tür.

»Good bye, Sir!«

»Bye!« sagte Ross. Und es wird Liebe werden. Bei so viel Haß muß es auch Liebe geben, dachte er und fühlte, wie er immer benommener wurde. Komm zurück, Liebe, dachte er. Gleich darauf war er eingeschlafen.

Er träumte von der roten Rose, die er gesehen hatte, als er zwischen Tod und Leben schwebte. Dann fühlte er, daß ihn jemand beobachtete. Ganz schnell kam er zu sich und schlug die Augen auf. Neben ihm kniete Mercedes. Sie lächelte.

»Hallo, Danny«, sagte sie leise und streichelte seine Hand. »Hallo«, sagte er und dachte an die rote Rose zwischen Tod und Leben. Mercedes ist das Leben, dachte er. Das schöne Leben. Das Leben kann vielleicht schön sein wie der Tod. Warum nicht? »Habe ich lange geschlafen?«

»Keine zwanzig Minuten. Ich habe dreimal nach dir gesehen. Wie fühlst du dich?«

»Fabelhaft«, sagte er, und es war die Wahrheit, erkannte er staunend. »Komm her!«

Er legte die Arme um sie und küßte sie wieder. Ihre Lippen öffneten sich sofort.

»Liebling«, sagte sie. »Liebling. Wir werden ein schönes Leben haben, wenn das erst alles vorbei ist.«

»Ja«, sagte Daniel. »Wenn alles vorbei ist.« »Glaubst du, du kannst wieder aufstehen und zu Vater

kommen?«

»Ich denke schon.« Er erhob sich. »Alles in Ordnung.« »Diese Tropfen sind prima«, sagte Mercedes. »Deine Gebete auch«, sagte Daniel.

»Zu spät«, sagte Dr. Joseph Goebbels. Er wanderte wieder hin und her, diesmal über den Teppich seines Arbeitszimmers im Reichspropagandaministerium am Wilhelmsplatz acht bis neun. Er brauchte Bewegung, wenn er aufgeregt war, der kleine Mann. »Viel zu spät«, sagte er.

»Warum?« fragte Ribbentrop.

»Der Zeitpunkt ist vorbei«, sagte Goebbels. »Die Anglo-Amerikaner vor Paris. Im Osten gehen wir zurück und zurück. Die Russen vor Warschau, in den Karpaten. Werden in den nächsten Tagen in Rumänien einfallen, ebenso in Bulgarien. Minsk, Wilna, Grodno, Lublin in den Händen der Bolschewiken. Lemberg allen. Die Rigaer Bucht von der Roten Armee erreicht und damit die ganze Heeresgruppe Nord abgeschnitten. Der Führer sagt, es wird notwendig sein, schnellstens Griechenland, Albanien und Montenegro zu räumen.«

»Wann hat er das gesagt?« fragte Himmler aufgebracht. »Gestern.« Goebbels blieb stehen und sah ihn voll Verachtung an. »Mir.«

»Seit wann bespricht er militärische Operationen mit Ihnen?« Himmler regte sich auf. »Ich bin sein Mann! Mich hat er nach dem Attentat zum Oberbefehlshaber des Ersatzheeres bestimmt.«

»Und ich habe das Vergnügen, morgen im Sportpalast zum zweitenmal den ›totalen Krieg‹ zu proklamieren. Alle Pläne sind ausgearbeitet, um binnen kürzester Zeit sämtliche waffenfähige Männer zwischen sechzehn und sechzig zum ›Deutschen Volkssturm‹ einzuberufen.«

»Zum was?« fragte Himmler.

»Zum ›Deutschen Volkssturm‹«, sagte Goebbels, weiterhumpelnd, die Hände auf dem Rücken. »Klingt gut, wie? Von mir. Ich schenke es Ihnen. Unsere Städte versinken in Schutt und Asche. Und da denken die Herren, daß es noch möglich sein könnte, den Teheran-Film einzusetzen? Das denken die Herren im Ernst? Tatsächlich?« Er lachte kurz und böse.

»Er würde immer noch seine Wirkung tun«, sagte Himmler wütend.

Goebbels blieb wieder stehen.

»Einen Dreck würde er tun, Reichsführer«, sagte er sehr leise und sehr akzentuiert. »Einen Scheißdreck würde er tun. Die Lage hat sich leider ungeheuer zu unseren Ungunsten verändert in den letzten paar Monaten. Ich habe es vorausgesehen. Damals im März, als Ross mit dem Film auftauchte, habe ich gesagt, wir müßten ihn schnellstens, in größter Eile und kürzester Zeit überall einsetzen. Sie erinnern sich vielleicht gütigst an meine Worte. Pech, daß es so lange dauerte, bis wir den Film wieder hatten. Wir sind eben nicht mit Glück und Erfolg gesegnet – im Moment«, fügte er hinzu, nach bewährter Art das Steuer herumreißend. »Wir werden es wieder sein! Wir werden siegen – zuletzt. Klar. Natürlich. Warum? Weil wir siegen müssen.«

Die anderen Männer im Raum – auch Ross – nickten ernst. Ach, ihr Idioten, dachte der kleine Mann.

»Dann«, sagte er, »wenn wir gesiegt haben, werden wir den Film zeigen. Überall. In der ganzen Welt. Sozusagen als Krönung unseres Sieges. Wenn wir es jetzt täten, wir träfen auf Hohn und Gelächter. In dieser Situation, in der wir von den wie nie einigen Alliierten an allen Fronten geschlagen werden – seien Sie ruhig, Himmler! Wir sind hier unter uns, da darf ich vielleicht noch die Wahrheit sagen. Sie können dem Führer ja sofort hinterbringen, was meine Ansicht ist! –, in dieser Situation dürfen wir einfach nicht mehr behaupten, daß der Film echt ist. Und wenn es hundertmal stimmt. Die Wahrheit würde niemals geglaubt werden. Nirgends. Von niemandem. Es gibt Zeiten, in denen kann man jede Lüge riskieren und jede Wahrheit. Und beide werden geglaubt. Und dann gibt es Zeiten, in denen werden sie nicht geglaubt, die Lüge nicht und nicht die Wahrheit. Lachkrämpfe würden Stalin und Roosevelt kriegen, wenn wir jetzt mit diesem Film herausrückten. Und nicht nur sie. Alle, die ihn sehen. Mörderische Lachkrämpfe, meine lieben Parteigenossen!«

Er redete jetzt wieder schneller.

»Sie pfeifen aus dem letzten Loch, die Nazis, würden alle sagen. Sie sind erledigt, geschlagen, kaputt. Und da servieren sie uns diesen dämlichen Lügenfilm, diese kindische Fälschung! Nein, meine Herren, glauben Sie mir, wir dürfen den Film nicht zeigen! Vor allem nicht in Deutschland. Auf keinen Fall in Deutschland. Die Folgen wären unabsehbar. Später, nach dem Endsieg: überall! Jetzt nicht!«

Das Telefon auf seinem Schreibtisch schrillte. Er hob ab. »Ja«, sagte er. »Ja, danke.« Er legte auf. »Befehlsstand des

Gauleiters. Schwere amerikanische Kampfverbände im Anflug auf die Reichshauptstadt. In zehn Minuten wird Alarm gegeben. Sie sind herzlich eingeladen, in meinen Keller zu kommen. Er ist sicher.«

Die Männer erhoben sich.

»Diese verfluchte Mörderbrut«, sagte Himmler. »Wer?« Goebbels sah ihn an. »Ach so«, sagte er dann, »ja, ja,

natürlich.« Er räumte Papiere und Akten, die auf dem Schreibtisch lagen, in eine große Ledertasche, um sie mit in den Bunker zu nehmen.

Himmler und Ribbentrop eilten schon voraus. Goebbels sah ihnen nach. »Die Hosen voll Mut«, sagte der

kleine Mann. Er fragte Ross: »Was machen Sie noch hier?« »Ich warte auf Sie, Herr Minister.«

»Danke.«

Ross trug einen schwarzen Anzug und eine schwarze Krawatte. Es war verboten, Trauerkleidung zu tragen, aber er scherte sich nicht darum. Er scherte sich im Augenblick um gar nichts. Ihm war alles egal. Ob er nun in den Keller ging oder hier oben blieb. Ob er weiterlebte, ob er von Bomben erschlagen wurde. Egal. Ganz egal.

››Sie haben einen furchtbaren Verlust erlitten«, sagte Goebbels, immer noch mit Akten beschäftigt. »Ich weiß. Sie haben Fräulein Holm sehr geliebt, das weiß ich auch. Mein aufrichtiges Beileid!«

Ross nickte und schwieg.

»Haben Sie schon eine neue Bleibe?«

»Ich wohne bei einem Freund.«

»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann ...« »Vielen Dank! Aber ich habe alles.«

»Ihnen kann keiner helfen.« Goebbels nickte. »Nein.« sagte Ross. »Keiner. Erlauben Sie, daß ich die

Tasche trage, Herr Minister!«

Sie gingen zur Tür.

»Haben Sie heute Nachmittag viel zu tun?« fragte Goebbels. »Ja. Nein. Warum fragen Sie?«

»Ich muß Sie noch einmal sprechen. Ich konnte hier nicht alles sagen vor diesen ... Herren. Später werde ich es sagen müssen. Aber noch nicht jetzt. Nur mit Ihnen möchte ich gleich sprechen. Können Sie zu mir kommen am Nachmittag?«

»Selbstverständlich, Herr Minister.«

»Sagen wir um fünf?«

»Um fünf, in Ordnung.«

Die Sirenen begannen zu heulen.

Ein Telefongespräch. »Ja, hallo?«

»Sind Sie das, Cristobal?«

»Wer ist dort?«

»Franco. Ablösung von Roberto und Esteban. Emilio ist jetzt mit mir zusammen.«

»Was gibt es? Ist dieser Miguel Morales zurück zu Olivera gefahren?«

»Ja. Und hinter ihm der Ford mit den zwei Typen. Miguel ist vorn rein, beim Haupteingang. Der Ford ist in die Straße hinter Cespedes gefahren. Zabala heißt sie. Bis dorthin reicht Oliveras Park. Da hat der Ford gewartet, bei der großen Kirche.«

»Und?«

»Etwa nach fünfzehn Minuten ist Morales da über die Mauer geklettert. Die Typen haben ihm geholfen. Er hatte eine schwarze Reisetasche und einen Koffer. Sie sind mit ihm zum Retiro gefahren.«

»Wohin?«

»Zum Hauptbahnhof. Sie haben eine Karte nach Tucuman gekauft. Für den Zug um null Uhr fünfzehn.«

»Tucuman? Das ist doch ganz im Norden oben! Da fährt er zwanzig Stunden.«

»Zweiundzwanzig. Es scheint, sie wollen ihn so weit wie möglich von hier wegbringen. Aber wer will das, Cristobal? Wer?«

»Idiot! Er hat Olivera abgehört, richtig? Hat die Kassetten in einem Schließfach deponiert. Sicher nicht zum erstenmal. Nur daß er von Roberto und Esteban heute erwischt wurde dabei. Als seine Auftraggeber von ihren Leuten erfuhren, daß die Kassetten weg sind, mußten die ganze Abhöreinrichtung und Miguel verschwinden. Bevor Olivera etwas merkte. Die Kassetten haben jetzt wir.«

»Aber wir haben ihn doch nicht abhören lassen!« »Madonna! Nein, das waren nicht wir. Das waren andere, die

Angst haben, daß das herauskommt.«

»Was für andere, Cristobal?«

»Das werden wir wissen, wenn wir wissen, was auf den Kassetten gesprochen wird. Und wer da außer Olivera spricht. Null Uhr zwanzig. Der Zug nach Tucuman ist also schon fort.«

»Ja. Mit Morales. Wir haben aufgepaßt bis zuletzt. Was jetzt?«

»Ihr fahrt zurück nach Cespedes. Ich glaube nicht, daß da heute nacht noch jemand das Haus verläßt. Aber für alle Fälle. Um sieben Uhr werdet ihr abgelöst.«

»Der Angriff dauerte bis halb drei«, sagte Olivera am nächtlichen Swimmingpool. »Galt dem Zentrum. Als wir endlich bei der Entwarnung nach oben kletterten, war es Nacht, obwohl die Sonne schien. Dicker schwarzer Rauch von brennenden Gebäuden lag über der Stadt. Ich ging in mein Büro im Auswärtigen Amt. Nur katastrophale Funkmeldungen von überall her. Sehr deprimierend. Goebbels hatte recht gehabt. Der Film war nicht mehr zu zeigen.« Er lachte kurz. »Erst nach dem Endsieg! Um fünf war ich dann wieder im Propagandaministerium ...«

Goebbels empfing Ross sofort. Sie nahmen in einem kleinen Salon Platz. Im Arbeitszimmer des Ministers waren wieder einmal alle Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Das elektrische Licht brannte, denn immer noch machte der schwere Rauch den Tag zur Nacht. Von Zeit zu Zeit hörte man Zeitbomben explodieren, die Martinshörner der Feuerwehr, das Gejaule der Ambulanzsirenen. Goebbels war bleich. Er holte eine Flasche französischen Cognac und zwei Gläser aus einem Schrank. Sie setzten sich an einen kleinen runden Tisch nahe einem Fenster und tranken.

»Wie lange kennen wir uns, Ross?«

»Seit ich im Dienst bin, Herr Minister. Seit neununddreißig. Fünf Jahre. Nicht ganz.«

»Ich habe immer Ihre Arbeit bewundert. Und Ihren fanatischen Glauben an den Führer, die Bewegung, die nationalsozialistische Weltanschauung. Ich könnte nicht gläubiger sein. Sie sind gebildet. Sie haben bei aller begeisterten Hingabe an unsere Sache die Fähigkeit, Ereignisse streng logisch, wissenschaftlich möchte ich sagen, zu bewerten. Müssen Sie haben, diese Fähigkeit, in Ihrer Position. Ich muß sie ebenfalls haben, in meiner.« Er nahm einen Schluck. »Wir werden kämpfen, wie noch nie ein Volk gekämpft hat. Die Wunderwaffen müssen alles schlagartig zu unseren Gunsten wenden – wenn sie rechtzeitig fertig werden. Wird das der Fall sein? Niemand weiß es. Es wird furchtbar werden, was jetzt kommt, Ross, das wissen Sie. Sie können vollkommen offen reden. Das bleibt ein Gespräch unter vier Augen. Ich muß einmal mit jemandem so reden können. Über Fakten, Ross! Fakten sind Ihr Beruf. Darum ist meine Wahl auf Sie gefallen. Und weil ich Vertrauen zu Ihnen habe. Zu Ihrer Besessenheit. Und zu Ihrer kühlen, analytischen Art des Denkens.«

»Ich verstehe nicht ...«, begann Ross, aber Goebbels winkte ab.

»Warten Sie, mein Lieber. Wir werden kämpfen, ja. Und wenn es sein muß, werden wir sterben. Sie wissen wie ich, Ross: Die Idee stirbt nicht mit uns. Die Idee lebt weiter. Selbst wenn wir in diesem Ringen untergehen sollten – ich spreche so zu Ihnen, weil Sie es von Ihrem Beruf her gewöhnt sind, emotionslos und kühl alle Möglichkeiten einzukalkulieren, und ich verpflichte Sie natürlich, das ist eine Selbstverständlichkeit, vor keinem Menschen über dieses Gespräch ein Wort zu verlieren –, selbst wenn wir also untergehen sollten, wird die Idee in Millionen Gehirnen weiterleben. Habe ich recht?«

»Vollkommen, Herr Minister«, sagte Ross. »Man bedenke, wie lange es dauerte und welche Ströme von Blut fließen mußten, bis sich das Christentum, diese Lehre der Barmherzigkeit, durchgesetzt hat.«

»Ausgezeichnet«, sagte der kleine, bei den Jesuiten erzogene Goebbels. »Wir sprechen dieselbe Sprache. Sollten wir also unter der Übermacht der Feinde zusammenbrechen, sollten wir – scheinbar – untergehen, dann ist das nichts als ein vorüberziehender Schwächeanfall. Die ersten Christen zahlten auch mit ihrem Leben. In Wahrheit wird unser Untergang die Geburtsstunde des universellen Nationalsozialismus sein. In my end is my beginning.«

»Der Wahlspruch der Tudors.«

»Ach, tut es wohl, mit einem gebildeten Menschen zu sprechen!« Goebbels seufzte. »Zunächst – in den ersten Jahren – werden die Sieger dann allmächtig und jeder Widerstand gegen sie sinnlos sein. Oh, aber jene, die überleben, können warten! Warten auf ihre Stunde. Und diese Stunde, sie wird gekommen sein, wenn einer nun doppelt geknechteten Menschheit glasklar geworden ist, was zwei Verbrecherstaaten mit ihr gemacht haben. Die Welt haben sie unter sich aufgeteilt! Jeder kann in seiner Hälfte Ungeheuerlichkeiten begehen an wehrlosen Völkern, sooft und soviel er Lust hat. Die Völker unter amerikanischer Knute. Mehr noch die Völker unter bolschewistischer Knute. Man wird sie ausbeuten. Man wird sie wie Tiere behandeln. Schlimmer als Tiere. Sie alle, die vielen Völker in Ost und West, werden Kulis sein, die ihre Freiheit verloren haben. Zwei gewaltigen Diktatoren sind sie ausgeliefert – hilflos, rechtlos.« Goebbels war jetzt sehr erregt.

»Dann erst, mein lieber Ross, dann erst, wenn sich unter den Völkern der Welt ungeheuerer Haß, ungeheuerer Zorn und ungeheuere Ohnmacht angesammelt haben, dann erst muß man ihnen den Film aus Teheran vorführen! Um ihnen diese beiden monströsen Gangster in ihrer ganzen Gemeinheit und Brutalität vorzuführen. Den Menschen unseres geliebten Vaterlands, das dann zerrissen sein wird und geteilt – wie das Protokoll es vorsieht –, muß man den Film zuerst zeigen! Wie wird die Wirkung auf deutsche Menschen sein, wenn sie sehen und lesen, was man längst vorhatte mit ihnen, neunzehnhundertdreiundvierzig schon? Wie wird die Wirkung auf alle anderen zerrissenen, geteilten, unterdrückten Völker sein?«

Goebbels holte tief Atem.

»Dann, Ross, dann wird jeder, auch der letzte, erkennen, daß wir Nationalsozialisten die einsamen Kämpfer gegen die Schurken in Washington und Moskau gewesen sind. Dann wird jeder, auch der letzte, erschüttert begreifen, mit welchem in der Geschichte einmaligen Heldenmut wir versucht haben, ein in der Geschichte einmaliges Verbrechen zu verhindern. Begreifen wird jeder, daß wir unbedingt tun mußten, was wir taten, alles, alles, auch das, was gleich nach unserem scheinbaren Untergang als bestialische Vergehen gegen die Menschheit hingestellt werden wird. Dann wird der letzte sehen, wer das bestialische Verbrechen begangen hat, das wir voraussahen und verhindern wollten bis zur Dreingabe unseres Lebens. Nicht nur das Abendland, nein, die Welt wollten wir befreien für immer von diesen der Hölle entsprungenen, skrupellosen Kreaturen. Deutschland wird ein heiliges Wort werden. Der Führer, seine Gefolgsleute, die deutschen Soldaten, das deutsche Volk überhaupt, sie werden in die Geschichte eingehen als Synonyme für Ehre, Tapferkeit und Heldenmut. Und der Nationalsozialismus wird dann vor den Augen der armen Menschen in der zweigeteilten Welt dastehen als die größte Lehre des Heils, die es je gegeben hat. Die Welt wird erfaßt werden von einem Sturmwind des Zorns, der jene Kreaturen und ihre Speichellecker wegfegt. Der Nationalsozialismus wird nicht nur rehabilitiert sein, sondern seinen Siegeszug rund um den Erdball antreten – und diese Erde wird nationalsozialistisch sein!«

Goebbels schwieg, schwer atmend.

»Die ganze Erde – nationalsozialistisch. Bei Gott, Sie haben recht«, flüsterte Ross fasziniert.

»So wird unser Sieg aussehen. muß unser Sieg aussehen. Der Nationalsozialismus wird leben, und wenn wir alle sterben müssen. Dadurch erst wird er die neue Weltreligion werden. Durch unser Blutopfer und durch diesen Film. Einer der Tapfersten, einer der Zuverlässigsten muß diesen Film darum hüten wie den Heiligen Gral. Im tiefsten Bunker geschützt muß der Film bleiben, damit er ihn herzeigen kann, wenn die Vorsehung uns gnädig ist und wir trotz allem noch siegen. Wenn absolut feststeht, ohne jeden Zweifel, daß es uns bestimmt ist, das größte Opfer zu bringen, das Menschen bringen können, wenn feststeht, daß der Krieg verloren ist, dann muß dieser eine mit dem Film Deutschland verlassen. Er muß sich in ein weit entferntes Land zurückziehen. Er muß dieser wahrhaft übermenschlichen Mission, den Nationalsozialismus über die ganze Erde zu verbreiten, sein Leben weihen.«

Goebbels war aufgestanden. Er wanderte hin und her. Draußen wurde die Finsternis immer wieder schmutzigrot erhellt von Bränden, die in der Umgebung wüteten. Auch Ross erhob sich, ohne es zu bemerken. Seine Augen betrachteten Goebbels, als sei er hypnotisiert. »Dieser Mann muß warten können – viele Jahre vielleicht. Bis die Zeit reif ist. Bis er von unseren Kämpfern, die dann in den Untergrund gegangen sind, den Auftrag erhält, mit dem Film vor die Öffentlichkeit zu treten! Eine ungeheure geschichtliche Verantwortung lastet auf ihm, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Ross atemlos.

»Und nun frage ich Sie, mein Lieber, der Sie eben so Furchtbares durchmachen, der Sie die Frau verloren haben, der Ihre ganze Liebe galt: Wollen Sie dieser Mann sein?«

»Ich will dieser Mann sein«, sagte Ross.

Es war lange Zeit still am Pool.

Endlich sagte Mercedes: »Das absolut Böse – nun wird es vielleicht zum absolut Guten werden.«

»Hoffentlich«, sagte Olivera.

»Moment mal!« mischte sich Daniel ein. »Noch sind wir nicht so weit. Noch habe ich ein paar Fragen. Wie bist du herübergekommen! Wann? Und wieso, verflucht, hat sie von fünfundvierzig bis heute gedauert, deine Wandlung? Was ist in den neununddreißig Jahren dazwischen passiert? Warum hast du den Film nicht vor deiner Wandlung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – und damit die ganze Welt zu einem einzigen KZ?«

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