»Mit dem hatten Sie nie zu tun?«

»Nie! Auch mit keinem anderen. Nur mit dem SD vom RSHA. Mit Kaltenbrunner, Schellenberg und diesem Sturmbannführer, der nicht sagte, wie er hieß. Ich verstehe nicht, was die Frage soll.«

»Vergessen Sie es! Ich wollte nur noch einmal aus Ihrem Mund hören, daß Sie für den Sicherheitsdienst des Reichssicherheitshauptamts und für niemanden sonst gearbeitet haben«, sagte Daniel. Er sah Teddy Shimon an, der die Augenbrauen hob und flüsterte: »Ich glaube ihm.«

»Was geschah nach Mitte März vierundvierzig?« Achselzuckend antwortete Gold: »Die Routine ging weiter. Wir fälschten Greuelfilme und alles, was wir vorher gefälscht hatten. Dann, im November vierundvierzig, wurden wir und die Banknotenfälscher vom Block neunzehn ausgelagert. Die Situation war schon sehr ernst, und sie wollten uns aus der Nähe von Berlin weghaben.«

»Wohin wurden Sie ausgelagert?«

»Die Pfundfälscher kamen in ein Lager bei Redl-Zipf in Österreich. Das ist ein kleiner Ort zwischen Linz und Salzburg. Wenn er überhaupt jemandem bekannt sein sollte, dann durch seine Bierbrauerei. Uns Filmleute brachten sie in einem alten Schloß ungefähr dreißig Kilometer südwestlich von Redl-Zipf unter. Der Sturmbannführer war jetzt immer dabei, auch ein Haufen SS-Leute zur Bewachung. Kein Mensch hat uns je zu sehen bekommen. Der Krieg war längst verloren, das wußten alle, aber wir machten immer noch weiter. Auch die Pfundnotenfälscher in Redl-Zipf.« Gold hob wieder das Buch. »Darüber schreibt Hagen sehr eingehend und genau. War wenigstens sinnvoll, was die taten – im Gegensatz zu uns. Denn die Nazis dachten über das Kriegsende hinaus und hatten mit dem Falschgeld riesige Pläne. Unsere Sternstunde, wenn man es so nennen will, war der Teheran-Film gewesen, und mit dem muß etwas schiefgelaufen sein.«

»Was für Pläne?«

»Ich verstehe nicht.«

»Was für riesige Pläne hatten die Nazis über das Kriegsende hinaus?«

Gold klopfte auf das Buch. »Sie wollten mit dem Geld Nachfolgeorganisationen im Ausland aufbauen und finanzieren und den internationalen Geldmarkt durcheinanderbringen. Dazu brauchten sie Geld für die Flucht von Naziverbrechern und Mittel für Agenten und Sympathisanten. Sie müssen wirklich ›Unternehmen Bernhard‹ lesen! Als dann die Amerikaner kamen, Anfang Mai fünfundvierzig, kriegten wir Angst. Die Pfundfälscher auch. Die freilich zu Unrecht. Denen geschah nicht das geringste. Die Amis befreiten sie und fragten sie nach der Banknotenfälschung aus. Das wurde damals dann eine Riesenaffäre. Große Artikel in ›Readers Digest‹! Ein tschechischer Häftling gab an, von zweiundvierzig bis Kriegsende seien einhundertfünfzig Millionen Pfund hergestellt und zum größten Teil ins Ausland geschafft worden. Ein sehr großer Betrag wurde nach Südamerika, vor allem nach Argentinien gebracht. Sie wissen, was die ODESSA war?«

»Ja, das weiß ich.«

»Na, die wurde auch verschiedentlich mit diesem Geld finanziert. Interessanterweise ist das ›Unternehmen Bernhard‹ nicht vor dem Tribunal in Nürnberg erwähnt worden, und Schellenberg wurde deshalb nicht angeklagt. Die Engländer haben die Amerikaner ersucht, nichts zu unternehmen, schreibt Hagen. Die Pfundnoten wurden im Krieg gefälscht, und im Krieg, fanden die Engländer, sei das eine›erlaubte Kriegslist‹gewesen. Sie hatten schließlich auch gefälschte Lebensmittelkarten über Deutschland abgeregnet. Da ging es uns Filmleuten viel schlechter.«

»Was passierte Ihnen?«

»Am ersten Mai fünfundvierzig vernichteten SS-Leute alle Apparaturen und Arbeitsunterlagen. Es sollte nicht eine einzige Spur übrigbleiben. Wir wurden in einen Keller getrieben und an die Wand gestellt, auch mein Freund Peter Lammers und unser amerikanischer Sprecher Richard Clark. Die SS-Leute benützten ein Maschinengewehr. Sie legten alle um. Keine Zeugen.«

»Aber Sie leben noch!«

»Gott, der Gütige, hat mich gerettet. Ich bekam nur einen Streifschuß am rechten Arm und stürzte sofort, bevor mich weitere Kugeln trafen. Zwei Tote fielen auf mich. Die SS-Leute bereiteten nun die Sprengung des Schlosses vor. In dieser Zeit gelang es mir, aus dem Keller zu kriechen und zu entkommen. Ich versteckte mich im Wald und sah zu, wie das Schloß in die Luft flog und wie die SS-Leute und der Sturmbannführer abhauten – Richtung Westen. Zweifellos haben sie sich den Amis ergeben. Als sie weg waren, schleppte ich mich zum nächsten Bauernhof. Die Leute dort halfen mir, so gut sie konnten – aber dann waren ja auch gleich die Amis da und verarzteten mich richtig.«

»Was haben Sie den Amerikanern erzählt?« »So wenig wie möglich. daß ich in Sachsenhausen in dem

Filmfälscherblock gearbeitet hatte. Propaganda, militärische Falschinformationen. Sie wußten natürlich davon, daß solche Filmfälschungen hergestellt worden waren, aber sie wußten nicht, wo. Na ja, ich sagte es ihnen. Auch, daß wir nach Österreich ausgelagert worden waren und daß die SS alle Fälscher außer mir erschossen und das Schloß in die Luft gesprengt hatten. Verglichen mit den Aussagen der Pfundnotenfälscher blieb das, was ich da sagte, ganz uninteressant für die Amis. Die Pfundnoten, das war die Sensation.«

»Nun, die Sensation wäre doch der gefälschte Teheran-Film gewesen, Herr Gold, wenn sie den mit einem einzigen Wort erwähnt hätten. Aber das haben Sie nicht getan.«

»Nein.«

»Warum nicht?« Harry Gold schrie plötzlich: »Aus Angst! Weil ich doch solche Angst hatte!«

»Vor den Amerikanern?«

»Quatsch, nicht vor den Amerikanern! Vor den Nazis! Es gab damals noch so viele. Versteckt. Im Untergrund. Die hätten mich doch sofort umgelegt, wenn durch mich etwas über diesen Film bekannt geworden wäre. Hat es noch nicht genug Naziopfer in meiner Familie gegeben? Sollte ich mich selber in Lebensgefahr bringen? Hätten Sie an meiner Stelle gequatscht?« Schweigen.

»Sehen Sie«, sagte Harry Gold.

»Aber heute reden Sie«, sagte Daniel. »Heute erzählen Sie uns alles. Heute haben Sie keine Angst mehr?«

»Nein, heute habe ich keine Angst mehr. Ich bin kein Trottel. Ich weiß, daß es noch immer Nazis in Deutschland gibt. Diese verfluchten Neo-Nazis. Aber jetzt geht es um so viel, daß ich reden muß. Ich denke, ich bin der einzige, der das kann. Kaltenbrunner haben sie in Nürnberg gehenkt, Schellenberg kam davon, aber bei dem interessierten sich die Sieger ausschließlich für die Pfundfälschung, kein Mensch ahnte, daß er auch mit dem Film zu tun hatte. Und jetzt ist er schon lange tot.«

»Und Sie haben niemals daran gedacht, daß dieser Film wie die Pfundnoten für die Zeit nach dem Krieg hätte bestimmt sein können?«

»Daran hat keiner von uns gedacht.«

»Goebbels schon.«

»Gut. Goebbels schon. Habe mich ja auch sofort zur Verfügung gestellt, als ich davon erfuhr. Keine Aufregung um diesen verfluchten Film! Dieser Film ist eine Fälschung. Ich habe mitgeholfen, ihn zu fälschen. Jeder, der etwas anderes sagt, lügt. Fälschung! Fälschung! Niemals haben sich Russen und Amerikaner die Welt geteilt! Ich schwöre bei Gott, ich ...«

Da schrillte das Telefon. Der Assistent des Tonmannes hob ab und nannte die Anschlußnummer.

»Tut mir leid, er ist gerade beschäftigt. Rufen Sie bitte in einer Stunde noch einmal an.«

»Wer war das?« fragte Gold.

»Er nannte sich Anton. Wollte Sie sprechen. Nichts Wichtiges, sagte er. Ruft wieder an, später.«

»Na also, dann funktioniert es ja wirklich wieder«, sagte Gold. »Ihr Telefon?« fragte Daniel und rief: »Weiter aufnehmen! Nicht stoppen!« Dann wandte er sich wieder an Gold: »Ihr Telefon war nicht in Ordnung?«

»Nein. Ich habe es gar nicht bemerkt, bis dieser Mann von Amt kam und es mir sagte. Er hat es repariert.«

»Es war ein Mann vom Störungsdienst bei Ihnen?« fragte Daniel sehr langsam.

»Sage ich doch, Herr Ross!«

»Wann?«

»Heute vormittag. So gegen elf. Sie hatten mich gerade von der Filmvorführung im Sender zurückgebracht. Da klingelte ein Mann. Sagte, Teilnehmer hätten sich beschwert, daß sie mich nicht erreichen können. Er würde das gleich in Ordnung bringen.«

»Und Sie haben den Mann ins Haus gelassen?« »Natürlich. Sehr ordentlicher Mensch. Zeigte mir einen

Ausweis. Wer will schon ein kaputtes Telefon? Hatte eine Werkzeugtasche mit. Wir haben dann, bevor er ging, zusammen noch ein Glas Bier getrunken. Trinkgeld wollte er keines nehmen.«

»Wie hieß der Mann?«

»Den Namen habe ich vergessen.«

»Unterbrechen, bitte!« sagte ein Kriminalbeamter. »Das wollen wir uns mal anschauen, dieses Telefon.«

Die Scheinwerfer erloschen, Kamera und Tongeräte wurden abgeschaltet. Der Kriminalbeamte und ein Kollege gingen zu dem Telefonapparat, der auf einem Tischchen stand. Einer schraubte die Plastikhaube der Sprechmuschel ab und nahm einen elektronischen Clip heraus.

»Sehr schön«, sagte er.

»Was bedeutet das?« fragte Gold erschrocken. »Das bedeutet, daß der Kerl heute vormittag Ihr Telefon

angezapft hat. Und zwar nach der neuen Methode. Das hier ist ein hochempfindliches Mikro. Registriert alles, was im Raum gesprochen wird, laut oder leise. Derjenige, für den das Mikro aufnimmt, wählt nun Ihre Nummer. Es läutet zwar hier nicht, aber die Verbindung ist hergestellt, ohne daß Sie es wissen.«

»Sie meinen: Jemand hat alles mitgehört?«

»Wahrscheinlich jedes Wort, Herr Gold.«

»Großer Gott, aber wer?«

»Ja, wer?« fragte Teddy Shimon leise.

Daniel wandte sich an die Fernsehleute. »Diese Szene möchte ich auch aufgenommen haben, bitte. Stellen Sie die Kameras um! Leuchten Sie neu ein! Und dann unterhalten Sie beide sich so, wie Sie es eben getan haben, ja?«

»Das war’s.« Wayne Hyde legte den Telefonhörer auf. Er schaltete ein großes Tonbandgerät aus, das an den Telefonapparat angeschlossen war. Die Spulen, die sich langsam gedreht hatten, standen still. Hyde ließ das Band zurücklaufen. »Hast du prima hingekriegt«, sagte Hyde zu seinem Söldnerfreund Heinz Erkner, dem er bei einem Einsatz auf Zypern das Leben gerettet hatte.

»War ein Klacks, Baby«, sagte Erkner. Er neigte zu Übergewicht und hatte gewaltig große, rote Hände. Das schwarze Haar glänzte. Erkner verwendete Brillantine. Während der letzten Stunde, die Hyde am Telefon zugebracht hatte, war er am Schreibtisch seines Arbeitszimmers die letzten Wochenabrechnungen der drei Porno-Kinos und zwei Peep-Shows durchgegangen. Erkners rotes Gesicht zeigte einen äußerst friedlichen Ausdruck. Er besaß eine Villa am Rödelheimer Parkweg neben dem Brentanopark im Nordwesten Frankfurts, weit entfernt von der Kuhwaldsiedlung und Harry Golds Heim.

»Japanische Chips sind immer noch die besten«, sagte Hyde. »Hör mal, Heinz, ich müßte schnell mal mit London telefonieren.«

»Dann tu’s doch, Baby.«

»Wird aber lange dauern und einen Haufen kosten.« »Na, und? Scheiß drauf! Meine Pferdchen bringen mir jede

Menge Penunze. Ich habe dir die drei schönsten angeboten. Aber du willst ja nicht. Okay, okay, deine Sache. Dann telefoniere wenigstens!«

»Danke, Heinz.«

»Danke, piß drauf! Soll ich rausgehen, Baby?« »Bleib da!« Wayne Hyde hatte den kleinen weißen Decoder

aus der Tasche genommen. Er wählte die Nummer des Londoner Anwalts, entblockte den automatischen Beantworter und sprach: »Guten Abend, Mister Morley! Hier ist Wayne Hyde, Frankfurt. Das Fernsehinterview mit Harry Gold hat stattgefunden. Ich habe den Wortlaut mitgeschnitten und spiele Ihnen das Ganze jetzt vor.« Hyde schaltete das Tonbandgerät wieder ein und wartete einen Moment. Den Hörer hielt er nahe an den Lautsprecher. Klar und deutlich ertönte die Stimme Harry Golds: »Jawohl. Ich liebe Deutschland. Deutschland ist mein Vaterland. Ich könnte in keinem anderen Land leben ...«

Die Hitze in Buenos Aires hatte nachgelassen. Die Tagestemperaturen erreichten nur noch dreißig Grad. Der einsame, alte Cristobal, der in der Straße namens Husares gegenüber den Exerzierplätzen und Kasernen des »Regimento 3 de Infanteria General Belgrano« wohnte und die letzten Wochen der heißesten Jahreszeit praktisch nackt, nur mit einem Lendentuch bekleidet gewesen war, trug jetzt einen dünnen Pyjama. Cristobal schlief auf dem primitiven Eisenbett eines Zimmers, dessen Fenster in einen ruhigen Hof hinausging. Er lag auf dem Rücken, hatte die Hände über der Brust gefaltet und lächelte. Cristobal träumte. Er erlebte sich als Zwölfjährigen in seinem Traum.

Sein Vater war bei der kommunalen Müllabfuhr, die Mutter ging zu fremden Leuten saubermachen, und sie waren sehr arm. Doch sie liebten einander, und so blieben sie glücklich. Cristobal hatte die schönste Stimme unter den Jungen der Schule, die er besuchte. Er durfte am Sonntag in der Kirche singen, einer elenden Kirche in einer elenden Gegend und sonntags immer überfüllt. Alle Gläubigen waren arm wie Cristobals Eltern oder noch ärmer, und darum waren sie fromm, denn der Priester sprach stets so wunderbar von Gottes allgütiger Gerechtigkeit und daß ein jeglicher selig werden würde, der an ihn und seinen eingeborenen Sohn Jesus glaubte. Das taten alle Gemeindemitglieder, die Erwachsenen wie die kleinen Kinder, mit größter Inbrunst. Sie wollten alle selig werden.

Selig zu werden begann Cristobal an seinem zwölften Geburtstag. Da erhielt er eine Karte für das kleine Kino an der Ecke geschenkt, in dem amerikanische Filme gespielt wurden. Es war eine Karte für einen Platz in der ersten Reihe, hier kostete es am wenigsten, und der kleine Junge mit den kurzen Hosen, dem Baumwollhemd und den schmutzigen nackten Füßen mußte seinen Kopf sehr weit zurücklehnen, um zu der Leinwand aufblicken zu können, aber das machte ihm nichts aus. Der Film erzählte vom Leben und der Arbeit eines Mannes und einer Frau, sie waren verheiratet und Physiker, und sie entdeckten nach unendlichen Mühen das wunderbare, Kranken Segen bringende Element Radium. Den ganzen Film hindurch mühten sie sich, und erst zum Schluß – es war eine Silvesternacht, in der sie in das kalte Laboratorium zurückkehrten, um zu sehen, ob alle Versuchsanordnungen liefen – schlug die Stunde ihrer Glückseligkeit. Das Laboratorium war ein altes, heruntergekommenes gläsernes Gewächshaus, und als die Curies eintraten, erblickten sie in der großen Finsternis auf einem Tisch in einer Glasschale die sehr kleine Menge einer sehr hell strahlenden Substanz: Es war ihnen gelungen, nach jahrzehntelanger Arbeit das Radium im Reinzustand zu isolieren.

Nachdem Cristobal diesen Film gesehen hatte, wußte er, was er einmal werden wollte: Physiker wie der Senor und die Senora Curie. Und auch er wollte ein Element finden, das den Kranken half. Daran dachte er von nun an unentwegt, und jeden Sonntag in der Kirche voller armer Leute, in der so viel vom Seligwerden die Rede war, dachte Cristobal besonders fest an seine vorbestimmte Zukunft. Dann sang er so schön, daß die meisten Menschen, sogar der Priester und die kleinen Kinder, den traurigen Alltag vergaßen. Nun also, krank und einsam auf seinem Eisenbett, sah Cristobal sich im Traum vorn beim Altar, und er hörte sich sein Lieblingslied singen, begleitet von einer alten, defekten Orgel: »Oh, wie selig sind die Seelen, die mit Jesu sich vermählen, die sein Lebenshauch durchweht, daß ihr Herz mit heißem Triebe stündlich nur auf Seine Liebe und auf Seine Nähe geht!«

Das Telefon im vorderen Zimmer schrillte laut. Der alte Mann fuhr hoch. Sein Nacken und seine Brust waren

schweißnaß, das kam von der Schwäche, er wußte es. Weil er so schwach geworden war, mußte er sich auch tagsüber hinlegen und ein oder zwei Stunden schlafen wie eben. Die Telefonglocke war so laut, daß sie ihn immer weckte.

Cristobal erhob sich und lächelte in Erinnerung an seinen Traum, während er nach vorne schlurfte. Er lächelte noch, als er den Hörer abnahm, denn er dachte daran, daß er einmal ein Helfer der Menschheit hatte werden wollen.

»Ja?« Er ließ sich in einen Korbsessel fallen. Von den Exerzierplätzen gegenüber ertönten Befehle und Stiefelgetrampel. Dort wurden in der Nachmittagshitze Rekruten gedrillt. Die armen Schweine, dachte Cristobal.

»Hier ist Franco«, sagte eine sehr junge Männerstimme. »Emilio ist bei mir. Halb vier. Wir melden, daß wir jetzt zu Olivera in die Cespedes tausendsechs fahren und Roberto und Esteban ablösen.«

»Ich habe auf deinen Anruf gewartet, Franco«, sagte der alte Mann. »Was für einen Wagen fahrt ihr heute?«

»Einen Peugeot, schwarz.«

»Gut. Vergeßt nie, euch von unserer Garage täglich andere Marken geben zu lassen, damit ihr da bei Olivera nicht auffallt. Nach ein paar Tagen könnt ihr wieder dieselben Wagen nehmen, wenn ihr anders parkt. Ich habe es auch Roberto gesagt. Es ist von größter Wichtigkeit, daß Oliveras Haus jetzt rund um die Uhr bewacht wird und ihr alle Menschen beobachtet, die kommen und gehen.«

»Ganz klar, Cristobal. Wir fahren also jetzt zu Olivera.« »Nein, das tut ihr noch nicht«, sagte Cristobal. »Ich habe

einen Auftrag für dich und Emilio. Kommt von oben. Äußerst wichtig. Ruf Roberto über Funk und sage ihm, er muß heute länger arbeiten. Du fährst sofort zum Dock Sur, der großen Ölraffinerie und den Tanks. Kennst du da eine Straße, die Debenedetti heißt?«

»Jesus, die Rattengrenze! Was sollen wir dort, am Arsch der Welt?«

»Am Arsch der Welt in der Straße Olimpia fünfzehn leben die Eltern von Miguel Morales.«

»Eltern von wem?«

»Miguel Morales. Dem hübschen jungen Diener Oliveras. Erinnere dich: Ihr beide, du und Emilio, habt ihn verfolgt in jener Nacht, als er bei Olivera abhaute.«

»Klar, jetzt weiß ich wieder. Sie sind mit ihm zum Retiro gefahren und haben ihn in den Nachtzug nach Tucuman gesetzt. Ich habe gesehen, wie sie ihm eine Karte für Tucuman kauften. Verflucht weit oben im Norden. Der ist zwanzig Stunden gefahren. Aber was soll das jetzt, Cristobal?«

Der alte Mann seufzte. »Wir müssen schnellstens herausfinden, ob er noch in Tucuman ist. Oder wo sonst. Genau wo. Damit man ihn treffen kann.«

»Cristobal! Weißt du, wie groß Tucuman ist? Und er kann überall sein. Weißt du, wie groß Argentinien ist?«

»Das weiß ich, kleiner Hosenscheißer. Deshalb müßt ihr ja ins Rattenviertel zum Dock Sur in die Straße Olimpia fünfzehn. Du hast eine Karte im Wagen. Such dir den Weg! Und rede mit den Eltern. Miguel ist ein guter Sohn. Das haben wir inzwischen herausbekommen. Fast sein ganzes Geld hat er immer zu den Eltern gebracht. Die Mutter ist sehr krank.«

»Ja, ja, ja, Cristobal. Willst du mir endlich sagen, was ich bei den verfluchten Eltern soll?«

»Du bist ein alter Freund von Miguel, sagst du ihnen. Warst ein Jahr fort. Mußt ihn unbedingt sprechen. Hast einen prima Job für euch beide in Aussicht. Aber er ist nicht mehr da, wo er vor einem Jahr arbeitete. Er hat dir gesagt, seine Eltern wüßten immer, wo er ist. Also sollen sie es dir sagen.«

»Und wenn sie nicht wollen?«

»Du hast doch einen prima Job für ihn! Warum sollen sie nicht wollen?«

»Vielleicht hat er es ihnen verboten. Vielleicht wissen sie, was er getan hat.«

»Franco! Das sind ganz primitive Leute. Die wissen überhaupt nichts. Miguel hat ihnen ganz bestimmt nicht verraten, daß er ein Spion der Junta ist. Würdest du deinen Eltern so was erzählen?«

»Du hast recht.«

»Miguel ist ein Mamma-Baby geblieben, immer. Schreibt bestimmt jede Woche. Schau, daß du Kuverts zu sehen bekommst. Muß die Adresse draufstehen.«

»Okay, okay, also die genaue Adresse von Miguel Morales.« »Richtig. Wenn du sie hast, rufst du sofort wieder an,

Franco!« Der alte Mann lehnte sich in dem zerschlissenen Sessel zurück. Er lächelte plötzlich wieder. Mit hoher, dünner Stimme sang er leise mit wiegendem Kopf: »... daß ihr Herz mit heißem Triebe stündlich nur auf Seine Liebe und auf Seine Nähe geht!«

»Und wenn Harry Gold lügt?« fragte Emanuel von Karrelis, Intendant des Fernsehsenders Frankfurt. Er war neunundfünfzig Jahre alt, groß, schlank und hatte ein übersensibles Gesicht mit warmen, braunen Augen und schön geschwungenen Lippen. Er saß in einem Lederfauteuil, hielt die Beine übereinandergeschlagen und die Spitzen der langen, schmalen Finger gegeneinandergepreßt. Sein brauner Anzug stammte von einem Schneider aus der Londoner Savile Row, bei dem er alle seine Anzüge anfertigen ließ. Er trug ein Seidenhemd mit eingesticktem Monogramm, und seine braunen Schuhe kamen von Ferragamo, dem berühmten Schuhmacher in Florenz. Dort, in einem riesigen Lager, standen Gipsformen seiner Füße. Auf Regalen lagerten hier schier unzählig viele Gipsformen: jene des Reederkönigs Niarchos, der Schaupielerin Sophia Loren, die von Präsident Reagan und Außenminister Gromyko, der Königin von England und ihres Gemahls, Frank Sinatras und Carolines von Monaco ebenso wie die von Bankdirektoren, Rüstungsfabrikanten, weltberühmten Pianisten und weltberühmten Malern.

Herr von Karrelis war kein Snob. Er liebte es nur, sich gut zu kleiden – ähnlich Conrad Colledo, der ihm gegenübersaß. Dieser trug wie fast immer einen blauen Anzug, ein blaues Hemd und eine schwarze Krawatte mit gestickten winzigen, silbernen Elefanten. Die beiden saßen mit vier anderen Menschen im Dienstzimmer des Intendanten im obersten Stock des Verwaltungsgebäudes bei Königstein. Hatte Colledo ein Zimmer mit vier Fenstern als Statussymbol, so residierte der Intendant in einem Zimmer mit sechs Fenstern, das riesenhaft wie ein englischer Clubraum erschien. Und so war er mit seinen dunklen Hölzern, Mahagonipaneelen an den Wänden und exquisiten Möbeln auch eingerichtet. Der Raum wies eine gut sortierte Bar mit Hockern vor dem Tresen auf, und es hingen Bilder von Georges Braque an den Wänden. Teppiche bedeckten den Boden. Drei Stehlampen mit großen Seidenschirmen verbreiteten mildes Licht.

»Warum sollte er lügen?« fragte Mercedes. Sie saß neben Colledo. Außerdem waren noch Daniel, Hans Kleinhals, der Chefredakteur des Senders, und der Justitiar Dr. Volker Brandt in Karrelis Büro. Kleinhals sah aus wie ein ehrgeiziger Buchhalter, der Justitiar wie ein Beatle. Er war auch entsprechend leger und ein bißchen verrückt gekleidet. Trotz seiner Jugend galt er unter Kollegen bereits als einer der besten Justitiare der Bundesrepublik.

»Nun«, sagte das junge Genie jetzt freundlich zu Mercedes, »er könnte zum Beispiel lügen, weil ihn die israelische Botschaft darum gebeten hat. Mit dem Hinweis darauf, daß der jüdische Staat ohne die permanente ungeheuere Hilfe der Vereinigten Staaten auf wirtschaftlichem, finanziellem und militärischem Gebiet zugrunde gehen müßte. Das könnten die Amerikaner den Israelis zu verstehen gegeben haben, als sie um den kleinen Gefallen ersuchten, nicht wahr? Und das könnte Herr Shimon von der Botschaft Herrn Gold zu verstehen gegeben haben, diesem deutschnationalen Juden, dessen tränentreibende Zuneigung zu dem Land, in dem seine nächsten Verwandten ermordet wurden, ich nicht nachvollziehen kann.«

»Wenn Sie das wirklich glauben, dann müßten Sie aber auch in Erwägung ziehen, daß Professor Kant gelogen hat und daß die Eintragung in das Arbeitsjournal des Ribbentrop-Dienstes, für die ein anderer Mann, Herbert Kramer in Koblenz, sterben mußte, eine Fälschung der Nazis war, um den Film noch echter erscheinen zu lassen«, sagte Mercedes.

»Das ziehe ich durchaus in Erwägung«, sagte der junge Dr. Volker Brandt. »Und ich denke, wir sollten das alle tun. Was ist, wenn Zeugen lügen und man andere tötet, bloß um einen ganz bestimmten Eindruck zu erwecken? Gewissen haben die Killer keines. Aber vielleicht haben sie einen sehr komplizierten Plan. Und von dem wissen wir nichts.«

»Eben das meine ich«, sagte der Intendant und wippte mit einem Ferragamo-Schuh. »Vielleicht lügt selbst Ihr Vater, Herr Ross – Sie entschuldigen!«

»Nichts zu entschuldigen!« Daniel schüttelte den Kopf. »Daran denke ich schon eine ganze Weile. Aber ich kann nicht glauben, daß Harry Gold lügt.«

»Sie glauben wirklich, daß er den Film gefälscht hat?« fragte der so junge Justitiar namens Brandt.

»Ich kann es mir sehr gut vorstellen!«

»Für den SD? Für das Reichssicherheitshauptamt?« »Ja.«

»Aber Ihr Vater behauptet doch, daß der Film echt ist und in Teheran von einem Agenten CX einundzwanzig des Geheimdienstes Ribbentrop beschafft und nach Berlin geflogen wurde. Dort hat ihn Ihr Vater aus der Gepäckaufgabe eines Bahnhofs geholt und in das Auswärtige Amt gebracht, wo er ihn dann Ribbentrop, Goebbels und Himmler vorführte. Also lügt hier Ihr Vater?«

»Nein, hier nicht, glaube ich.«

»Erlauben Sie, Herr Ross!« Der Chefredakteur Kleinhals lachte kurz. »Wollen Sie damit sagen, daß der SD, der ja Himmler unterstand, Ribbentrops Geheimdienst einen Film zuspielte, der im Auftrag des SD gefälscht wurde – und daß Himmler nichts davon wußte?«

»Ja und nein.«

»Was heißt das?« fragte Karrelis.

»Ja, ich glaube, daß der SD den gefälschten Film Ribbentrop zuspielte. Nein, ich glaube nicht, daß Himmler nichts davon wußte. Er muß sehr wohl davon gewußt haben.«

»Aber das ist doch lächerlich! Nach der Erzählung Ihres Vaters hatte er keine Ahnung, war grenzenlos mißtrauisch und tippte auf die Fälschung.«

»Ja, genau das tat er.«

»Hör mal, Danny, das ist aber doch verrückt«, sagte Conrad Colledo.

»Ach, ganz und gar nicht.« Daniel nahm ein Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag, in die Hände. »Ich gestehe, ich war nach den Aufnahmen in der Odrellstraße vollkommen ratlos. Deshalb bin ich noch rasch nach Hause gefahren, während bei Gold abgebaut wurde. Die Sache hat mich einfach verrückt gemacht! So wie sie jetzt Sie verrückt macht, Herr Kleinhals. Ich mußte mir Gewißheit verschaffen. Hat Gold gelogen? Hat er die Wahrheit gesagt? Konnte er die Wahrheit sagen? Ich habe eine große Bibliothek zeitgeschichtlicher Werke, unter den Büchern über die verschiedenen deutschen Geheimdienste war dieses da von Heinz Höhne. Es heißt ›Canaris, Patriot im Zwielicht‹. Hervorragendes Werk, ausgezeichneter Autor. Ist Geheimdienst-Experte des SPIEGEL. Nun, ich habe mir die entsprechenden Stellen über Himmler, Heydrich, Kaltenbrunner und Schellenberg in aller Eile mit ein paar Papierstreifen gekennzeichnet.« Er sah die anderen der Reihe nach an. »Wir haben uns schon darüber unterhalten, daß es verschiedene Geheimdienste in Nazi-Deutschland gab: die Gestapo, den SD, die Geheime Feldpolizei, den Dienst Ribbentrop und die mächtige Abwehr des Admirals Canaris im Oberkommando der Wehrmacht. Zwischen all diesen Organisationen herrschte erbitterte Rivalität.«

»Richtig«, sagte Colledo. »Die größte herrschte von Anfang an zwischen den SS-Diensten und Canaris.«

»Stimmt!« Daniel blätterte. »Höhne schreibt auf Seite dreihundertneunundvierzig: ›Am siebenundzwanzigsten September‹ – gemeint ist neunzehnhundertneununddreißig – ›hatte Himmler Gestapo, Kriminalpolizei und SD unter Heydrich zu einem Reichssicherheitshauptamt‹ – in Klammern: RSHA – ›vereinigt, das zu einer staatlichpolizeilichen Überbehörde werden sollte, am achtzehnten Oktober mauserte sich Canaris’ Amtsgruppe zum OKW-Amt Ausland/Abwehr ...‹ und so weiter.« Daniel sah auf. »Obwohl die beiden größten deutschen Dienste in vieler Hinsicht notgedrungen aufeinander angewiesen waren, konnte es wegen Mentalität und Person zwischen Canaris und Himmler sowie Heydrich ebenso wenig jemals eine Verbindung geben wie zwischen Feuer und Wasser. Die beiden SS-Größen haßten Canaris von Anfang an über die Maßen. Zudem träumte Himmler stets vom Ausbau des RSHA zu einem Staatsschutzkorps im Sinne der nationalsozialistischen Staatsideologie. Ribbentrop lief mittlerweile – dumm und sorglos – zu immer größerer Fahrt auf. Kaltenbrunner und seinen Leuten entging das nicht. Ihr Haß auf den Außenminister stieg ins Grenzenlose. Im Februar einundvierzig erlitt die Abwehr eine neue Panne, die letzte war noch nicht vergessen. ›Wieder‹, schreibt Höhne, ›ergoß sich eine Woge Hitlerschen Zorns über die Abwehr und ihren Chef, jeder der Mitarbeiter bekam zu hören, er habe den Herrn Canaris und seine ganze Abwehr satt ... Hitler bestellte Himmler zu sich ins Hauptquartier. Als der den Diktator wieder verließ, war er um einen Riesenschritt der totalen Macht im Dritten Reich näher: Hitler hatte ihn beauftragt, einen vereinigten Geheimdienst aus SD und Abwehr zu schaffen, den Supernachrichtendienst, den die Sigrunenjünger immer erträumt hatten. Canaris wurde seines Postens enthoben, Oberst Georg Hansen bis zur Neuregelung mit der Führung des Amtes Ausland/Abwehr betraut.‹ Ende des Zitats.«

Daniel schwieg eine Weile, dann sagte er: »Sie alle wissen, daß Hitler lange zögerte, Canaris festnehmen zu lassen. Dann kam das Attentat vom zwanzigsten Juli vierundvierzig. Am dreiundzwanzigsten Juli verhaftete Schellenberg Canaris als Mitverschwörer. Erst am neunten April fünfundvierzig wurde der Admiral im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. Vierzehn Monate waren vergangen, seit Hitler Himmler zu sich gerufen und ihn beauftragt hatte, einen vereinigten Geheimdienst aus SD und Abwehr zu schaffen. Diese Zeit hatten Himmler und Genossen gut genützt und keine Stunde untätig verstreichen lassen. Am Tag nach Himmlers Besuch bei Hitler, schreibt Höhne, ›rief der SS-Chef seine engsten Mitarbeiter zu sich‹ und so weiter und so weiter – und ›eröffnete ihnen, es sei kurz zu skizzieren, wie Abwehr und SD vereinigt werden können ... Kaltenbrunner wiederum wollte auch gleich noch den Nachrichtendienst des Auswärtigen Amtes mit einbeziehen, denn er hatte längst die Manöver Ribbentrops durchschaut ... Die SS-Führer entwarfen einen Hitler-Befehl, dann reiste am dreizehnten Februar Kaltenbrunner mit dem Papier ins Führerhauptquartier ... Nach der Unterzeichnung des Befehlsentwurfs fragte ihn der Diktator nicht ohne Spott, ob er denn nun alles zusammen habe. Darauf Kaltenbrunner: Jetzt fehle nur noch der Nachrichtendienst des AA. Hitlers Antwort fiel so vage aus, daß sich Kaltenbrunner vornahm, auch den diplomatischen Nachrichtendienst ins RSHA-Joch zu zwingen ...‹« Daniel schloß das Buch und sagte, an alle gewandt: »So erkläre ich mir die Möglichkeit, daß ein vom SD gefälschter Film, den Harry Gold und seine Mithäftlinge herstellen mußten, in den Besitz von Ribbentrops Dienst kam und dort als Frucht eigener Bemühungen angesehen wurde. Kaltenbrunner und Himmler betrachteten Ribbentrop und seinen Dienst mit Abscheu, das wissen wir. Harry Gold hat gesagt, mit dem Film müsse nach der Fertigstellung etwas passiert sein. Natürlich! Er sollte ja schnellstens dem Ribbentrop-Dienst zugespielt werden, damit dieser sich damit rühmen konnte.«

»Wie kann sich das abgespielt haben?« fragte der Intendant. »Da gibt es viele Möglichkeiten«, sagte Daniel. »Ich vermag mir sehr wohl vorzustellen, daß Männer des Ribbentrop-Dienstes in Teheran, wo mein Vater einen Stützpunkt aufgebaut hatte, sich vom SD bestechen ließen und nach Berlin meldeten, sie hätten einen amerikanischen Spezialisten gefunden, der bereit sei, eine Kopie des Films mitsamt dem Geheimprotokoll für sehr viel Geld zu verkaufen. Erinnern Sie sich bitte: Mein Vater erzählte, sein dortiger Resident Chan Ragai sandte schon während der Konferenz einen chiffrierten Funkspruch, daß der Agent CX einundzwanzig Verbindung zu einem Amerikaner hergestellt habe, der bereit war, eine Filmkopie zu beschaffen, wenn Ribbentrops Dienst ihm auf ein Konto in der Schweiz fünf Millionen Dollar überwies. Was, wenn der Funkspruch von bestochenen Ribbentrop-Leuten stammte? Die fünf Millionen Dollar sind, so sagt mein Vater, tatsächlich überwiesen worden. Was, wenn Ribbentrop sie unwissentlich auf ein Schweizer Konto des SD überwiesen hat? Ende März holte mein Vater, wie er sagt, die Filmrolle aus der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs Zoo, wohin sie der mysteriöse Agent CX einundzwanzig gebracht hatte. Was, wenn auch der vom SD bestochen war und der SD in Berlin den gefälschten Film bei der Gepäckaufbewahrung deponiert hat? Alle im Auswärtigen Amt waren außer sich über diesen phantastischen Fang ihrer Organisation – daran glaubten sie fest, daran zweifelte niemand. Der Film wurde sofort Goebbels und Himmler vorgeführt. Goebbels war überwältigt ... «

»Ja, aber Himmler maulte und vermutete eine Fälschung. Er war äußerst mißtrauisch und feindselig eingestellt«, sagte Colledo.

»Mensch, Conny, das mußte er doch sein, wenn der Film wirklich von ihm, vom SD kam! Begreifst du denn nicht? Himmler mußte sich derart ablehnend und argwöhnisch verhalten, damit nicht der geringste Verdacht aufkam, man wolle Ribbentrop das Genick brechen.«

»Verstehe ich nicht.«

»Conny! Überlege! Goebbels gab den Auftrag, Film und Protokoll von Spezialisten sofort auf ihre Echtheit hin überprüfen zu lassen. Wären die geringsten Zweifel aufgetaucht, so hätte Himmler Hitler empört gemeldet, daß das Auswärtige Amt auf Fälschungen hereinfalle und der Ribbentrop-Dienst mithin untragbar sei.«

»Und wenn alle Untersuchungen ergeben, daß der Film echt war?«

»Dann hätten Himmler und Kaltenbrunner Hitler mit Freude bewiesen, daß der so echte Film im KZ Sachsenhausen gefälscht worden war. Zeugen wie Gold gab es ja. Man konnte die Fälscher selber anhören und auch auf diese Weise die Unfähigkeit des Ribbentrop-Dienstes anprangern. Und wenn alles gutging, dann war Himmler mit seinem SD der große Mann. Ich meine: So könnte es gewesen sein. Und wenn es so war, dann war es genial, finde ich.«

»Und wenn es nicht so war, Herr Ross?« fragte Karrelis. »Wenn der Film doch keine Fälschung, sondern eine Originalkopie ist?«

»Dann weiß ich auch nicht weiter«, sagte Daniel. »Sie haben laut überlegt, ob Harry Gold wohl gelogen hat, Herr Intendant. Ich sagte, er könnte sehr wohl die Wahrheit gesagt haben und habe diese Möglichkeit aufgezeigt. Der Plan, den Film propagandistisch auszuwerten, kam dann nicht mehr zum Tragen, weil die Kopie lange Zeit verschüttet im Keller eines von Bomben getroffenen Hauses lag. Als man sie dann ausgegraben hatte, fand Goebbels die Kriegslage schon zu miserabel, um den Film noch vorzuführen. Vielleicht ist es Phantasie, was ich zur Richtigkeit der Behauptungen Harry Golds konstruiert habe. Nach wie vor kann der Film echt oder gefälscht sein. Wir haben erst einen Zeugen gehört, der behauptet, ihn gefälscht zu haben. Was wir nun brauchen, das ist ein Mann, der nicht nur wie Kant behauptet, das Protokoll sei echt, sondern der beweist, daß der Film echt ist, am besten der Resident meines Vaters in Teheran, dieser Chan Ragai. Was ist mit dem, Conny?«

»Wir sind ihm auf der Spur, Danny. Aber es ist alles sehr, sehr schwer.«

»Dann werden wir die Wahrheit erst wissen, wenn wir Chan Ragai gefunden haben und er gesprochen hat.«

»Und falls er wirklich vom SD bestochen wurde und lügt?« fragte der junge Justitiar Brandt.

»Lassen Sie uns diesen Herrn erst finden!« sagte der Intendant. »Ihr Gedankenspiel war sehr interessant, Herr Ross, und auch ich glaube nun keineswegs mehr unbedingt, daß Harry Gold gelogen hat. Ich habe – sozusagen in diesem Zusammenhang – die ganze Zeit über noch etwas anderes überlegt.« Er wandte sich an Daniel. »Vorhin sagte ich: Vielleicht lügt auch Ihr Vater, Herr Ross. Sie stimmten mir zu. Und nun muß ich dauernd denken: Vielleicht lügt auch einer von uns oder einer derjenigen, die von der Affäre wissen – und das sind doch eine ganze Menge, nicht wahr? –, wenn er sagt, daß er in dieser Sache loyal zum Sender steht.«

Karrelis stand auf und begann in dem Riesenraum hin und her zu gehen. »Nur ein Beispiel: Herr Shimon ist gestern vormittag zu mir gekommen und hat von dem Zeugen Harry Gold erzählt. Auf meinen Wunsch flog er nach Berlin, um Sie, gnädige Frau, und Sie, Herr Ross, zu informieren. Ich habe Herrn Colledo verständigt, und der das BKA. Außerdem hat er ein Aufnahmeteam zusammengestellt. Nun erweist sich, daß Golds Telefon schon heute vormittag angezapft wurde und jemand alles, was während der Aufnahmen gesprochen wurde, mitangehört hat.« Karrelis war bei der Bar angekommen und drehte sich um. »Möchte noch jemand etwas zu trinken?«

»Einen Whisky, bitte«, sagte Colledo. »Cognac für mich«, sagte der Justitiar Brandt. »Für mich auch«, sagte der Chefredakteur Kleinhals.

»Und einen Whisky für mich«, ergänzte Karrelis, während Mercedes und Daniel dankend ablehnten. Die Bar befand sich bei einem der großen Fenster. Der Intendant blickte auf die Millionen flimmernden Lichter der Stadt Frankfurt, die in der Ferne lag. Er begann, die Drinks zu bereiten. Dabei sprach er weiter: »Frage also. Wie ist es möglich, daß die andere Seite derart schnell – und überhaupt! – von Harry Golds Existenz und unserer Absicht, ihn in seiner Wohnung zu interviewen, erfahren konnte? Meiner Ansicht nach gibt es dafür nur eine Erklärung. Nämlich die, daß wir einen Verräter im Hause haben.« Er ging zwischen seinen Gästen und der Bar hin und her und verteilte die Gläser. »Sehr zum Wohl!« sagte er. »Der Verräter muß sich natürlich nicht in unserem kleinen Kreis befinden. Aber irgendwo muß es einen Verräter geben. Einwände?«

»Keine«, sagte Daniel.

Danach war es sehr lange sehr still.

Im Arbeitszimmer von Heinz Erkners Villa am Rödelheimer Parkweg neben dem Brentanopark läutete das Telefon. Erkner meldete sich.

Eine Männerstimme sagte: »Guten Tag. Mein Name ist Gerd Herdegen. Ich bin in einem Sanatorium bei Heiligenkreuz und suche dringend Mister Hyde. Ist er vielleicht bei Ihnen oder haben Sie eine Ahnung, wo ich ihn finden kann?«

Erkner deckte die Sprechmuschel mit einer Hand ab und flüsterte Wayne Hyde, der gerade Kaffee trank, zu: »Gerd Herdegen muß dich dringend sprechen, Baby.« Hyde nickte. »Ja, er ist hier. Einen Moment.«

Erkner übergab Hyde den Hörer. »Ja, Doc?« sagte Hyde. »Gott sei Dank! Ein Segen, daß Sie mir alle in Frage

kommenden Nummern hinterlassen haben!« »Was gibt es?«

»Ich hatte eben einen Anruf von Morley. Rufen Sie sofort eine für Sie bestimmte Nachricht vom Band ab! Sofort!«

»Werde ich tun, Doc.«

Hyde verabschiedete sich. Danach stellte er mit Hilfe des kleinen Decoders den Kontakt zum automatischen Telefonbeantworter Morleys her.

Dessen Stimme klang zum ersten Mal, seit Hyde Morley kannte, gehetzt: »Mister Hyde, dies ist ein absoluter Notfall. Sie müssen noch heute nach Buenos Aires fliegen, um zweiundzwanzig Uhr mit LUFTHANSA neunhundertsiebzehn. Einen Platz hat man schon für Sie gebucht. Ticket liegt beim Flughafenschalter. Sie sind morgen mittag um elf Uhr fünfundvierzig Ortszeit in Buenos Aires. Um zwölf Uhr zwanzig geht eine Inlandmaschine nach Tucuman in Nordargentinien. Auch hierfür ist schon ein Platz für Sie gebucht. Gewiß erinnern Sie sich an den ehemaligen jungen Diener Oliveras, der seinen Herrn im Auftrag eines verhafteten Juntagenerals bespitzelte. Durch den Diener kamen wir an die Informationen über den Film, nicht wahr?« Morley räusperte sich. »Verzeihen Sie, ich bin etwas ... erregt ... Es ... es ... geschieht auf einmal so viel. Ich habe mich vorhin versprochen, als ich sagte, es sei für Sie von Buenos Aires aus für morgen ein Flug nach Tucuman gebucht. Das ist Unsinn. Tucuman hat keinen Flugplatz. Salta hat einen. Der Flug ist nach Salta gebucht. Das liegt dreihundert Kilometer nördlich von Tucuman. Mieten Sie in Salta einen Wagen und fahren Sie schnellstens über die Autobahn hinunter. Sie entsinnen sich: Miguel Morales heißt der Diener. Miguel Morales. Er arbeitet jetzt als Kellner in einem Restaurant. Dieses Restaurant – schreiben Sie mit, Mister Hyde! – heißt OASIS und liegt im Hause vierundzwanzig Rodrigues Pena ... Haben Sie? OASIS, vierundzwanzig Rodrigues Pena. Es ist kein großes Lokal. Und jetzt passen Sie auf ...«

Es war sehr lange sehr still im Büro des Intendanten. Endlich sagte Karrelis: »Selbstverständlich erwarte ich nicht,

daß der Verräter sich nun meldet, auch falls seine Beweggründe ehrenhaft sein sollten oder er zum Verrat erpreßt worden ist. Wir hier sind der innerste Kreis. Ich wünsche, daß sich im innersten Kreis alle darüber klar sind, daß ein Verräter unter den

Eingeweihten lebt, der unsere Arbeit beständig zunichte zu machen versucht. Ich sehe, Sie sind sich darüber alle klar: Sollen wir unter diesen Umständen die Recherchen fortführen und damit das Leben weiterer Menschen gefährden? Wer dafür ist, möge bitte eine Hand heben.« Er sah, wie alle eine Hand hochhoben, dann hob er die eigene. »Wir können nicht mehr zurück. Die Gegenseite würde selbstverständlich nach Zeugen weitersuchen, auch wenn wir es nicht mehr täten.«

Mercedes sagte leidenschaftlich: »Mein Stiefvater, Herr Ross und ich werden für die Dokumentation das, was wir erlebt haben und wissen, noch vor der Kamera bekanntgeben. Dabei möchte ich unbedingt erklären, daß ein Verräter unsere Arbeit sabotiert hat – und wenn wir Glück haben, entdecken wir ihn noch und können auch darüber berichten.«

»Ich finde das ausgezeichnet«, sagte Colledo. »Ich auch«, sagte Karrelis. »Es gab bis jetzt noch keine

Gelegenheit dazu, aber die Statements von Frau Olivera und Herrn Ross sollten schnellstens aufgenommen werden, Herr Colledo!« Der nickte. »Nächster Punkt!« Karrelis drehte sein Whiskyglas hin und her. Die Eisstückchen darin klirrten. »Herr Colledo hat mich heute spät nachts angerufen und mir von dem Ultimatum Ihres Vaters berichtet, Herr Ross. Er hat libysche Interessenten für den Film.«

»Wenn er die Wahrheit sagt«, sagte Daniel.

»Ich fürchte, das tut er« sagte Karrelis. »Gaddafi ist doch wild entschlossen, alles nur Erdenkliche gegen den Erzfeind Amerika zu unternehmen. Sicher würde er die Sender der Welt mit geschenkten Kopien überschwemmen.« Karrelis rückte den Knoten seiner Foulardkrawatte zurecht. »Herr Olivera hat auch gesagt, daß er nicht eine Sekunde lang vor eine unserer Kameras treten wird, bevor er nicht die zehn Millionen hat.«

»Fein, fein«, sagte der so eigenwillig gekleidete junge Justitiar Brandt. »Also ein Verräter und ein Erpresser.«

»Ja, hübsch, nicht wahr?« Karrelis lehnte sich zurück. »Ich habe heute vormittag mit dem Kanzler und dem Außenminister telefoniert und ihnen die Lage geschildert. Die USA sind unsere wichtigsten Verbündeten. Kanzler wie Außenminister waren absolut entsetzt bei dem Gedanken, Gaddafi könne den Film bekommen. Denn während wir ihn ja mit den Pro- und Kontra stimmen einer Dokumentation senden wollen, würde Gaddafi das Protokoll als reinen Hetzfilm verbreiten. Wir sollen also Oliveras Kopie unbedingt und schnellstens kaufen, sagten Kanzler und Außenminister. Sie waren übrigens sehr erleichtert, zu hören, daß wir einen Zeugen gefunden haben, welcher den Film als Fälschung bezeichnet und selbst an ihr mitgearbeitet hat. Zu den zwei und möglicherweise noch folgenden Morden wird der Regierungssprecher in der morgigen Bundespressekonferenz Stellung nehmen.«

»Da bin ich gespannt, wie der lügt«, sagte Daniel böse. – »Kanzler und Außenminister«, fuhr Karrelis ungerührt fort, »sicherten mir zu, daß die zehn Millionen, die wir sofort überbringen sollen, aus einem Sonderfonds der Regierung ersetzt werden, falls Ereignisse eintreten, die eine Ausstrahlung des Films unmöglich machen.«

»Was für Ereignisse sollten das sein?« fragte Mercedes. »Nun«, sagte Karrelis, »die Leute der Gegenseite könnten

sich über die ›Lebensversicherung‹, die wir für uns geschaffen haben, hinwegsetzen und einen oder mehrere von uns entführen und mit Hinrichtung drohen, wenn wir nicht alle Kopien und alles Material ausliefern.«

»Das werden sie nicht wagen! Sie tun doch offensichtlich alles, um zu erreichen, daß wir nur Zeugen für die Fälschung vorstellen können und keinen für die Echtheit!« rief Mercedes. »Richtig«, sagte Karrelis. »Und mit dem Verräter in unserem

Kreis sind sie diesem Ziel schon recht nahe gekommen.« Kleinhals stand auf, ging zu einem Fenster und fluchte laut. »Nachdem ich mit unserem Aufsichtsrat gesprochen hatte«, sagte Karrelis, »und dessen Zustimmung bekam, rief ich Ihren Vater an, Herr Ross, und signalisierte ihm unser Einverständnis. Er bekam auch das gewünschte Telex. Die zehn Millionen stehen zu seiner Verfügung. Natürlich Zug um Zug.«

»Was heißt Zug um Zug?« fragte Mercedes. »Wir haben den Betrag bereits telegraphisch auf ein Konto

unseres Senders in Buenos Aires überwiesen. Herr Colledo fliegt morgen hinüber. Sucht Olivera auf. Sieht sich den Film an, den dieser aus seinem Banksafe holen wird. Nimmt die Kopie an sich ...«

»Was heißt das? Mein Vater ist bereit, die Kopie aus dem Banksafe auszuliefern?« unterbrach ihn Daniel.

»Ja, Herr Ross.«

»Aber die wollte er doch unbedingt im Safe lassen, mit der Auflage, daß sie der internationalen Presse zur Verfügung gestellt wird, wenn ihm etwas zustößt!«

»Ich habe ihn überredet.« Karrelis zuckte die Schultern. »Ich erzählte ihm von der ›Lebensversicherung‹, die wir alle haben, auch er. Ich machte ihm klar, daß die Gegenseite alles tun würde, um an die Bankkopie heranzukommen, und daß sie – wir kennen ihre Skrupellosigkeit – damit gewiß Erfolg hätte. Ihr Vater hat eingesehen: Die Kopie im Banksafe bedeutet keinen Schutz für ihn. Jedenfalls ist er auf meine Forderung, Herrn Colledo diese Kopie zu übergeben, damit er uns nicht noch einmal erpressen kann, eingegangen. Seine libyschen Freunde sind ihm offenbar doch ein wenig unheimlich. Außerdem habe ich den Eindruck, daß ihm das Wasser bis zum Hals steht. Er scheint in einer großen finanziellen Misere zu stecken.«

»Und wie soll diese Zug-um-Zug-Geschichte weitergehen?« fragte Dr. Volker Brandt.

»Wenn Herr Colledo die Kopie hat, überreicht er einen Scheck über die zehn Millionen Dollar. Er bleibt so lange in Oliveras Villa, bis dieser Gelegenheit hatte, den Scheck zur Bank zu bringen und sich von der Deckung zu überzeugen. Natürlich wird Herr Colledo dabei nicht allein sein. Das BKA hat sich bereits mit der entsprechenden Behörde in Buenos Aires in Verbindung gesetzt und Amtshilfe zugesichert erhalten. Bewaffnete Beamte werden Herrn Colledo ständig begleiten – bis hierher zurück nach Königstein.«

»Sie überschütten mich mit frohen Neuigkeiten, Herr Intendant«, sagte Conrad Colledo. »Lieb, daß Sie mir schon heute erzählen, was ich morgen tun werde, und nicht erst eine Stunde vor Abflug der Maschine.« Er war aufgestanden. Seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut. Daniel sah ihn fasziniert an. Noch nie hatte er Colledo in solcher Aufregung erlebt. Der hielt die Hände so fest zu Fäusten geballt, daß die Knöchel im Licht der Stehlampen kalkweiß leuchteten.

»Noch einen Drink, Herr Colledo?« Karrelis betrachtete ihn ausdruckslos.

»Danke, nein!«

»Um sich zu beruhigen, meine ich.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden dafür, Herr Intendant, daß Sie über meinen Kopf hinweg und ohne mich zu informieren schon alles entschieden haben. Vielen Dank! Auch im Namen des Verräters. Leichter konnten Sie ihm seine Arbeit nicht machen.«

»Schwerer leider auch nicht, Herr Colledo«, sagte Karrelis. »Er hätte so wie bisher auch auf jeden Fall rechtzeitig alles erfahren, um die Gegenseite zu informieren – oder? Ich verstehe Ihre Erregung nicht. Wovor haben Sie Angst? Wir bezahlen Olivera.

Er gibt uns seine Filmkopie. So ist Gaddafi ausgeschaltet. Damit entfällt die größte Gefahr, die den Amerikanern droht. Wir können sicher sein, daß sie aufatmen und uns unendlich dankbar sein werden. Wir haben ja schon zwei Kopien des

Films. Nun haben wir noch eine. So ist auch diese aus dem Verkehr gezogen und kann von Olivera nicht mehr an Feinde Amerikas oder der Sowjetunion oder beider Staaten verkauft werden. Die Lage entspannt sich enorm. Man wird Ihnen ebenso wenig tun wie dem alten Harry Gold, der erklärte, er habe den Film gefälscht. Ich begreife Sie nicht, Herr Colledo! Sie hatten ja seinerzeit auch nicht die geringsten Bedenken, hinüberzufliegen und die beiden Kassetten von Herrn Ross in den Sender zu bringen. Was befürchten Sie? Ich meine: Was befürchten Sie jetzt plötzlich, Herr Colledo?«

Auch Mercedes hatte Colledo angestarrt. Ratlos blickte sie jetzt zu Daniel. Der zuckte die Achseln.

»Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Herr Intendant«, sagte Colledo, wieder ruhig. »Bei Ihnen allen, meine Herrschaften. Nerven. Ich bin überarbeitet. Ich komme keine Nacht vor drei ins Bett. Außerdem war ich – ganz offen – zuerst wirklich schockiert darüber, daß Sie, Herr von Karrelis, nicht unter vier Augen mit mir über meine Mission gesprochen haben. Es wäre doch ... das Übliche gewesen, nicht wahr?«

»Unter normalen Umständen gewiß«, sagte Karrelis. »Die Umstände sind aber nicht normal. Da ein Verräter auf unserer Seite ist, wollte ich sehen, welchen Eindruck die Mitteilung von dem, was geschehen ist, und dem, was geschehen soll, auf alle hier im Raum machen würde.«

»Und was konnten Sie feststellen?« fragte Colledo. »Nicht das geringste. Außer Ihre Reaktion, Herr Colledo.

Aber das war ja nur natürlich und zu erwarten. Vergeben Sie mir, daß ich Sie für ein Experiment mißbraucht habe!«

»Dürfte ich mir noch einen Drink machen?« fragte Colledo. »Warten Sie, ich ...«

»Bleiben Sie sitzen! Ich kann das allein.« Colledo ging zur Bar und goß sein Glas voll Whisky. Er wandte den anderen den Rücken zu und trank den Whisky pur. Seine Hand zitterte so stark, daß das Glas gegen die Zähne schlug. Daniel hörte es. Dann hören es auch alle anderen, dachte er. Nun, ich hätte mich an Connys Stelle ebenso über das Experiment des Intendanten aufgeregt. ja, dachte Daniel, hätte ich?

VIERTES BUCH

»Hier spricht General Carlo Maria Alvarez. Diese Botschaft von äußerster Wichtigkeit ist für Miguel Morales bestimmt. Du hast meine Stimme sofort wiedererkannt, nicht wahr, Miguel? Du kannst dem Mann, der dir diese Kassette überbracht hat, absolut vertrauen. Laß dir trotzdem seinen Paß zeigen. Der Mann heißt James Douglas, ist Amerikaner und stammt aus Boston. Er arbeitet seit langem für uns und wird stets in den gefährlichsten Notfällen eingesetzt. Dies ist ein absoluter Notfall ...«

»Sie haben die Stimme des Generals erkannt?« fragte Wayne Hyde.

Der hübsche junge Mann mit dem schwarzen Haar, den schwarzen Augen und der dunklen, samtigen Gesichtshaut nickte. »Sind Sie ganz sicher, Miguel?«

»Ganz sicher, Senor.«

»Hier ist mein Paß. Schauen Sie ihn sich genau an.« Hyde hielt dem jungen Mann einen amerikanischen Paß geöffnet hin. Es war einer von sieben Pässen, die er besaß. Miguel betrachtete ihn lange. Er stellte den kleinen Sony-Kassettenrecorder, den er an das Ohr gehalten hatte, ab. Er sah das Foto im Paß an. Er sah Wayne Hyde an. Er nickte wieder. Hyde steckte den Paß ein. Es war zehn Minuten nach fünf Uhr nachmittag, und in der Kathedrale von Tucuman war es kühl und still. Die beiden Männer saßen auf einer Bank im Hintergrund des gewaltigen Kirchenschiffs. Die Kathedrale war zu dieser Zeit verlassen. Nur eine sehr kleine, schwarzgekleidete Frau kniete vor einem entfernten Seitenaltar, tief in ihr Gebet versunken. Vorne beim Hauptaltar, weit von Hyde und Miguel entfernt, leuchtete ein großes, goldenes Kreuz. Dieses Kreuz war mehr als vierhundert Jahre alt. 1565 hatten die Spanier, von Peru kommend, mit dem Bau Tucumans und der Kathedrale begonnen. Das goldene Kreuz hatten sie mitgebracht. Die wundervolle Kirche stand nördlich der Plaza Independencia, dem Zentrum der großen, modernen Stadt, die auch San Miguel de Tucuman genannt wird. Palmen und Orangenbäume säumten den Hauptplatz, in seiner Mitte ragte eine Freiheitsstatue empor. Auf der Südseite erhob sich der Regierungspalast, der aussah wie ein phantastisches Schloß aus »Tausendundeine Nacht«. Im Licht der Nachmittagssonne leuchteten Palast und Kathedrale, Palmen, Orangenbäume und die weiße Freiheitsstatue in psychedelischen, unwirklichen Farben.

Wayne Hyde war mit einem Leihwagen, den er auf dem Flugplatz von Salta gemietet hatte, gegen vier Uhr nachmittags in Tucuman angekommen. Dank eines Stadtplans fand er mühelos das Restaurant in der Rodriguez Pena, wo Miguel als Kellner arbeitete. Das Lokal war bis zum Abendessen geschlossen, aber Hyde fragte in einem benachbarten Espresso nach Miguel. Der habe frei bis 18 Uhr 45, sagte man ihm. Er wohne im Hause, im zweiten Stock, mit anderen Angestellten.

»Er hat sich, glaube ich, hingelegt«, sagte ein Mädchen hinter der Espresso-Theke. »Sie wohnen da immer zu zweit in einem Zimmer.«

»Kann wohl jemand hinaufgehen und ihm sagen, daß ich ihn sprechen muß? Es handelt sich um Senor Olivera.«

»Ich gehe selber«, sagte das Mädchen. Bald darauf kehrte sie mit Miguel zurück, der Bluejeans und ein loses, weißes Hemd trug. Es war sehr warm. Hyde hatte die Jacke seines beigefarbenen Tropenanzugs ausgezogen. Miguel musterte ihn verschreckt. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir, Senor?«

»Eine Nachricht. Dringend. Hier können wir nicht sprechen. Ich gehe in die Kathedrale. Kommen Sie in fünf Minuten nach!«

»Aber worum handelt es sich?«

Hyde sagte sehr leise an Miguels Ohr: »Die Nachricht, die ich bringe, ist von General Alvarez.« Er sprach ohne Akzent Spanisch. Als er den Namen erwähnte, sah er, wie Miguel zusammenzuckte. Die schwarzen Augen leuchteten auf.

»Was ist mit dem General?«

»Psst! Nicht hier. In der Kathedrale«, sagte Hyde. Er nickte dem Mädchen hinter der Theke zu. »Danke für Ihre Hilfe«, sagte er. »Gerne geschehen«, sagte das Mädchen und lächelte.

»Sie haben schöne Zähne«, sagte Hyde. »Oh, danke.« »Und schöne Augen.«

»Sie sind sehr freundlich, Senor«, sagte das Mädchen. Hyde trat auf die Straße hinaus und ging zu der nahen

Kathedrale. Er schlenderte im Schatten der Häuser. Die Luft war sehr klar, und als er durch einen Park kam, sah Hyde die mächtigen Berge der Sierra de Aconquija, die hinter Tucuman in den tiefblauen Himmel hineinragten.

Um 11 Uhr 45 an diesem 12. März 1984 war Wayne Hyde mit einem Jumbo Typ Boein 9747 der LUFTHANSA, Flug 917, in Ezeiza, dem größten Flughafen Südamerikas, dreiunddreißig Kilometer von Buenos Aires entfernt, gelandet. Bei der Gepäckausgabe sah er den mittelgroßen jungen Mann mit dem langen, schwarzen Haar, den er zuletzt auf dem Frankfurter Flughafen getroffen hatte, wieder, eine Orchidee als Erkennungszeichen in der Hand.

»Tag, Pablo«, sagte Hyde. »Guten Tag, Mister Hyde.« »Ich heiße James Douglas, Pablo.«

»Oh, verzeihen Sie, Mister Douglas! Wie dumm von mir. Man hat gesagt, daß wir uns hier treffen sollen. Verrückt! Ihr Gepäck wird doch automatisch in die Maschine nach Salta umgeladen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Hyde. »Und die geht um zwölf Uhr zwanzig.« »Kommen Sie, Mister Douglas!« Pablo drängte sich durch die

Menge der angekommenen Passagiere. Hyde folgte ihm ins Freie auf einen riesenhaften Parkplatz und zu einem schwarzen Chevrolet. Pablo öffnete den linken Schlag. Hyde glitt in den Fond. Rechts saß ein völlig kahler, bleicher Mann von etwa sechzig Jahren. Er trug ein weißes Hemd über einer schwarzen Hose.

»Hallo«, sagte Hyde. »Sie sind Cristobal, wie?« »Ja, Mister Douglas«, sagte der alte Mann. Er sah krank und

schwach aus. »London hat angeordnet, daß ich Ihnen persönlich die Kassette und einen Recorder bringe. Sie sind sehr umsichtig in London.«

»Ja, das sind sie«, sagte Hyde und nahm den kleinen Sony-Recorder entgegen, den Cristobal ihm hinhielt.

»Die Kassette ist drin«, sagte der alte Mann. Pablo war im Freien geblieben. Er stand vor der Kühlerhaube

und rauchte eine Zigarette.

»Der General spricht zu Miguel?« fragte Hyde. »Ja, Mister Douglas. Sie können es sich während des Fluges

anhören. Erstklassig! Der General hat auch wirklich Schiß.« »Na prima! Wie habt ihr das gemacht? Wärter bestochen?« »Natürlich. Das geht bei uns glücklicherweise sehr einfach.

Der General wurde falsch informiert. Geriet in Panik. Sprach aufs Band. Das Band wurde aus dem Gefängnis geschmuggelt.«

»Verflucht schnell habt ihr gearbeitet. Hut ab!« »Vielen Dank. Ja, ich habe gute Leute hier. Und London

sagte, es müsse ganz schnell gehen.«

»Hoffentlich hat der General in seinem Schiß herzbewegend genug gesprochen.«

»Es kommen einem die Tränen, Mister Douglas. Miguel wird außer sich sein. Der General ist doch seine große Liebe.«

»Was ist mit Waffen?«

»Wann kommen Sie zurück?«

»Wenn alles glattgeht, heute um dreiundzwanzig Uhr fünfzig. Mit der letzten Maschine aus Salta.«

»Dann wird Pablo wieder bei der Gepäckausgabe auf Sie warten und Sie zu einem Wagen führen. Er wird Ihnen Schlüssel und Papiere geben. Im Handschuhfach werden Sie Pistolen und Munition finden.«

»Was für Pistolen?«

»Welche wollen Sie, Mister Douglas?«

»Neun Millimeter Automatic am liebsten.«

»Sie werden da sein. Vor Oliveras Villa in der Cespedes tausendsechs parkt immer einer unserer Wagen mit zwei Mann. Ich sage das für den Fall, daß Sie Hilfe brauchen. Heute nacht sitzen die zwei Mann in einem grünen Oldsmobile.«

»Prima.«

Cristobal sah Hyde mit seinen alten, müden und trüben Augen ernst an.

»Können Sie noch einen Moment bleiben?« »Was haben Sie?«

»Gedanken. So viele. Immer dieselben. Fragen. So viele. Immer dieselben. Ich hoffe, ich habe die rechte Antwort. Aber ich bin nicht sicher. Nachts liege ich oft wach und habe Angst, daß es falsche Antworten sind. Das wäre schrecklich. Sie sind ein so kluger, gerechter und erfahrener Mann ...«

»Na!«

»Doch, doch. Man hat es mir gesagt.«

»Wer hat das gesagt?«

»London. Mister Morley. Gestern erst.«

»Da hat er aber reichlich übertrieben.«

»Nein, nein, überhaupt nicht. Ich habe viel erlebt und viel gesehen in meinem Leben, Mister Douglas. Ich verstehe mich auf Gesichter. Vor allem auf Augen. Sie sind ein weiser, guter Mensch. Darum muß ich Sie etwas fragen. Sehen Sie, heute bin ich arm und einsam. Sehr einsam. Ich habe mein Leben lang

nach besten Kräften versucht, das Gute zu tun. Wie Sie, Mister Douglas.« Cristobal sah Hyde fast flehend an. »Ich meine, wenn jemand Gutes tut, wenn jemand versucht, das Böse, das Schreckliche, das dieser Olivera da in Gang gesetzt hat, zu verhindern, dann sind das doch Sie und Mister Morley und ich und all die andern, nicht wahr?«

»Nun, gewiß«, sagte Hyde.

»In einer Zeit, in der die Gefahr eines Krieges so groß und das Wort Pazifist ein Schmähwort geworden ist, in einer solchen Zeit müssen doch Sie und ich und wir alle einfach versuchen, Oliveras Pläne zu vereiteln – mit allen Mitteln. Das ist doch richtig, Mister Douglas, wie?«

»Selbstverständlich«, sagte Hyde mit unbewegtem Gesicht und dachte: Möchte wissen, was Morley diesem armen Kerl über unsere Tätigkeit erzählt hat.

»Ich weiß wohl um das Böse, Mister Douglas. ›Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf‹, sagt der Herr. Erstes Buch Moses.«

Donnerwetter, dachte Hyde.

»Seit Jahren«, fuhr der alte Mann fort, »beschäftige ich mich mehr und mehr mit der Frage: Wozu ist der Mensch da? Ich glaube, ich habe eine Antwort darauf gefunden. Wollen Sie sie hören?«

»Ja«, sagte Hyde.

»Der Mensch ist da zu einer höheren Verantwortung«, sagte Cristobal.

Donnerwetter, dachte Hyde. »Was sagen Sie?« »Daß Sie damit vollkommen recht haben, Senor Cristobal«,

antwortete Hyde. Es braucht alle Arten von Leuten, um eine Welt zu machen, dachte er.

Ein Strahlen erhellte das bleiche Gesicht des alten Mannes. »Ich habe recht. Wie schön! Nun aber weiter. Warum der Mensch Böses tut, interessiert mich nicht. Das weiß ich.«

»Erstes Buch Moses«, sagte Hyde.

»Richtig.« Cristobal nickte. »Indessen: Warum tun Menschen wie wir Gutes?«

Ich weiß nicht, wie lange ich das aushalte, dachte Hyde. Wahrscheinlich hat jeder von uns seinen Hieb. Aber trotzdem! »Zugegeben, Sie und ich und die andern haben auch einen finanziellen Vorteil davon. Ich kann sagen, daß ich und jene, die mit mir hier Gutes tun, einen jämmerlich geringen Vorteil davon haben.

Aber ich und meine Freunde und Sie, wir würden das Gute auch tun, ohne irgendeinen Vorteil davon zu haben, nicht wahr? Und auch wenn niemand davon weiß oder davon wissen darf und die Menschen niemals davon erfahren werden. Nun, und da denke ich, das hat eben auch mit der höheren Verantwortung zu tun. Was meinen Sie? Sie ahnen nicht, wie wichtig mir Ihre Meinung ist, Mister Douglas.«

Armer, einsamer Hund, dachte Hyde. Vollkommen einsam. Das erträgt offensichtlich kein Mensch, vollkommen einsam zu sein. Mit Ausnahme der Heiligen. Und für die ist es schwierig. Wo wäre ich ohne meine Mama? Man muß freundlich sein zu dem alten Mann. Ich werde ihm eine Freude machen. Hyde

sagte: »Sie haben absolut recht, Senor Cristobal. Und diese höhere Verantwortung ist so etwas wie der Hauptschlüssel zu Ihrer menschlichen Identität.« Er erschrak. Großer Gott, dachte er, was für ein Quatsch ist mir da rausgerutscht! Hoffentlich verstöre ich den Alten nicht damit.

»Oh«, sagte Cristobal. Na? dachte Hyde. Na? »Wunderbar.« Cristobals bleiches Gesicht leuchtete jetzt von innen. Er ergriff eine Hand Hydes und drückte sie fest. »Wie wunderbar Sie das gesagt haben! Mit wie wenigen Worten. Der Hauptschlüssel zu meiner menschlichen Identität. Da quäle ich mich jahrelang herum, und dann kommen Sie und sprechen mit mir, und alles wird sogleich klar, völlig klar. Ich bin ja so glücklich. So unendlich glücklich, Mister Douglas. Diesen Tag werde ich niemals vergessen. Danke! Danke, danke, danke!«

»Schon gut«, sagte Hyde. Allerhand, dachte er. Wirklich allerhand. Erstaunlich. Ein Trottel ist Cristobal bestimmt nicht. Aber dieser Blödsinn macht ihn glücklich? Das Komischste, was es gibt, sind Menschen.

»Ja«, sagte Cristobal und nickte lächelnd. »Ja, so ist es. Und darum bleiben solche wie wir anonym, keiner kennt uns, keiner darf uns kennen.«

»Keiner, nein«, sagte Hyde und dachte: Gib dem armen Kerl noch ein Stück Zucker! Er sagte: »Die im Dunkeln sieht man nicht.«

»Bitte?«

»Die im Dunkeln sieht man nicht«, wiederholte Hyde. »Das ist aus der Schlußstrophe des ›Dreigroschenoper‹-Films. Sie kennen doch die ›Dreigroschenoper‹ von Bertolt Brecht?«

»Wer kennt die nicht?«

»Nun, nach dem Theaterstück wurde ein Film gedreht. Die letzte Einstellung zeigt eine alte Frau, die langsam über eine Straße geht, von der sonnigen Seite hinüber in den Schatten. Da verschwindet sie. Und dazu hört man die Worte des Moritatensängers ...« Hyde ließ seine Stimme ein wenig melodisch werden: »›Und die einen sind im Dunkeln. Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.«

»Großartig«, sagte Cristobal ergriffen. »Ganz und gar großartig! Ja, so ist es mit unsereinem. Wieviel Munition wünschen Sie für die beiden Pistolen, Mister Douglas?«

Zu dieser Zeit – in Mitteleuropa war es 16 Uhr 15 – sagte in Bonn der Regierungssprecher vor der Bundespressekonferenz: »Es sind in letzter Zeit unter mysteriösen Umständen zwei Männer ermordet worden: in Koblenz der Bibliothekar Herbert Kramer vom Dokumentationszentrum der Bundesrepublik Deutschland und der Völkerrechtler Professor Doktor Emil Kant in Berlin. Nach den Erkenntnissen des Bundeskriminalamts und des Verfassungsschutzes handelt es sich dabei um Opfer einer terroristischen Vereinigung. Weitere Informationen können zur Zeit nicht gegeben werden. Menschenleben wären sonst gefährdet. Ich bitte um Verständnis dafür, daß die zuständigen Behörden, die fieberhaft an der vollständigen Klärung dieser Affäre arbeiten, eine Nachrichtensperre verhängt haben. Das ist alles.«

Daraufhin brach unter den versammelten Journalisten Tumult aus. Der Sprecher stand auf, hob die Schultern und verließ den Saal.

In der großen Kathedrale von Tucuman hatte die alte Frau, die ganz in Schwarz gekleidet vor einem der Seitenaltäre betete, begonnen, dabei rhythmisch ihren abgezehrten Körper zu bewegen. Sie war in eine Art von Trance verfallen. Sehr groß schien das Unglück zu sein, in dem sie Gott um Beistand bat.

Auf einer Bank, die im Halbdunkel lag, saßen Wayne Hyde und Miguel Morales. Der junge Mann mit der olivfarbenen Haut hielt wieder den Sony-Recorder ans Ohr und lauschte der Stimme seines ehemaligen Herrn Carlo Maria Alvarez: »... ich wiederhole, Miguel, das ist ein absoluter Notfall. Olivera, dieser Schuft, für den ich so viel getan habe, ist ein gemeiner Verräter. Wie ich soeben erfahre, hat er jahrelang Material gegen mich gesammelt und sich nun dem öffentlichen Ankläger im Prozeß gegen mich als Zeuge zur Verfügung gestellt ...«

»Nein!« Miguel war sehr erschrocken. Er stoppte das Gerät und ließ es sinken.

»Leise, Vorsicht!« sagte Hyde.

»Olivers will gegen den General aussagen ...« stammelte Miguel.

»Und wie!«

»Aber was soll ich ...«

»Hören Sie weiter!« sagte Hyde.

Miguel schaltete das Gerät wieder ein und lauschte der Stimme des Generals. »... Olivers hat sich verkauft. Um sehr viel Geld. Sie haben das perfekt vorbereitet. Das ganze – natürlich gefälschte – Material gegen mich ist auf einen Videofilm aufgenommen worden. Wir können die Fälschung nicht beweisen. Meine Anwälte sagen, wenn der Film dem Gericht vorgeführt wird, habe ich unter allen Umständen mit der Höchststrafe zu rechnen ...«

»Jesus Maria!« flüsterte Miguel.

»... Deshalb darf Olivera nicht als Zeuge auftreten, verstehst du, Miguel? Deshalb muß dieser Videofilm verschwinden. Du kennst die Kombination des Tresors in Oliveras Bibliothek. Der Film liegt aller Wahrscheinlichkeit nach darin. Wenn nicht, dann mußt du Olivers dazu bringen, das Versteck zu verraten, nötigenfalls unter Androhung seines Todes. Unser nordamerikanischer Freund wird dir behilflich sein. Du hast einmal – gewiß erinnerst du dich – gesagt, daß du alles für mich tun würdest, Miguel. Wenn es sein muß, auch töten. Du mußt Olivera töten, sonst bin ich verloren, und wir sehen einander niemals wieder. Niemals wirst du dann wieder bei mir sein können ...«

Miguels Hand, die den Recorder hielt, bebte. Tränen traten in seine schönen Augen. Er liebte den General noch immer. Mehr denn je. Mehr als seine Eltern. Miguel lauschte der Stimme jetzt in größter Erregung.

»... Du mußt nun alles tun, was Senor Douglas dir sagt. Er ist jetzt dein Führungsoffizier ... Das Grundstück Oliveras wurde vor einiger Zeit schwer gesichert. Auf der Mauer laufen elektrisch geladene Drähte entlang, und es gibt Selbstschußanlagen.

Du hast noch das kleine Gerät, mit dem man auch vom Auto aus das Haupttor zum Park öffnen und schließen kann. So kommst du ins Haus ...«

Die kleine, schwarz gekleidete Frau vor dem Seitenaltar betete noch immer.

»... Senor Douglas wird dir genau sagen, was du zu tun hast – auch nachdem alles erledigt ist. Du mußt ihm bedingungslos vertrauen – wie mir, und so, wie ich dir vertraue, Miguel. Denke daran: Es geht nun um mein Leben. Olivera, dieses Schwein, hat das seine verwirkt. Denke an dein Versprechen! Ich bin jetzt ganz auf deine Treue und Ergebenheit angewiesen. Ich habe keinen Zweifel, daß ich da ruhig sein kann. Du wirst mich nicht im Stich lassen, Miguel. Denke immer daran: Wenn du jetzt alle Anordnungen befolgst, dann werden wir sehr bald wieder zusammen sein. Andernfalls nie mehr. Ich umarme dich ganz innig, mein Miguel. Viel Glück und danke! Immer bin ich dein General Alvarez.«

Dies war das Ende der Botschaft, das Band lief nun stumm weiter. Miguel schaltete den Recorder ab. Er sah Hyde zitternd an.

»Dieser Lump«, flüsterte er. »Dieser verfluchte Hund! Sagen Sie mir, was ich tun soll, Senor Douglas! Bitte, sagen Sie es mir!«

»Können Sie ein, zwei Tage hier weg? Ich meine vom Restaurant. Mit einer Ausrede. Mutter erkrankt. Oder so etwas.«

»Das brauche ich gar nicht, eine Ausrede. Der Patron, Senor Lerron, gehört zu uns. Darum haben sie mich ja auch hierher geschickt. Ich kann ihm ruhig sagen, daß ich etwas zu erledigen habe und daß er darüber vor jedermann schweigen muß. Auf ihn ist Verlaß.«

»Gut. Dann gehen Sie jetzt und sprechen Sie mit ihm! Packen Sie nur einen kleinen Koffer. Wir fliegen heute abend nach Buenos Aires und ... erledigen alles. Kennen Sie wirklich die Kombination des Tresors?«

»Ja, Senor Douglas.«

»Und haben Sie noch die Fernsteuerung für das Haupttor?« »Natürlich. Ich bin doch erst seit ein paar Wochen weg.« »Gut. Können Sie mit einer Pistole umgehen?« »Mit was für einer?«

»Neun Millimeter Automatic.«

»Ich habe damit einmal bei einem Profi-Schießen den zweiten Preis bekommen.«

»Dann gehen wir jetzt! Sie erledigen alles mit Ihrem Patron. Ich warte in einer Stunde mit einem Wagen vor der Kathedrale. Seien Sie pünktlich! Wir müssen nach Salta. Zum Flughafen. Wir nehmen die Nachtmaschine nach Buenos Aires. Geben Sie mir den Recorder zurück!« Hyde steckte ihn ein. Auf den Treppen vor der Kathedrale trennten sie sich.

»In einer Stunde«, sagte Hyde.

»Ja, Senor«, sagte Miguel. »Das Schwein«, sagte er erschüttert. »Dieses verfluchte Schwein Olivera!«

»Ja.« Hyde nickte. »Dieses verfluchte Schwein Olivera!« Erging langsam über die große Plaza Independencia und setzte sich auf eine Bank unter einem Orangenbaum. Die Früchte leuchteten in der Sonne. Hyde betrachtete lange die hohe Bergkette der Sierra de Aconquija, die nun in blauem Dunst vor ihm lag. Dann nahm er den schmalen Band der Shakespeare-Sonette aus einer Tasche seiner Jacke, blätterte eine Weile und las dann, während aller Verkehrslärm für ihn versank und unendliche Ruhe ihn überkam, diese Worte: »Du, holder Knabe, hast der Zeit entwunden / Sanduhr und Sense und den Lauf der Stunden; / Dich stärkt Verfall, und die dich lieben, sehn / Dein Blühn und Wachsen, während sie vergehn ...«

Ja, dachte Hyde, dich stärkt Verfall, mein holder Knabe Miguel.

»Klappe!«

»Statement Mercedes Olivera, Take eins, zum erstenmal.« Mercedes stand im Studio Il des Fernsehsenders Frankfurt vor einer schweren elektronischen Kamera. Scheinwerfer tauchten ihr Gesicht und ihre Gestalt in gleißendes Licht. Sie trug ein schwarzes Kostüm. Hellblau war die Leinwand hinter ihr. Ein »Galgen« mit angehängten Mikrofonen hing über Mercedes’

Kopf, im Bild der Kamera unsichtbar. Seitlich saßen Daniel und Conrad Colledo. Der Chef der Abteilung Politik und Zeitgeschehen wollte die Aussagen von Mercedes und Daniel noch aufnehmen, bevor er an diesem Abend um 22 Uhr nach Buenos Aires abflog.

»Bitte«, sagte Colledo.

»Seit vierzig Jahren herrschen sie über uns«, sagte die junge Frau laut und leidenschaftlich in die Kamera. »In ihren Händen liegt die Entscheidung über die Zukunft der Menschheit. Wir, die wir Statisten in diesem Spiel um die Kraft und die Herrlichkeit sind, nennen sie die Supermächte. Mächtig sind sie – aber super?« Die junge Frau holte Atem. »Mein Name ist Mercedes Olivera. Ich bin die Stieftochter von Eduardo Olivera. Man hat mir wie allen anderen Zeugen gestattet, persönliche Ansichten zu äußern. Also: Mächtig sind sie, sagte ich – aber super?«

Das Mikrofon an dem »Galgen« senkte sich ein wenig, der Assistent des Tonmanns korrigierte die Entfernung zu Mercedes’ Mund. Jetzt ist ihre Stunde gekommen, dachte Daniel. Ihre Stunde ...

»Washington, im Frühjahr neunzehnhundertvierundachtzig«, fuhr Mercedes fort, und ihre Stimme vibrierte. »Die Weltmacht, die so gern die Nummer eins auf dem Globus sein möchte, wird angeführt von Männern, die davon überzeugt sind, daß die biblische Apokalypse bevorsteht. Da werden böse Witze gemacht über die Ausradierung der Sowjetunion, da faselt man über eine Annullierung des Siegermächteabkommens von Jalta, da wird die Umwelt nur noch durch die Sehschlitze von Panzern wahrgenommen ...«

Fasziniert wie stets, wenn sie so sprach, starrte Daniel Mercedes an. Ihre Stimme wurde immer leidenschaftlicher, in ihrem Gesicht arbeitete alles.

»... Und wenn der Präsident wissen will, wie es mit seinen Atomstreitkräften bestellt ist, schickt ihm das Pentagon zum leichteren Verständnis komplizierter Verteidigungsfragen bunte Zeichnungen, auf denen Atompilze in unterschiedlichen Größen über die Feuerkraft informieren ...«

Ganz groß nahm nun die Kamera Mercedes’ Gesicht auf. »Neuntausend Kilometer weiter östlich, in Moskau, bietet die Elite des Landes – setzt man voraus, daß sie im Kreml vertreten ist – ein ähnlich trauriges Bild. Mit tonloser Stimme, um Atem ringend und jedes Wort mühsam und mit starrem Gesicht vom Blatt ablesend, absolviert der Staats- und Parteichef ein paar protokollarische Pflichtübungen, um gleich danach von seinen Ärzten wieder aus dem politischen Verkehr gezogen zu werden – ein weiterer Kremlchef, den die Bevölkerung als leidenden, kaum noch handlungsfähigen Menschen erlebt ...«

»Großartig, wie?« flüsterte Daniel Colledo zu. Der nickte. Sein Gesicht war starr.

Die Kamera filmte das Gesicht von Mercedes weiterhin ganz groß.

»Unsere Supermächte sind krank. Die Diagnose eines Psychiaters würde lauten: Schwere Schübe von Verfolgungswahn, zeitweiser völliger Verlust von Realitätssinn. Sie spielen sich auf als Weltordnungsmächte und sind doch in Wahrheit Weltunordnungsmächte, die nicht im globalen, sondern allein im nationalen Interesse handeln. Und dabei erhebt sich noch die große Frage, ob sich das Vernunftdenken durchsetzt oder die Asozialität, die dem Menschen zu eigen ist – also reines Konkurrenzdenken ...«

Buenos Aires.

Gegen ein Uhr morgens in dieser Nacht glitt ein silbergrauer Porsche durch das Stadtviertel Palermo in nördliche Richtung die Avenida Cabildo entlang, vorbei an weißen Villen in großen Gärten, am Polo-Club, an dem riesigen Parque de Febrero mit seinen Seen, dem Velodrom und dem Planetarium. Der Wagen hatte ein Funkgerät. Es war eingeschaltet. Am Steuer saß Miguel Morales, neben ihm Wayne Hyde.

Der Porsche erreichte die lange Straße Cespedes und bog links ein. Hohe, alte Palmen säumten nun seinen Weg. Er hielt in einiger Entfernung vor dem hohen, schmiedeeisernen Tor mit Blattgoldeinlagen an der hohen Steinmauer, die um das große Grundstück Oliveras lief. Auf der anderen Seite parkte ein grünes Oldsmobile nahe dem Eingang.

»Guten Abend, Senor Douglas. Guten Abend, Miguel. Wir sind vor Ihnen und warten. Viel Glück«, kam plötzlich laut und klar eine junge Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Unsere Freunde sind da«, sagte Hyde zufrieden. Er öffnete das Handschuhfach und entnahm ihm zwei Neun-Millimeter-Pistolen, zwei Schalldämpfer und acht Magazine. Vier behielt er, vier gab er Miguel, dessen Gesicht seltsam weiß aussah. »Schrauben Sie den Schalldämpfer an!« sagte Hyde. »Ein Magazin schieben Sie rein, die anderen stecken Sie in die Tasche. Haben Sie das Fernbedienungsgerät bereit?«

»Ja, Senor.«

»Dann kommen Sie.«

Die beiden verließen den Porsche und gingen schnell und leise auf das große Tor zu. Sie trugen Schuhe mit weichen Sohlen, die ihre Schritte unhörbar machten.

»Jetzt!« sagte Hyde.

Miguel holte das Gerät von der Größe einer Zigarettenpackung aus der Hosentasche und drückte auf einen Knopf. Die Torhälften des Eingangs schwangen zur Seite.

»Prima«, sagte Hyde.

»Das Schwein hat oben auf der Mauer wirklich Stacheldraht legen lassen, und der ist gewiß elektrisch geladen«, sagte Miguel. »Worauf Sie sich verlassen können. Das hat Ihnen ja schon der General mitgeteilt.«

Sie liefen gebückt in die Einfahrt. Miguel schloß beide Türhälften wieder. Nun eilten sie ein weites Stück Weg durch den phantastischen Park mit seinen Palmen und Bäumen jeglicher Art, mit seinen riesigen Blumenbeeten. Von den Bäumen, deren mächtige Stämme Efeu, Jasmin und Bougainvilleen umschlangen, hingen Büschel von Orchideen herab. Ein heller Halbmond leuchtete am wolkenlosen Himmel, und alles war unwirklich, eine unwirkliche Welt. Sie hasteten am Swimmingpool vorbei. Weiße Korbmöbel standen nahe seinem Rand. Da war das große, weiße, zweistöckige Haus mit dem Flachdach und den französischen Fenstern. Der sehr große Balkon im ersten Stock, zu dem mehrere Fenster hinausgingen, ruhte auf schweren Marmorsäulen.

»Wo schläft Olivera?« flüsterte Hyde, »Hinten hinaus.« Sie hatten ein französisches Fenster erreicht, dessen

Holzläden wie alle zu ebener Erde geschlossen waren. Hyde trug eine mit Werkzeug gefüllte Ledertasche. In

weniger als einer Minute hatte er die Läden des Fensters geöffnet. Nun nahm er eine große Rolle Verbandstoff-Klebeband und zog mit diesem kreuz und quer Bahnen über die Scheibe eines Türfensterflügels. Er klebte sie praktisch zu. Danach holte er einen kleinen Hammer aus der Tasche und schlug die Scheibe an zwei Stellen ein: in der Mitte nahe der Stelle, hinter der er den Türgriff vermutete. Das Glas, das in viele Teile brach, konnte nicht zu Boden fallen und Lärm verursachen – es hing an den rosafarbenen Klebebändern. Hyde löste ein dreieckiges Stück Glas vom Band, griff ins Innere, fand die Klinke, löste die Verriegelung, und die Tür ging auf. Eine Minute später waren die beiden in der großen Bibliothek mit ihren vielen Büchern. Miguel hatte eine starke Taschenlampe eingeschaltet. Er huschte voran.

»Achtung, Sessel!« flüsterte er. Sie erreichten den Kamin mit der antiken Standuhr. Miguel drückte auf eine verborgene Feder. Der Teil eines Regals schwang auf und ließ den großen, in die Mauer versenkten Tresor mit dem Nummernschloß zum Vorschein kommen. Miguel gab Hyde die Taschenlampe. Der leuchtete den Tresor an. Miguel hatte ihm auf dem Flug von Salta nach Buenos Aires erzählt, daß eine seiner ersten Aufgaben bei Olivera gewesen sei, die Zahlenkombination zu erkunden. »Es war sehr leicht. Olivera paßte kaum auf. Nach drei Tagen kannte ich die Kombination. Aber es hat sich dann nie die Notwendigkeit ergeben, etwas aus dem Tresor zu holen.« Nun stellte er schnell und geschickt eine fünfstellige Zahlenreihe ein. Die Stahltür schwang auf. Hyde leuchtete in das Innere des Safes. Er sah Akten und Papiere, Umschläge, Ordner und eine Videokassette.

»Da!« sagte er.

Miguel gab ihm die Kassette und den elektronischen Türöffner. »Danke, mein Junge.« Hyde steckte sie in die Jackentaschen. »Jetzt müssen Sie eine Weile hier warten.« Miguel nickte. »Ich beeile mich, so sehr ich kann. Wenn wir Glück haben, schläft alles im Haus weiter. Wenn Sie entdeckt werden – Sie haben eine Waffe. Aber benützen Sie sie nur, falls Sie keine andere Möglichkeit mehr sehen.«

»Ja, Senor.«

»Vor allem, legen Sie Olivera nicht um, bevor ich zurück bin – wenn es irgendwie geht. Wir müssen sicher sein, daß das der Film ist, der den General belastet. Wenn er es nicht ist, werden wir uns mit Olivera unterhalten.«

»Das lassen Sie mich dann tun«, flüsterte Miguel. »Dieser verfluchte Verräter!«

»Sie lieben den General sehr, was?«

Miguel nickte stumm. Wie ich meine Mutter, dachte Hyde.

»Fester ... fester ... Schneller ... noch schneller ... Härter ... ja ... ja ... ja ...« Das schöne junge Mädchen wand sich nackt unter dem nackten Mann. Ihre Finger krallten sich in seinen Rücken, ihre Beine waren um seine Oberschenkel geschlossen. Er keuchte. Ein zweites Mädchen, nackt, nur mit schwarzen Strümpfen und hochhackigen Schuhen bekleidet, welches der Szene zusah, masturbierte mit rasend schnellen Bewegungen und verzerrtem Gesicht. »Ich komme!« schrie das erste Mädchen auf dem Fernsehschirm.

Eine Glocke schrillte: lang, lang, lang, kurz, lang. Der hagere Mann im blauen Arbeitskittel, der den Pornofilm

mit vier Videoapparaturen auf drei neue Kassetten gleichzeitig überspielte, sah zu einer Wanduhr. Es war knapp vor zwei Uhr früh.

Der Mann blickte auf die Skalenzeiger eines Kontrollgeräts, nickte zufrieden und erhob sich. Er arbeitete in der Werkstatt hinter einem großen Fernseh- und Video-Geschäft an der Avenida Rivadavia im Stadtteil Flores. Nun ging er durch das Geschäft zum Eingang und schloß die Tür auf. Hyde trat ein. Im nächsten Moment lagen die beiden Männer einander in den Armen und schlugen sich auf die Rücken.

»Wayne, mein Alter!«

»Mendez, mein Guter!« Sie waren gleich alt und gleich hager. 1977 hatten sie gemeinsam auf seiten der Guerillas gegen argentinische Juntatruppen gekämpft. Bei dieser Gelegenheit verdiente Mendez Caballito so viel, daß er den Laden in der Avenida Rivadavia erwerben konnte. Durch den Verkauf der Pornos, die er von amerikanischen und französischen Hardcore-Produktionen in großen Mengen überspielte, war das Geschäft richtig in Schwung gekommen. Der Handel mit derartigen Filmen war in Argentinien untersagt, und entsprechend viel konnte Mendez Caballito für sie verlangen. Hyde hatte ihn von Tucuman aus angerufen und seinen Besuch annonciert.

Caballito versperrte die Ladentür wieder und ging in die Werkstatt. Der Pornofilm lief noch. Die beiden Mädchen bemühten sich gerade um den Mann. Eine ritt ihn, die andere saß über seinem Mund. Beide stöhnten laut und wiegten die üppigen Körper. Der Mann grunzte. Er hielt den Hintern des Mädchens umklammert. »Aus Paris. Wirklich erstklassig«, sagte Caballito. »Willst du ein bißchen zuschauen, mein Lieber?«

»So was kotzt mich an«, sagte Hyde. »Entschuldige!« »Hast du alles vorbereitet für mich?«

»Natürlich.« Caballito sah wieder auf die Skalen des Kontrollgeräts, dann ging er mit Hyde in einen zweiten Raum. Hier stand ein Fernsehapparat mit angeschlossenem Videorecorder. »Du hast gesagt, du willst die Kopie gleich abspielen.«

»Die Zeit eilt, ja.«

»Kann ich dir etwas zu trinken bringen?«

»Ich trink’ doch nie.«

»Kennst du dich aus?«

»Klar. Ist ja ganz einfach.« Hyde nahm die Kassette, die in Oliveras Tresor gelegen hatte, aus der Tasche. »Sei nicht beleidigt, Mendez, mein Alter, aber Porno scheißt mich wirklich an.«

»Verstehe ich doch. Wie geht es deiner Mutter?« »Danke, lieb, daß du nach ihr fragst. Hat sich ein Bein

gebrochen.«

»O Gott, in ihrem Alter!«

»Wird schon wieder. Wir haben den besten Arzt. Geh ruhig zu deiner Arbeit zurück. Ich komme hier schon zurecht.«

Sein Freund ging.

Hyde schaltete den Fernseher auf Videowiedergabe, knipste den Recorder an, schob die Kassette ein und drückte auf die Play-Taste. Er setzte sich. Von nebenan erklang die Stimme eines Mädchens: »O Gott, ich sterbe. Das halte ich nicht aus ... Ich komme schon wieder ... schon wieder ...«

Über den Fernsehschirm von Hyde lief Schwarzfilm, dann erschienen die Zahlen 3, 2 und 1 und danach ein stilisierter Adler mit einem stilisierten Friedenszweig in der rechten und einem ebenso stilisierten Liktorenbündel in der linken Kralle, vor der Brust, viereckig und stilisiert, die amerikanische Flagge, über dem Kopf des Adlers ein auf beiden Seiten hochflatterndes Band mit den Worten E PLURISUS UNUM.

Um den Adler lief ein geschlossener Kreis. Hyde las: SEAL OF THE PRESIDENT OF THE UNITED STATES. Das Signet blieb eine Weile stehen. Dann las Hyde in Großbuchstaben die Worte Top SECRET und danach einen englischen Text: VON DIESEM FILM EXISTIERT NUR EINE EINZIGE WEITERE ANFERTIGUNG MIT RUSSISCHEM TEXT UND KOMMENTAR IN RUSSISCHER SPRACHE ... »Tief!« rief eine Mädchenstimme von nebenan. »Jetzt steck ihn mir ganz tief rein, bitte, bitte, bitte!«

Miguel Morales saß in der großen Bibliothek und wartete. Er wußte, daß er noch eine lange Weile warten mußte, denn Hyde hatte ihn erst vor einigen Minuten verlassen. Durch das offene französische Fenster fiel ein breiter Streifen Mondlicht auf den Teppich. Miguel dachte: Ich bin sehr glücklich darüber, daß der General mich ausgesucht hat, um ihm in seiner verzweifelten Lage zu helfen, und daß ich ihm wirklich helfen kann. Was für ein wunderbarer Mann, mein General. Werde ich wirklich bald bei ihm sein? Miguel lächelte. Er stellte sich das Wiedersehen vor. Plötzlich flammte die Deckenbeleuchtung der Bibliothek auf.

Miguel fuhr entsetzt hoch. Eduardo Olivera war eingetreten. Er trug nur einen blauen Pyjama und Pantoffeln. In der Hand hielt er eine Pistole der Marke Walther PP, Kaliber 7,65. Sein kurzgeschnittenes, sehr dichtes und schlohweißes Haar leuchtete im Licht. Das schmale Gesicht war braungebrannt, die hochmütig wirkenden Augen schienen gar nicht hochmütig, sondern maßlos verblüfft.

»Miguel ...«, sagte Olivera sehr leise.

Miguel hatte seine Pistole auf den Tisch gelegt. Er riß sie an sich. Im nächsten Moment schossen sie, gleichzeitig. Miguels Kugel verfehlte ihr Ziel und schlug neben Oliveras Kopf in ein Wandpaneel. Der junge Mann wurde zurückgeschleudert und flog mit dem Rücken gegen eine Bücherwand. Olivera schoß das ganze Magazin leer. Die meisten Kugeln trafen Miguel in den Bauch. Die Augen traten hervor. Er öffnete den Mund. Blut schoß aus ihm. Miguel brach zusammen. Eine große Blutlache bildete sich um ihn. Olivera stand lange Zeit reglos. Dann ging er mit schleppenden Schritten zum Telefon und wählte eine zweistellige Nummer. Gleich darauf sprach er mit klangloser Stimme: »Polizei? ... Hier ist Eduardo Olivera, Cespedes tausendsechs. Kommen Sie sofort! Ich habe einen Einbrecher erschossen.«

Eine halbe Stunde später verabschiedete sich Hyde von seinem alten Freund Mendez Caballito. Er stieg in den silbergrauen Porsche und fuhr los. Sogleich hörte er eine junge Männerstimme aus dem Sprechfunkgerät: »Rufen Douglas ... rufen Douglas ... Douglas, bitte melden ... Rufen Douglas ...«

Hyde nahm das Mikrofon und sagte: »Hier ist Douglas.« »Endlich! Wir suchen Sie seit einer halben Stunde.« »Wer sind Sie?«

Unter krachenden Störgeräuschen kam die Antwort: »Freunde. Ein Kollege und ich saßen in dem grünen Oldsmobile, das vor Cespedes tausendsechs parkte, als Sie kamen. Wir sitzen immer noch drin, aber wir sind schnellstens abgehauen. Fahren Sie auf keinen Fall in die Cespedes zurück, Douglas! Auf keinen Fall! Da ist jetzt alles voll Polizei.«

»Polizei?«

»Ja. Ist etwas schiefgegangen.«

»Was?«

»Olivera hat Miguel erschossen.«

»Verflucht! Woher wißt ihr das?«

»Wir können den Polizeifunk abhören, Douglas, wir können den Polizeifunk abhören. Rufen Sie sofort Cristobal an! Er hat schon mit London gesprochen.«

Der kleine Herr Abad sah noch sorgenvoller aus, als Sibylle ihn in Erinnerung hatte. Und noch größer erschienen ihr die Nase und die Ohren. Mit einer Hand, die an jene eines Pianisten erinnerte, betastete der kleine, so zerbrechlich wirkende Herr die Perle in seinem Krawattenknoten. Er saß Sibylle am Tisch in einem der beiden Restaurants des Donauturms gegenüber. Vor dem großen Fenster glitten gerade die Lichter der Inneren Stadt vorbei. Sie hatten gegessen – Sibylle nur Horsd’oeuvres. Nun standen Kaffeetassen und Cognacgläser vor ihnen.

»Ich danke Ihnen, daß Sie meine Einladung angenommen haben, Frau Primaria«, sagte Abad. Er nippte an seinem Cognac. Das Restaurant war stark besucht.

»Sie haben gesagt, es handelt sich um meinen Bruder.« Sibylle fuhr sich mit einer Hand über das kurzgeschnittene kastanienbraune Haar. Ihre Augen von gleicher Farbe schlossen sich halb, während sie sprach. »Was ist mit meinem Bruder, Herr Abad?«

»Es geht ihm gut. Sie bekommen doch regelmäßig Post von ihm, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nun, und schreibt er nicht, daß es ihm gutgeht, daß er alle nur möglichen Vergünstigungen genießt?«

»Um mich das zu fragen, haben Sie sich doch nicht mit mir verabredet.«

»Nein, nein, natürlich nicht, Frau Primaria.« »Also weshalb?«

Die Lichter der Stadt blieben zurück, wurden spärlicher. Das Fenster drehte sich langsam in Richtung Kahlenberg.

»Nun, hrm, nun ...« Abad befingerte mit Ausdauer die Perle und wiegte kummervoll den Kopf. »Sie haben einen alten Freund, Daniel Ross. Einen sehr alten und sehr guten Freund, nicht wahr?«

»Ja, Herr Abad.«

»Vor kurzem haben Sie ihn im Sanatorium behandelt. Er war recht heruntergekommen durch den Mißbrauch eines Beruhigungsmittels. Sie brachten ihn wieder auf die Beine. Sie sind eine großartige Ärztin.«

»Bitte, Herr Abad.«

»Sie sind es wirklich. Ross ist wie neugeboren. Frisch und lebendig, aktiv und erfolgreich wie noch nie.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ein Bekannter hat es mir erzählt. Hören Sie denn nichts von Ihrem alten Freund?«

»Er ruft mich von Zeit zu Zeit an.«

»Nun, dann wissen Sie doch selbst, wie gut es ihm geht. Auf Ihr Wohl, Frau Primaria!« Er hob sein Glas, womit er sie nötigte, das gleiche zu tun. Sie tranken beide. An den Hängen des Kahlenbergs waren nur wenige einsame Lichter zu sehen und die Lichterschnur entlang der Höhenstraße. Bleicher Mondschein fiel auf Wald und Weinberge, Steinwände und Wiesen. »Leider bereiten uns Ihr guter alter Freund Daniel Ross und seine Freundin Mercedes große Unannehmlichkeiten. Immer größere. Ich meine, die Unannehmlichkeiten, die sie uns bereiten, werden immer größer. Jetzt sind sie unerträglich groß geworden. Sie wissen nicht, wovon ich spreche?«

»Ich habe keine Ahnung, Herr Abad.«

»Sehen Sie, liebe Frau Primaria, Ihr alter Freund und seine junge Freundin glauben, der Menschheit einen Dienst zu erweisen mit dem, was sie vorhaben. Andere Leute glauben das auch. Sie alle sind in einem tragischen Irrtum befangen. Sie werden den Menschen keinen Dienst erweisen, sondern nur dafür sorgen, daß die Welt in noch größerer Unruhe, Unsicherheit und Angst lebt. Etwas Unheilvolles braut sich zusammen, Frau Primaria, etwas, das man unter allen Umständen verhindern muß.«

Der mächtige Strom erschien nun, silbern leuchtete das Wasser im Mondlicht.

»Unheilvoll für wen, Herr Abad? Für Ihre Auftraggeber? Die Herren, für die Sie arbeiten?«

»Nein, nein. Für alle Menschen, alle, ja.« Er schwieg und fügte nach einer Pause traurig hinzu: »Wirklich alle. Unordnung und Leid, das werden die Folgen der Tätigkeit von Herrn Ross und seiner Freundin sein. In der ganzen Welt. Wenn nicht noch Schlimmeres. Man muß es verhindern.«

»Das sagten Sie schon einmal, Herr Abad.« Er sah sie stumm an.

Nach einer langen Pause fragte Sibylle: »Warum sehen Sie mich so an?«

»Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung, liebe Frau Primaria«, sagte der kleine Herr. »Am Abend des achtzehnten Juni sechsundsiebzig ist das gewesen. Auch hier im Donauturm. Sie haben tiefen Eindruck auf mich gemacht, Frau Primaria. Als besonders schöne Frau. Und als Persönlichkeit. Ich werde dieses Datum niemals vergessen. Neunzehnhundertsechsundsiebzig! Mein Gott, das ist schon acht Jahre her ... acht Jahre ... Wie schnell die Zeit vergeht ... und das Leben ... Ich bin ein alter Mann ... Bald werde ich sterben ...«

»Herr Abad! Warum haben Sie mich hergerufen?« »Nicht so laut, ich bitte Sie!« Er trank wieder und winkte

dann einen Kellner herbei. »Noch zweimal dasselbe«, sagte er und deutete auf die Cognacgläser.

»Sehr wohl, der Herr. Noch zwei Remy Martins.« Der kleine Herr Abad neigte sich vor. »Sehen Sie, liebe Frau

Primaria ...« Er fuhr sich über die Stirn. »Sie können nicht ahnen, wie oft ich meinen Beruf hasse ... Sehen Sie, weil Sie in den vergangenen Jahren so großartig kooperiert haben, ist die Haftstrafe für Ihren Bruder auf fünfzehn Jahre herabgesetzt worden, nicht wahr. Und von denen hat er schon acht verbüßt. Er könnte also in sieben Jahren frei sein.«

»Was heißt könnte?« Sibylle fuhr auf.

»Wenn Sie wüßten, wie sehr ich meinen Beruf oft ...« »Ja, ja, ja. Was heißt könnte, Herr Abad?«

»Könnte heißt, wenn Ihnen gelingt, das zu erreichen, was ich heute leider von Ihnen verlangen muß.«

»Und was ist das?«

»Ich bitte Sie, nach Frankfurt zu fliegen und alles zu tun, damit Ross und seine Freunde die Arbeit an diesem Projekt einstellen.«

»Wie sollte ich das erreichen können?« Der Kellner kam mit zwei neuen Gläsern. Abad trank das seine mit einem Schluck leer. »Das ist Ihre Sache. Wenn Sie es nicht erreichen, wird die Strafe für Ihren Bruder wieder auf fünfundzwanzig Jahre zurückverwandelt. Alle Vergünstigungen, alle, Frau Primaria, werden ihm entzogen. Das können Sie Ross sagen.«

»Was?«

»Was ich Ihnen gerade gesagt habe. Sie waren einander einmal sehr zugetan. Es besteht noch immer eine große innere Verbundenheit. Appellieren Sie an sein Mitgefühl! Tun Sie alles, was in Ihren Kräften steht!«

»Aber ... aber Herr Ross weiß doch überhaupt nichts von meinem Bruder! Es ist mir doch streng verboten, mit irgend jemandem über ihn zu sprechen.«

»Das stimmt«, sagte Abad, plötzlich kalt und böse. »Trotzdem weiß Herr Ross alles über Ihren Bruder. Und diese Frau Olivera auch.«

»Das ist nicht wahr!«

»Natürlich ist es wahr! Sie haben den Pfleger Josef Aigner gebeten, den beiden alles zu erzählen – während einer Besichtigung des Stiftes Heiligenkreuz am fünften März.«

Jetzt trank Sibylle ihr Glas auf einen Schluck leer. »Sie haben den Pfleger Josef für Ihren Vertrauten gehalten,

Frau Primaria«, sagte Abad klagend. »Das war ein schwerer Fehler. Man soll keinem Menschen vertrauen. Niemals. Er ist mit Ihrem Bruder zur Schule gegangen, er war so viele Jahre lang sein bester Freund. Sie haben sich Josef anvertraut, oft ...«

Sibylle sah ihn stumm an. Ihre Lippen zitterten. »Es ist schlimm, daß Sie uns für Idioten halten, Frau

Primaria«, fuhr Abad mit seiner Klage fort. »Meinen Sie, wir sehen uns nicht jeden Menschen, der in dem Sanatorium arbeitet, ganz genau an, bevor wir ihn anstellen?«

»Sie wußten ...«

»Nun, natürlich. Josef war für uns von unschätzbarem Wert. Er hat uns immer sofort alles gemeldet, was Sie ihm als dem Mann anvertrauten, den Sie für den einzigen wahren Freund im Sanatorium hielten. Selbstverständlich berichtete er auch davon, daß er Ross und die Olivera in Ihrem Auftrag im Detail darüber informiert hat, warum Sie bei Heiligenkreuz arbeiten und was mit Ihrem Bruder los ist. Genauer gesagt: Er meldete uns Ihren Auftrag natürlich, bevor er ihn ausführte. Wir gaben ihm die ausdrückliche Ermächtigung dazu.«

»Sie gaben ihm ... aber warum?«

»Weil wir in unsere Überlegungen auch eine Situation aufnehmen mußten, wie sie jetzt eingetreten ist, Frau Primaria. Und wie klug war das doch! Sie können Ihrem alten Freund Ross ruhig erzählen, daß ich Ihnen gesagt habe, was mit Ihrem Bruder geschieht, wenn Ross und die anderen ihr Vorhaben wirklich ausführen. Falls die Beteiligten nicht dichthalten und Außenstehende von der Sache erfahren, ist das Leben Ihres Bruders verwirkt – sofort. Das müssen Sie Ross auch sagen.«

Sibylle setzte zweimal an, bevor sie sprechen konnte. »Aber ich weiß doch nicht, was Ross vorhat.«

»Nein, das wissen Sie nicht. Fragen Sie ihn! Tun Sie, was in Ihrer Macht steht! Es geht um das Schicksal Ihres Bruders, Frau Primaria. Alles liegt jetzt in Ihrer Hand ...« Abad sah aus dem Fenster. Die Bäume, Wäldchen und Sandbänke der Lobau zogen unter ihnen vorüber. Das Mondlicht schuf gewaltige Schatten und eine helldunkle Irrwelt. »Josef werden Sie übrigens nie mehr sehen«, sagte der kleine Herr gegen die Fensterscheibe. »Er hat das Sanatorium und Österreich bereits verlassen. Wir werden ihn anderswo einsetzen. Wirklich, liebste Frau Primaria, dieser elende, gemeine und menschenverachtende Beruf – er wird mich noch das Leben kosten. Mein Herz macht nicht mehr lange mit. Nein, nicht mehr lange ...«

Ein Transatlantikgespräch.

»Herr Intendant, hier spricht Conrad Colledo. Ich komme gerade aus dem Polizeipräsidium. Olivera wird noch heute entlassen. Innerhalb der Achtundvierzig-Stunden-Frist. Der Fall ist völlig klar: Notwehr.«

»Werden wohl alle Journalisten und Korrespondenten in Buenos Aires da sein, wenn Olivera rauskommt.«

»Sicherlich. Darum rufe ich an.«

»Was heißt das?«

»Ich habe einen Kassiber von Olivera erhalten. Vor zehn Minuten. Ein bestochener Wärter hat ihn rausgeschmuggelt. Olivera schreibt, er habe der Polizei und dem Richter erklärt, aus dem Tresor sei nichts entwendet worden. Er habe Morales erwischt, unmittelbar nachdem dieser die Stahlkammer geöffnet hatte. In Wahrheit aber sei die Videokassette verschwunden, die Olivera mir hätte übergeben sollen.«

»Was?«

»Sie hörten schon richtig.«

»Wenn sie verschwunden ist, dann muß ein zweiter Mann mit Morales eingebrochen und mit der Kassette sofort verschwunden sein.«

»Oder Olivera lügt.«

»Sie meinen: Er hat die Kassette noch und will uns aufs Kreuz legen?«

»Wenn es einen zweiten Mann gab: Warum blieb dann Morales zurück? Warum haute auch er nicht sofort ab, nachdem er den Tresor geöffnet und die Kassette rausgenommen hatte?«

»Haben Sie eine Erklärung?«

»Könnte sein, daß der zweite Mann erst feststellen wollte, ob es die richtige Kassette war.«

»Und darum ließ er Morales zurück?«

»Ja.«

»Verstehe ich nicht.«

»Für den Fall, daß es die falsche Kassette gewesen wäre – ich gehe davon aus, daß hier unsere Freunde von der Gegenseite am Werk sind.«

»Natürlich.«

»Wenn es die falsche Kassette gewesen wäre, hätten die beiden vielleicht versucht, Olivera zu terrorisieren und so zur Herausgabe des echten Films zu bewegen.«

»Mit all den Angestellten im Haus? Das ist doch unmöglich!« »Die einzige Erklärung, die mir einfällt.«

»Sie meinen, Morales oder der zweite Mann hätten Olivera erschossen, wenn die Kassette falsch gewesen wäre und er die echte nicht herausgerückt hätte?«

»Sie wollten ihn auf alle Fälle erschießen, Herr Intendant. Damit er sie nicht verraten konnte.«

»Fein, fein. Also sind die andern uns prompt wieder zuvorgekommen.«

»So ist es, Herr Intendant. Es sei denn, wie gesagt, Olivera lügt und hat die Kassette noch.«

»Dann macht es wieder keinen Sinn, daß – Theorie vom zweiten Mann – Morales zurückblieb, während der erste Mann die Kassette prüfte.«

»Vielleicht spielt uns Olivera Theater vor und hat den Einbruch selber vorbereiten geholfen, den angeblichen Einbruch.«

»Gehört es auch zu seinem Theaterspiel, daß er einen Menschen erschoß, Herr Colledo?«

»Herr Intendant! Was verlangen Sie von mir? Ich habe Ihnen eine mögliche Version vorgetragen. Mehr weiß ich nicht. Vielen Dank im übrigen für den taktvollen Hinweis darauf, daß die Gegenseite schon wieder informiert gewesen sein muß.«

»Mein Gott, seien Sie doch nicht albern! So ist es doch – leider. Habe ich etwa Sie verdächtigt? Na also. Schlechte Nerven, Herr Colledo?«

»Danke, es geht noch. Die Polizei hier ist ungemein kooperativ. Das BKA hat gute Freunde. Wir werden bewacht, Olivera wird Polizeischutz erhalten – auch für später. Man sagt mir, daß er ganz ruhig ist. Er glaubt fest an die ›Lebensversicherung‹ durch die Kassetten, die im Sender liegen ... Sie erinnern sich, Sie haben ihm damit die Hergabe seiner dritten Kassette schmackhaft gemacht. Nun brauche ich schnellstens Ihre Entscheidung.«

»Entscheidung?«

»Olivera schreibt in dem Kassiber, es sei nicht seine Schuld, daß die Kassette verschwunden ist und er sie mir also nicht, wie mit Ihnen besprochen, übergeben kann. Immerhin hätten wir die beiden anderen Kassetten in unserem Besitz. Olivera verlangt die zehn Millionen Dollar. Sie sollen augenblicklich bei seiner Bank hinterlegt werden. Geschieht das, wird er vor Journalisten und Fernsehleuten – vor jedermann – dabei bleiben: Nichts wurde aus dem Tresor gestohlen. Sind die zehn Millionen nicht auf seiner Bank, wenn er rauskommt, wird er reden. Eine Menge reden. Er wird die ganze gottverfluchte Geschichte bekanntgeben. Alles, was er weiß. Alles, was den Film und seinen Inhalt betrifft. Er ist absolut verzweifelt und ruiniert, falls er das Geld jetzt nicht bekommt. Er ist dann bankrott und wird den Rest seines Lebens wegen seiner Finanzaffären im Gefängnis verbringen. Herr Intendant, ich bitte, mir zu sagen, was ich tun soll. In spätestens drei Stunden wird Olivera entlassen.«

»Colledo! Was verlangen Sie von mir?«

»Daß Sie mir sagen, ob ich die zehn Millionen anweisen lassen soll oder nicht.«

»Aber ... aber ... Gottverflucht noch einmal, dieser Kerl erpreßt uns ja schon wieder!«

»Würden Sie es in seiner Situation nicht tun? Er muß grausige Schulden haben. Das ist seine letzte Chance, jetzt, wo der Film weg ist. «

»Vielleicht ist er nicht weg. Vielleicht bescheißt uns das Schwein!«

»Wohl möglich!«

»Himmelherrgottnochmal, ist das eine gemeine Erpressung!« »Herr Intendant! Soll ich die zehn Millionen Dollar anweisen

lassen oder nicht?«

»Nein! Oder warten Sie, wenn wir ihm das Geld nicht geben ...«

»Ja, eben.«

»Aber ich kann doch nicht allein ... Ich muß mit Bonn telefonieren ... Geben Sie mir eine halbe Stunde ... Wo kann ich Sie erreichen?«

»Ich wohne im Hotel NOGARO wie das letzte Mal.« »Bleiben Sie auf Ihrem Zimmer! Rühren Sie sich nicht weg!

Ich rufe zurück.«

»Aber bevor eine Stunde vergeht, Herr Intendant. Sonst ist es zu spät.«

Vier Stunden später stand Eduardo Olivera neben dem Kamin in seiner Bibliothek, vor dem geöffneten Tresor. Er trug einen leichten blauen Sommeranzug und, um den Hals geschlungen, ein breites weißes Seidentuch. Das Tuch und sein dichtes weißes

Haar leuchteten im Licht von Scheinwerfern. Zwei Kameramänner und ein Tonmann hatten – wie bei Harry Gold – ihre Geräte aufgebaut. Und an Harry Gold erinnerten auch die Sicherheitsvorkehrungen – nur waren sie hier viele Male größer. Bewaffnete Polizisten umstanden das Grundstück der Villa. Jeder Winkel war zuvor untersucht worden.

Die Männer des Teams, das mit Conrad Colledo aus Frankfurt hierher gekommen war, verharrten reglos. Kamera eins lief, der Ton lief, die Klappe war geschlagen. Die Hände in den Hosentaschen, sagte der Mann im Licht: »Mein Name ist Eduardo Olivera. Das ist der Name, den ich seit vielen Jahren trage. Früher einmal hieß ich Georg Ross. Ich schwöre bei Gott, daß ich hier die reine Wahrheit sagen werde. Ich spielte während des Zweiten Weltkriegs in Berlin eine führende Rolle im Geheimdienst des Außenministers Joachim von Ribbentrop. In dieser Stellung habe ich ein eigenes Netzwerk dieses Geheimdienstes für den gesamten Mittleren Osten aufgebaut ...«

... Und seit zwei Stunden hast du zehn Millionen Dollar auf deiner Bank, dachte Conrad Colledo, der neben dem Tonmann hinter den Scheinwerfern saß, und brauchst keine Sorgen vor Ruin und Schande mehr zu haben. Es redet sich flüssig und wieder hochmütig mit so viel Geld auf der Bank.

Sibylle sagte: »Wie schön, daß du dich gemeldet hast, als ich gestern anrief, Danny. Ich hatte schon Angst, ihr wäret irgendwo unterwegs. Tut gut, euch wiederzusehen. Machst einen gesunden Eindruck, Danny, mein Alter!«

»Es geht mir auch prima«, sagte der. »Mercedes paßt auf. Ich habe ihr die Tabletten gegeben. Ich kriege eine abends und eine morgens – wie du es vorgeschrieben hast. Ja, ich bin völlig erholt. Du siehst überarbeitet aus, meine Liebe. Sehr überarbeitet. Oder hast du am Ende etwas?«

»Was soll ich haben?«

»Was weiß ich. Sorgen? Ist etwas passiert?« »Überhaupt nichts, Danny. Wirklich nicht.« »Sie sehen tatsächlich elend aus, Sibylle«, sagte Mercedes,

»Ganz blaß, eingefallene Wangen, Ringe unter den Augen ...« »Überarbeitung. Danny sagte es gerade.« Sibylle lachte. Sie lacht zu laut, dachte Daniel.

»Wir haben zwei Forschungsaufträge von einem Heilmittelkonzern hier bekommen. Neue Medikamente. Klinische Erprobung. Deshalb mußte ich nach Frankfurt.« Sie log leicht und perfekt. Hoffentlich lüge ich leicht und perfekt, dachte sie. »Mit den Chemikern hier reden. Große Konferenz. Wenn ich geahnt hätte, was für eine Riesenarbeit das wird, hätte ich sie nicht angenommen. Für alles Geld der Welt nicht.«

Sibylle saß zwischen Daniel und Mercedes in dem großen Arbeitszimmer der Wohnung an der stillen Sandhöfer Allee. Draußen war es noch immer eiskalt. Heftiger Nordwind pfiff um das Haus. Mercedes hatte Tee und Sandwiches serviert. Sibylle bemühte sich um Ruhe, Haltung und Fröhlichkeit. Sie sah tatsächlich elend aus. Gleich am folgenden Vormittag, nachdem sie mit dem kleinen Herrn Abad zu Abend gegessen hatte, war sie nach Frankfurt geflogen – nicht ohne sich telefonisch zu vergewissern, daß Daniel und Mercedes daheim waren. Sie hatte gefragt, ob sie zu Besuch kommen dürfe – da sie schon in der Stadt sei. Daniel hatte begeistert um einen Besuch gebeten. Jetzt saßen sie zusammen, erzählten, lachten, schwiegen, und Sibylle berichtete vom Leben im Sanatorium. Lieber Gott, laß mich einen Anfang finden, dachte sie. Ich muß einen Anfang finden, das zu sagen, weshalb ich hier bin. Ich muß noch viel mehr tun und erreichen, wenn mein Bruder nicht als Gefangener sterben soll. Noch einmal fünfundzwanzig Jahre ...

Sie redete und redete. Ich finde den Anfang nicht, dachte sie verzweifelt.

Mercedes hatte sich erhoben und einen flachen Wandschrank geöffnet, vor dem sie niederkniete. Aus den hohen Stereoboxen, die in zwei Zimmerecken standen, erklang plötzlich Musik, ein Klavier, ein klagendes Saxophon. Die Musik besaß den seltsam blechernen, scheinbar zu hohen Klang der ganz alten Schallplatten. Eine junge, helle Frauenstimme, ach, so wehmütig, begann zu singen: »Man hat uns nicht gefragt, als wir noch kein Gesicht, ob wir leben wollten oder lieber nicht ...«

»Oh«, sagte Sibylle. Ihr Blick irrte zwischen Daniel und Mercedes hin und her.

»Damit Sie sehen, daß wir die Platte in Ehren halten«, sagte Mercedes und kehrte zum Kamin zurück. »Eure Zeit, Sibylle, Danny. Euer Lied. Jetzt ist es unser Lied, Sibylle. Sie haben es uns geschenkt.«

»Wir haben nie gewußt, wer da singt«, sagte Sibylle. »Was, Danny? Und wieviel Mühe haben wir uns gegeben, es herauszufinden!«

»Wir auch«, sagte Mercedes. »Aber nun wollen wir es gar nicht mehr wissen. Es ist noch viel schöner so.«

»... Jetzt gehe ich allein durch eine große Stadt, und ich weiß nicht, ob sie mich lieb hat«, sang die junge Unbekannte aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt. Ein Fenster klirrte, als eine besonders heftige Sturmböe das Haus erzittern ließ ... »Ich schaue in die Stuben durch Tür und Fensterglas, und ich warte, und ich warte auf etwas ...«

Mercedes sah Daniel lange an. Der nickte endlich. »Ja«, sagte er.

»Ja, was?« fragte Sibylle.

»Ja, wir wollen dir sagen, was wir tun«, sagte Daniel. »Du hast diesen Pfleger Josef beauftragt, uns alles über dich zu erzählen, über dich und deinen Bruder, das ganze große Unglück – und wir haben dir noch nie von uns erzählt. Das ist sehr unfair, nicht wahr, Mercedes?«

»Sehr«, sagte diese.

»Wir wissen, Sie werden es niemandem weitererzählen«, sagte Mercedes.

»Doch. Werner«, sagte Daniel. »Werner darf es auch wissen. Ihr beide. Ihr gehört zusammen.«

»Wir gehören alle vier zusammen«, sagte Sibylle sehr leise. »Danke«, sagte Mercedes, ebenso leise. »Ich danke dir.«

»Sie haben du zu mir gesagt ...« Sibylle sah Mercedes an. »Ja. Ist dir das unangenehm? Darf ich nicht ...?«

»Doch. Ich wollte dir schon lange das Du anbieten, Mercedes! So wie wir zueinander stehen ...«

»... Wenn ich mir was wünschen dürfte, möchte’ ich etwas glücklich sein ...«

Daniel sagte: »Hast du auch Angst vor einem neuen Krieg› Sibylle?«

»Ja« sagte sie. »Große Angst. Werner ebenfalls. Alle Menschen, die nur ein wenig denken können, haben Angst. Es wird schlimmer von Tag zu Tag. Wißt ihr, ich muß immer wieder daran denken, wie weise doch die Männer waren, die die Bibel geschrieben haben. ›Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer‹ ... Die geistig Armen ... Die nicht denken, die sich nichts vorstellen können ... die haben keine Angst ... Wahrhaftig, selig sind die!«

»... denn wenn ich gar zu glücklich wär’, hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein«, sang die junge Stimme. Das Orchester setzte ein und brachte das Lied zu Ende. Mit einem Knacken stellte der Apparat sich ab.

»Wir haben uns gerade aus dem Archiv des Senders Aussprüche und Reden großer Politiker besorgt«› sagte Daniel. »Und fassungslos gelesen. Paß auf Sibylle, ich zitiere aus dem Gedächtnis ... ›Im Augenblick, da sich die Sowjets das Nötige zugelegt haben, um Amerika auszulöschen, so wie auch dieses die Mittel besitzt, die Sowjets zu vernichten, ist es da noch denkbar, daß die beiden Rivalen, außer im höchsten Notfall, aufeinander einschlagen? Was aber hielte sie davon ab, ihre Bomben auf den zwischen ihnen liegenden Bereich, auf Mittel- und Westeuropa zu werfen? Die NATO hat also aufgehört, den Westeuropäern ihre Existenz zu garantieren.‹ Wer hat das gesagt? Du kommst nie drauf! General de Gaulle! Vor mehr als zwanzig Jahren! Und der war weiß Gott kein Linker! Oder eine andere Stimme: ›Es gibt handfeste politische Interessen gegen eine Entspannung mit den Russen. Da steckt ungeheuer viel Geld drin, und das wirtschaftliche Interesse vieler Leute liegt im Bau von immer mehr Waffen. Das läßt sich gut als Patriotismus und als Verteidigungswille verkaufen.‹ Wer sagte das? Der amerikanische Senator Fulbright – voller Zorn. Hübsch, wie?«

»Hilflos«, sagte Mercedes, »müssen die Europäer mitansehen, wie das Unheil heraufzieht. Sie alle leben – und die Deutschen vorneweg – an der Grenze, wo die Blöcke aufeinanderprallen. Wenn in Washington Regierungsberater von der ›Vorkriegszeit‹

sprechen – von der ›Vorkriegszeit‹ sprechen sie wirklich und wahrhaftig, Sibylle! –, und wenn in Moskau vor westlichen ›Kriegsvorbereitungen‹ gewarnt wird, die es nötig machen, ›das Pulver trocken zu halten‹, dann erscheint nicht nur so pessimistisch gestimmten Philosophen wie Carl Friedrich von Weizsäcker der dritte Weltkrieg ›wahrscheinlich‹. Weizsäcker sagte: ›Wenn hinreichend viele Leute sich so verhalten, als käme ein solcher Krieg, so wird es leicht, daß er kommt.‹« Und der Nordwind pfiff weiter um das Haus und ließ das Fenster klirren. »Gott wird uns schützen«, sagte Mercedes mit verzogenem Mund. Sibylle sah, wie in ihrem angespannten Gesicht viele kleine Muskeln zuckten. »Der Vatikan hat ja klar gesagt, daß atomare Abschreckung keineswegs unmoralisch ist. Für den Papst sind Atomwaffen angesichts dieser Kriegsgefahr sozusagen Verhütungsmittel. Und zwar solche«, Mercedes lachte böse, »für die er ausnahmsweise Sympathie hat.«

»Und die deutschen katholischen Bischöfe, Sibylle, stell dir das vor«, rief Daniel, »haben erklärt, daß sie für den Frieden sind – nach langem Nachdenken. Die deutschen Bischöfe sind für den Frieden. Und nicht für den Krieg. Großartig, wie?«

»Wir Kleinen. Wir Milliarden Kleinen«, sagte Sibylle. »Was können wir tun? Warten, bis man uns tötet, sonst nichts.«

»O nein!« sagte Mercedes. »Bitte?«

»O nein« sagte auch Daniel. »Natürlich erinnerst du dich daran, wie ich dich von hier aus im Sanatorium anrief, ganz kaputt von dem verfluchten Nobilam ...«

»Natürlich. Ich habe gesagt, du mußt sofort zu mir kommen, und du hast gesagt, du mußt unbedingt vorher noch etwas erledigen. Zusammen mit Mercedes, die dir eine Nachricht gebracht hatte.«

»Richtig. Eine Nachricht von einem Mann in Buenos Aires, habe ich dir gesagt. Eine ganz wichtige Nachricht. Dieser Mann, sagte ich, hätte Arbeit für mich. Und ich müßte zu ihm. So schnell wie möglich ... Weißt du, wer der Mann in Buenos Aires

»Wer ist es?« fragte Sibylle.

»Mein Vater.«

»Dein Vater ... der ist doch im Krieg gefallen ...« »Ja, das glaubte ich auch. Er lebt! Mein Vater lebt, Sibylle!

Unter anderem Namen. Alter Herr. Sehr rege. Gibt gerade ein großes Fernsehinterview, oder hat es schon gegeben.«

»Worüber?«

»Über ... Wir werden dir alles erzählen, alles. Die ganze Geschichte ...«

Eine halbe Stunde später.

Mercedes und Daniel hatten abwechselnd gesprochen, Sibylle hatte zugehört. Jetzt schwiegen sie alle drei. Der Sturm heulte. Sonst war es still in dem großen Raum.

»Ungeheuerlich«, sagte Sibylle zuletzt. »Wirklich das Ungeheuerlichste, was ich jemals gehört habe. Das also ist eure Arbeit.«

»Ja, das ist unsere Arbeit«, sagte Mercedes. »Wenn dieser Film ausgestrahlt wird, Sibylle ... nicht, daß wir uns etwa vorstellen, die Menschen würden dann auf die Barrikaden gehen. Aber die Verbündeten der Großen Zwei, die Regierungen so vieler Staaten, sie müßten doch den beiden Supermächten ihre Gefolgschaft aufkündigen, wenn die schon neunzehnhundertdreiundvierzig unsere Welt unter sich aufgeteilt haben. Wenn die schon damals beschlossen haben, einander nichts zu tun und nicht einzugreifen, falls einer von ihnen Krieg mit einer widerspenstigen Nation in seiner Einflußsphäre führt. Wenn sie schon damals Europa und Deutschland im besonderen zum Erprobungsfeld ihrer neuen Waffen bestimmt haben.«

»Wir wissen immer noch nicht, ob der Film eine Fälschung ist oder echt«, sagte Daniel. »Die beiden Großmächte unternehmen mit Hilfe ihrer Leute alles, wirklich alles, um Zeugen für eine Echtheit des Films auszuschalten. Wir haben dir ja erzählt, daß es bereits Tote gegeben hat. Doch das sagt auch nicht, daß der Film echt ist. Das sagt nur, daß die beiden Supermächte Angst vor einer Ausstrahlung des Films haben, weil es schon genügt, wenn die Regierungen ihrer Verbündeten überlegen: Was die tatsächlichen Ereignisse seit fünfundvierzig angeht, könnte der Film echt sein. Und wir sind nur Schlachtvieh, zu vielen, vielen Millionen Schlachtvieh.«

»Darum wird dieser Krieg im Dunkeln mit solcher Erbitterung geführt, Sibylle«, sagte Mercedes. »Verstehst du jetzt?«

»Ja«, sagte Sibylle. Und sie dachte: Niemals, nein, niemals darf ich den beiden von meinem Bruder erzählen und sie bitten, die Arbeit, der sie sich verschrieben haben, aufzugeben. Es wäre auch technisch unmöglich, das Unternehmen, das da ins Rollen gekommen ist, zu stoppen. Und wenn es noch zu stoppen wäre ... Natürlich könnte ich sagen: Diese Welt ist so und so verloren, ihr seid idealistische Phantasten, ich muß meinem Bruder helfen, nur das ist wichtig, nur mein Bruder zählt. Aber darf ich das? Will ich das?

Sibylle hörte und sah Mercedes und Daniel auf sie einreden, doch sie verstand nicht, was die beiden sagten. Nein, dachte sie, ich darf sie nicht mit meinen Sorgen beunruhigen, unsicher machen, uneins, denn wer weiß, was geschehen würde, wenn ich von Eugen erzählte? Mercedes ist zu engagiert, zu fanatisch, sie ist mir auch zu fremd. Aber Danny ... Er hat mich so geliebt ... und ich ihn ... Er hängt immer noch an mir ... Wie ich an ihm ... Das kann ich mir vorstellen, daß ich zumindest den armen Danny in einen furchtbaren Gewissenskonflikt stürzen würde ... Nein, nein, nein, ich darf nicht von meinem Bruder sprechen. Ich darf es einfach nicht.

»... dir schlecht?« Mercedes hatte gesprochen. Nur die beiden letzten Worte verstand Sibylle.

»Nein. Warum?«

»Du siehst plötzlich ganz blaß aus«, sagte Mercedes. »Nicht wahr, Danny?«

»Ja«, sagte dieser. »Was hast du, Sibylle?«

»Wirklich nichts.« jetzt muß ich lügen, dachte sie. »Nur müde ... Ich bin sehr müde ... Um fünf Uhr früh aufgestanden, um das Flugzeug zu erreichen. Die Besprechungen mit den Chemikern. Sehr anstrengend, wißt ihr. Müde, ja, müde bin ich plötzlich, das ist alles.«

»Bleib hier bis morgen! Schlaf hier!« sagte Mercedes. »Nein, das geht nicht ...«

»Natürlich geht es. Wir haben Platz genug.« »Nicht deshalb. Ich muß ins Sanatorium zurück. Ich habe ein

paar schwere Fälle ... Mein Rückflug ist auch schon für heute abend gebucht ... Ich wollte euch beide nur endlich einmal wiedersehen ...« Sibylle fühlte, wie der Raum sich um sie zu drehen begann. »Ich ... ich ... bin wirklich todmüde. Ich muß wieder munter werden. Danny, mein Alter, würdest du mir wohl einen Whisky geben – einen großen, ohne Eis und Wasser, pur?«

Sibylle trank dann noch einen zweiten großen Whisky, und als Mercedes und Daniel sie schließlich mit ihrem Koffer in Daniels Wagen zum Rhein-Main-Flughafen fuhren, war sie ein wenig alkoholisiert.

»Wir müssen uns wiedersehen, auch mit Werner«, sagte sie immer wieder. »Wir müssen uns wiedersehen. Ich habe euch so gerne. Ihr seid so tapfer. Bald müssen wir uns wiedersehen, ja?« Sie trafen um 20 Uhr 30 am LUFTHANSA-Schalter in der großen Abflughalle ein. Sibylle bekam ihre Bordkarte, der Koffer wurde aufgegeben. Neben dem Schalter versuchten vier Funkstreifenbeamte, einen jungen Mann von etwa zwanzig Jahren, der in eine bunte Decke gehüllt war und auf einem Teppich gesessen hatte, fortzuschleppen, ohne ihm wehzutun. Der junge Mann hatte Gitarre gespielt. Als Sibylle mit Mercedes und Daniel angekommen war und die Beamten auf ihn einredeten, während die ersten Schaulustigen stehenblieben, sang der junge Mann noch: »Kommen Sie schaun! Das große Graun! Kommen Sie schaun ...« Auf seinem Teppich lagen Hochglanzfotos. Sie zeigten Menschen, noch lebende oder schon tote, nach dem Abwurf der ersten Atombombe auf die japanische Stadt Hiroshima im August 1945. Die Aufnahmen zeigten auch, was von Hiroshima übriggeblieben war, wenige Minuten nach dem Abwurf. Einer der Beamten sammelte nun die Fotos ein.

»Maul halten, du Scheißkommunist!« schrie eine dicke Frau im Pelzmantel.

»Lassen Sie ihn, recht hat er!« rief eine andere Frau sehr erregt. Der junge Mann, dem die Polizisten nun die Gitarre weggenommen hatten und den gewaltlos zu entfernen sie bemüht waren, sang weiter: »Da gibt es nichts, wovor uns graut! Der atomare Holocaust ist immerhin fotografierbar und darum sicher auch probierbar! Die tollen Bilder, wenn sie sprengen, die Haut so liebevoll versengen! Der nächste Schritt läßt alle hoffen: Die Bombe trifft! Der Arsch ist offen!«

Nun trugen sie den Sänger schon zu einem Streifenwagen. Die Stimme des jungen Mannes wurde leiser. Er drehte und wand sich und schrie zurück: »Dieses Lied ist von Werner Schneyder. Es lebe Werner Schneyder! Es lebe das Leben!«

»Haben Sie die Polizei gerufen?« fragte Mercedes eine der LUFTHANSA-Hostessen hinter dem Schalter.

»Jawohl, gnädige Frau«, sagte diese ernst. »Es war nicht mehr auszuhalten. Wir wären noch alle verrückt geworden. Der Kerl sang jeden Abend hier, gnädige Frau, und jeden Abend gab es Stunk und manchmal eine Schlägerei.«

Das war derselbe junge Mann, der hier schon gesungen hatte, als Wayne Hyde an diesem Schalter einen Flug nach Wien bezahlt hatte, auch mit der 21.10-Uhr-Maschine, die aus Paris kam – vor ein paar Wochen ...

»Einer von der Friedensbewegung«, sagte ein Mann, der zugehört hatte.

»Friedensbewegung, Scheiße!« rief ein anderer. »Die wird doch direkt vom Osten gesteuert, von der DDR, das wissen alle. Verfluchte Zucht! Hier hetzen sie die Menschen auf zum Demonstrieren, und wenn bei ihnen drüben einer was gegen die Bombe sagt, sitzt er sofort im Knast.«

Mercedes hob ein beschmutztes Foto auf, das noch dalag. Es zeigte ein fast bis zur Unkenntlichkeit verbranntes kleines Kind. Mercedes zeigte der Ground-Hosteß die Aufnahme.

»Ja, ja, schrecklich«, sagte diese. »Aber jeden Abend diesen Lärm und dieses Theater, wissen Sie ... Wir ließen ihn lange genug hier singen. Zu lange.«

»Haben Sie Kinder?« fragte Mercedes.

»Nein«, sagte das Mädchen, plötzlich leidenschaftlich. »Und ich werde auch ganz gewiß niemals ein Kind haben – in dieser Zeit. Da hätte ich viel zu viel Angst.«

»Ich habe vier Kinder«, rief der Mann, der geschrien hatte, die Friedensbewegung werde von der DDR aus gesteuert. »Und ein fünftes ist unterwegs. Und ich habe keine Angst. Laßt euch doch nicht verrückt machen! Es gibt keinen Atomkrieg!«

»Warum nicht?« fragte Mercedes. Ihre Augen blitzten. »Weil es einen Atomkrieg einfach nicht geben darf. Wichtig

ist nur, daß die Amis und die Roten immer gleich stark bleiben«, rief der Mann.

»Kommt weg hier!« sagte Sibylle.

Sie gingen weiter und hörten noch, wie eine magere, sehr alte Frau sagte: »Ich danke Gott jeden Tag dafür, daß ich es nicht mehr erleben werde. Hoffentlich sterbe ich aber auch wirklich noch rechtzeitig!«

»Mercedes!« Daniel war stehengeblieben. Sie weinte. Tränen rollten über ihre Wangen. »Mercedes, bitte!«

»Das Kind auf dem Foto«, stammelte sie und hielt das dreckige Bild noch immer in den bebenden Händen. »Es ist nur das Foto.«

»Wirf es weg!« sagte Daniel scharf.

»Nein«, sagte Mercedes, faltete das Glanzpapier und steckte es ein. Sie wischte Tränen fort. »Entschuldigt!« sagte sie. »Bitte, entschuldigt!«

»Alle Passagiere des LUFTHANSA-Fluges dreihundertfünfundvierzig nach Wien«, erklang eine Mädchenstimme aus vielen Lautsprechern, »werden gebeten, zur Paß- und Zollkontrolle zu kommen!« Die Stimme wiederholte die Aufforderung in englischer und französischer Sprache.

»Das ist für mich«, sagte Sibylle. Die beiden begleiteten sie noch zur Paßkontrolle. Bei der Sperre blieb sie stehen und küßte zuerst Mercedes und danach Daniel lange und innig. Jetzt hatte sie Tränen in den Augen.

»Gott schütze euch und eure Arbeit!«

»Gott schütze dich und Werner«, sagte Mercedes. »Wir telefonieren«, sagte Daniel. »Oft.«

»Ja, bitte«, sagte Sibylle. Sie schlang die Arme um ihn und küßte ihn auf den Mund und die Wange und flüsterte in sein Ohr: »Ich liebe dich, Danny, ich liebe dich immer noch.«

Danach ging sie schnell durch die Sperre. Bevor sie um eine Ecke zur Zollkontrolle verschwand, warf sie kurz eine Hand zum Gruß hoch.

»Wie Liza Minelli«, sagte Mercedes.

»Was?«

»Sie hat gewinkt wie Liza Minelli in dem Film ›Cabaret‹, wenn sie sich von Michael York auf dem Berliner Bahnhof verabschiedet – und sie werden sich nie wiedersehen. Ach, Danny!«

Sie hängte sich bei ihm ein und drückte sich an ihn, und so gingen sie langsam zu einem der gläsernen Ausgänge. Der Sturm war noch ärger geworden.

Der Flug nach Wien wurde sehr unruhig, die Maschine schwankte, sackte durch und rüttelte. Viele Passagiere hatten Angst, Kinder weinten. Sibylle saß an einem Fensterplatz. Sie bewegte sich nicht. Als die Maschine in Schwechat gelandet war und Sibylle ihren Koffer wieder hatte, ging sie in die Bar des Flughafens. Da war es beinahe 22 Uhr 45. In der Bar saß ein einsames Liebespärchen. Vom Band kam Musik. Das Orchester James Last spielte »I’m always chasing rainbows ...«

Sibylles Augen gewöhnten sich bald an das Halbdunkel der Bar, und sie erkannte an einem Tischchen den kleinen Herrn Abad, der höflich aufsprang und ihr entgegenkam. Er begrüßte sie zeremoniell, nahm ihr den Koffer ab und geleitete sie zu seinem Tischchen.

»Was darf ich Ihnen bestellen?« fragte er, als ein müder Kellner auftauchte.

»Whisky. Einen doppelten. Ohne Eis und Wasser. Pur«, sagte Sibylle.

»Sehr wohl, gnädige Frau«, sagte der müde Kellner. »Nun?« fragte Abad und fingerte an der Perle in seiner

Krawatte.

»Ich habe mit den beiden gar nicht über meinen Bruder gesprochen«, sagte Sibylle.

»Sie haben gar nicht ...«

»Kein Wort.«

»Aber warum nicht?«

Der müde Kellner brachte den Whisky. »Bittschön, gnä’ Frau.«

»Danke.« Sibylle trank.

»Aber warum nicht, Frau Primaria?« fragte Abad. Sein Gesicht war grau, er sah plötzlich uralt aus.

»Weil ich nicht wollte. Und weil ich nicht konnte. Das ist es: Ich konnte einfach nicht.«

»Liebste Frau Primaria, ich bitte Sie: Es geht um Ihren Bruder!«

»Das weiß ich. Daran müssen Sie mich nicht erinnern.« Sibylle trank wieder.

»Haben die beiden Ihnen erzählt, woran sie arbeiten?« »Ja.«

»Und Sie haben nicht versucht, an die Gefühle Ihres alten Freundes Ross zu appellieren? Sie haben ihm nicht klargemacht, in welcher Lage Sie sich befinden? Sie und Ihr Bruder?«

»Nein.«

»Aber ... aber Sie lieben Ihren Bruder doch über alles.« »Über alles.«

»Sie haben acht Jahre getan, was wir von Ihnen verlangten. Nur, um ihm zu helfen.«

»Das stimmt, weiß Gott. Weiß Gott, das stimmt.« »Und diesmal haben Sie nichts getan, um Ihrem Bruder zu

helfen – gar nichts.«

»Gar nichts«, sagte Sibylle. Es folgte eine Pause. »Schön«, sagte Abad dann. »Mir tut das sehr leid für Ihren Bruder.«

»Lügen Sie nicht!« sagte Sibylle. »Es tut Ihnen überhaupt nicht leid. Nicht für meinen Bruder. Sonst schon. Bestimmt. Das bricht mir das Herz.«

»Ihr Bruder wird also noch siebzehn Jahre in Haft bleiben, alle Vergünstigungen wird man ihm entziehen, er wird Schreibverbot bekommen – das wird alles sehr schlimm für ihn sein. Und für Sie auch, Frau Primaria.«

»Ja, für mich auch.«

»Es war sehr unklug, daß Sie mit Ihren Freunden nicht darüber gesprochen haben.«

»Ja, sicherlich«, sagte Sibylle.

»Und Sie meinen, mit dieser Belastung leben zu können.« »Es wird sich herausstellen.« Sibylle trank ihr Glas leer und

stand auf. »Danke für den Whisky!«

Auch Abad erhob sich. »Hören Sie, Sie können doch nicht einfach so ...«

»O ja, ich kann«, sagte Sibylle, während sie nach dem Koffer griff. »Bleiben Sie hier! Begleiten Sie mich nicht! Mein Wagen steht auf dem Parkplatz, ganz in der Nähe. Gute Nacht, Herr Abad!« Sie verließ schnell die Bar. ›April in Portugal‹ spielte das Orchester James Last jetzt.

Der kleine Herr sah Sibylle nach, bis sie verschwunden war. Dann winkte er dem Kellner, zahlte und ging in die große Halle hinunter. Dort betrat er eine der vielen Telefonzellen und wählte.

»Sanatorium Kingston, Doktor Herdegen«, meldete sich eine Stimme.

»Abad hier.«

»Ist sie schon gelandet?«

»Ja.«

»Und? Was sagte sie?«

»Sie hat mit Ross und der Olivera überhaupt nicht über ihren Bruder gesprochen.«

»Was?«

»Kein Wort. Sie konnte nicht, und sie wollte nicht, sagt sie. Da ist nichts zu machen.«

»Haben Sie ihr vor Augen geführt, was nun mit ihrem Bruder ...« begann Herdegen.

»Herrgott, natürlich«, unterbrach ihn der zierliche kleine Herr. »Ich bin kein Idiot! Ich sage Ihnen, da ist nichts zu machen.«

»Und wie soll das jetzt weitergehen?«

»Das weiß ich nicht. Wir haben getan, was wir konnten. Sagen Sie das Morley. Was wir konnten, haben wir getan.«

»Ja, Herr Abad. Ich rufe ihn jetzt sofort an. Scheißpech.« »Scheißglück, Doktor«, sagte Abad.

»Was ist ein Scheißglück?«

»Daß sie Eugen Mannholz so viele Bogen auf Vorrat unterschreiben ließen und nur maschinengeschriebene Briefe zugelassen waren. So verlieren wir die Frau jedenfalls nicht als Ärztin. So wird sie weiter gute Arbeit leisten, damit endlich wieder wenigstens Briefe von ihrem Bruder kommen. In denen wird er dann – nach langer Zeit, versteht sich – von ersten neuen Vergünstigungen schreiben. Nachdem er ihr zuerst natürlich Vorwürfe machen wird.«

»Ich verstehe nicht. Was heißt das: Sie ließen ihn so viele Bogen auf Vorrat unterschreiben?«

»Na, er ist doch schon im September sechsundsiebzig gestorben. Drei Monate, nachdem ich seine Schwester dazu gebracht hatte, seinetwegen den Posten bei Heiligenkreuz anzutreten.«

»Er ... er ... ist tot?«

»Sage ich doch. Habe ich Ihnen das nie erzählt? Ich werde auch schon gaga. Natürlich ist er tot. Seit acht Jahren. Aber seine Briefe sind weiterhin gekommen, und er hat jede Frage seiner Schwester beantwortet. Die Zensoren haben das besorgt.

Er vermochte nicht mehr zu antworten. Nun, und so kann es jetzt weitergehen. Er wird wieder alle Fragen seiner Schwester beantworten. Die haben noch viele Briefbögen ...«

»Pünktlich auf die Minute«, sagte der kleine, pausbäckige Anwalt Roger Morley mit dem wirren grauen Haar und dem Spitzbauch, dieser Mann, der Wayne Hyde stets an eine Gestalt aus den Romanen von Charles Dickens erinnerte. Es war 9 Uhr früh am 22. März 1984. Morley rieb seine rosigen Patschhändchen. »Nehmen Sie Platz, nehmen Sie Platz, mein Lieber.« Er verschwand in der kleinen Küche neben dem altmodischen Büro und kehrte mit Teetassen, Teekanne und weiteren Utensilien auf einem Silbertablett zurück. »Heute versuchen wir einmal ›Queen’s Tea‹«, sagte er fröhlich. Er lachte und entblößte dabei Mäusezähnchen. »Eine exquisite Darjeeling-Mischung, vollblumig und aromatisch. Ganz köstlich. Erlauben Sie ... Zuerst der Kandiszucker ... Und nun der Tee, durch das Sieb natürlich ...« Er redete immer weiter, bis er auch seine Tasse gefüllt und es sich in dem Sessel hinter dem Schreibtisch bequem gemacht hatte. Dann änderte sich seine Stimme jäh. »Sie haben die Kassette?«

»Natürlich.« Hyde legte sie auf den Tisch. »So weit ging alles gut in Buenos Aires. Ich habe mir den Film angeschaut. Ist okay. Tut mir leid, daß der Rest schiefging. Dieser Miguel war ein Kretin.«

»Gott liebt auch Kretins, Mister Hyde. Er gebe Miguel den ewigen Frieden. Machen Sie sich keine Vorwürfe! Sie haben getan, was Sie konnten. Sie haben Ihr Bestes gegeben. Meine ... Bekannten sprechen Ihnen ihr höchstes Lob aus. Man kann einfach nicht immer gewinnen. Jetzt haben wir wenigstens eine Kopie des Films. Das hilft enorm. Meine Bekannten werden nach einer Ausstrahlung dieser gemeinen Fälschung viel besser reagieren können, wenn sie sie vorher schon kennen. Ich denke, wir probieren ein Schlückchen, wie?«

»Denke ich auch.«

Sie tranken beide. Morley winkelte den kleinen Finger der Hand, mit der er die Tasse hielt, geziert ab. Er seufzte vor Wonne. »Das ist ein Teechen, was?«

»Ja, Mister Morley.«

»Nicht zu stark?«

»Gerade richtig.«

»Nicht zu süß?«

»Alles perfekt, Mister Morley.«

»Wissen Sie, was? Mein Geschmack hat sich geändert. Jetzt habe ich diesen ›Queen's Tea‹ am liebsten. Komisch, wie? Hahaha.«

»Hahaha. Natürlich hat Olivera inzwischen vor den Kameras gestanden und seine ganze Geschichte erzählt.«

»Ohne Bedeutung, Mister Hyde, ohne Bedeutung. Wenn der dämliche Miguel ihn erwischt hätte, wären immer noch der Sohn und die Stieftochter dagewesen. Die haben dieselbe – fast dieselbe – Geschichte inzwischen auch vor der Kamera erzählt. Sie gaben das wieder, was sie von Olivera wußten, höre ich.«

»Hören Sie von wem?«

»Nun, von unserem Freund im Sender. Ein Glück, daß wir den haben.«

»Großes Glück«, sagte Hyde. Es regnete in London an diesem Vormittag. Tropfen trommelten gegen die Fensterscheiben. »Kann man gar nicht sagen, was für ein Glück.« Morley nippte an seiner Tasse. »Ich bekam gestern neue Nachrichten von ihm. Die Reporter haben jetzt endlich diesen Chan Ragai gefunden. Sie erinnern sich: das war der Resident des Ribbentrop-Dienstes in Teheran.«

»Mit dem berühmten Agenten CX einundzwanzig.« »Richtig, Mister Hyde. Trinken Sie aus! Erlauben Sie, daß ich

Ihre Tasse nachfülle? ... Sehr schön. Freut mich, daß Ihnen der Tee so gut schmeckt wie mir ... Ja, sie haben Chan Ragai lokalisiert. Es war nicht einfach. Sehen Sie, der Grund: Er ist ein Vertrauter des Ayatollah Khomeini – noch aus der Zeit, da Khomeini in Paris lebte. Die beiden kennen einander seit einer Ewigkeit. Als der Ayatollah dann in den Iran ging, blieb Chan Ragai in Frankreich. Er reiste viel in geheimer Mission für den Ayatollah. Er ist ein sehr vorsichtiger und kluger Mann, dieser Chan Ragai, sonst wäre er längst nicht mehr am Leben. Nun hat er sich ganz zurückgezogen. Die Reporter haben entdeckt, wohin.«

»Nämlich wohin?«

»Nach La Roquette sur Siagne. Das ist ein winziges Dorf landeinwärts von Cannes. Liegt völlig versteckt und aus der Welt. Sie müssen den Weg dahin schon auf einer Karte der Cóte d'Azur suchen, so klein ist der Ort.«

»Klingt ja bezaubernd. Sie sind ganz sicher, daß Ihr Freund die Wahrheit sagt?«

»Ganz sicher, Mister Hyde. Ein Aufnahmeteam mit Conrad Colledo fliegt morgen nach Nizza. Via Zürich. Die Männer werden in Cannes im Hotel MAJESTIC wohnen. Das bedeutet: Sie müssen noch heute fliegen.«

»Ich komme herum«, sagte Hyde. »Ich kann nicht klagen.« »Schon recht warm an der Riviera, Mister Hyde.« »Ich habe leichte Kleidung. Habe sie gerade erst getragen,

Mister Morley.«

»Sie haben leichte – wo? Ach so! Buenos Aires! Verzeihen Sie, natürlich! Sehen Sie, mein Alter, die Sache ist diesmal besonders delikat. Ich sagte Ihnen, Khomeini und Chan Ragai sind uralte Freunde. Ragai ist ein glühender Bewunderer Khomeinis.«

»Das haben Sie alles von Ihrem Freund im Sender?« »Ja, und der hat es von den Rechercheuren. Das BKA erbat

auch bei den Franzosen Gendarmerieschutz.« »Gott sei bedankt für einen so präzisen Verräter!« »Nicht wahr. Nun, Ragai weiß, was damals im Dezember

dreiundvierzig in Teheran geschah. Schließlich war er doch Resident dieses Ribbentrop-Nazi-Vereins. Weil Ragai aber ein so getreuer Anhänger Khomeinis ist, können wir uns ausrechnen, was er vor den Kameras erzählen wird. Dieser Mann haßt die Amerikaner genauso, wie Khomeini sie haßt. Durchaus anzunehmen, daß er seine Aussage mit dem Alten abgestimmt hat. Sicherlich hat er ihm erzählt, deutsche Reporter hätten ihn aufgespürt und wollten genau wissen, was damals geschah. Meine Bekannten bitten mich, eine Frage an Sie zu stellen. Nämlich: Was meinen Sie, wird ein Mann, der die Amerikaner so haßt wie Chan Ragai, wohl über den Film berichten?«

»Daß es sich um echtes Material handelte. daß der ganze Film echt ist, natürlich. Darauf wird es hinauslaufen.«

»Sehr richtig, Mister Hyde. Genau unsere Ansicht. Darauf wird es auf jeden Fall hinauslaufen. Wir können aber nun einmal keinen Zeugen brauchen, der die Echtheit des Films beschwört – und wenn er damit eine hundertprozentige Lüge beschwört. Sie verstehen, was ich meine, Mister Hyde?«

»Ich verstehe schon, Mister Morley. An diesen Chan Ragai darf überhaupt keine Kamera herankommen – solange er lebt. Und das heißt, er muß schnell sterben.«

»Sehr schnell, Mister Hyde. Ihre Maschine geht in dreieinhalb Stunden. Ich habe mir erlaubt, schon das Ticket zu buchen. Kennen Sie New York?«

»Wie meine Hosentasche.«

Morley öffnete die Schreibtischschublade und entnahm ihr einen amerikanischen Paß und zahlreiche Farbfotos.

»Sie heißen bis auf weiteres Andy Maree und sind ein Börsenmakler aus New York. Wir haben uns auch erlaubt, diesen Paß für Sie vorzubereiten. Ich weiß, Sie haben stets eigene Papiere. Nehmen Sie bitte diesmal den da!«

»Wie Sie wünschen. Was sind das für Fotos? Ist das Chan Ragai?«

»Ja. Sie müssen doch wissen, wie der Mann aussieht, den Sie töten sollen.«

Hyde betrachtete die Fotos aufmerksam. Sie zeigten einen sehr alt aussehenden Mann, der in einem verwilderten Garten stand und einen außerordentlich melancholischen Eindruck machte. Sein Anzug schien ihm viel zu groß zu sein, desgleichen der Kragen des Hemdes. Er hatte ein schmales, olivfarbenes Raubvogelgesicht und ein schwarzes Bärtchen auf der Oberlippe. Sein Haar war gleichfalls schwarz. Natürlich gefärbt, dachte Hyde. An eine Platane gelehnt, stand Chan Ragai da, hinfällig und traurig. Im Hintergrund sah man auf manchen Aufnahmen ein einstöckiges Haus, dessen Mauern rosafarben gestrichen waren. »Ist das sein Heim in La Roquette?« fragte Hyde.

»Ja. Er nennt es VILLA BIBLOS. Das steht am Torpfeiler. Sie müssen vom Hauptplatz die Avenue du Roi Albert hinuntergehen. Nun wissen Sie auch schon, wie es da aussieht.«

»Wie alt ist Ragai?«

»Dreiundsiebzig.«

»Schaut aus wie neunzig. Wo haben Sie die Bilder her? Auch von ihrem Freund im Sender?«

»Woher sonst? Reporter, die an der Cote waren und Ragai fragten, ob er sich filmen lassen würde, machten sie. Unser Freund muß sich Duplikate besorgt haben. Genügen Ihnen die Fotos?«

»Durchaus, Mister Morley.«

»Fein. Wohnen werden Sie im Hotel LE MAS CANDILLE In Mougins. Zimmer ist schon bestellt. Auf den Namen Andy Maree. Reizender Ort, Mougins. Ganz in der Nähe von La Roquette sur Siagne. Kennen Sie Mougins, Mister Hyde?«

»Ja. Ich habe da einmal zu Mittag gegessen«, sagte Hyde, in Erinnerungen versunken. Mit dieser Leiche im Kofferraum, dachte er.

Die Maschine der BRITISH EUROPEAN AIRWAYS flog weit über das Meer hinaus, zog dann eine gewaltige Schleife und setzte zum Landeanflug auf eine Piste des Aeroport International Cote d’Azur an. Alle Flugzeuge, die hier landeten oder starteten, gleich wohin, mußten zunächst auf das Meer hinaus. Wayne Hyde sah durch das Fenster an seiner Seite. Das Wasser war so dunkelblau wie der Himmel. Die Sonne stand schon tief über den Höhenzügen des Esterel in der Ferne. Ihr Licht ließ deren rote Erde magisch aufleuchten und spiegelte sich blendend in den hunderttausend Fensterscheiben von Nizza. Tiefer und tiefer sank die Maschine. Als Hyde schon davon überzeugt war, daß sie ins Wasser stürzen würde, berührte sie die Piste.

Es war hier wirklich schon recht warm. Hyde trug einen blauen, leichten Sommeranzug, ein weißes, am Kragen offenes Hemd, weiße Socken und weiße Slipper. Die Maschine blieb weit draußen auf dem Flugfeld stehen, ein Bus kam angerollt. Als Hyde die Paßkontrolle hinter sich hatte und durch die Sperre in die Halle hinaustrat, sah er, eine Etage tiefer gelegen, links die Bänder der Gepäckausgabe und das Büro des Zolls. Die Beamten trugen blaue Hemden. Einer von ihnen stritt mit einer grellblond gefärbten Frau, die einen winzigkleinen Hund mit langen Haaren unter dem Arm hielt. Der Hund hatte eine mächtige rote Schleife auf dem Kopf. Es standen viele Zöllner und noch viel mehr Passagiere bei der Gepäckausgabe, ununterbrochen landeten oder starteten Maschinen. Die Saison schien hier schon begonnen zu haben. Neben der Grellblonden (sieht aus wie ein ganzes Hurenrudel, dachte Hyde angeekelt) stand sein Freund Raymond Laforet.

Er trug Sandalen, eine weiße Leinenhose, ein über die Hose hängendes weißes Leinenhemd und war sehr braungebrannt. Als er lachend eine Hand hob, sah Hyde blitzendweiße Zähne. Hat der Zahnarzt prima hingekriegt, dachte Hyde und winkte gleichfalls. Der Neger war damals schon dabei, Raymond mit dem Gewehrkolben die Fresse zu zerschlagen, als ich ihn gerade noch umlegen konnte. Auch einen prächtigen plastischen Chirurgen hat Raymond gehabt. War nicht anzusehen, sein Gesicht. Alles wieder okay. Nur ein paar Narben. Im Tschad passierte das, 1978. Nein: 1979. Sehr komisch. Französische Truppen gegen Guerillas und militärische Rebellen. Der Neger ein französischer Soldat. Wir waren bei den Guerillas ...

Hyde stand vor Laforet. »Na, du altes Arschloch, wie geht’s?« »Gut, du Scheißkerl, und dir?«

»Prima siehst du aus, Raymond. Warum gehst du nicht zum Film?«

»Ach, leck mich doch! Gott, bin ich froh, dich wiederzusehen.« Bei der Grellblonden standen nun drei Zollbeamte. Sie hatte Schmuck im Koffer, sah Hyde. Einer der Inspektoren trug ihr Gepäck in das Büro. Die Grellblonde stolperte auf hohen Absätzen hinter ihm her und kreischte. Sie schrie: »Assassin!«

Hyde grinste. Das amüsierte ihn immer wieder in Frankreich. Wenn es hier Krach gab, egal weswegen, selbst wenn einer dem andern die Vorfahrt nahm oder wenn ein Hund einen Kinderwagen anpißte, sofort brüllte jemand dieses Wort: Assassin! Mörder!

Die beiden Kleidersäcke kamen auf dem Gepäckband. Hyde nahm sie und bahnte sich mit Laforet brutal einen Weg durch die Menge. Es waren mittlerweile zwei weitere Maschinen gelandet, und die ganze untere Halle war voller Menschen. Ein alter Mann, den Hyde mit einem Ellbogen getroffen hatte, schrie auf: »Wahnsinnig geworden?«

»Ta gueule«, sagte Hyde.

»Assassin!« brüllte der Alte sofort los. »Assassin!« Hyde kicherte. Er ging mit seinem Freund zum Hertz-Schalter

in der oberen Halle und mietete einen BMW. Sie holten den Wagen vom Hertz-Parkplatz ab und stiegen ein. Es war ein schwarzer BMW.

»Wo steht deine Karre?« fragte Hyde.

»Drüben«, sagte Laforet. Die Narben von den kosmetischen Operationen bildeten helle Striche in seinem sonnengebräunten Gesicht. »Warst lange nicht da, mein Alter. Die haben das hier alles umgebaut. Längst zu klein geworden. Haben sie einen Haufen Parkplätze eingerichtet, drüben bei den Frachtabteilungen. Ist schon wieder alles zu klein. P zwo stehe ich. Ganz hinten. Da ist eine automatische Sperre. Mußt ein Ticket ziehen.« Die Luft war weich und lind, das Licht anders als in allen anderen Gegenden Europas, und überall gab es Beete voll Blumen in leuchtenden Farben. Die Menschen bewegen sich leichter, und alle sind fröhlicher als in Deutschland oder in England oder sonst irgendwo, dachte Hyde. Das dachte er immer, wenn er an die Riviera kam. Noch ein paar Jahre, überlegte er, und ich werde mir hier mit Ma ein Haus suchen. Abseits vom Rummel. Schönster Fleck auf der Welt, die Cote d’Azur.

Unter alten Palmen, in denen bunte Vögel sangen, fuhr er eine lange Einbahnstrecke auf dem riesigen Parkplatz P 2.

»Wie geht’s Geschäft?« fragte er.

»Schaffe es kaum noch«, sagte Laforet. »Besonders jetzt, mit der Filiale in Cannes. Mensch, junge, da ist im Sommer in der richtigen Hitze vielleicht was los! So viele reiche alte Säcke und reiche alte Weiber mit Asthma und Kreislauf und Herz. Was da umkippt – ich sage dir ja, ich schaffe es kaum noch. Und die Verwandten kaufen nur die allerteuersten Särge. Jetzt hätte ich die Chance, ein Bestattungsinstitut in Menton billig zu kriegen. Auch eine ideale Gegend. So viele Rentner! Aber ohne Kompagnon geht das nicht. Ich will schließlich auch was von meiner Familie haben. Monique sieht immer noch prima aus, und die beiden Kleinen sind unsere ganze Freude. Was machst du eigentlich mit deiner Penunze?«

»Börse«, sagte Hyde. »Habe da einen Makler. Mit der Hochzinspolitik von Reagan verdienst du dich blöd, wenn du viel Geld hast.«

»Ja, Reagan ist gut für die Reichen«, sagte Laforet. »Da vorne, der blaue Citroen. Für die Armen nicht so, was?«

»Nein, für die nicht so. Er sagt allerdings, keiner ist arm, wenn er sich nicht an Gott versündigt hat. Und die Reichen sind reich, weil sie ehrlich sind.«

»Er ist ein guter Mensch«, sagte Laforet. »Darum sagt er ja auch, der Kampf gegen das Böse in der Welt muß beginnen. Das Böse sind die Russen. Bleib stehen, Wayne!«

Hyde hielt neben einem blauen Citroen. Das Nummernschild trug wie das seines Leihwagens die Endziffern 06, Kennzahl für die Cote. Der Citroen stand vor einem hohen Zaun, an dem sich violett und kupferfarben die Blüten von Bougainvilleen aneinanderdrängten.

»Das Paradies«, sagte Laforet und sperrte seinen Kofferraum auf. »Könnte nie mehr woanders leben, Wayne.« Er holte eine prallgefüllte Segeltuchtasche aus dem Kofferraum und reichte sie dem Freund, der sie im Kofferraum des BMW verstaute. »Eine Parabellum mit Schalldämpfer, eine Springfield mit Zielfernrohr, auch mit Schalldämpfer, jede Menge Munition. Wie du es am Telefon gewünscht hast.«

»Ich danke dir, Raymond.«

»Ist doch selbstverständlich. Du bist in Eile, ja?« »Ja.«

»Schade. Hätte mich so gerne mit dir vollaufen lassen und gequatscht. Über die alten Zeiten. Vielleicht, wenn du deine Arbeit erledigt hast.«

»Vielleicht.«

»Wär’ schön«, sagte Laforet. »Wirklich schön. Zu blöd, ich liebe dich, Wayne, weißt du das?«

»Ach, Scheiße, Mensch. Hör auf damit!«

»Nein, wirklich. Ich liebe dich. Ganz echt und tief. Du kannst doch einen Mann wirklich lieben – nur so – oder?«

»Du liebst mich, weil ich rechtzeitig diesen Neger umgelegt habe, bevor er dir den Schädel zertrümmert hat«, sagte Hyde. »Nein, nicht deshalb. Doch, deshalb auch. Aber das ist nicht der Hauptgrund. Wir beide, weißt du ...«

»Ich verstehe schon, mein Alter.« Sie umarmten einander. »Mußt achtgeben«, sagte Laforet mit erstickter Stimme. »Die

Springfield zieht ein wenig nach links.«

Auf der Autobahn war viel Verkehr.

Als er Nizza hinter sich gelassen hatte, sah Hyde bei Cagnessur-Mer die scheußlichen, vollkommen verrückt gebauten Hochhäuser von Marina Baie des Anges. Die Straße stieg an. Er erinnerte sich, daß man von hier einen besonders schönen Blick nach Osten hatte, und drehte sich kurz um. Unter sich sah er das Meer und das Halbrund der Bucht von Nizza mit der Promenade des Anglais und dann die Berge von Monaco und hinter diesen, in Dunst und weiter Ferne, die italienischen Berge. Ja, dachte er wieder, hierher bringe ich Ma. Vielleicht finde ich was in Vallauris. Oder noch besser in Saint-Paulde-Vence. Da habe ich auch die ganzen Bilder von meinen Lieblingsmalern. Bei der Ausfahrt nach Antibes warf Hyde an einer Mautstelle ein paar Franc-Stücke in einen Korb aus Blech, und die Verkehrsampel vor ihm sprang von Rot auf Grün. Er fuhr weiter. Die Gebühren sind schon wieder höher geworden, dachte er. Scheint, das arme, schöne Frankreich ist ziemlich im Arsch. Um so besser. Werden wir hier mit Dollars prima leben können.

Vor der Ausfahrt nach Cannes gab es eine heimtückische Kurve. Hyde erinnerte sich an sie. Diese Kurve war nur einmal und schlecht angezeigt, endlos lang und eng. Wer da mit einhundertzwanzig hineinfuhr, hatte beste Chancen, nicht mehr herauszukommen. Hyde trat auf die Bremse. Er kam glatt durch die Kurve, ließ die Ausfahrt nach Cannes rechts liegen und fuhr weiter, der sinkenden Sonne entgegen. Er dachte an seine Mutter und lächelte. Es wird ihr hier gefallen, sagte er sich. O ja, bestimmt.

Nachdem er die Autobahn verlassen hatte, ging es durch einen Wald bergauf. Mougins liegt auf einem Hügel. Hyde fuhr langsam an den Resten einer Befestigungsmauer und einem jahrhundertealten Tor vorüber und sah die Büste eines Mannes auf dem Hauptplatz. Er wußte sogar seit seinem ersten Besuch in der Stadt, wer der Mann war: der Commandant Lamy, 1900 bei einer Sahara-Expedition gefallen. Lamy stammte aus Mougins. Das Hotel LE MAS CANDILLE stand etwa dreihundert Meter außerhalb von Mougins. Eine Privatstraße führte durch einen großen Park. Hyde sah wieder Blumen in allen Farben. Die Privatstraße lag im Schatten der Kronen uralter Olivenbäume. Sehr vernünftig, daß Monsieur Maree habe anrufen lassen, sagte der Concierge. Sie seien ausgebucht. Aber für Monsieur hätten sie das schönste Zimmer reserviert. Nummer elf.

Ein Hausdiener schleppte die Kleidersäcke, die Segeltuchtasche behielt Hyde, und der Concierge ließ es sich nicht nehmen, ihn zu begleiten. Nummer elf war ein Eckzimmer mit zwei französischen Fenstern. Das eine ging zum Wald hinaus. Auf dem breiten Bett des im provencalischen Stil eingerichteten Raums lag anstelle von Kissen eine lange Rolle. Hyde fühlte sonderbare Rührung, während er diese Rolle sah. Es war, als fiele ihm alles ein, was er jemals in Frankreich erlebt hatte. Der Concierge öffnete die Flügeltüren des zweiten Fensters, vor dem ein kleiner Balkon lag.

»Wunderbare Aussicht, Monsieur Maree«, sagte er. »Das Tal und die ganze Gegend zwischen Grasse und dem Meer.«

»Wunderbar«, sagte Hyde überwältigt. Er gab dem Hausdiener Geld.

»Waren Sie einmal in Grasse, Monsieur?«

»Ja.«

»Unerträglich, der Gestank in den Parfumfabriken, wie?« »Unerträglich, ja.«

»Aber wenn der Wind richtig steht, kommt ein ganz feiner Duft herüber, Monsieur Maree. Also, ich liebe diesen zarten Duft. Badezimmer ist hier, Monsieur. Restaurant ist exzellent. Ein paar Gäste haben sich Bouillabaisse zum Abendessen gewünscht. Der Koch macht sie phantastisch. Hätten Sie auch Lust? Beste Bouillabaisse, die Sie je gekriegt haben. Dazu ein Weinchen, ein Weinchen haben wir, Monsieur Maree ...«

»Großartig. Auch für mich Bouillabaisse. Keinen Wein.« »Um neun? Ist es recht? Vorher ein Aperitif in der Bar?« »Neun ist fein. Auch keinen Aperitif.«

»Ist gut. Sehen Sie die Mimosen drüben hinter der alten Mauer? Bald wird hier alles voll von blühenden Mimosen sein, Monsieur Maree. Ich glaube, der Wind hat sich schon gedreht. Riechen Sie den Duft aus Grasse?«

»Nein.«

»Na, ich habe eine besonders feine Nase. Sie werden ihn auch bald riechen ... Vielen Dank, Monsieur, das wäre nicht nötig gewesen. Gott, wie ich diesen Duft liebe ...«

Als er allein war, zog sich Hyde nackt aus, duschte und legte sich auf das Bett, den Kopf auf die Rolle. Er hatte sich nicht abgetrocknet und ließ die Wassertropfen verdunsten. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, sah er zur Decke empor und dachte daran, daß jeder Mensch etwas zum Lieben haben mußte. Der Concierge den Duft, der aus Grasse herüberkam. Morley seinen Tee. Er seine Mutter. Laforet ihn. Es gab so viele Arten von Liebe.

Junge und sehr alte Deutsche und Engländer, doch nur wenige Franzosen wohnten in den anderen Zimmern. Nach dem Essen verließen die meisten bald den Speisesaal. Auch Hyde ging. Er setzte sich im Dunkeln auf das Bett neben dem offenen Fenster und sah hinaus auf das Tal und die vielen Lichter, die nun dort glitzerten. Es waren unglaublich viele Lichter. Zu den leuchtenden Perlenketten entlang der Straßen kamen die Lichter der Fabriken, wo auch nachts gearbeitet wurde, und die Lichter von Grasse und kleineren Flecken mit wenigen Lichtern, manchmal schimmerte nur ein einziges, das aus einem Haus kam, welches einsam stand. Dreimal in den eineinhalb Stunden bis Mitternacht, während der Hyde auf seinem Bett saß, glitt eine lange Lichterreihe schnell durch das Tal, und das waren drei Fernzüge, aber nicht das geringste Geräusch ihrer Räder drang bis zum Hotel. Es war unwirklich still, und jetzt nahm Hyde auch den zarten Duft von Parfum wahr, den der Wind von Grasse herübertrug. Der Himmel war voller Sterne und die Nacht sehr hell, mit einem zunehmenden Mond. Hyde saß reglos da und atmete tief. Er sah die Sterne und den Mond und die Lichter, und er dachte an viele Dinge.

Knapp nach Mitternacht erloschen die Außenlaternen des Hotels, und er hörte, wie der Concierge die Eingangstüren verschloß. Hyde stand auf, nahm die Segeltuchtasche, trat durch die offenen Glasflügel auf den Balkon und kletterte nach unten. Die Slipper, die er trug, waren sehr dünn und elastisch, und zwischen den großen Steinen der Hotelwand gab es tiefe Fugen. Hyde legte das letzte Stück im Sprung zurück und ging zum Parkplatz, auf dem etwa zwei Dutzend Wagen standen. Er setzte sich in den schwarzen Hertz-BMW, löste die Bremse, nahm den Gang heraus, und der Wagen rollte den abschüssigen Parkplatz hinab. Erst nach einer Weile schaltete Hyde den Motor und die Scheinwerfer ein und fuhr auf einer kurvenreichen Straße hinab in das Val de Moulins und dann in nördlicher Richtung über die Avenue de Tournamy auf die Nationalstraße Nummer sieben zu, die nach Mouans-Sartoux und nach Grasse führte. Vor Mouans-Sartoux bog er bei einer mächtigen Platane nach links ab und lenkte den Wagen wieder südwärts. Hier reichte dichter Wald an beiden Seiten bis zum Straßenrand. Bald erblickte Hyde, in den Wald hineingebaut, zur Linken zahlreiche teils noch unfertige neue Einfamilienhäuser. Baumaschinen und Laster standen herum, dazu viele Autos in Parkbuchten. Er lenkte den BMW auf die andere Straßenseite, hielt in einer solchen Bucht und stieg aus. In den schon bewohnten Häusern brannte kein Licht mehr. Es war sehr still. Einmal bellte ein Hund.

Hyde öffnete den Kofferraum und entnahm ihm die Segeltuchtasche. Eine starke Taschenlampe hatte er aus seinem Koffer im Hotel mitgebracht. Er trug nun ein Hemd mit aufgenähten Taschen und Schulterklappen sowie Bluejeans. Nach wenigen Minuten erreichte er den Dorfeingang. Auf einer Tafel las er: LA ROQUETTE SUR SIAGNE. An der rechten Straßenseite, wo er entlang kam, standen ein Postamt und eine Kirche. Er überquerte, jedes Geräusch beachtend, einen großen Platz, auf dem Platanen wuchsen. Links erblickte er einen Brunnen und ein Gebäude, das aussah wie eine Schule, an dem aber Plakate klebten, die Neuerwerbungen einer Leihbücherei und Vorträge für das »troisieme age«, das dritte Alter, also für ältere Menschen, ankündigten. Auf der gegenüberliegenden Seite, tiefer gelegen, sah er eine große Bahn für Boule-Spieler, und vor sich, an der Schmalseite des Platzes, ein Lebensmittelgeschäft und die BAR DE LA PLAGE. Nach links zweigte die Rue de la Baisse ab, nach rechts die Avenue du Roi Albert. An der Mauer der kleinen Bar klebte ein zerrissenes Plakat. Er las: Du-DUBON – DUBONNET – eine Aperitifreklame. Hyde bog in die sehr schmale Avenue du Roi Albert ein. Hier gab es nur wenige, weit voneinander entfernte Häuser. Chan Ragai wohnte in einem Haus namens »Biblos«, das hatte ihm Roger Morley gesagt. Hyde erreichte eine hohe Mauer und zwei verfallene Torpfeiler. Auf einem stand in schmiedeeisernen Buchstaben VILLA BIBLOS. Der Boden war sandig. Die beiden Pfeiler in der hohen Mauer, welche das ganze Grundstück umgab, hielten die Hälften eines großen schmiedeeisernen Tores, das aussah, als würde es jeden Moment umfallen. Dahinter sah Hyde einen total verwilderten Garten. Hier wuchs alles durcheinander: Palmen, Pinien, Sträucher, Kletterpflanzen und Blumen. Im Hintergrund lag das einstöckige Haus, mit den rosarot gestrichenen Mauern, das Hyde von den Fotos Morleys her kannte. Er mißtraute dem Tor, kletterte samt seiner schweren Tasche über die hohe Mauer und sprang ins Gras. Er kniete nieder, öffnete die Tasche, nahm ein Schulterhalfter heraus, setzte die Springfield zusammen und schraubte ihr und der Parabellum die Schalldämpfer auf. Dann schob er die Magazine ein und steckte weitere in die Brusttaschen seines Hemdes. Die Pistole schob er in das Schulterhalfter.

Die Fensterläden des Hauses waren dunkelgrün gestrichen und zum Teil geschlossen. Der Mond schien sehr hell. Hyde ging gebückt durch das hohe Gras des Gartens und um das Haus herum. Er fand eine offene Kellerluke, glitt lautlos durch sie und knipste die Taschenlampe an. In dem niederen Keller sah er einen großen Metallkäfig voller Weinflaschen, eine Menge geschichtetes Kaminholz und Berge von zerlesenen Büchern. Nichts regte sich. Hyde trug jetzt das Gewehr über der Schulter, die Pistole in der Rechten. Er huschte die Treppe ins Erdgeschoß hinauf und öffnete leise eine Tür, die unter der Treppe zum ersten Stock in eine große Wohnhalle führte. Den Boden der Halle bildeten rote, abgeschliffene Ziegel. Provencalische Bauernmöbel standen neben modernen tiefen Lehnsesseln. In einer Eßecke erblickte Hyde einen sehr langen Tisch und viele Stühle. Darüber hing eine Ikone. Die ganze Kaminwand war mit bunten Kieselsteinen vom Strand und bunten Glasscherben, die man in den noch feuchten, weißen Kalk gedrückt hatte, bedeckt. An den anderen Wänden hingen surrealistische Bilder. Von der Halle zur Eßecke führte eine Stufe. Regale fehlten, Bücher mit Schutzumschlägen in deutscher, französischer und englischer Sprache türmten sich an vielen Stellen zu Gebirgen. Ein weißer, einen halben Meter hoher Fayence-Elefant trug ein Schachbrett mit Elfenbeinfiguren auf seinem Rücken. Eine Partie war offenbar unterbrochen worden. Der sehr schöne Barocksekretär mit den vielen Laden und den prächtigen Intarsien neben einem Fenster diente als Schreibtisch. Er war voller Papier. Ein Buch lag geöffnet da, und Hyde, welcher mit der Taschenlampe den ganzen Raum ableuchtete, sah, daß eine Stelle angestrichen war. Er trat näher und las in deutscher Sprache: »Ihr Herz ist krank, und Allah überläßt es mehr und mehr der Krankheit; bittere Strafe wird sie wegen ihres Leugnens treffen. Spricht man zu ihnen: ›Stiftet kein Unheil auf Erden!‹ so antworten sie: ›Wir fördern den Frieden.‹ Sagt man zu ihnen: ›Glaubt doch, wie die anderen glauben!‹ da erwidern sie: ›Sollen wir denn gleich Toren glauben?‹ Doch sie sind selbst Toren – und wissen es nicht.«

Der Füllfederhalter, mit dem jemand die Stelle angestrichen hatte, lag noch aufgeschraubt da. Eine halbgerauchte Pfeife lag im Aschenbecher. Daneben stand eine Vase mit frischen Blumen aus dem Garten. Hyde schloß das Buch und las auf dem Umschlag: DER KORAN – DAS HEILIGE BUCH DES ISLAM. In einer Ecke sah er einen japanischen Fernsehapparat, auf dem Tischchen daneben ein Telefon.

Hyde ging in die Küche. Die Spülmaschine war voll mit sauberem Geschirr. Er ging in den ersten Stock hinauf. Er bewegte sich schnell, geschmeidig und lautlos. Einmal glaubte er, ein Geräusch hinter einer der Türen zu hören. Er wartete einen Moment, dann stieß er die Tür auf und sprang zur Seite. Nichts regte sich. Hyde sah vorsichtig in das Zimmer. Ein zugedecktes Bett stand darin. Schränke waren in die Wände eingebaut. Hyde öffnete sie. Erstklassige Wäsche und Anzüge lagen und hingen ordentlich vor ihm. Hyde ging in das nächste Zimmer, gleichfalls einen Schlafraum. Er war so sauber aufgeräumt wie der andere. Nach einer halben Stunde hatte er das Haus vom Boden bis zum Keller durchsucht. Keinen Menschen, lebend oder tot, hatte er gefunden.

Er verließ die Villa, ging den Hügel hinter dem Haus hinauf das Grundstück war sehr groß – und kletterte in einen uralten, mächtigen Baum mit verkrüppelten Ästen. Auf einer Gabelung blieb er sitzen. Um fünf Uhr früh verließ er seinen Beobachtungsplatz und kehrte zu dem Wagen zurück, den er in der Parkbucht vor der neuen Siedlung abgestellt hatte. Kein Mensch war gekommen, kein Mensch hatte sich sehen lassen. Hyde zerlegte die Waffen und verwahrte sie in der Tasche, die er im Kofferraum verstaute. Er fuhr ins Hotel zurück, parkte, ging um das Haus herum und kletterte wieder zu seinem Balkon empor. Angezogen legte er sich auf das breite Bett und schlief drei Stunden. Um halb neun erwachte er, duschte und rasierte sich und zog neue Sachen an. Dann ging er in den Speisesaal, um zu frühstücken.

Außer ihm war nur ein deutsches Paar da. Das Mädchen hatte blondes Haar und blaue Augen, der junge Mann einen Bart. Sie konnten beide nur mit einer Hand essen, die Finger der anderen hielten sie ineinander verflochten. Sie sahen einander fast unentwegt an und lächelten wie über ein Geheimnis, von dem bloß sie beide wußten. Wenn es wirklich ein Geheimnis ist, dann muß es ein schönes sein, dachte Hyde, und ein paar Sekunden lang überkam ihn Traurigkeit.

Er beendete bald sein Frühstück und ging in die Halle. Der freundliche Concierge, den er schon kannte, stand hinter

seiner Theke.

»Guten Morgen, Monsieur Maree! Haben Sie gut geschlafen?«

»Wie ein Murmeltier.«

»Das ist die Luft hier«, sagte der Portier. »Herrliche Luft. Was haben Sie heute vor, Monsieur Maree?«

»Bißchen in der Gegend herumfahren«, sagte Hyde. »Aber nicht zu den Parfümfabriken in Grasse«, sagte der

Concierge und zwinkerte.

»Nein, bestimmt nicht zu den Parfümfabriken in Grasse«, sagte Hyde.

»Heute steht der Wind falsch. Man riecht den Duft nicht. Es wird wohl sehr heiß heute, Monsieur Maree. Werden Sie zum Mittagessen da sein?«

»Ich weiß nicht«, sagte Hyde. »Wahrscheinlich nicht.« »Ich habe nur aus Höflichkeit gefragt«, sagte der Concierge.

»Es ist natürlich vollkommen Ihnen überlassen, Monsieur Maree.« Hyde fuhr nach Cannes.

Er parkte den Wagen am alten Hafen hinter dem scheußlich modernen Gebäude, an dessen Stelle einmal das schöne Wintercasino gestanden hatte, und ging ein Stück die Croisette hinunter. Die Wedel der alten Palmen auf dem Mittelstreifen hingen reglos. Es war absolut windstill. Das Meer sah aus wie geschmolzenes Blei. Drei Zerstörer der Sechsten Amerikanischen Flotte lagen draußen vor Anker. Kleine Boote voller Matrosen fuhren eilig zwischen ihnen und einer Anlegestelle des alten Hafens hin und her. Hyde kannte Cannes und wußte, daß die Huren nun wieder Großeinsatz hatten. Er sah viele Matrosen in ihren weißen Ausgehuniformen. Alle wanderten die Croisette hinab in Richtung zum neuen Hafen Port Canto, wo die meisten Mädchen wohnten. Die Huren verdienten stets großartig, wenn Schiffe der Sechsten Flotte vor Cannes ankerten, am meisten verdienten sie um den 4. Juli, den amerikanischen Unabhängigkeitstag, herum, denn da erschienen hier immer riesenhafte Flugzeugträger und eine ganze Flotte von Begleitschiffen, und es gab Empfänge beim Präfekten und einen Galaabend im PALM BEACH. Dann kamen die Huren einfach nicht mehr nach. Hyde kannte die Geschichte von einem Mädchen, das an einem 4. Juli vollkommen verschwollen und mit einem Kreislaufkollaps in das große Hopital des Broussailles eingeliefert werden mußte, nachdem es ohne Pause siebenundvierzig kräftige amerikanische Seeleute bedient hatte. Die Huren verdienten während der ganzen Saison gut, und promenierten gern auf der Croisette zwischen dem alten Hafen und dem PALM BEACH hin und her, immer an jener Seite, an der die Hotels und Geschäftshäuser standen. Die andere Seite, entlang dem Meer, war der Strich der Knaben. Hyde sah keinen einzigen. Die Matrosen wollten Mädchen, die Saison für die Knaben hatte noch nicht begonnen.

Hyde überquerte die Croisette bei dem großen Zeitschriftenladen Maison de la Presse, ging ein Stück die kleine Rue des Serbes hinauf und bog links in die Rue Notre Dame ein. Hier war die Hauptpost, jetzt klimatisiert. Vor acht Jahren, als Hyde hierhergeschickt worden war, um einen armenischen Politiker zu erschießen, war sie noch nicht klimatisiert gewesen, aber sauberer. Diesmal sah sie sehr dreckig aus. Hyde fand, daß Cannes in der Zwischenzeit überhaupt viel von seinem Reiz verloren hatte. Die Typen, die auf den Straßen herumlungerten, gehörten eigentlich nach Marseille. Hyde wußte, daß Cannes eine Gangsterstadt geworden war. Die Kriminalität, auch die schwerste, stieg sprunghaft immer weiter an, und die Polizei tat wenig. Sie wird wissen, warum, dachte Hyde und ließ sich von einer mißgelaunten Frau mit Brille am Telefonschalter ein schmutziges Stück Karton geben, auf dem die Nummer dreizehn stand. Er ging in die Kabine dreizehn, hielt die Tür einen Spalt geöffnet, so daß kühle Luft hineinkam und wählte Morleys Nummer in London. Dann bediente er den Decoder.

Er sagte: »Guten Morgen, Mister Morley! Hier spricht Hyde. Ich war in Chan Ragais Haus und habe es die ganze Nacht beobachtet. Kein Mensch war da oder kam. Es sieht aber so aus, als wäre Chan Ragai vor kurzem noch dagewesen. Was soll ich tun? Ich rufe in einer Stunde wieder an.«

Nachdem er bei der mißgelaunten Frau das Gespräch bezahlt hatte, ging Hyde in der Rue d’Antibes zu einem Friseur und ließ sich die Haare schneiden und die Fingernägel maniküren. Anschließend besuchte er einige Antiquitätenläden. Er wollte einen Buddha für seine Mutter kaufen, fand aber nichts Passendes. Schließlich wanderte er in der Rue d’Antibes, deren Gehsteige man verbreitert hatte, zurück zur Hauptpost. Dabei wurde er Zeuge, wie einer alten Frau, die am Rand der Fahrbahn ging, von zwei Halbwüchsigen auf einem schweren Motorrad die Handtasche weggerissen wurde. Die alte Frau schrie gellend und stürzte. Sie schrammte sich Knie und Wangen auf, Blut befleckte das Pflaster. Die beiden Jungen auf dem Motorrad waren mit Vollgas davongebraust. Zwei Männer halfen der alten Frau auf die Beine, alle anderen Passanten gingen ungerührt weiter. Die Männer führten die alte Frau in ein Geschäft für Damenunterwäsche, damit man ihre Verletzungen behandeln konnte, und Hyde hörte den einen ärgerlich sagen: »Sie sind selber schuld, Madame. Sie müssen doch wissen, daß Sie Ihre Handtasche niemals zur Fahrbahnseite hin tragen dürfen, immer nur zur Häuserseite! Alle wissen das, keiner tut es. Darum passiert so was in der gottverdammten Rue d’Antibes auch jeden Tag.«

»Was ist aus dieser Stadt geworden«, sagte die alte Frau klagend. »Was für eine Jugend! Und so was kriegt natürlich auch noch Arbeitslosenunterstützung. «

»Wenn man erst einmal anfängt, Menschen dafür Geld zu geben, daß sie arm sind, wird man sehr bald sehr viele Arme haben«, sagte der andere Mann.

Hyde erreichte die Hauptpost und wählte wieder Morleys Nummer. Dessen Stimme ertönte vom Band: »Guten Morgen, Mister Hyde! Es sieht so aus, als habe man Chan Ragai geraten, sein Haus zu verlassen und sich zu verstecken, bis die Fernsehleute und die Gendarmen da sind. Fest steht, daß Conrad Colledo und ein Aufnahmeteam heute mit der Frühmaschine von Frankfurt nach Zürich abgeflogen sind. Dort stiegen sie in eine Swiss-AIR-Maschine um. Es ist jetzt elf Uhr fünfundzwanzig. Ihre Zeit. Die Swiss-AIR-Maschine landet um elf Uhr fünfundvierzig in Nizza. Das MAJESTIC bestätigt, daß Zimmer für Colledo und das Team reserviert wurden. Sie wissen natürlich am besten, was Sie zu tun haben, aber ich empfehle Ihnen, das MAJESTIC im Auge zu behalten und auf die Ankunft der Leute zu warten. Sie bringen ihre Apparaturen mit, sind also leicht zu erkennen. Colledo haben Sie schon in der Wohnung von Ross gesehen. Leider ist er nun sehr vorsichtig geworden. Sie müssen ihm auf den Fersen bleiben, wenn er Chan Ragai aus seinem Versteck holt. Schade, daß Sie den nicht schon liquidieren konnten. Sie müssen es unbedingt schaffen, ehe er ein Wort vor den Kameras spricht. Viel Glück! Ende.«

Hyde ging zum alten Hafen zurück. Zwei amerikanische Matrosen begegneten ihm.

»Hey, Frenchy«, sagte der eine. »Speak English?« »A little«, sagte Hyde.

»We wanna fuck. Understand?« Der zweite Matrose machte eine obszöne Bewegung mit Hand und Arm.

»Fuck, fuck. Understand?« sagte Hyde. »Where are the girlies?«

»You go down this street. Left side. All way down. Rue de Canada. Many girls.«

»Rue de Canada?«

»Yes. Much fucking there. Very good fucking«, sagte Hyde. »Beautiful girls.«

»Thanks, buddy«, sagte der erste Matrose, der eine Flasche Scotch in einer Hand hielt. Und zu seinem Freund: »Come on, Joe, hurry up! Rue de Canada!« Sie liefen die Croisette auf dem Gehsteig am Meer hinab.

Hyde ging zu seinem Wagen, in dem es glühend heiß war. Er fuhr bis zum MAJESTIC, bog links ein und ließ den Wagen die Auffahrt des Hotels emporrollen. Ein paar Wagenmeister und Gepäckträger in blauen Hosen und Hemden standen im Schatten. Hyde fuhr um das große, runde Blumenbeet vor dem gläsernen Eingang herum, hielt und stieg aus. Ein sehr großer Wagenmeister mit rosigem Gesicht kam auf ihn zu und lächelte freundlich.

»Parken, bitte!« sagte Hyde. »Wohnen Sie im Hotel, Monsieur?« Hyde drückte dem großen Mann zwei Zehnfrancscheine in die Hand.

»Nein.«

»In Ordnung, Monsieur«, sagte der Wagenmeister, setzte sich hinter das Steuer und fuhr den Wagen in die Tiefgarage. Hyde ging vom Eingang weg zu einer kurzen Marmortreppe, die auf eine breite Terrasse führte. Unter einem ausgefahrenen Sonnensegel standen viele runde Tische und Stühle. Vor der Terrasse befand sich ein Swimmingpool aus weißem Marmor. Auch der Terrassenboden war aus weißem Marmor. Um den Pool blühten viele Blumen, und dichtes Gebüsch schirmte ihn zur Croisette hin ab. Ein paar Mädchen und ein alter Mann schwammen. Andere Mädchen lagen vor dem Pool in der Sonne. Unter dem mächtigen Sonnensegel saßen Amerikaner in Bermudashorts. Sie rauchten Zigarren und hatten Diplomatenkoffer und viele Papiere auf dem Tisch. Hyde setzte sich nahe der Treppe und bestellte Gini, ein alkoholfreies Getränk. Vor ihm lag ein sehr schönes Mädchen im Gras. Das sehr schöne Mädchen hatte das Oberteil eines winzigen Bikinis abgenommen, lag auf dem Bauch und las in einem roten Buch. Praktisch war das sehr schöne Mädchen nackt. Jetzt blickte es Hyde an und lächelte, während es sich auf die Ellbogen stützte und damit den Oberkörper so weit hob, daß Hyde die Brüste sehen konnte.

»Hallo«, sagte das sehr schöne Mädchen.

»Hallo«, sagte Hyde.

»Das Ende der Welt und Gottes Reich sind nahe gekommen«, sagte das sehr schöne Mädchen.

»Machen Sie Schabbes damit«, sagte Hyde. »Wie bitte?« »Machen Sie sich damit einen schönen Sonnabend.« »Hören Sie, Monsieur, so können Sie mit mir nicht reden!« »Hauen Sie ab!« sagte Hyde: »Los, los, hauen Sie ab!« Das sehr schöne Mädchen stand gekränkt auf, ließ sich eine

Menge Zeit damit, das Bikinioberteil anzulegen, nahm das rote Buch und ging dann mit wiegenden Hüften auf die andere Seite des weißen Pools.

Der Kellner brachte ein Glas, Eiswürfel, eine kleine Flasche Gini, eine Schale mit Salzmandeln und eine zweite mit Oliven. »Voila, M’sieur.«

»Merci«, sagte Hyde. Er trank durstig. Der Drink war so kalt, daß seine Zähne schmerzten.

Erst 13 Uhr 15 rollte ein blauer Opel Diplomat um das Blumenbeet und hielt vor dem Hoteleingang. Der Mann am Steuer stieg aus und redete mit einem Wagenmeister. Der Mann neben ihm redete mit zwei Gepäckträgern. Sie holten Koffer aus dem Opel. Ein weißer Volkswagen Kombi hielt hinter dem blauen Diplomat. Mehrere Männer stiegen aus. Sie trugen alle leichte Kleidung. Auch aus dem Kombi holten die Gepäckträger Koffer. Hinter den Windschutzscheiben beider Wagen steckten große Pappschilder mit schwarzgedruckter Aufschrift. Hyde hatte gute Augen. Unter dem Sonnensegel auf der Terrasse sitzend las er: FERNSEHEN FRANKFURT / TELEVISION ALLEMAGNE FEDERALE. Hyde trank langsam sein drittes Glas Gini aus. Er hatte Conrad Colledo erkannt. Colledo trug eine weiße Hose, weiße Slipper und ein dunkelblaues Hemd, das lose herabhing. Er hatte eine kleine Ledertasche in der Hand. Es war sehr still vor dem Hoteleingang und auf der Terrasse. Die meisten Menschen waren fortgegangen. Hyde hörte die Gespräche der Männer vom Fernsehen. Sie wollten auf ihre Zimmer, sich waschen und dann eine Kleinigkeit essen. Sie hatten es eilig. Einer fragte den großen, rosigen Wagenmeister, wie lange man nach La Roquette sur Siagne fahre. Hyde winkte dem Kellner und machte ein Zeichen, daß er zahlen wolle. Er hatte eine NICE-MATIN vom Zeitungsstand geholt und hielt das Lokalblatt vors Gesicht. Colledo durfte ihn nicht sehen. Zwei Wagenmeister fuhren die beiden Wagen schließlich zur Seite, nahe an die Mauer bei der Marmortreppe heran, nicht in die Tiefgarage.

Nun verschwanden die Männer im Hotel. Hyde zahlte und wartete, bis sie wieder ins Freie kamen und in den großen Speisesaal gingen, welcher sich der Terrasse gegenüber im Seitenflügel des Hotels zu ebener Erde befand. Einige Tische

standen im Freien, durch eine Markise vor der nun sehr starken Sonne geschützt. Zwei Männer blieben draußen beim Essen. Mit Colledo waren es insgesamt sechs.

Hyde stand auf und verließ die Terrasse.

»Bitte, meinen Wagen«, sagte er zu dem rosigen Voiturier, »den schwarzen BMW.«

»Sofort, Monsieur.« Der Wagenmeister lief die Einfahrt zur Tiefgarage hinunter. Gleich darauf fuhr er den BMW nach oben – rückwärts und schnell, sehr geschickt. Hyde dankte und gab dem Mann noch einmal Geld.

»Aber Sie haben mir doch schon ...«

»Trinken Sie ein Glas auf mein Wohl!«

»Merci mille fois, Monsieur!«

Aus dem Restaurant gegenüber kamen etwa zwanzig Minuten später die ersten Fernsehleute und gingen zu dem VW Kombi. Hyde hatte seinen Wagen um das Blumenbeet auf die andere Seite gefahren. Nach einer halben Stunde folgte der Rest der Gesellschaft. Colledo stieg in den blauen Opel Diplomat, ein Mann setzte sich neben ihn, die anderen kletterten in den Kombi. Colledo fuhr langsam an. Der Kombi folgte. Sie glitten die Zufahrt zum Hotel hinab. Hyde startete den Motor und fuhr dem Kombi nach. Auch auf der Croisette war es noch mittäglich ruhig. Colledo bog nach rechts ein, die beiden anderen Wagen blieben hinter ihm. Hyde vergrößerte den Abstand zu dem VW Kombi.

Die drei Wagen fuhren nach rechts durch die Rue de Belges, bogen kurz links in die Rue d’Antibes und gleich darauf wieder rechts in die Rue Foche ein, über welche sie die Schnellstraße Nummer zwölf erreichten. Diese breite voie rapide, die hier steil anstieg, brachte sie zu der großen und schlecht eingerichteten Kreuzung bei der Eisenbahnüberführung am Beginn des mächtigen Boulevard Carnot. Hier drängten sich die Wagen, und es gab jede Menge Ampeln und nervöse Verkehrspolizisten mit Trillerpfeifchen. Die drei Autos fuhren auf dem Boulevard Camot mit seinen schattenspendenden Riesenbäumen bis zu einem Verkehrskreisel, bei dem der Zubringer zur Autobahn abbog. Am Straßenrand des schmalen Zubringers stand ein offener Mannschaftswagen der Gendarmerie. Auf den Bänken saßen etwa dreißig schwerbewaffnete Uniformierte. Hyde hielt an, denn die beiden Wagen vor ihm hatten beim Mannschaftswagen angehalten. Ein Offizier trat zu dem blauen Diplomat, salutierte und sprach mit Colledo. Hyde biß sich auf die Lippen. Unmittelbar vor ihm war eine Ampel, und sie zeigte immer noch grün. Hinter ihm hupten ein paar Fahrer in ihren Wagen wie die Irren. Sie brüllten durcheinander.

»Crevez, salopard!«

»Mon Dieu, quel con!«

»Allez, allez, assassin!« Hyde rann der Schweiß von den Brauen in die Augen. Er mußte hier weg und das schnell. Er trat auf das Gaspedal. Der BMW schoß vor und brauste an dem VW Kombi, dem Opel Diplomat und dem Mannschaftswagen der

Gendarmerie vorbei den Zubringer zur Autobahn hinauf. Hyde hatte keine Wahl mehr gehabt. Feine Scheiße! Wenn die jetzt Chan Ragai irgendwo aus seinem Versteck holen, ehe ich ihn umlegen kann, dachte er und fuhr langsamer. Das wird eine Freude werden mit all der Gendarmerie. Ich muß warten, bis sie wieder vor mir fahren, ich weiß ja nicht, wo dieser Chan Ragai steckt. Im Rückspiegel sah er den Mannschaftswagen auftauchen, dahinter den Diplomat und zuletzt den Kombi. Hyde ließ die drei Autos an sich vorbei. Der Mannschaftswagen und die Autos, die ihm folgten, blieben auf dem Zubringer, der an einer Kleeblattkreuzung vorbeiführte und wieder eine normale Straße wurde. Jetzt fuhren sie an dem Restaurant MOULIN DE MOUGINS vorbei. Gutes Fressen gibt es da, dachte Hyde idiotisch. Bald danach wurde er wieder nervös. Die Kirche Notre Dame de Vie tauchte rechts auf. Wenn die Kerle nach La Roquette sur Siagne wollten, dann mußten sie nach der großen Biegung auf die Nationalstraße Nummer fünfundachtzig einbiegen, und zwar nach rechts. Bei dem Kombi leuchtete der rechte Blinker. Na also! Hyde schaltete den rechten Blinker des BMW ein. Er überlegte fieberhaft, während er dem kleinen Konvoi auf der Nationalstraße, die in Richtung Grasse führte, folgte. Kein Zweifel, die Brüder waren nach La Roquette sur Siagne unterwegs. Hatte sich Chan Ragai so versteckt, daß sie ihn auf dem Weg dorthin noch mitnehmen konnten? Morley wußte: Die Aufnahmen sollten in der VILLA BIBLOS stattfinden. Er war bisher über alles, was den Sender betraf, immer zuverlässig informiert worden. Man mußte sich darauf verlassen. Auch diesmal.

Ausfahrt nach Le Val de Mougins. Der Konvoi blieb auf der Nationalstraße. Hyde auch. Die nächste Ausfahrt führte nach La Roquette sur Siagne. Der Konvoi bog bei der großen, alten Platane links ab. Hyde desgleichen. Er dachte: Ich muß es riskieren. Ich muß es einfach riskieren. Ich muß vor den Hunden dort sein. Ja, vor ihnen! Er trat das Gaspedal durch und raste los. Als er die drei Wagen überholte, kam ihm ein Peugeot entgegen. Ein Viertelmeter, und der BMW hätte ihn gerammt. Hyde sah das entsetzte Gesicht eines Mannes vorüberfliegen. Er fuhr jetzt so schnell es nur ging, völlig rücksichtslos. In den Kurven schleuderte der Wagen jedesmal. Die Reifen kreischten. Hyde ließ den Fuß auf dem Gaspedal.

Er parkte wieder in einer Bucht vor den neuen Häusern. In größter Eile holte er die Segeltuchtasche aus dem Kofferraum. Er sprang auf die Straße zurück. Noch war es still, aber sie mußten gleich da sein.

Hyde rannte los. Der Schweiß brach ihm aus und lief in Strömen über seinen Körper. Hyde keuchte. Sein Herz hämmerte wie das Blut an seinen Schläfen. Er rannte über den Platz mit dem Lebensmittelgeschäft und der Bar. Ein paar alte Männer spielten im Schatten der Platanen Boule. Niemand beachtete ihn. Er rannte die schmale Avenue du Roi Albert hinab. Er erreichte die Mauer und das schmiedeeiserne Tor, das schräg in den verrosteten Angeln hing. Er kletterte über die Mauer, er ließ sich in das hohe Gras des verwilderten Gartens fallen. Jetzt hörte er schon Motorenlärm, der anschwoll. Sie kamen!

Er hechtete durch den Garten, rannte um das Haus, das verlassen in der Sonne stand, ließ sich durch die Luke in den Keller gleiten und kroch hinter den großen Stapel Kaminholz. Die Scheite reichten fast bis zur Decke. Er schwitzte jetzt so stark, daß Hemd und Hose durchnäßt waren und Tropfen auf den Boden fielen. Er bemühte sich, ruhiger zu werden, langsamer zu atmen. Er öffnete die Tasche, setzte die Springfield zusammen und schraubte den Schalldämpfer auf das Gewehr und den Lauf der Parabellum. Sie werden kommen und alles durchsuchen, dachte er. Natürlich auch den Keller. Wenn ich Glück habe, entdecken sie mich nicht. Wenn ich kein Glück habe, nehme ich noch so viele von den Hunden mit wie möglich. Eine Schießerei wird es auf alle Fälle geben, sobald ich rauf muß, um Chan Ragai umzulegen. Ach, dachte Hyde, ich bin schon aus größeren Scheißhaufen herausgekommen.

Er hörte jetzt Stimmen, Sätze, deutsch und französisch durcheinander, dazu französische Befehle.

»Zehn Mann durchsuchen den Garten! Fünf kommen mit mir ins Haus! Der Rest sichert das Gelände! Moment. Ragai hat mir alle Schlüssel gegeben. Ich sperre auf.« Das muß der Offizier sein, dachte Hyde. Ragai hat ihm alle Schlüssel gegeben. Also wird man ihn hierherbringen, bewacht natürlich. Zuerst soll alles durchsucht werden. Fünfzehn Mann sichern das große Gelände, überlegte er, während schon Stiefel die Kellertreppe heruntertrampelten. Er lag nun flach im Dunkeln hinter dem Scheiterhaufen auf dem kalten Boden, die Springfield durchgeladen und entsichert. Zwei Mann kamen in den Keller. Sie hatten Taschenlampen. Und sie waren verärgert.

»Das alles in dieser Hurenhitze, Mensch!« sagte der eine wütend. »Meine Uniform bringt mich noch um!«

»Scheiß auf den verfluchten Capitaine«, sagte der andere. »Hier ist niemand. Affentheater!«

Die Tritte entfernten sich wieder auf der Steintreppe. Die Tür oben blieb offen. Hyde grinste. Na also, dachte er. Na also. Weiter so! Er hörte das Stiefeltrampeln jetzt über sich. Die durchsuchen wirklich das Haus, dachte er. Klar, Idiot, dachte er.

Klar durchsuchen sie das ganze Haus. Plötzlich hörte er Colledos Stimme. »Fünfzehn Uhr. Wir sind pünktlich. Jetzt muß er kommen.«

»Hoffentlich«, sagte eine andere Stimme. »Junge, laß die Fenster zu! Kommt doch nur Hitze rein.«

»Wir werden im Freien drehen«, sagte Colledo. »Vor dem Haus.«

Hyde lag reglos auf dem feuchten Steinboden des Kellers. Es roch nach Moder, sehr stark nach Moder.

Eine halbe Stunde später lag er noch immer so da. Oben war es still geworden. Die meisten Gendarmen hatten

offenbar die Villa wieder verlassen. Die Männer vom Fernsehen rauchten, Hyde konnte es riechen. Er hätte auch gerne geraucht.

»Sauerei«, sagte eine Männerstimme. »Kann der blöde Sack nicht pünktlich sein?«

»Halt’s Maul, Franz«, sagte eine andere Stimme. »Der wird schon kommen. Sei nicht so fickrig. Immer bist du so fickrig, Franz.«

»Ach, leck mich doch«, sagte die erste Stimme. Hyde sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Es war 15 Uhr 33.

Drei Minuten nach vier war Chan Ragai noch immer nicht da. Hyde hörte Colledos Stimme: »Da ist was schiefgelaufen, verflucht.«

»Fürchte ich auch, Conny«, sagte eine Männerstimme. »Was machen wir jetzt?« fragte jemand französisch.

»Ich werde Jean-Marie anrufen, mon capitaine«, erklang Colledos Stimme.

»Ja, das ist gut«, antwortete die Stimme des Capitaine. Hyde hörte, wie eine Telefonnummer gewählt wurde. Nach

einer Weile ertönte die Stimme Colledos, der französisch sprach: »Jean-Marie? Hier ist Colledo. Was ...« Er verstummte und lauschte längere Zeit. »Danke, Jean-Marie ... Nein, nein, hauen Sie jetzt ab! Sofort!« Der Hörer wurde aufgelegt. Colledo sprach mit dem Capitaine.

»Grande merde fumante«, sagte der Capitaine entsetzt. »Was ist los, Conny?«

»Er ist weg«, sagte Colledo. »Was heißt weg?« »Heißt, was es heißt, Idiot!«

»Halblang, Conny, ja? Immer halblang. Wo ist er?« »Jean-Marie sagt, er ist abgeflogen.«

»Wann?«

»Was?« »Wann?« »Heute vormittag. Zehn Uhr dreißig. Mit PANAM nach Athen.«

» Athen? Das sagt Jean-Marie?«

»Ja.« Colledo erklärte dies nun auch französisch, damit der Capitaine der Gendarmerie und seine Leute alles mitbekamen. »Ragai ist um acht Uhr dreißig vom Hotel in Mougins weggefahren.«

»Was für einem Hotel?«

»Hotel LE MAS CANDILLE. Dort sollte er auf uns warten und heute nachmittag um drei Uhr hier sein.«

O nein! dachte Hyde. O nein! Eine fürchterliche Lust zu lachen überkam ihn. Er biß in seinen Arm. O Gott, dachte er. O Gott, nein! Chan Ragai war im MAS CANDILLE. In meinem Hotel!

»Woher weiß Jean-Marie das?«

»Idiot! Der hat doch auf ihn aufgepaßt seit vorgestern. Hat auch im MAS CANDILLE gewohnt. Ragai wußte das nicht. Er hat sich doch jeden Schutz verbeten. Hatte Angst, aufzufallen.«

Nein, dachte Hyde. Nein, nein, nein!

»Und?«

»Und heute früh um halb acht ist Chan Ragai in die Halle heruntergekommen und hat seine Rechnung bezahlt, und dann haben sie seine Koffer im Wagen verstaut, und er ist abgehauen. Zum Flugplatz in Nizza. Jean-Marie immer hinter ihm her. Hat alles genau mitgekriegt beim PANAM-Schalter. Ragai hatte schon gebucht. Nach Athen.«

»Wieso hat Jean-Marie uns nicht im MAJESTIC eine Nachricht hinterlassen?«

»Der hat doch keine Ahnung, worum es wirklich geht! Er sollte bloß auf Ragai aufpassen, bis wir da waren.«

»Verflucht, und warum hat er nicht in Frankfurt angerufen, im Sender?«

»Mensch, ich sage dir doch, er weiß überhaupt nicht, was wir von Ragai wollen. Glaubst du, das habe ich ihm auf die Nase gebunden?«

»Wer ist denn dieser beschissene Jean-Marie überhaupt?« »Ich kenne ihn nicht persönlich. Wir verwenden ihn immer,

wenn einer hier in der Gegend auf Leute aufpassen soll.« »Wer hat ihn auf Chan Ragai angesetzt?«

»Kleinhals, der Chefredakteur. Der hat mit ihm telefoniert. Jean-Marie und Kleinhals haben sich kennengelernt, als Kleinhals hier mal überfallen wurde. Da hat Jean-Marie ihn rausgehaut bei der Prügelei. Haben die beiden Freundschaft geschlossen. Vor drei Jahren im Sommer.«

»Wieso war Kleinhals hier?«

»Weil er hier im Urlaub war. Mach mich nicht wahnsinnig! Ragai ist abgehauen, diese Sau!« schrie Colledo.

»Und was tut dieser Jean-Marie, wenn er nicht auf Leute aufpaßt?«

»Da hat einmal ein Multimillionär gewohnt, in La Roquette sur Siagne. Schöne Villa. Auf dem Weg zum Friedhof. Hat mir Kleinhals erzählt. Jean-Marie war einer seiner Leibwächter. Dann ist dieser Millionär gestorben. Lag sehr passend, die Villa. Jean-Marie war mal Boxer. Schwergewicht.«

»Das alles hat dir Kleinhals erzählt?«

»Ja doch, Trottel. Woher soll ich es sonst wissen? Jean-Marie war schon ganz verzweifelt. Wußte nicht, was tun. Kleinhals hat ihm gesagt, wenn was dazwischenkommt, wenn was passiert, soll er im Hotel LE MAS CANDILLE warten, bis einer von uns anruft. Na, jetzt habe ich angerufen. Endlich zufrieden? Oder immer noch Fragen?«

»Ja. Wieso ist Jean-Marie noch da, wenn sein Millionär tot ist?«

»Hat eine Klitsche hier gekauft. Liebt die Gegend. Will nie mehr woanders wohnen, sagt Kleinhals. Los jetzt, los, los, los!«

»Los wohin?«

»Zurück nach Cannes. Ich muß den Intendanten anrufen.« »Na, dann ruf ihn doch an, Mensch!«

»Nicht von hier. Dieses Telefon ist vielleicht nicht koscher. Auch nicht vom Hotel. Von einem Postamt«, sagte Colledo. »Herrgott, ist das eine verschissene Sauerei, eine verfluchte!« Dann sprach er wieder französisch mit dem Capitaine.

Zehn Minuten später hörte Wayne Hyde das Geräusch anspringender Motoren. Die Wagen fuhren ab. Auf dem engen Weg müssen sie rückwärts fahren, dachte er. Nein, sie werden im Garten gewendet haben. Ich muß auch an ein Telefon. Und genauso schnell. Warum ist dieser Chan Ragai ausgerückt?

»Es ist jetzt fünfzehn Uhr mitteleuropäischer Zeit am Freitag, dem dreiundzwanzigsten März neunzehnhundertvierundachtzig. Mein Name ist Chan Ragai. Ich wurde am zweiten August neunzehnhundertelf in Teheran geboren. Iranischer Staatsbürger, verwitwet, Religion: Islam. Ich bin unheilbar krank und habe höchstens noch fünf Monate zu leben.«

Der Mann, der diese Worte fast genau zu dem Zeitpunkt sprach, zu dem Colledo, sein Team und der Mannschaftswagen mit französischen Gendarmen den kleinen Ort La Roquette sur Siagne und die VILLA BIBLOS erreichten und Wayne Hyde hinter dem hohen Holzstoß im Keller lag, hatte ein schmales, olivfarbenes Raubvogelgesicht mit dunklen, melancholischen Augen. Sein Haar war tief schwarz. Auf der Oberlippe wuchs ein gepflegtes, schmales, schwarzes Bärtchen. Chan Ragais Anzug war viel zu groß für seinen stark abgemagerten Körper, desgleichen das Hemd, dessen Kragen einen Fingerbreit vom Hals abstand. Er hatte große gelbe Zähne. Seine Stimme klang sehr müde.

Er saß mit dem Rücken zu dem Schreibtisch in Daniel Ross’ Wohnung an der Sandhöfer Allee in Frankfurt. Alle Vorhänge hatte man geschlossen. Scheinwerfer auf hohen Stativen brannten. Zwei Arriflex-Kameras in festen Positionen waren auf den elend aussehenden alten Mann gerichtet. Die eine lief. In einem Gewirr von Kabeln hatte ein Tonmann sein Gerät installiert und beobachtete, Kopfhörer an den Ohren, die Instrumentenanzeigen. Hinter den Kameras saßen Mercedes und Daniel. Neben ihnen standen zwei Polizisten mit Maschinenpistolen. Zwei weitere patrouillierten vor den Fenstern der Parterrewohnung. Auf der Straße parkte ein Funkstreifenwagen mit vier Mann Besatzung. In Frankfurt am Main regnete es. Hinter dem stillen Haus blühten Krokusse auf dem Rasen.

»Es ist diese mir von ersten Spezialisten in Paris nach eingehenden Untersuchungen noch zugestandene, bestenfalls zu erwartende kurze Zeit bis zu meinem Tode, die mich bewogen hat, nach mehrjähriger absoluter Zurückgezogenheit ein letztes Mal öffentlich in Erscheinung zu treten – vor Abermillionen Menschen in der ganzen Welt. Bis gestern, Donnerstag früh, lebte ich in meinem Haus in dem kleinen Dorf La Roquette sur Siagne in Südfrankreich nahe Cannes. Das Todesurteil der Ärzte ist mir schon seit einem Monat bekannt. Als Rechercheure des Senders Frankfurt mich endlich in La Roquette sur Siagne gefunden hatten und mir sagten, was sie von mir wünschten, erbat ich einen Tag Bedenkzeit. Dann erklärte ich mich bereit, vor die Kamera zu treten und alles zu berichten, was ich über einen Film weiß, den amerikanische und sowjetische Armeekameraleute während der Konferenz der sogenannten Großen Drei, Churchill, Roosevelt und Stalin, zwischen dem achtundzwanzigsten November und dem ersten Dezember neunzehnhundertdreiundvierzig drehten. Ich bin in der Lage, eine Aussage über diesen Film zu machen, weil ich zu jener Zeit in Teheran Resident für den geheimen Dienst des Naziaußenministers von Ribbentrop war.«

Chan Ragai hustete. Es war ein trockener, harter Husten, der zu schmerzen schien, denn der alte Mann verzog das eingefallene Gesicht und krümmte sich. Er hielt ein Taschentuch vor den Mund. Es dauerte einige Zeit, bevor er wieder sprechen konnte.

»Verzeihung. Ich hatte bis zum Auftauchen der Rechercheure mit der Vorstellung gelebt, dieser Film sei in Berlin während der letzten Kriegsjahre zerstört worden, verlorengegangen oder verschwunden. Als ich nun erfuhr, daß er – auf Videokassette übertragen – noch immer existiert und daß ein erbitterter Krieg im Dunkeln geführt wird mit dem Ziel, Menschen wie mich, die von dem Film wissen, zu liquidieren, um seine geplante Fernsehausstrahlung in der ganzen Welt wirkungslos werden zu lassen, habe ich mich auch bereit erklärt, mit allen Sicherheitsvorkehrungen der französischen und der deutschen Polizei zum Schutz meines Lebens einverstanden zu sein. Ich weiß, daß ich bald sterben muß – aber es soll nicht vor dem für mich bestimmten Zeitpunkt sein. Mein Zustand wird sich natürlich verschlechtern. Darum mache ich meine Aussage schon heute, einen Tag, nachdem ich mein kleines Haus in Südfrankreich verlassen habe. Ich werde nie mehr dorthin zurückkehren.«

Wieder wurde Chan Ragai von trockenem Husten geschüttelt. Feine Schweißperlen traten auf seine Stirn.

»Aus«, sagte Daniel. Der Kameramann stoppte seinen Apparat. »Lassen Sie sich Zeit, Herr Ragai. Sie dürfen sich nicht übernehmen. Wir werden immer wieder Pausen machen. Alle wissen, wie anstrengend es für Sie ist, zu sprechen.«

Mercedes war aufgestanden und goß aus einer Karaffe Wasser in ein Glas. Ragai sah sie dankbar an, während er es in die bis auf die Knochen abgemagerte rechte Hand nahm und in kleinen Schlucken daraus trank. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Nach ein paar Minuten hatte er sich erholt. Kamera und Tonaufnahme liefen wieder.

»Man hat mich gewarnt und mir erklärt«, sagte Ragai, »daß sich ein Verräter im Sender befindet, der jeden geplanten Schritt des mit diesem Film beschäftigten Stabs denen bekanntgibt, die ein Vorankommen des Projekts unter allen Umständen verhindern wollen. Es war uns natürlich klar, daß gerade ich- angesichts der äußerst negativen Einstellung der iranischen Regierung gegenüber den Vereinigten Staaten und auch gegenüber der Sowjetunion – besonders gefährdet bin, denn die Widersacher des Unternehmens sind bei diesen beiden Mächten zu suchen. Aus diesem Grunde hat ein sehr kleiner Kreis von Eingeweihten einen abenteuerlichen Plan entwickelt. Den anderen wurde bekanntgegeben, der Hauptabteilungsleiter für Politik und Zeitgeschehen und ein Aufnahmeteam würden heute, Freitag, nach Nizza fliegen und zu mir fahren, um meine Aussage in meinem Haus in La Roquette sur Siagne zu dokumentieren. Das ist auch geschehen. Herr Colledo, das Team und zum Schutz angeforderte französische Gendarmen müßten jetzt auf meinem Grundstück und in meinem Haus sein – und potentielle Attentäter desgleichen, denn der unbekannte Verräter hat dieses Unternehmen ganz bestimmt gemeldet. Nur hohe Gendarmerieoffiziere des Departements Alpes-Maritimes wurden desgleichen eingeweiht. Zwei Gendarmerieoffiziere flogen gestern vormittag – nach einem kleinen Täuschungsmanöver – mit mir in einer Privatmaschine von Nizza nach Frankfurt. Am Flughafen erwartete mich deutsche Polizei. Die Nacht habe ich in dieser Wohnung verbracht, von der Sie aus begreiflichen Gründen nur den Vorhang hinter mir sehen. Wenn ich meine Aussage gemacht habe, werde ich unter Polizeischutz sofort nach Teheran fliegen, wo ein Haus an einem unbekannten Ort für mich bereitsteht. Das ist meine Situation. Ich berichte nun, was ich über den Film weiß.«

Ragai wischte sich mit dem Taschentuch Schweiß von der Stirn. »Mein direkter Vorgesetzter in Berlin, der mich angeworben hatte und für das Nachrichtennetz Mittlerer Osten verantwortlich war, hieß Georg Ross. Wie das bei derartigen Diensten üblich ist, hatten wir für unseren Funk- und Kurierverkehr einen häufig wechselnden Code. Rechtzeitig vor Beginn der Konferenz erhielt ich einen Funkspruch von Ross, in dem er mich anwies, alles, was mit dem Treffen der Großen Drei zusammenhing, auf das genaueste zu verfolgen. Das tat ich.«

»Wie gingen Sie vor, Herr Ragai?« fragte Daniel, der gleich Mercedes und Ragai ein kleines Mikrofon an einer dünnen Schnur um den Hals trug.

»Ich hatte ausgezeichnete Mitarbeiter. Es gelang mir, zwei Männer als Kellner bei der britischen Delegation unterzubringen, zwei weitere bei der sehr großen amerikanischen, einen bei den Sowjets. Diese fünf Kellner schleuste ich mit den vielen einheimischen Arbeitskräften ein, die damals angefordert wurden, denn natürlich mußte jemand die Zimmer aufräumen, die Gebäude sauber halten und servieren. Köche brachten die drei Delegationen selbst mit. Molotow kam bereits am sechsundzwanzigsten, die britische und amerikanische Delegation trafen im Lauf des siebenundzwanzigsten November in Teheran ein. Mit ihnen kamen sehr viele Journalisten, Fotografen und Wochenschaukameraleute. Einer der beiden Männer, die ich bei den Amerikanern eingeschleust hatte, war mein jüngster und erfolgreichster Agent.«

»Wie hieß er?« fragte Mercedes.

»Das weiß ich bis zum heutigen Tage nicht.« »Ich verstehe nicht ...«, begann Daniel.

»Dieser Mann war Deutscher. Er wurde mir von Georg Ross aus Berlin geschickt. Natürlich besaß der Mann Papiere und einen Namen. Das brauchte er für die Behörden in Teheran, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Und natürlich waren die Papiere gefälscht.«

»Was heißt natürlich? War es üblich, daß Ihre Mitarbeiter mit gefälschten Papieren lebten?«

»Üblich war es nicht. Aber es kam oft vor. So etwas kommt in jedem Dienst oft vor. Natürlich weiß dann irgend jemand ganz oben – der Leiter des Netzes – Bescheid, wer solche Leute wirklich sind und wie sie wirklich heißen. Sie müssen ja alle ganz genau durchleuchtet worden sein, bevor man sie einstellte. Dieser junge Mann, mein bester Agent, den mir Ross da aus Berlin geschickt hatte, nannte sich Werner Kalmann – in den Papieren. Für alle Einsätze im Funk- und Kurierverkehr bekam er die Bezeichnung CX einundzwanzig.«

»CX einundzwanzig«, wiederholte Daniel.

»Ja, CX einundzwanzig. Auch die Verwendung von solchen Kürzeln war nichts Ungewöhnliches.«

»Solange, wie Sie sagen, der Chef des Dienstes über einen Mann mit einem solchen Kürzel genau Bescheid wußte.«

»Richtig.« Ragai nickte.

Daniel sah Mercedes an. Er flüsterte: »Dann hat mein Vater gelogen, als er uns erzählte, er habe nicht gewußt, wer CX einundzwanzig war. Er wußte es genau.«

Mercedes nickte. »Oder Ragai lügt jetzt«, flüsterte sie. Daniel sprach wieder laut: »Sie sagten ›der junge Mann‹, Herr

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