»Ich erzähle es dir, Daniel«, sagte Olivera. »Alles erzähle ich dir.«

ZWEITES BUCH

»Also die drei als Leichen – und alle Videofilme, die es gibt.« »So ist es, Mister Hyde. Und schnell. So schnell wie

möglich.«

»Die drei sind kein Problem, Mister Morley. Die Videofilme schon. Weil man von den Kopien Kopien ziehen kann, so viel man Lust hat.«

»Unsere Hoffnung geht dahin, Mister Hyde, daß niemand mehr so recht Lust haben wird, sobald es Tote gibt.«

»Gewiß, Mister Morley. Aber ganz beruhigt können Ihre Herren erst sein, wenn sie alle Kopien besitzen.«

»Natürlich. Lassen Sie mich im übrigen darauf hinweisen, daß Sie sehr wahrscheinlich gezwungen sein werden, mehr als drei Menschen zu... hmm... eliminieren.«

Dieses Gespräch fand am Nachmittag des 20. Februar 1984, einem Montag, drei Tage, nachdem Daniel Ross in Buenos Aires mit vierzigjähriger Verspätung seinen Vater wiedergesehen hatte, im Büro eines Hauses an der Chancery Lane nahe dem Zeitungsviertel Fleet Street in London statt. Nur eine Häuserzeile weiter westlich erhob sich der mächtige, vieltürmige Bau der Royal Courts of Justice. Es schneite in London, und es war sehr kalt. Etwa drei Stunden zuvor, um 14 Uhr 30, war planmäßig die Maschine der PAN AMERICAN WORLD AIRWAYS, Flug 8 5 6, aus Chicago auf dem Flughafen Heathrow gelandet. Draußen vor der Stadt verursachte der schwere Schneefall große Behinderungen. Räumfahrzeuge mühten sich in ständigem Einsatz, die Rollbahnen des Flughafens frei zu halten, und auf der Autobahn nach London war es schon zu zahlreichen Zusammenstößen gekommen. Der Schnee fiel auf Eis, das harte Winterwetter dauerte schon viele Wochen an.

Unter den Passagieren der Maschine befand sich ein großer, hagerer Mann mit einem von Sonne und Regen, Wind und Wetter gegerbten Gesicht, sehr hellen Augen und kurzgeschnittenem blondem Haar. Er trug einen pelzgefütterten Dufflecoat. Bei der Einreisekontrolle für Ausländer zeigte der Mann dem Beamten einen amerikanischen Paß. Diesem Paß, der natürlich gefälscht sein konnte, zufolge war der Reisende ein gewisser Wayne Hyde, geboren am 12. August 1948 in Chicago, Wohnort zur Zeit der Ausstellung des Passes gleichfalls Chicago, ledig.

Hyde trug zwei große Kleidersäcke – sie hatten ein Schottenmuster, waren von bester Qualität, aber, wie man sah, schon sehr langem und heftigem Gebrauch ausgesetzt – zu einem Taxi. Als der Chauffeur das Gepäck verstaut hatte, setzte Hyde sich in den Fond und nannte eine Nummer in der Chancery Lane. Danach lehnte er sich zurück, faltete die Hände und schloß die Augen. Inzwischen waren die Verhältnisse auf der Autobahn zur Stadt chaotisch geworden. Wegen der Zusammenstöße leiteten Polizisten den Verkehr immer wieder von einer Fahrbahn auf die andere. Das Taxi rutschte über Eisplatten. Der Fahrer des Wagens vor dem Taxi bremste jäh, es kam zu einem Beinahezusammenstoß.

Der Chauffeur fluchte.

»Lassen Sie das!« sagte Hyde mit geschlossenen Augen. »Was ist los?«

»Fluchen Sie nicht! Ich mag das nicht.«

»Na, hören Sie mal! Haben Sie dieses dreckige Schwein gesehen? Wir wären ihm fast draufgebrummt.«

»Lassen Sie das!« sagte Hyde.

»Was denn?«

»Reden überhaupt. Schwer zu fahren. Ja. Na und? Ihr Beruf, nicht? Also seien Sie ruhig.«

»Ganz wie der Herr wünschen.« Der Taxichauffeur war beleidigt. Er bewegte die Lippen und verfluchte diese beschissenen Amerikaner, denn daß sein Fahrgast einer war, hatte er sogleich an dessen breitem Akzent erkannt.

Ein mieses Gesocks, die Amis, dachte der Chauffeur. Neue Raketen haben sie uns eben wieder beschert. Cruise Missiles und Pershings 11, da in Greenham Common. War ich draußen, vorige Woche. Noch ein Haufen andere. Mindestens zweihundert. Hinter dem Stacheldrahtzaun amerikanische Soldaten. Haben ihr Maul aufgerissen und was von »yellow« gesagt. »Yellow« heißt soviel wie feig. Hat einer von uns die Hosen runtergelassen. Noch einer. Noch zehn. Eine Minute später haben die Amerikaner zweihundert nackte britische Ärsche gesehen. Na ja, weil’s wahr ist! Wenn’s losgeht, wer kriegt’s aufs Haupt? Wir und die Deutschen. Die Deutschen sind mir egal. Aber die da drüben in Amerika, von denen hat ja noch kein einziger eine einzige Bombe fallen hören! Die wären nicht so forsch, wenn sie mitgemacht hätten, was London mitgemacht hat im »Blitz«. Fahr links, Trottel, links sollst du fahren! Herr Jesus! Jetzt dreht die Kutsche sich um sich selbst!

Der Taxichauffeur bewegte die Lippen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Er fluchte die ganze Zeit – lautlos.

In der Chancery Lane stieg er aus, öffnete den Schlag, blieb stumm. Holte die beiden Kleidersäcke aus dem Kofferraum. Stumm. Dann nannte er den Fahrpreis. Hyde zahlte und ließ sich auf den Penny genau herausgeben, nahm die Säcke und trat zum Hauseingang, ohne zu grüßen. Der Chauffeur sah ihm nach, spuckte in den Schnee und setzte sich ans Steuer. Als er losfuhr, fluchte er wieder – jetzt laut.

Wayne Hyde stieg mit seinem Gepäck bis zum zweiten Stock des stillen, vornehmen Hauses. Licht brannte. Eine Messingtafel war an einer Tür befestigt:

ROGER MORLEY SOLICITOR

Beratender Anwalt also. Keiner, der vor Gericht plädiert, dachte Hyde. Sonst wäre er ein Barrister at law. Bei uns drüben ein Attorney at law. Natürlich Solicitor! Habe ich doch in der Nase gehabt. Hier geht es um keine Sache, bei der ich Beweise fürs Gericht herbeischaffen oder verschwinden lassen soll.

Er klingelte. Es summte. Die Tür öffnete sich. Hyde trat ein. Die Kanzlei war sehr groß und altmodisch gediegen eingerichtet. Er mußte nur einen Moment warten, dann kam schon Roger Morley: klein, flink, mit rosigem Gesicht und Pausbacken, Spitzbauch und wirrem grauem Haar, rundem Mund, Mäusezähnchen, fröhlich und herzlich. Eine Dickens-Figur, dachte Hyde. Er kannte alles, was Dickens geschrieben hatte. Er kannte sehr viele Schriftsteller. Wayne Hyde las, wann immer er Zeit fand.

Morley begrüßte seinen Gast erfreut. »Wie schön, daß Sie da sind, Mister Hyde!« Er half ihm aus dem Dufflecoat. »Die Kleidertaschen lassen wir im Sekretariat. Bitte, folgen Sie mir!« Er ging in sein Büro voraus. Hyde sah hohe Mahagonipaneele, welche die halben Wände verdeckten, schöne alte Möbel, eine starke Lampe mit kunstvoll geblasenem, grünem Glasschirm auf dem Schreibtisch und Regale voller Bücher, die magisch leuchteten. Warm und sehr still war es in Roger Morleys Büro. Auf dem großen, geschnitzten Schreibtisch lagen Fotos, Magazine und ein kleiner Recorder.

»Was trinken Sie, Mister Hyde? Whisky? Cognac? Wodka?« »Ich trinke nie Alkohol, Mister Morley.«

»Oh, wirklich? Das finde ich fabelhaft.« Der Anwalt rieb sich die rosigen Händchen. »Aber doch gewiß Tee?«

»Tee gerne.«

Morley blühte auf. »Ah, wunderbar! Welchen hätten Sie denn gerne?« Er öffnete die Tür zu einer winzigkleinen Küche. Über dem elektrischen Herd standen auf einem Bord verschiedenfarbige Blechdosen. »Wie wäre es mit einem ›Finest China Keemun‹, blumigzart? Oder einen ›China Jasmin with Flowers‹, hell, erfüllt vom lieblichen Duft der Jasminblüten?« Er wies auf die bunten Dosen. »›Flowery Orange Tea‹? Eine chinesischindische Auslese mit dem Aroma reifer Orangen? Oh, oder hier: ›Assam Herrentee‹. Beste indische Provenienz, rassigschwer. Vielleicht sollten Sie aber auch einen ›Special Earl Grey‹ versuchen – extravagante Mischung indisch-chinesischer Sorten mit dem besonderen Duft des Bergamotte-Öls? Oder, ach, einen ›Finest Highgrown Darjeeling‹! Man nennt ihn auch ›Flowery Orange Pekoe‹. Es handelt sich um ein Hochgewächs der Himalayasüdhänge mit ausgeprägtem Muskatel Flavour. Oder...«

»›Highgrown Darjeeling‹, Mister Morley, wenn ich bitten dürfte.«

Roger Morley schlug die rosigen Händchen gegeneinander. »Ausgezeichnet! ›Highgrown Darjeeling‹!« Er nahm eine der Büchsen vom Bord und öffnete sie. Während der folgenden Konversation bereitete Roger Morley, beratender Anwalt, den

Tee mit jener Liebe, die den wahren Kenner erfüllt. Zuerst ließ er einen Kessel voll Wasser laufen und stellte ihn auf eine Herdplatte.

Der Mann namens Wayne Hyde, der ihm zusah, sagte: »Ich habe Ihren Brief und ein Flugticket erhalten. Es war natürlich nicht Ihr Brief. Es stand nur darin, daß Sie mich umgehend erwarteten. Der Brief kam von einer Fleischwarenfabrik in New York.«

»Sie sollen weder für diese Leute noch für mich arbeiten«, sagte der rosige Anwalt, während er papierdünne chinesische Porzellantassen, Untertassen, Löffel und ein Silbergefäß mit braunem Kandiszucker brachte. »Ich bin nur Mittelsmann.«

»Ich verstehe. Große Sache?«

»Sehr große Sache, Mister Hyde.«

»Hohe Kundschaft?«

»Die höchste, Mister Hyde.«

»Die Herrschaften wollen sich nicht selbst die Finger dreckig machen, wie?«

»Sie können es nicht, Mister Hyde. Sie können es nicht. Und niemand in ihren Diensten kann es. Sie werden das gleich verstehen. Was die Herren betrifft, so ist ihr Problem derart delikat, daß ihnen eigentlich niemand helfen kann als ein MERC. Der beste, der zu haben ist. Sie, Mister Hyde.«

»Woher wissen Sie, daß ich der beste bin?« »Oh, man hat natürlich Erkundigungen über Sie eingezogen«,

sagte Morley und brachte ein kleines silbernes Sieb auf Untersatz – »Wer hat Erkundigungen über mich eingezogen, Mister Morley?‹‹

»Nun, der amerikanische Geheimdienst ...«

»Aha.«

»... und der sowjetische Geheimdienst.«

»Mhm.«

In der Kitchenette wärmte der Anwalt eine schöne, antike Silberkanne. Er lächelte Hyde zu. Roger Morley erinnerte an einen gesunden, glücklichen Säugling.

»Sie wissen, wie es ist, Mister Hyde. Man kann den Menschen nicht vertrauen, und wenn sie einem noch so hoch und heilig versprechen, andere umzubringen. Gewöhnliche Menschen, meine ich. Laien. Darum habe ich Sie hergebeten. Sie sind ein wahrhaft zuverlässiger Killer.«

»Das ist mein Beruf, Mister Morley«, sagte Hyde. »Das ist der Beruf eines MERC.«

»Ich bin stolz und glücklich, Ihnen begegnet zu sein, Mister Hyde.« Morley brachte eine Warmhalteplatte. »Wenn jemand diese gräßliche Geschichte wieder ins Lot bringen kann, dann sind Sie das. Habe ich gleich gesehen. Dem Himmel sei Dank! Wirklich, eine ganz schauderhafte Sache.« Er nahm eines der

Magazine, die vor ihm lagen. Es waren dicke, geheftete Publikationen auf bestem Papier mit Farbfotos, zum großen Teil auch im Inneren, und sie erinnerten an Pornomagazine der teuren und exklusiven Art. Der schreiend rote Titel lautete MERCENARIES, der rote Untertitel THE JOURNAL OF PROFESSIONAL ADVENTURERS; zu deutsch: Das Journal der berufsmäßigen Abenteurer. Mercenaries ist das englische Wort für Söldner. Das Titelblatt des Heftes, das Morley in der Hand hielt, zeigte drei solche Söldner, schwer bewaffnet und mit Stahlhelmen, wie sie an Hakenleitern ein Gebäude entern, aus dessen Inneren die grausigorangefarbenen Zungen von Flammenwerfern schießen.

Links gaben Schlagzeilen bunt gedruckt Auskunft über die Hauptthemen des Heftes: EXKLUSIV: UNSERE MÄNNER IN HONDURAS – ENDLICH: DIE SAS-STORY – DIE LEGION IN SYRIEN – KOREA WARTET AUF DEN NEUEN KRIEG- MERCS IM LIBANON – VIETNAM-CHARADE – WIR RÄUMEN IN ANGOLA AUF – FRANKREICHS MEISTER-MERCS – FERTIGMACHEN FÜR LIBYEN – NACHTATTACKE IN CUBA.

180 SEITEN! verkündete grellgelb das Titelblatt. Das Heft kostete drei Dollar, im Vereinigten Königreich ein Pfund fünfundsiebzig. Zum Bersten angefüllt waren dieses und die anderen Hefte mit den blutrünstigen Schilderungen von Söldnern im Einsatz an den verschiedensten Kriegsschauplätzen, ehren- und respektvollen Serien über besonders berühmte oder berüchtigte Söldner und mit genauen Lernanweisungen für die schnellsten, grausamsten und tollkühnsten Arten, Menschen zu töten. In anderen Artikeln benützten die Verfasser edelste Epitheta bei der hingerissenen Beschreibung neuer Waffen, darunter auch solcher, die jeder Privatmann sich leisten konnte (und sollte): phantastische Schnellfeuermaschinenpistolen, großkalibrige Neun-Millimeter-Pistolen, Handgranaten, Reizgasgeschosse und Kostbarkeiten wie die offiziell autorisierte Nachahmung des Stilettos der US Marine Raiders (geht durch Fleisch wie durch Sahne), begrenzte Anzahl weltweit zweieinhalbtausend Stück.

Das halbe Heft nahmen – zum Teil als grausige Meldungen getarnte – Inserate ein, in denen Söldner vieler Nationen nach eigenem Bekunden ihr Leben nur diesem Kampfhubschrauber, jenem Sturmpanzer oder gerade diesem Gewehr mit Nachtfernrohr verdankten. Viele Seiten sahen betont unauffällig aus. Söldner wurden hier von anonymen Interessenten gesucht, Söldner, die gerade beschäftigungslos waren, boten ihre Dienste an.

Da konnte man zum Beispiel lesen:

SÖLDNER ZU MIETEN. Für alles. Überall. Mord inbegriffen. Sie regen sich nicht auf, er begleicht die Rechnung. Arbeitet allein. In kürzester Zeit. Vertraulich. Hinterläßt keine Spuren. An: SKIPPER, POSTFACH 546455, SURFSIDE, FLORIDA 33154. Oder.

EX-MARINELEUTNANT. Vietnamveteran, Fallschirmjäger, sucht Arbeit. Bietet Personen- und Objektschutz. Sicherheit. Schnellste Hilfe. Geheime Bergungsoperationen. An: MALDONADO, POSTFACH 267, COLBY, KANSAS 67701.

Oder:

SUCHE JOB. Südostasien-Veteran 66-70, mit internationalen Einsätzen und entsprechenden Erfahrungen. Für. Ausbildung, Geiselnahme, Kampfeinsatz und Kurierdienst. Ab sofort. An: VGA, OSTFACH 309, SCHENECTADY, NY 12301.

Anwalt Morley hatte gefunden, was er suchte. Er sah sein Gegenüber an, lächelte sein Babylächeln und las laut vor: »NAMVET für hochriskante Jobs. Arbeite für Regierungen, Einzelpersonen oder Organisationen. Einwandfreie Beseitigung von Gegenständen und/oder Individuen garantiert. Tue alles. Überall. Sie sagen, was Sie brauchen. Ich erledige es. Spreche fließend Deutsch, Spanisch und Französisch. Auch militärische und politische Probleme. An: COPLAND, POSTFACH 41051, CHICAGO, ILLINOIS 60641.«

In der Küche begann der Wasserkessel zu pfeifen. Morley erhob sich, eilte zum Herd und stellte den Kessel auf eine andere Platte. Dann nahm er mit einem kleinen Löffel mehrere Portionen des »Highgrown Darjeeling« aus der Büchse, warf die schwarzen Teeblätter in die aufgeheizte Silberkanne und füllte diese sowie eine größere deckellose mit dem kochenden Wasser. Dabei sagte er: »Copland – das sind Sie, Mister Hyde, NAM-VET, Vietnamveteran. Und auf Sie fiel schlußendlich unsere Wahl. Wir müssen ihn ein wenig ziehen lassen. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß wir noch ein paar Ihrer Kollegen unter die Lupe genommen haben. Sie hatten den bei weitem besten Rekord. Ausschlag gaben Ihre Sprachkenntnisse. Ich habe erfahren, an welchen Operationen Sie schon beteiligt waren. Ich gestehe, manches mußte ich zweimal lesen. Allein, was Sie in Beirut taten. Bei dem Massaker im Lager Chatilla. daß Sie da lebend herausgekommen sind!«

»Glück«, sagte Hyde bescheiden. »Man nennt uns ja auch Glücksritten. Ja, da wir uns nun kennen gelernt haben, Sir – womit kann ich dienen? Wer sind meine Auftraggeber? Ich habe das Gefühl, daß es sich um Regierungen handelt.«

»Ihr Gefühl ist völlig richtig, Mister Hyde. Es handelt sich um die Regierungen der beiden mächtigsten Staaten der Erde.«

»Von denen bekomme ich gemeinsam einen Auftrag, verstehe ich das richtig?«

»Vollkommen richtig, Mister Hyde. Gräßlich, dieser Schnee. Hören Sie, wie der Sturm heult! Sehen Sie bloß durchs Fenster!«

Es war längst finster draußen. Schauer schlugen hart gegen die Scheiben. »Da bricht der ganze Verkehr zusammen. Zum Glück habe ich meine Wohnung im Hause. Ich denke, ich werde abends noch fernsehen. Eiskunstlauf. Also, ich liebe Eiskunstlauf! Kann ich stundenlang ansehen. Ja, Amerika und die Sowjetunion, wie gesagt.« Morley schob mehrere Hochglanzfotos über den Tisch. »Zunächst einmal geht es um diesen Mann. Er heißt heute Eduardo Olivera. Früher hieß er Georg Ross.«

»Wann früher?«

»Unter den Nazis. Bis neunzehnhundertfünfundvierzig. Das hier ist seine Stieftochter Mercedes Olivera, dreiunddreißig. Mutter seit sechsundsiebzig tot. Und das ist Daniel Ross, Sohn des Georg Ross. Lebt in Frankfurt am Main, Westdeutschland. Mercedes, die Stieftochter von Ross, hat den Sohn am sechzehnten Februar, also vor vier Tagen, nach Buenos Aires geholt. Sein Vater beabsichtigt, einen Videofilm an das Fernsehen zu verkaufen. Dieser Film darf niemals ausgestrahlt werden. Niemand darf von seinem Inhalt Kenntnis erhalten. Ich denke, jetzt hat er lange genug gezogen.« Morley eilte mit trippelnden Schritten in die winzige Küche und stellte die große und die kleine Kanne auf ein Silbertablett, das er in der Mitte des Schreibtisches placierte. »Zuerst bitte den Kandiszucker, lieber Mister Hyde! Ein, zwei Stück, wie es Ihnen beliebt. Da ist eine Zange. Immer zuerst den Zucker, dann den Tee. Halten Sie das Sieb! So ist es recht! Und nun, erlauben Sie ...« Morley goß die Tasse, die vor Hyde stand, fast voll. »Schütten Sie nur wenig heißes Wasser hinzu, der Muskatellergeschmack kommt in dieser Konzentration am lieblichsten zur Geltung ... « Er bereitete seinen Tee, nachdem er zuerst drei Stück Kandis in die Tasse gelegt hatte. »Ich habe einen süßen Zahn.«

»Warum darf niemand vom Inhalt des Films Kenntnis erhalten, Mister Morley?« Hyde rührte in seiner Tasse.

»Es wäre eine Katastrophe, Mister Hyde.« Morley setzte sich. »Für Amerika oder die Sowjetunion?«

»Vielleicht für beide.« Der Anwalt griff nach dem Recorder, in dem eine Kassette lag: »Hier ist ein heimlich aufgenommenes Gespräch dieser drei Personen in Oliveras Bibliothek in seinem Haus an der Cespedes tausendsechs im Stadtteil Palermo in Buenos Aires. Das Gespräch wurde sozusagen irrtümlich aufgenommen, von jemandem, der einen ganz anderen Auftrag hatte. Ich erkläre es Ihnen später. Die Abhöranlage muß zum Modernsten gehören, was es gibt. Mit Spezialkassetten. In Washington haben sie das Gespräch in komplizierter Weise auf diese normale Kassette überspielt. Wir hören uns das Gespräch am besten an, Mister Hyde. Danach werden sich viele Ihrer Fragen erübrigt haben.«

Der Anwalt drückte auf den Wiedergabeknopf. Es ertönte die Stimme Eduardo Oliveras: »... Du wirst jetzt, Daniel, einen Film sehen. Dieser Film spielt in Teheran, der Hauptstadt des heutigen Iran... «

...

Das Band war abgelaufen.

Anwalt Morley hatte noch einmal eine Kanne Tee aufgebrüht, die Tassen und das Sieb gewechselt, und während er servierte, sagte er: »Sie sind ein intelligenter Mensch, Mister Hyde. Sie haben die Sprecherstimme des Films – wirklich eine hervorragende Wahl, die Sie da mit dem ›Highgrown Darjeeling‹ getroffen haben! –, die Sprecherstimme des Films und die Kommentare der jungen Frau und Oliveras zu den einzelnen Punkten des beidseitigen Geheimprotokolls gehört. Wenn Sie das Protokoll nun auch nicht im ganzen kennen, so wissen Sie doch, worum es da geht.«

»Genau, Mister Morley.«

»Sie könnten – natürlich theoretisch – auch nur zu einem einzigen anderen Menschen ein einziges Wort darüber verlieren, Mister Hyde. Ich glaube, Sie sollten nicht mehr Wasser zum Verdünnen nehmen. Wegen des Muskatellergeschmacks. Dann wären Sie eine Stunde später ein toter Mann.«

»Ich bin kein Idiot, Mister Morley. Mein Intelligenzquotient beträgt ...«

»Einhundertzweiunddreißig, ich weiß.«

»Woher? Ach so, Ihre Überprüfung.«

»Ich weiß alles über Sie, Mister Hyde. Über Ihre Gesundheit. Ihr Privatleben. Ihre bisherige Tätigkeit. Ihre Kinderkrankheiten. Sie waren doch in der Army. Von der erhielt der amerikanische Geheimdienst ganz schnell alles, was er noch nicht hatte. Der Rest kam von der Datenbank der Großen Zwei.«

»Die haben eine gemeinsame Datenbank? Das wußte ich nicht.«

»Sie haben sie erst seit fünf Jahren. Die Zeiten werden immer explosiver. Da müssen die beiden Supermächte Bescheid wissen, gemeinsam, über politische und militärische Planungen Dritter. Und über Menschen. Menschen sind gefährlicher als Atomsprengköpfe. Menschen sind das Gefährlichste, was es gibt. Um den Frieden zu erhalten, muß man über die Menschen Bescheid wissen. Nicht über alle. Über viele: Idealisten. Ideologen, Fanatiker. Friedenskämpfer. Militärs. Leute wie Sie. Hervorragend, der Tee, wie?«

»Hervorragend, ja. Wissen Sie, ich halte die Geschichte für eine Fälschung.«

»Ihr Intelligenzquotient, Mister Hyde!« Morley war entzückt. »Ihr IQ! Natürlich ist dieser Film eine Fälschung! Aber Sie sehen ja, man hält ihn für echt.« Er rührte in seiner Tasse. »Passen Sie auf: Neunzehnhundertneunundsiebzig, vor fünf Jahren, starb in Buenos Aires ein gewisser Paulo Klein. Deutscher Jude, die Eltern waren mit ihm vierunddreißig aus Deutschland emigriert. Sein Vater erbte ein großes Filmkopierwerk in Buenos Aires, das dann der Sohn geerbt hat. Als Paulo Klein schon ein halbes Jahr im Hospital Doctor Zubizareta lag – Magenkrebs, Metastasen überall –, da bat er die Ärzte, ihm einen Mann von der amerikanischen Gesandtschaft zu schicken. Kein hohes Tier. Einen kleinen, unauffälligen Mann. Also ging ein Sekretär hin. Maltravers hieß er. Timothy Maltravers. Und diesem Maltravers erzählte Klein, daß er fünf Jahre zuvor, im Juni zweiundsiebzig, einen alten Fünfunddreißig-Millimeter-Film von sechshundert Metern Länge heimlich auf drei Videokassetten umkopiert hätte. Für einen Freund ...«

»Wie heißt der Freund?« fragte Timothy Maltravers. Er war achtundzwanzig Jahre alt, mager und trug eine Brille mit starken Gläsern.

»Das werde ich Ihnen nicht sagen«, erklärte Paulo Klein, der gerade fünfundfünfzig Jahre alt geworden war. Er lag in einem Bett im letzten Zimmer an einem langen Gang auf der Krebsstation des Hospitals Doctor Zubizareta an der Avenida Lincoln. Klein war ein hochgewachsener, kräftiger Mann gewesen. Jetzt war er abgemagert bis auf die Knochen. Er sah aus wie ein Zehnjähriger. Sein Kopf vor allem wirkte winzig. Die Haut war fahlgelb. Er hatte Maltravers gleich, als dieser kam, gezeigt, wie sehr die Kobaltbestrahlungen seine Haut zerstört hatten.

Voll Grausen erblickte der junge Amerikaner einen violettschwarzen, tellergroßen, flachen Krater auf dem Bauch, als Klein die leichte Bettdecke hochhob. Gazestreifen lagen auf der verbrannten Haut. Es stank in dem kleinen Zimmer, dessen schmales Fenster in einen Lichthof hinausging. Es stank nach Kleins Krankheit. Das verbrannte Fleisch stank. Maltravers atmete durch den Mund.

»Ich stinke, nicht wahr?« fragte Klein. Winzig waren seine Pupillen. Er sprach mit heiserer Stimme. Stimmbänder und Kehlkopf waren bereits ebenfalls befallen.

»Aber nein ...«

»Aber ja, ich weiß es. Die verfluchten Bestrahlungen. Ich verfaule bei lebendigem Leib. Na, es wird nicht mehr lange dauern. Sie haben mich schon ins Sterbezimmer gelegt.«

»Was ist das für ein Unsinn!«

»Halten Sie ruhig Ihr Taschentuch vor die Nase. Das ist kein Unsinn. Diese kleinen Zimmer am Ende eines Ganges, das sind die Sterbezimmer. Hat mir eine Nachtschwester gesagt. Eine sehr dumme Nachtschwester. Aber so weiß ich es. Na los, Ihr Taschentuch! Das Fenster steht Tag und Nacht offen, doch der Geruch geht nicht weg ...«

Das war die Begrüßung gewesen.

Nun saß Maltravers auf einem Stuhl nahe dem Bett, hielt tatsächlich ein Taschentuch vor den Mund und fragte: »Wie heißt Ihr Freund?«

»Das werde ich Ihnen nicht sagen«, erklärte mit heiserer Stimme der zum Skelett abgemagerte Klein. »Ich werde Ihnen sagen, was auf dem Film drauf war ... drauf ist ...« Er erzählte es Maltravers. Dessen Gesicht blieb unbewegt.

»Eine Fälschung natürlich«, sagte er zuletzt. »Nein, der Film ist echt!«

»Ausgeschlossen.«

»Ah, Sie wissen selbstverständlich nichts von seiner Existenz, klar.« Klein hustete. »Von der Existenz wissen nur ein paar Leute im Kreml und in Washington. Widersprechen Sie mir nicht! Ich habe nur noch wenig Zeit. Und das Reden strengt mich an. Mein Freund ist Deutscher – wie ich. Ich meine: Wir waren es beide einmal. Meine Eltern stammten aus München. Da wurde ich geboren. Neunzehnhundertvierunddreißig flohen wir aus Deutschland. In Lissabon bekamen wir ein amerikanisches Einreisevisum. So war unser Leben gerettet. Und deshalb erzähle ich Ihnen, daß es Kopien dieses Geheimprotokolls gibt. Damit Ihr Land von dem Verrat weiß, der da dreiundvierzig begangen wurde.«

»Herr Klein, ich schwöre Ihnen, es gibt kein solches Geheimprotokoll.«

»Lieber Junge, was sind Sie? Sekretär an der Gesandtschaft. Sie ausgerechnet werden – nebbich – wissen, ob es so ein Geheimprotokoll gibt. Fangen Sie nicht wieder damit an! Hören Sie mir zu! Jede Minute zählt. Ich mache es nicht mehr lange.«

»Entschuldigen Sie, Herr Klein«, sagte Maltravers und drückte das Taschentuch fester an die Nase. Ich halte es auch nicht lange hier aus, dachte er. Der arme Hund. Aber dieser Geruch ... »Schon gut.« Husten. »Sehen Sie: Jener Mann, mein Freund, war einmal ein ganz großer Nazi. Hat er mir freimütig bekannt. Der Nazigeheimdienst kam Ende des Krieges in den Besitz einer Kopie dieses Films. Ein Amerikaner muß zum Verräter geworden sein und viel Geld genommen haben. Nein! Jedenfalls echt ist die Kopie! Ich finde das übrigens gar nicht so entsetzlich. Alle schreien jetzt doch immer, die beiden Großen müssen sich einigen. Na bitte sehr, sie haben sich geeinigt, schon dreiundvierzig. Wird es wenigstens niemals einen großen Atomkrieg geben.«

»Herr Klein ...«

»Nicht unterbrechen! Die Nazis bekamen den Film zu spät, um ihn noch in der Propaganda einsetzen zu können. Sie waren schon fast besiegt. Hätte ihnen kein Mensch in Deutschland, in den noch besetzten Gebieten, im neutralen Ausland geglaubt,

daß der Film echt ist. Fälschung! hätten alle geschrien.« »Er ist doch auch eine ... Entschuldigen Sie, Herr Klein.

Weiter, bitte!«

»Weiter ...« Der Mann auf dem Bett holte röchelnd Atem. »Also, im Krieg konnten die Nazis den Film nicht mehr einsetzen. Haben sie sich gesagt, gut, gehen wir zugrunde, aber die ganze Welt wird dem Nationalsozialismus gehören beim zweiten Anlauf. Hat mir mein Freund erklärt.«

»Zweiten Anlauf?«

»Ja, Mister Maltravers. Haben die Nazis meinen Freund bei Kriegsende mit dem Film herübergeschickt. Falsche Papiere, alles vorbereitet natürlich. Sollte er warten, bis Befehl kommt. Dann den Film vorführen. Internationalen Journalisten. Idee: Die Menschen lassen es sich nicht gefallen, daß sie jetzt Sklaven der Amerikaner oder der Sowjets sind, die Menschen erheben sich – die ganze Welt wird braun.« Klein hustete heftig. Er drehte dabei den Kopf zur Seite.

»Na, und warum hat Ihr Freund das nicht getan?« »Weil er ein anderer geworden ist.«

»Was ist er geworden?«

»Ein völlig anderer Mensch. Bald nach der Ankunft hier. Wußte vorher nichts von den Verbrechen der Nazis. War Idealist. Erfuhr jetzt die Wahrheit. War total erschüttert. Nervenzusammenbruch. Klinik. Wirklich! Habe ihn dreiundsiebzig kennengelernt, auf einer Gesellschaft. Wir sind ja zuerst nach New York geflohen, nicht wahr. Mein Vater hat ein Filmkopierwerk geerbt hier in der Stadt. No, sind wir heruntergekommen zweiundfünfzig. Sechzig habe ich die Eltern verloren. Beide in einem Jahr. Ich war sehr allein. Und dieser Mann, den ich da dreiundsiebzig kennen lernte, der gefiel mir. Ein Deutscher – wie ich. Ich hatte Heimweh nach Deutschland. Sie wissen ja, wir Juden ...«

»Sie kennen einander seit sechs Jahren?«

»Ja. Sechs Jahre kennen wir uns. Er war damals längst ein anderer geworden. Sonst hätte ich mich doch nicht mit ihm befreunden können, nicht wahr? Ihnen ist übel, ich seh’s. Gehen Sie noch nicht! Wer weiß, ob ich morgen noch leb’.«

»Ich bleibe, so lange Sie wollen.«

»Danke, junger Mann. Gott soll Sie beschützen! Mein Freund hat seit vielen Jahren versucht, Wiedergutzumachen. Hat gespendet. An jüdische Organisationen. An Israel. An die Irrenhäuser dort. Wissen Sie, daß es in Israel im Verhältnis zur Größe des Landes mehr Irrenhäuser gibt als in irgendeinem anderen Land auf der Welt? Und dauernd müssen sie neue bauen. Alles überfüllt. Ältere Leute, alte Leute, die die Lager, den Holocaust überlebt haben. Depressionen, Psychosen, die schlimmsten seelischen Leiden – jetzt erst kommen sie heraus. No, und mein Freund hat gegeben und gegeben – ein Vermögen. Wie kann ich ihn da verraten?«

»Aber warum erzählen Sie mir das dann alles?« »Weil es doch so schlimm steht mit der Welt. So nah sind wir

vor einem Atomkrieg. Mein Freund hat den alten Film. Ich hab’ Angst, er zeigt ihn. Nicht als Nazi. Als einer, der den Menschen die Augen öffnet, der den Frieden retten will! Die ganze Welt soll herfallen über Amerika und die Sowjetunion. Und das will ich nicht. Ich will natürlich nicht den Atomkrieg, aber ich will auch nicht, daß die Menschen sagen, die Amerikaner sind Verbrecher. Nein, so kann ich nicht sterben, wenn ich mir vorstelle, daß sie das sagen. Amerikaner haben meinen Eltern und mir das Leben gerettet. Kann ich das vergessen? Haben mit den Sowjets und mit den Engländern die Nazis besiegt. Kann ich auch nicht vergessen. Bin in der Zwickmühle. Habe mir gesagt: Wenigstens wissen sollen es die Amerikaner und die Sowjets, daß einer Kopien von dem Film hat. Damit sie nicht unvorbereitet sind, wenn mein Freund die Kopien zeigt. Damit sie vorbauen können. Den Nachweis konstruieren, daß der Film von den Nazis gefälscht wurde.«

»Herrgott, er wurde ja ... «

»Tck, tck, tck. Nicht widersprechen! Film ist echt. Kopie auch. Hat mein Freund mir geschworen beim Leben seiner Tochter. Ich glaub’ ihm, wenn er so schwört. Würden Sie nicht? Sehen Sie!«

»Herr Klein, was ist mit dem Original geschehen, dem Fünfunddreißig-Millimeter-Film?«

Klein hustete wieder. »Guter Mensch ist er. Aber kann gefährlich sein für die Amerikaner. Und die Amerikaner sind auch gute Menschen. Haben so vielen Juden und anderen geholfen mit Visa in der großen Not ... großen Not ... « Klein spuckte plötzlich Blut. In weitem Bogen schoß es aus seinem Mund. Außer sich vor Entsetzen, stürzte Maltravers auf den Gang hinaus. »Einen Arzt!« schrie er. »Einen Arzt! Sofort einen Arzt!«

»Es hat noch drei Tage gedauert, bis er tot war, der arme Kerl«, sagte der beratende Anwalt Roger Morley. »Maltravers berichtete in der Gesandtschaft sofort, was Klein erzählt hatte. Sie nahmen die Sache ernst. Stunden später wußte man in Washington und Moskau Bescheid. Beim Begräbnis von Klein ein Haufen Agenten. Fotografierten alle Trauergäste. Die Identifizierung gelang bei allen. Ergebnis: Null. Keiner der Trauergäste auf dem jüdischen Friedhof kam als Kleins ›Freund‹ in Frage.«

»Folgerung: Der Mann ist nicht zum Begräbnis gekommen. Die Tochter auch nicht«, sagte Wayne Hyde.

»Richtig. Da fingen wir an, die Sache verflucht ernst zu nehmen.«

»Wir?«

Der Anwalt, der aussah, als wäre er einem Roman von Dickens entsprungen, lächelte. »Ich bin in die Lage gekommen, gewisse Stellen in Washington zu vertreten. Seither leite ich die kleine Organisation.«

»Was für eine Organisation?«

››Gleich. Sehen Sie, in Buenos Aires und Israel forschte man weiter. Niemand in der Zehnmillionenstadt hatte Geld für jüdische Irrenhäuser in Israel gespendet. Für Juden schon. Für Israel schon. Für alle möglichen Einrichtungen – nicht für Irrenhäuser. Also hatte der Freund Klein belogen. Weiter: Wir haben alle anderen Freunde Kleins nach einem solchen Mann befragt. Niemand kannte ihn. Also war es ein sehr vorsichtiger Freund; der nie zu Klein kam. Sie müssen sich im Haus des Freundes oder an einem dritten Ort getroffen haben.«

»Und Kleins Verwandte?«

»Hatte doch keine mehr. War nie verheiratet. Lebte allein. Wurde im Grab der Eltern beigesetzt. Und zweifellos hat er in seinem Loyalitätsdilemma dem jungen Maltravers die Wahrheit gesagt. Davon konnte man ausgehen.«

Konnte man? dachte der hagere, große Hyde mit dem wettergegerbten Gesicht. Wahrheit? Was ist Wahrheit?

»Sie müssen bedenken, mein Lieber«, sagte der Anwalt, »daß Amerika und die Sowjetunion sich wirklich in einer scheußlichen Lage befanden. Und befinden. Immer wahnsinniger werden ihre Rüstungsanstrengungen. Immer größer wird die Angst der Menschen. Immer stärker die Friedensbewegung. muß ich Ihnen ausmalen, was passiert, wenn der Film, den der arme Klein auf Video umkopiert hat, heute abend beispielsweise in der ganzen Welt von Fernsehsendern gezeigt wird? Einfach nicht auszudenken!«

»Warum? War doch eine Fälschung der Nazis für einen ganz anderen Zweck!«

»Das wissen Sie und ich und der Mann, der die Kopien hat. Die Millionen, die den Film heute abend zu sehen bekämen, wüßten es nicht. Natürlich würden Washington und Moskau sofort erklären, es handle sich um eine Fälschung. Na und? Die

Menschen würden es ihnen nicht glauben. Aber selbst wenn es welche gäbe, die es glauben, wo liegt der Unterschied? Was der Film zeigt, ist möglich, und darum würde er alle Menschen sehr nachdenklich machen. Auch die Sowjets und die Amerikaner. Mit anderen Worten Es spielt keine Rolle, daß der Film eine Fälschung ist. Nicht die geringste. Und darum darf er niemals gezeigt werden!

Darum haben Washington und Moskau ihre kleine Organisation ins Leben gerufen. Es ist eine. Hoffentlich-funktioniert-sie-Organisation.«

»Was soll das heißen?«

»Nun ja, alles, was wir wußten, war: In Buenos Aires wohnt ein ehemaliger deutscher Top-Nazi, der drei Videokopien dieses Films besitzt. Und eine Tochter. Paulo Klein, der arme Kerl, hatte die Befürchtung, daß der Unbekannte in diesen Zeiten des Overkills und der Überrüstung den Film an die Öffentlichkeit bringen würde. Wann? Konnte niemand sagen. Jeder Tag war möglich. Deshalb die Organisation. Sie beschränkte sich hauptsächlich auf Buenos Aires. Dort ging eine Gruppe von Männern nach meinen Weisungen jeder Spur, jeder Spur einer Spur nach. Achtete jahrelang auf das kleinste Zeichen, mit dem sich ein Mann unter zehn Millionen Menschen verdächtig machen konnte. Sie ahnen nicht, wie vielen tausend Spuren diese Leute nachgegangen sind. Alles umsonst. Überall blinder Alarm. Gleichzeitig erkannten die beiden Großen in dieser Zeit, in der man sie immer mehr und mehr fürchtet und haßt, daß es nötig war, Stellen zu errichten, an denen sie leicht Dinge erfuhren, die von beiderseitigem Interesse waren. Ist das klar?«

»Sonnenklar.«

»Solche Stellen sind zum Beispiel private Kliniken. Es gibt in ganz Europa – auch im Ostblock – Privatsanatorien, die angeblich mit dem Geld eines amerikanischen Millionärs namens Kingston gebaut wurden und die trotz ihrer hohen Kosten Gewinn bringen – im Gegensatz zu staatlichen Krankenhäusern. Diese sogenannten Kingston-Sanatorien dienen in erster Linie dazu, Auskünfte zu bekommen über die Meinungen und Absichten hoher Politiker und Militärs, aber auch von Persönlichkeiten des Geisteslebens, über ihren Gesundheitszustand, ihre Tätigkeit, ihre Geheimnisse. Die Sanatorien wurden daneben als Unterschlupf und Quartiere für Agenten eingerichtet, und andere Agenten – Ärzte, Laboranten, Pfleger – sind verantwortlich für das Funktionieren dieser Einrichtungen. Solch ein Institut und solch ein Agent befinden sich auch nahe Heiligenkreuz, einem kleinen Ort vor Wien. Wie alle Agenten in diesen Sanatorien wußte jener Mensch von der Sache mit dem Film. Seit Jahren. Nun, jetzt endlich haben wir Glück gehabt.« Morley klopfte mit einem Finger auf das Foto von Daniel Ross. »Der Sohn!«

»Was, der Sohn?«

»Olivera schickte seine Tochter nach Europa, um den Sohn zu holen. Der ist beim Fernsehen.«

Hyde pfiff durch die Zähne.

»Das heißt, er ist nicht mehr beim Fernsehen, da ist er rausgeflogen. Er ist medikamentensüchtig. Kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Hängt an einer alten Liebe, die ihm schon ein paar Mal geholfen hat, einer gewissen Frau Dozentin Sibylle Mannholz. Die arbeitet im Sanatorium Kingston bei Heiligenkreuz. Daniel Ross rief sie an, weil er ihre Hilfe brauchte, um den Flug nach Buenos Aires zu überstehen, bevor er sich bei ihr behandeln läßt.«

»Das wissen Sie alles von dieser Frau Doktor Mannholz?« Morley lachte. »Nein, von ihrem Oberarzt. Der ist unser Agent. Hörte das Gespräch mit.«

»Und diese Mannholz hatte nichts dagegen?«››Nein.« »Wieso nicht?«

»Das hat seine Gründe«, sagte Morley. »Oh«, sagte Hyde. »Der Sohn und die Stieftochter wurden schon auf dem Flug

nach Argentinien beschattet. Dann kriegten wir heraus, wo der Vater wohnt und wie er heißt. Aber etwas ganz Verrücktes kam uns noch zu Hilfe. Olivera wurde abgehört. Wie wir heute wissen, im Auftrag der gestürzten Militärjunta. Unsere jungen Freunde in Buenos Aires erbeuteten drei mitgeschnittene Kassetten, die nach Washington geschickt und auf normale Kassetten überspielt wurden. Zwei von ihnen geben Gespräche mit Politikern wieder. Die dritte, auf der sich Olivera mit seinem Gast aus Europa unterhielt, diese dritte Kassette haben Sie eben gehört. Jetzt sind Sie an der Reihe, Mister Hyde. Wie ist es mit Waffen, Schutz, Papieren, Verstecken und so weiter in anderen Ländern?«

»Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte der Söldner. »Solche wie mich gibt es überall. Wir haben auch unser Netz. Ich kann doch zum Beispiel mit einer Waffe nicht fliegen. Also bekomme ich in jedem Land genau das, was ich brauche.«

»Gut, das ist also alles Ihre Sache.«

»Wäre noch die Bezahlung.«

Morley lachte. »Richtig. Fast vergessen. Wieviel?« »Fünf Millionen Dollar auf ein Schweizer Nummernkonto.« »Ist das nicht ein wenig ... «

Hyde erhob sich. »Danke für den Tee. War nett, Sie kennengelernt zu haben.«

»Bleiben Sie doch sitzen, verflixt! Fünf Millionen. Gut. Sie riskieren schließlich nicht nur einmal Ihr Leben.«

»Die Hälfte wird gleich überwiesen. Die andere Hälfte, wenn ich mich aus dem Spiel zurückziehe.« Hyde hob die Stimme. »Und zwar unabhängig davon, ob es mir gelungen ist, alle Ihre Wünsche zu erfüllen. Ich versuche alles zu erledigen, wie vorgesehen. Kann aber sein, es kommt ein Punkt, wo ich noch nicht alles erledigt habe, Sie jedoch der Ansicht sind, daß die Partie verloren ist und ich mich zurückziehen soll. In beiden Fällen wird die zweite Hälfte fällig. Wenn Sie nicht bezahlen ...«

»Nicht!« sagte Morley und sah beschämt auf seine blanken Schuhe.

»Was nicht?«

»Nicht drohen, bitte! Ich verstehe Ihre Forderung. Sie gehen ein enormes Risiko ein. Das müssen wir auch tun.« Morley gab Hyde drei große Kuverts. »Hier ist alles an Unterlagen, was wir über die drei – Olivera, Sohn und Stieftochter – herausgebracht haben. Kleine Dinge, große Dinge. Sie haben den perfekten Eindruck. Lesen Sie alles, bis Sie es auswendig können, dann vernichten Sie die Papiere, bevor Sie London verlassen!«

Hyde schob ihm einen Zettel hin. »Das ist die Nummer des Kontos bei der Schweizer Bankgesellschaft in Zürich. Ich rufe übermorgen vormittag dort an. Wenn die zweieinhalb Millionen noch nicht auf dem Konto liegen, fliege ich nach Chicago zurück.«

»Sie werden auf dem Konto liegen«, versprach Morley. Er öffnete die Schreibtischschublade und entnahm ihr einen Gegenstand in einem Kunststoffgehäuse, der aussah wie ein glatter elektrischer Rasierapparat.

»Was ist das?« fragte Hyde.

»Das ist ein Taschendecoder«, sagte der rosige Anwalt. »Man kann so einen Decoder beispielsweise auch dazu verwenden, in einem Ferienhaus die Heizung anzustellen.« Er stand auf. »Kommen Sie her!« Morley trat vor einen flachen grauen Kasten, der auf einem Tischchen stand. »Und das hier«, sagte er, »ist ein Telefonbeantworter. Für meine Geheimnummer, die ich Ihnen hier gebe.« Er reichte Hyde eine Karte. »Auswendig lernen und Karte vernichten!« Hyde nickte.

»Schauen Sie her!« Morley verschob den Kasten, die Rückseite wurde sichtbar. »Hier hinten befinden sich drei Drehschalter, denen Sie jeden beliebig in fünf Positionen verstellen können. Tun Sie es einmal! Aber nicht zwei gleiche Positionen nebeneinander!«

Hyde drehte die drei Schalter auf Positionen zwischen eins und fünf.

»Gut«, sagte Morley. »Jetzt öffnen Sie Ihren Decoder! Gegen die Mitte drücken, dann zerfällt er in zwei Hälften.«

Hyde drückte. Der Decoder zerfiel in zwei Hälften. Die eine hatte, nur kleiner, drei Schalter, die denen an der Rückseite des Telefonbeantworters glichen.

Stellen Sie die Schalter auf die gleichen Positionen wie die am Beantworter!«

Hyde folgte.

»Schließen Sie den Decoder! So.«

»Und nun?«

»Und nun«, sagte Roger Morley, »wäre alles bereit. Der Decoder wird von einer Fünfzehn-Volt-Batterie gespeist. Sie können jetzt nach Tokio fliegen, nach Johannesburg, nach Rio de Janeiro – einfach überall hin in der Welt. Wenn Sie, was wohl häufig der Fall sein wird, mit mir in Verbindung treten wollen, gehen Sie zu irgendeinem Telefon, wählen die Geheimnummer und halten den Decoder mit dem schwarzen Oberteil vor das Mikrofon des Telefonhörers. Zuerst kommt mein Meldetext. Dann kommt ein Pfeifton. Daraufhin drücken Sie diesen schwarzen Knopf Ihres Decoders. Jetzt werden drei – je nach Codierung verschiedene – Töne des Decoders hörbar, die mein Beantworter wiedererkennt, denn er ist ja genauso programmiert. Damit haben Sie mein Gerät aufnahmebereit für Ihre Mitteilung, die – und jetzt staunen Sie! – auf keinen Fall mitgehört werden kann.«

»Sie meinen ...«

»Jawohl, Mister Hyde! Mein Gerät hat natürlich einen Zerhacker. Ihr kleiner Decoder – und das ist das Schöne! – hat auch einen. Vor einem Jahr auf den Markt gekommen. Wunder der Technik, wie?«

»Ja«, sagte Hyde.

»Großartige Sache!« schwärmte Morley. »Ich meine, Sie müssen doch einfach von überall mit mir sprechen können. Da ist so ein winziger Zerhacker im Decoder doch Gold wert.«

»Pures Gold«, sagte Hyde.

»Sie können mir alles sagen, was Sie auf dem Herzen haben, und ich höre es mir dann an. Das geht aber auch umgekehrt: Ich habe eine Botschaft für Sie. Okay, ich spreche auf das Aufnahmeband. Sie rufen die Geheimnummer, halten Ihren Decoder ans Telefonmikrofon, hier in London läuft das Aufnahmeband zurück, nachdem der Decoder im Gerät das gleiche Signal erkannt hat, und Sie können von jeder Stelle der Welt aus abfragen, was ich auf das Band gesprochen habe. Natürlich lassen sich die Schalter, wenn wir wollen, jederzeit anders einstellen – nur immer in den gleichen Positionen.« Er klopfte auf den Kasten. »Ich sagte schon, ich wohne im Hause. Bin praktisch immer in der Nähe des Apparats, solange der Fall läuft. Ich denke, das wäre alles.«

»Wo sind Daniel Ross und Mercedes Olivera jetzt?« Der Anwalt sah auf eine altmodische Taschenuhr, die er aus

der Westentasche holte und deren Deckel aufschnappte. »Jetzt ist es neunzehn Uhr dreißig. In Buenos Aires ist es erst sechzehn Uhr dreißig. Zwischen London-Greenwich-Time und drüben sind nur drei Stunden Unterschied. Zwischen dem Kontinent und drüben sind es vier Stunden. Ross und Mercedes fliegen heute um zwanzig Uhr Buenos-Aires-Zeit mit einem Jumbo der AEROLINEAS ARGENTINAS von Ezeiza ab. Das sind meine letzten Informationen. Sie kommen morgen um siebzehn Uhr fünfundzwanzig mitteleuropäischer Zeit in Frankfurt an. Ross muß dringend in das Sanatorium bei Heiligenkreuz. Hier ist ein Zettel mit dem Namen der Ärztin und des Arztes, der Anschrift und der Telefonnummer der Klinik. Dieser Arzt Herdegen kann Ihr volles Vertrauen haben. Er wird Ihnen alles erklären, was Sie wissen müssen.«

»Fliegen die beiden von Frankfurt direkt nach Wien weiter?« »Ich denke nicht«, sagte Morley. »Sie haben zwei der drei

Videokassetten bei sich. Die dritte liegt, wie Sie gehört haben« erwies auf den kleinen Recorder – »in einem Banksafe, zum Schutz Oliveras. Die beiden haben nach Frankfurt gebucht, weil sie ohne Zweifel ihre Kassetten in Sicherheit bringen wollen, bevor sie nach Wien weiterfliegen. Das wäre Ihre erste große Chance, Mister Hyde. Dem Wetterbericht zufolge soll der Schneefall heute am späten Abend aufhören. Es gehen täglich mehrere Maschinen von London nach Frankfurt, die erste schon sehr früh. Sie hätten Zeit genug.«

»Wenn es nicht weiterschneit und der Flughafen geschlossen wird«, sagte Hyde.

»Das könnte allerdings dazwischenkommen«, sagte Morley. »Sie werden schon Glück haben, Sie ›Glücksritter‹!

Übernachten Sie doch bei mir, und sehen wir uns gemeinsam den Eiskunstlauf an!«

»Ich gehe lieber in ein Hotel.«

»Wie Sie wollen. Dann würde ich das RICHMOND empfehlen. Es ist klein und angenehm und liegt ganz nah.«

»Danke. Und danke für den Tee!«

»O bitte! Ich bin froh, daß er Ihnen geschmeckt hat. Wir werden einander niemals wiedersehen, Mister Hyde. Erlauben Sie, daß ich Ihnen ein Geschenk mache.« Er überreichte ihm eine auf bestes Büttenpapier gedruckte Liste. »Sie finden da Angaben über meine Lieblings-Tees. ›China smokey‹. ›Finest Colong‹.

›s Tea‹. Und so weiter. Einfach köstlich. Sie werden sehen, ach ja, Mister Hyde, noch etwas!«

»Ja, bitte?«

Roger Morley lächelte wieder sein Babylächeln. »Wir sind sehr froh, Sie für unsere Sache gewonnen zu haben.

Indessen: Sollten Sie im Verlauf Ihrer Unternehmungen mit Behörden oder mit der Polizei in Schwierigkeiten geraten, werde weder ich noch sonst jemand von der Organisation die geringste Ahnung haben, wer Sie sind. Sie würden sich vergeblich auf uns berufen. Sie dürfen nicht damit rechnen, daß ich oder irgend jemand anderer Ihnen auch nur im geringsten hilft.«

Hamburg ist von der Roten Armee genommen, Hannover auch – die Sowjets kamen über Dänemark, fielen in Schleswig-Holstein ein, eroberten Lübeck und Kiel. Erst hinter der Weser bilden NATO-Streitkräfte Verteidigungsstellungen für das Ruhrgebiet.

»Karte«, sagte der Junge mit den Sommersprossen und dem flachsfarbenen Haar. Er trug kurze Hosen und ein lose hängendes Hemd. Neben seinem Vater, einem rotgesichtigen, gleichfalls hemdsärmeligen Riesen, saß er in der mittleren Sektion der ersten Touristenklasse-Reihe, direkt vor einer der Filmleinwände. Die Boeing 747 E der AEROLINEAS ARGENTINAS, um 20 Uhr Ortszeit in Buenos Aires gestartet, seit vierzig Minuten unterwegs, war nur halb besetzt. Durch die linken Fenster kamen die Strahlen der sinkenden Sonne.

Auf den leeren Sitz zwischen sich hatten Vater und Sohn eine aufklappbare Platte gelegt. Sie war bedruckt mit einer Landkarte Europas. Zum Spiel gehörten viele aus Plastik geformte kleine Feuerkronen, Panzer, Raketen und Flugzeuge, alle in grellen Farben. Zwischen Vater und Sohn lag ein verdecktes Päckchen Karten. Der flachshaarige Junge hatte eine gezogen.

»Na, prima«, sagte er. »Drei, Krone.«

»Mist«, sagte der Vater.

»Ist dir doch klar, was jetzt passiert, Dad«, sagte Junior. »Tut mir leid. Aber nun wird es Zeit für die Nukes.« Mit Raketen, die auf dem Gebiet Polens und der DDR gestanden hatten, griff er die Umgebung der Städte Dortmund, Essen und Duisburg an. Seine Plastikraketen waren gelb, die des Vaters grün. Der Junge setzte rote Flammenkronen neben die verschobenen Raketen. Er bemerkte, daß Mercedes und Ross, die auf gleicher Höhe in der linken Sektion saßen, zusahen. »Ich schalte die Rampen der Pershings und der Cruise Missiles rund um die Städte aus«, erklärte er. »Sie sprechen Englisch, wie? Okay. Das ist das Wichtigste, wissen Sie? Zuerst immer die Abschußrampen. Sie verstehen?«

»Wir verstehen«, sagte Mercedes. Daniel sagte nichts. Er war sehr bleich. Neben ihm saß auf dem Fensterplatz ein alter Priester in einer weißen Kutte. Er machte einen verstörten Eindruck. »Allmächtiger Gott«, murmelte er.

Der Vater lachte Mercedes und Ross an. Er hatte sehr freundliche Augen. »Was sagen Sie zu dem schlauen, kleinen Bengel, Ma’am? Erst elf. Aber vielleicht ein Köpfchen. Würden sich die Commies für ihren Generalstab wünschen, meinen Junior.«

»Die Städte sind übrigens damit sowieso erledigt«, sagte Junior. Er trug eine Klammer, die seine weit vorstehenden Zähne zurückpressen sollte. »Fällt alles zusammen. Und dann die radioaktive Verseuchung. Das Ruhrgebiet kannst du vergessen, Dad. Die Truppen an der Weser auch. Da sind jetzt mindestens zehn Millionen Krauts draufgegangen. Warte mal, bis ich wieder eine rote Krone kriege!«

»Nur wer eine Karte mit roter Krone kriegt, darf Nukes einsetzen«, erklärte Dad.

»Was darf er einsetzen?« fragte Mercedes.

»Na, Nuklearwaffen«, sagte Junior. »Sie haben doch gesagt, Sie sprechen Englisch!«

Dad hatte eine Karte gezogen. Er hielt sie dem Sohn triumphierend hin. »Vier, Krone!«

»Gottverdammich«, sagte Junior.

Dad schob vier grüne Raketen auf Ostgebiet. »Also, ich erledige erst mal Leipzig, Rostock, Warschau und

Prag«, sagte er und placierte die Plastiksymbole für Atomschläge auf den entsprechenden Stellen der Karte. Er sagte ernst zu Mercedes: »Der Warschauer Pakt ist viel größer als die Bundesrepublik. Im Osten sind die Abschußrampen weiter verteilt. Daher meine Taktik: Städte ausradieren. Totale Panik. Völliges Chaos. Tue ich natürlich nur, wenn ich die NATO bin und Junior der Warschauer Pakt.«

»Deine Nukes auf diese Pinkelstädte kratzen mich nicht«, sagte Junior. »Ich habe meine Raketen weiter hinten, in der Sowjetunion. Die großen! Auf die kommt’s an. Du machst einen Fehler, Dad, ich sage es dir immer wieder. Zuerst die Rampen weg, glaub mir! Ist natürlich in der Bundesrepublik leichter. Weil die so gerammelt voll ist mit Rampen – auf ganz kleinem Gebiet. Deshalb muß die Bundesrepublik aber auch als erstes erledigt werden – das weiß ein Baby. Mit den nächsten fünf oder sechs Kronen habe ich sie eingeäschert.«

»Auf Ideen kommen die heute, was?« sagte Dad mit den freundlichen Augen zu Mercedes. »Habe ich in New York gekauft. NATO – DER KRIEG IN EUROPA heißt das Ding. Zwölf Dollar. In zwei Monaten mehr als dreihunderttausend Stück verkauft. Toll, wie? Na, macht ja auch Spaß, nicht? Mal was anderes. Allerhand, wie?«

»Allerhand, ja«, sagte Mercedes.

»Natürlich schläft die Konkurrenz nicht«, sagte Dad, während Junior eine neue Karte abhob. »Gibt jetzt jede Menge solcher Spiele. Gehen weg wie warme Semmeln. Bei den meisten dreht es sich um Europa. EUROPEAN HOLOCAUST oder EUROPA TAKTISCH. Was hast du?«

»Zwei blaue Flieger«, sagte Junior.

»Dauerbombardement und danach Luftlandetruppen«, erklärte Dad.

»Aha«, sagte Mercedes.

Junior belegte die Landkarte mit neuen Plastikzeichen. »Ich breche den Süden auf«, sagte er dazu. »Der Bayerische

Wald ist vollgestopft mit Rampen. Werde ich München, Stuttgart und Nürnberg gleich nebenbei erledigen.« Er sah Mercedes an. Die Klammer behinderte ihn ein wenig beim Sprechen. »Dad hat alle diese Spiele gekauft. Immer dasselbe Prinzip, sage ich. Der Witz ist, so schnell wie möglich die Bundesrepublik einzuäschern. Wenn dem Warschauer Pakt das gelingt, hat er Europa in der Tasche – von Moskau bis London.«

»Was sagen Sie, wie der Bengel sich auskennt!« Dad strahlte. »Auf einmal hat er gute Noten in Geographie.«

»Wetten, daß ich mit sieben Kronen am Atlantik bin? Und England dazu habe?«

»Okay«, sagte Dad. »Zehn Cents. Nicht mehr.« Zu Mercedes sagte er: »Wettet um sein Leben gern, muß Acht geben, daß Junior kein Spieler wird, haha.« Er zog eine Karte mit dem Bild eines bunten Clowns. »Mist«, sagte er.

»Joker«, sagte Junior. »Pech. Du hast gerade drei Mega-Nukes auf Rampen im Schwarzwald und hinter Bonn gekriegt.« Er setzte die entsprechenden Plastik-Symbole. »Wegen der Strahlung mußt du zurück. Neue Auffangstellung. Wird wohl deine letzte sein. Siehst du doch, daß ich nun SS-Zwanzig von der Sowjetunion aus einsetzen muß, sobald ich wieder Kronen kriege. Eskaliert prima, die Schose.«

Daniel stöhnte leise.

Mercedes sah ihn erschrocken an. »Schlimm?« »Ja«, sagte er. »Sehr.«

»Die Tropfen!« Sie stand schnell auf und sagte zu einer vorbeieilenden Stewardeß: »Ein Glas Wasser, bitte!«

»Sofort, Madam!«

Mercedes nahm aus der Gepäckablage über den Sitzen eine rote Reisetasche mit dem Aufdruck der Fluggesellschaft, öffnete den Reißverschluß und suchte nach dem Fläschchen mit den Tropfen. Dabei holte sie zwei Videokassetten aus der Tasche, die sie in der linken Hand hielt, während sie weiterkramte.

Sechs Reihen hinter ihr saß in der mittleren Sektion ein junger Mann, der sie genau beobachtete. Er war sehr groß und sehr schlank, sein Gesicht war braungebrannt, und er trug eine randlose Brille. Der junge Mann beobachtete Mercedes und Daniel schon, seit sie mit Olivera in der Flughafenhalle von Ezeiza angekommen waren. Nichts regte sich in seinem Gesicht, als er die beiden Videokassetten sah.

Mercedes hatte das Fläschchen gefunden. Sie legte die Kassetten wieder in die Tasche, verschloß sie und stellte sie in die Gepäckablage.

Der Priester links von Daniel las in seinem Brevier. Ab und zu seufzte er tief. Die Stewardeß kam mit einem Tablett, auf dem ein Glas voll Wasser stand. Mercedes dankte. Sie ließ zwanzig Tropfen in das Wasser fallen. Ross trank das Glas leer und lehnte sich zurück. Mercedes wischte ihm mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Halte durch, Danny! Bitte, bitte, halte durch!« »Ja, Mercedes.« Er nickte und strich über ihre Hand. »Und eine Mega-Nuke auf die große Cruise-Missile-Stellung

hinter Baden-Baden«, sagte Junior. Er lachte. Ein fröhliches Kind.

Daniel ertrug dieses Spiel nicht mehr. Er nahm die Kopfhörer aus der Tasche vor seinem Sitz und streifte sie über die Ohren. Der Plastikbügel, ein schmaler Halbreif, verlief unter seinem Kinn. Er hörte Opernmusik. Am vorderen Ende der linken Sitzlehne befand sich ein Drehschalter. Daniel, der sich bemühte, tief durchzuatmen, um die imaginären Luftblasen in seiner Brust ertragen zu können, drehte den Schalter. Aus den Kopfhörern erklang eine Melodie von Cole Porter. Daniel drehte den Schalter weiter und saß dann reglos. Er hörte die vibrierende, tiefe Stimme von Marlene Dietrich: »... käm’ ich in Verlegenheit ...«

»Mercedes!«

Sie sah ihn entsetzt an. Er reichte ihr die Kopfhörer, die vor ihrem Sitz hingen, gleichzeitig stellte er den Schalter an ihrer Lehne in die gleiche Position wie seinen. Mercedes setzte die Kopfhörer auf. Im nächsten Augenblick wurden ihre Augen riesengroß.

»... was ich mir denn wünschen sollte ...« sang die Dietrich. Ein Klavier. Ein Saxophon. Geigen.

Daniel hob einen Hörer vom Ohr, Mercedes desgleichen. »Unheimlich, Mercedes, wie?«

Sie schluckte und nickte. Sie konnte nicht sprechen. »Als du das erste Mal bei mir anriefst ... vom Flughafen

Kloten ... aus der Bar ...«

»Ja«, sagte sie. »Und jetzt wieder. Unheimlich. Das alte Lied ...«

»... eine schlimme oder gute Zeit...« sang die Dietrich. »Aber es war doch euer Lied«, sagte Mercedes. »Wieso hören

wir es? Und schon wieder?«

»Vielleicht will das Lied zu uns«, sagte Daniel. »... wenn ich mir was wünschen dürfte, möchte’ ich etwas

glücklich sein ...«

»Aber du liebst doch noch immer Sibylle ...« Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

Er legte einen Arm um sie. Plötzlich waren Angst und Beklemmung verschwunden, plötzlich ging es ihm wieder gut. Er zog sie an sich und preßte seine Lippen auf die ihren, die weich und warm waren. Sie legte beide Arme um ihn.

»... denn wenn ich gar zu glücklich wär’, hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein«, sang Marlene Dietrich. Das Orchester wurde laut und brachte das Lied zu Ende. Der Kuß dauerte noch immer. Ein neues altes Lied begann: »Charmaine«.

Mercedes löste sich von Daniel. Beide sahen ihre Gesichter winzig klein in den Augen des anderen, denn das Licht der untergehenden Sonne fiel auf sie. Dann lehnten sie sich wieder in ihre Sitze zurück, hielten sich an der Hand, sehr fest, und sahen einander unverwandt an. Aus den Kopfhörern ertönte die wehmütige, schöne Melodie. Die Maschine flog das Bett eines Stromes entlang, der durch den Urwald floß. Im Dunkelgrün des Dschungels sah das Wasser rötlich und lehmig aus. Es war ein sehr großer Strom, und es gab viele Inseln in ihm.

Die Tropfen machten Daniel ruhig und benommen. Er hielt die Augen geschlossen.

Goebbels hat meinem Vater Zyankali gegeben, dachte er. Zwanzig Kapseln. Im Bunker der Reichskanzlei, wo Hitler und sein Stab seit dem 16. Januar 1945 hausten. Vergebens mühte man sich von dort aus, die zusammenbrechenden Fronten neu aufzubauen. Goebbels hatte seine ganze Familie in den Bunker mitgebracht, Hitler Eva Braun. Militärs waren hier eingezogen. Funkanlagen und Fernschreibverbindungen funktionierten teilweise noch. Am späten Abend des 7. April erschien Georg Ross, von Goebbels gerufen, in dem gewaltigen, bombensicheren letzten Befehlsstand des Dritten Reichs. Auf allen Gängen und vor allen Türen zu den einzelnen Trakten standen SS-Männer, Waffe im Anschlag. Um in den Bunker überhaupt hineinzugelangen, hatte Ross fast eine Stunde gebraucht. In einem schmalen Vorzimmer zu den Privaträumen traf er dann mit dem Reichspropagandaminister zusammen. Goebbels sah zu Tode erschöpft aus.

»Hier, Ross.« Er gab Daniels Vater einen kleinen Koffer mit Nummernschlössern. »Die Filmtrommel ist gut verpackt.« Er zeigte sie Ross. Dann schloß er den Kofferdeckel wieder. »Wählen Sie eine vierstellige Zahl, die Sie sich merken können, und sperren Sie ab.« Ross wählte Dora Holms Geburtstag, den

3.7.17.

Danach holte Goebbels ein Autogrammfoto Hitlers aus der Tasche und zerriß es langsam und umständlich in zwei Teile, so daß die Trennstellen besonders bizarr geformt waren.

»Die eine Hälfte ist für Sie. Wer immer in Buenos Aires mit Ihnen Kontakt aufnehmen wird, muß die zweite Hälfte besitzen«, sagte der kleine Mann mit dem Klumpfuß. Endlich gab er Ross ein Glasfläschchen voll Zyankalikapseln. »Für alle Fälle«, sagte er. »Das hält ewig. Sofern Sie im Notfall Zeit genug haben, brechen Sie besser eine Kapsel auf und lösen das Zyankali in Wasser. Sie machen es sich dann leichter. Wenn Sie die Kapsel zerbeißen müssen, verätzt das Zeug Ihre Kehle. In beiden Fällen ist jedoch in spätestens einer halben Minute alles vorbei.« Von nebenan hörte Ross Goebbels’ Kinder lachen. Es war eine ruhige Nacht. Amerikaner und Engländer griffen die Stadt seit zwei Tagen nicht mehr an, um die sowjetischen Operationen nicht zu stören. Am 25. April sollte Berlin von der Roten Armee eingeschlossen sein.

Ross steckte die kleine Glasphiole mit den Giftkapseln in eine Innentasche seiner Jacke.

Neununddreißig Jahre später nahm er sie, am Pool seines Hauses in Buenos Aires sitzend, aus der Brusttasche des Hemdes. »Da sind die Kapseln«, sagte er.

»Du hast das Zeug immer noch?«

»Ja, Daniel.«

»Aber warum?«

»Man kann nie wissen«, sagte der Mann, der sich nun schon seit neununddreißig Jahren Eduardo Olivera nannte.

Perfekt gefälschte Papiere auf diesen Namen trug er in jener Nacht vom 7. zum 8. April 1945 bereits bei sich. Er hatte sie am Nachmittag im Keller des nach Südtirol verlagerten Auswärtigen Amtes erhalten, in dem einige Männer von Ribbentrops Geheimdienst zurückgeblieben waren.

»Brauchen Sie noch etwas, Ross?« fragte Goebbels. »Nein, ich habe alles, Herr Minister.«

»Sie müssen unbedingt noch heute nacht weg. Jede Stunde kann der sowjetische Durchbruch erfolgen.« Er gab Ross die schlaffe Hand. »Alles Gute, mein Lieber! Mir brauchen Sie das nicht zu wünschen.« Seine Lippen verzogen sich. »Hüten Sie den Film! Er wird die Welt verändern.« Noch mehr verzogen sich die Lippen. »Und wenn er es nicht tut« – Goebbels zuckte mit den Achseln – »dann sind Sie wenigstens mit dem Leben davongekommen.«

Ein kleines blondhaariges Mädchen stürzte weinend in den Raum. Das kleine Mädchen trug eine Puppe, die es anklagend empor hielt.

»Vati, Vati, Hans hat der Tine den Arm ausgekugelt!« »Na, so was! Nicht weinen! Ich mache dir Tine gleich wieder

heil!«

Goebbels schlug Ross auf die Schulter und hinkte ohne ein weiteres Wort aus dem winzigen Bunkerraum. Von fern hörte Ross eine sehr betrunkene Frau und einen sehr betrunkenen Mann singen.

»Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei ...« Kurz vor drei Uhr früh traf am 8 . April 1945 ein

graugestrichener Wagen der Waffen-SS auf dem Nachtjägerflughafen südlich von Berlin ein. Nirgends brannte Licht. Die Scheinwerfer des Wagens trugen Verdunklungsscheiben aus schwarzem Bakelit, in die schmale Schlitze geschnitten waren. Von den drei Startbahnen des Flughafens waren zwei total zerbombt, die dritte hatte man notdürftig instand gesetzt. Eine Maschine vom Typ JU 52 der Deutschen Luftwaffe wartete am Ende dieser Piste. Über den von den Trümmern des Hauptgebäudes freigeräumten Weg fuhr der Wagen holpernd und langsam – das Feld war voller Bombentrichter – bis nahe an die Maschine heran.

Ross stieg aus. Er trug einen gefütterten Regenmantel und einen breitkrempigen Hut. Der SS-Mann, der gefahren war, und der Funker der JU 52 halfen ihm mit seinem Gepäck, zwei schweren Koffern. Sie schleppten sie in die Maschine. Den dritten, kleinen Koffer, den Goebbels ihm gegeben hatte, behielt Ross in der Hand. Die Nacht war klar. Ununterbrochen ertönte bald lauter, bald leiser der Lärm von Artilleriefeuer. Das bleiche Licht des Vollmonds ließ alles wesenlos und unwirklich erscheinen. Menschen, Ruinen, das Flugzeug.

Niemand sprach ein Wort. Der SS-Mann ging zu seinem Wagen zurück, Ross stieg in die Maschine, der Funker verschwand in er Pilotenkanzel. Die Motoren sprangen an. Minuten später kurvte die JU 52 bereits über Berlin. Ross sah in die Tiefe. Er erblickte eine alptraumhafte Trümmerstätte. Plötzlich empfand das warme Gefühl des Glücks. Er wurde ausgeflogen. Er kam mit dem Leben davon. Das Gefühl überwältigte ihn. Er lehnte sich zurück, atmete tief und spürte, wie die Phiole mit den Zyankalikapseln gegen seine Brust drückte. In diesem Bunker werden nun bald viele Gift nehmen, dachte er. Mich hat Goebbels ausersehen zu einer gewaltigen Mission. Ich werde tun, was ich kann. Aber das Wichtigste ist nicht die Mission. Das Wichtigste ist das Leben. Und ich werde meines behalten.

Es begann hell zu werden, als die JU 52 auf der einzigen noch intakten Startbahn des gleichfalls fast völlig zerstörten Flugplatzes von Bergen landete. Der wichtigste Hafen an der norwegischen Westküste und die traditionsreiche Stadt sollten die erste Station auf Ross' großer Reise sein. Beim Anflug hatte Ross gesehen, daß das Zentrum Bergens von Bränden und Bombenangriffen weitgehend verschont geblieben war.

Die Maschine kam zum Stehen. Ein stumpfgrün gestrichener Mercedes rollte auf sie zu. Auch hier saß ein SS-Mann am Steuer. Er hob lässig den rechten Arm. Dasselbe tat Ross. Gesprochen wurde nicht. Der Funker half wieder beim Gepäck.

Die beiden Piloten ließen sich nicht sehen. Gleich darauf fuhr Ross durch die trostlosen Schutt- und Trümmerberge – der Randbezirke über mühselig freigeschaufelte Wege zum Hafen hinunter. Hier war es eisig kalt. Ross fror. Bergen lag auf einer flachen Halbinsel und wurde von hohen Bergen eingeschlossen. Die Hafenarme waren labyrinthartig verzweigt. Ross sah es, als sie dem Wasser nun näher kamen.

Die Gegend wurde immer trister. Hier waren viele Anlagen zerbombt. Der Fahrer ging auf Schrittgeschwindigkeit herunter. Dann tauchte eine riesenhafte Betonwand vor ihnen auf. Viele Meter hoch war sie und endlos lang. Eisnebel verwandelte alles zu einem unheimlichen Gespensterland.

Der Fahrer hielt.

»Was ist los?« fragte Ross.

»Straße im Arsch, sehen Sie doch. Wir müssen zu Fuß gehen bis zum Bunker.«

Sie stiegen aus. Fauchender Sturm warf Ross fast um. Mit dem Fahrer schleppte er sein Gepäck durch diese Mondlandschaft. Außer Atem erreichten sie den schmalen Eingang zu dem grauen Betonbunker. Hier standen zwei Männer der Feldpolizei. Ihre Gesichter waren blaugefroren.

»Ich werde erwartet«, sagte Ross. »›U Swinemünde‹«. »Parole?«

»›Kehre wieder, Morgenröte‹«, schrie Ross. Der Sturm war hier sehr stark, er riß ihm die Worte vom Mund fort.

»Moment.« Der eine Soldat nahm den Hörer eines Telefons, das in einer Lederhülle neben ihm an der Wand hing, drehte eine Kurbel und brüllte in den Apparat: »Der siebente Mann ist jetzt da ... Ja ... In Ordnung.« Er klinkte den Hörer ein und schrie

Ross zu: »Kommen gleich welche, die holen Ihre Koffer. Der Kaleu kommt auch. Warten Sie!«

Ross nickte. Sein Gesicht brannte, aus seinen Augen rannen Tränen. Der Fahrer neben ihm fluchte. Nach einigen Minuten erschienen zwei junge Männer in pelzgefütterten Uniformwesten. Sie nickten Ross zu und nahmen die beiden schweren Koffer, mit denen sie wieder verschwanden. Der Fahrer tippte lässig an seine Kappe und ging. Aus dem Eingang des Bunkers trat ein junger Mann in der Uniform eines Kapitänleutnants. Er war hager, mittelgroß, und sein Gesicht war von Falten und Furchen durchzogen. Er zog Ross in den Bunker hinein.

Nach dem Toben des Sturms draußen herrschte in der gigantischen Halle – so schien es Ross – Totenstille. Er sah sich um. In Schwimmdocks lagen vier U-Boote, drei waren stark beschädigt. Zwei weitere Boote befanden sich auf Trockendocks am unteren Ende des riesigen Bunkers. Dort erblickte Ross auch mächtige Werkstätten. Es wurde noch nicht gearbeitet.

»Herr Eduardo Olivera?« Der Kapitänleutnant trug einen grauen Rollkragenpullover unter der Uniformjacke.

»Ja.« Sie schüttelten einander die Hand.

»Ich heiße Jonson«, sagte der Kapitänleutnant. »Wir haben auf Sie gewartet. Kommen Sie! Wir müssen abhauen.«

Ihre Stimmen hallten. Ross folgte Jonson über schwingende Stahlplatten in den Bunker hinein. Es stank nach Öl und ausgeglühtem Metall.

»Vorsicht!« sagte Jonson. Ross nickte. Er sah nach oben. Der Bunker war hoch. Jonson bemerkte den Blick. »Sieben Meter dick die Decke«, sagte er. »Stahlbeton. Hat bis jetzt auch die größte Bombe nicht durchschlagen können.« Nun gingen sie über Betonrampen. Dann kamen wieder Stahlplatten. Da lag ››U Swinemünde«. Olivera starrte das Boot an. Die zwei Männer, welche die Koffer geschleppt hatten, standen auf dem schmalen, glatten Deck neben dem Turm.

Ross erinnerte sich an die Erklärung, die Goebbels ihm vor Wochen in Berlin gegeben hatte: »›U Swinemünde‹ wird Sie hinüberfahren. Das ist ein Fernfracht-U-Boot. Es hat in den letzten Jahren wertvolle Ladungen nach Japan gebracht und wertvolle Ladungen zurück. Erze zum Beispiel. Nicht für Torpedos gebaut. Hat nur das übliche Deckgeschütz.« Olivera wußte: Die gesamte Besatzung bestand aus Freiwilligen, den Kommandanten eingeschlossen. Das hatte Goebbels ihm auch erzählt. Es war eine Mannschaft, die sich aus Besatzungsmitgliedern verschiedener anderer U-Boote zusammensetzte.

»Nur erstklassige Leute«, hatte Goebbels gesagt. »Noch einmal und noch einmal durchleuchtet. Haben alle Angehörigen verloren. Wollen nicht in die Heimat zurück. Versprechen sich drüben ein besseres Leben. Wissen, daß sie unter Umständen eingesperrt werden. Kennen alle Risiken, wenn sie unterwegs aufgebracht werden. Fahren noch sechs andere Zivilisten mit. Jeder hat seine Mission ...«

Die beiden Besatzungsmitglieder, die auf Deck standen, traten vor. Sie halfen Olivera an Bord. Er war unsicher und fürchtete, in das verdreckte Wasser des Bunkers zu stürzen. Den Koffer mit der Filmtrommel hielt er eisern fest.

»Sie müssen die Leiter am Turm raufklettern und durch die Luke ins Boot rein. Gibt keinen anderen Weg«, sagte der Kommandant, Kapitänleutnant Jonson.

Olivera kletterte die Leiter hoch. Den Koffer gab er einem der Männer, die ihm folgten. Schwankend erreichte Olivera die Luke, verschwand in ihr, kletterte die Sprossen an der Innenseite hinab – und rang nach Luft. Seine schlimmsten Träume hatten ihn nicht darauf vorbereitet, daß es so aussah in einem U-Boot: So eng. So beklemmend. So unheimlich. Überall erblickte er Apparate, Maschinen und Armaturenbretter mit einer Unmenge von Anzeigern unter Glas. Allmächtiger! dachte er.

»Gehen Sie!« sagte der Mann, der auf der Sprossenleiter des Turms über ihm stand. »Ich trage Ihren Koffer. Sie müssen zu den Kojen. Durch die Schotten.« Ross machte einen tastenden Schritt, dann noch einen, einen dritten. Das erste Schott. Er stieg durch. Schwaches Licht brannte im Boot. Männer in Jacken, Pullovern, Unterhosen preßten sich an ihm vorbei. Eng. Eng. Eng. Beklommenheit überkam Olivera, wurde größer, immer größer. Der Mann mit seinem Koffer stieß ihn an. Weiter! Das nächste Schott. Dann war Ross in einem Raum mit schmalen Bettenkojen, immer zwei übereinander, zu beiden Seiten. Auf sechs dieser jämmerlichen Pritschen, oben und unten, saßen sechs Zivilisten.

»Morgen«, sagte Ross.

Die sechs starrten ihn an. Keiner antwortete. Der Maat mit dem Koffer sagte: »Da oben, das ist Ihre Koje.«

Er wuchtete den Koffer mit der Filmrolle hinauf und schwang sich durch das offene Schott zurück nach vorne. Olivera sah, daß man seine großen Koffer bereits mit zahlreichen anderen unter die Kojen geschoben hatte. Er zog den Mantel aus, wußte nicht, wohin mit ihm und seinem Hut, warf beides auf die Koje und kletterte nach oben. Die sechs Männer sahen ihm dabei zu. Olivera legte sich auf das schmale Bett und starrte die Stahlwand direkt über sich an. Unten eilten Matrosen hin und her. Er hörte Befehle und Rufe. Offenbar wurde das Boot zum Auslaufen fertiggemacht. Kein Mensch kümmerte sich um die sieben Zivilisten. Keiner von ihnen sprach. Es waren außerordentlich schweigsame Herren.

Eine halbe Stunde später sprangen die Dieselmotoren an. Olivera fühlte, wie sich das Boot langsam in Bewegung setzte. Da war es 6 Uhr 35 am 8. April. Olivera fiel der Satz eines britischen Klassikers ein, aber nicht dessen Name: »Hell must be a place like London.« Er dachte: Die Hölle muß ein Ort wie der hier sein. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, daß er in dieser Hölle die nächsten sechsundsiebzig Tage und sechsundsiebzig Nächte bis zum frühen Morgen des 23. Juni 1945 verbringen sollte.

Tagsüber fährt das Boot unter Wasser, um Treibstoff zu sparen. Es fährt deshalb auch nicht sehr schnell. Nur nachts taucht es auf. Die E-Maschinen müssen geladen werden. Nachts können sie alle für ein paar Stunden dem Mief des Bootsinnern entkommen und frische Luft schöpfen. Sechsundsiebzig Tage und sechsundsiebzig Nächte. Das ist selbst für alte U-Boot-Fahrer fast zuviel. Die sieben schweigsamen Zivilisten, die noch nie zuvor auch nur fünf Minuten in einem U-Boot zugebracht haben, kämpfen um das nackte Überleben. Sie werden seekrank. Was sie essen, erbrechen sie sofort wieder. Dann erbrechen sie, ohne etwas zu essen, schon wenn sie Essen nur riechen. Sie müssen immer gleich alles wieder saubermachen, um nicht im eigenen Gestank zu ersticken. Sie haben Todesangst. Sechsundsiebzig Tage und sechsundsiebzig Nächte Todesangst. Keiner kümmert sich um sie. Von der Besatzung werden sie als Top-Nazibonzen verachtet. Allen an Bord wachsen Bärte. Man kann sich nicht richtig waschen. Man ekelt sich vor dem eigenen Körper. Die Stimmung wird gereizter und gereizter, sogar bei den alten Hasen unter der U-Boot-Besatzung.

Der einzige, dem das alles nichts anzuhaben scheint, ist der dreißigjährige Kommandant Heinz Jonson. Der bleibt völlig unverändert. Maulfaul. Schlau. Sieht alles. Hört alles. Schlichtet sofort jeden Streit, trennt schnellstens zwei, die eine Prügelei beginnen. Setzt sich ohne Mühe durch gegen jeden Stänkerer, Meuterer, Intriganten. Hockt über seinem Kartentisch bei Tag und bei Nacht – man weiß nicht mehr, wann was ist –, liest alle Meldungen, die der Funker in seiner Box auffängt, und gibt die weiter, von denen er meint, sie könnten von Interesse sein. Schon am 25. April reichen russische und amerikanische Soldaten bei Torgau an der Elbe einander die Hände. Da haben drei der sieben Zivilisten bereits seit zehn Tagen Dünnschiß. Der wird noch schlimmer nach dieser historischen Begegnung. Am 30. April ernennt Hitler den Befehlshaber der U-Boote, Großadmiral Dönitz, zu seinem Nachfolger und läßt seinen Hund, seine Eva Braun und sich selber umbringen. Die Meldungen kommen von alliierten Kriegsschiffen, die ringsum ihre Bahn ziehen und die »U Swinemünde« nicht entdecken dürfen, weshalb das Boot beharrlich Funkstille hält.

Ein paar Stunden nach Hitlers Ende tötet Goebbels seine Frau, seine vier Kinder und sich selber, und Olivera muß, während er das hört, an das kleine blonde Mädchen mit der Puppe Tine denken, der Brüderchen Hans den Arm ausgekugelt hatte. Ob Goebbels sich die Zeit nahm, das Zyankali für die ganze Familie in Wasser zu lösen? überlegt Olivera. Vermutlich. Welches Kind beißt schon freiwillig auf eine Glasampulle?

Die meiste Zeit des Tages liegt Eduardo Olivera in seiner Koje. Den Koffer mit der Filmtrommel hat er neben sich, die eine Hälfte einer Handschelle um den Koffergriff, die andere Hälfte um eine Stahlstrebe der Außenwandverkleidung geschlossen. Er paßt sehr auf sich auf und bleibt so sauber, wie es nur geht. Er zwingt sich zu essen. Nachts macht er an Deck Freiübungen, bis ihm der Schweiß herunterläuft. Er wird diese Höllenfahrt überleben, das hat er sich geschworen. Von den sechs anderen schweigsamen Herren lassen sich die meisten bedenklich gehen und sind apathisch oder hysterisch geworden. Mundfäule haben sie alle.

Am 7. Mai läßt Dönitz um 2 Uhr 41 den Generalobersten Jodl in Eisenhowers Hauptquartier in Reims die bedingungslose deutsche Kapitulation unterschreiben.

Am 9. Mai, denkt Daniel, während er in einem Jumbo der AEROLINEAS ARGENTINAS der Stadt Sáo Paulo entgegenfliegt, wurde die Kapitulation im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst bestätigt, wo der Generalfeldmarschall Keitel, wiederum auf Befehl von Dönitz, unterschrieb. Den Keitel und den Jodl hängten die Sieger dann später in Nürnberg auf, überlegt Daniel. Der Großadmiral Dönitz bekam zehn Jährchen, die saß er in Spandau auf einer Backe ab, wurde am 1. Oktober 1956 entlassen und schrieb noch ein schönes Buch, dieser Mann, der von den vierzigtausend deutschen U-Boot-Fahrern dreißigtausend verheizt hat. »Zehn Jahre und zwanzig Tage« hieß das schöne Buch. Gestorben ist Dönitz erst am 24. Dezember 1980. Neunundachtzig sollte er werden, das Alter muß man ehren. Hat doch hochintelligent gehandelt 1945. Nein, instinktiv! Bedingter Reflex. Wie bei Pawlows Hunden. Andere die Niederlage stellvertretend unterschreiben lassen, wenn alles im Arsch ist, so denkt Daniel, hat in diesem unserem Lande schon immer ungemein lebensverlängernd gewirkt.

Auf dem Boot feiern sie den 9. Mai 1945, an dem um 0 Uhr 01 die Bedingungen der Kapitulation in Kraft treten. Der Smutje hat einen besonders feinen Fraß gekocht, und jeder bekommt eine Banane und eine Orange, und der junge alte Kaleu, der sagt: »Verflucht – und nie wieder Krieg! Gott schütze uns alle und jeden besonders.« Feiner Kerl, der Alte. Was wohl aus dem geworden ist? Nie wieder Krieg – ach du liebes Gottchen! Am

23. Mai wird die »Regierung Dönitz« in Flensburg verhaftet, und der älteste der schweigsamen Männer an Bord hat einen Karbunkel an einer besonders peinlichen Stelle. Über zehn Millionen deutsche Soldaten befinden sich in Gefangenschaft. Mehr als die Hälfte des Ostheeres, fast zwei Millionen Mann, erreicht in den letzten Kriegstagen noch den westlichen Machtbereich. Und von der Kriegsmarine werden vom 23. Januar bis zum 9. Mai mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aus den Ostseebrückenköpfen nach Westen überführt.

Und weiter geht die Fahrt, immer weiter. Die anderen schweigsamen Zivilisten kriegen auch Karbunkel und Ekzeme und Augenentzündungen. Nur Olivera nicht. Ein paar von der Mannschaft schon, und sie verfluchen die Scheiß-Top-Bonzen, diese Nazihunde. Jetzt kann man ja ohne Angst die Wahrheit sagen, nicht wahr? Eine tolle Wut bricht aus bei diesen jungen, geschundenen, armen Kerlen, die dem großen Verheizen eben noch entgangen sind. Sind sie ihm entgangen? Erst fünfzig von sechsundsiebzig Tagen sind vorbei.

Am einundfünfzigsten Tag kriegt einer der schweigsamen Zivilisten einen Tobsuchtsanfall und muß an die Schienen seiner Koje gefesselt werden. Da schlägt er dann immer mit dem Kopf gegen die Stahlwand, bis er blutet wie ein Schwein und auch noch der Kopf fixiert werden muß. Schon eine Sauerei so was! Und ansteckend. Eine Woche später fangen zwei weitere Herren zu toben an und müssen gefesselt werden. Heulkrämpfe haben sie alle – bis auf Olivera. Wenn der in seiner Koje liegt, ist er immer ganz still und ruhig und freundlich. In der JU 52, die ihn nach Bergen brachte, hat er ein Buch entdeckt, das jemand dort liegengelassen hat. »Großes Schachbuch« heißt es, und da sind die zweihundertfünfzig besten Partien der berühmtesten Schachmeister der Welt Zug um Zug beschrieben. Weil das Buch schon 1930 gedruckt wurde, finden sich hier auch die großen Spiele von Juden und Russen, und Georg Ross, der jetzt Eduardo Olivera heißt, studiert dieses Buch Zeile für Zeile. Zug um Zug spielt er im Geist die genialen Partien nach, die Meisterpartien zwischen Bernstein und Janowski, Aljechin und Marshall, Tarrasch und Gunsberg, Lasker und Napier, Capablanca und Bogoljubow und so vielen, vielen anderen. Dieses Schachbuch, Lc1g5, b7-b5, rettet ihm sozusagen das Leben, Sf3e1, Sf8 x e6, denn solcherart behält er seine Nerven und dreht nicht durch und übersteht völlig unbeschadet sechsundsiebzig Tage und sechsundsiebzig Nächte in der Hölle, De2h2, Le8f7.

Am neunundfünfzigsten Tag der Reise weckt Olivera das heftige Stöhnen des Zivilisten, der unter ihm liegt. Er springt aus der Falle. Der Zivilist hat ein blaues Gesicht, verdrehte Augen und Schaum im offenen Mund, und eine Minute später ist es mit dem Stöhnen vorbei und mit dem Mann auch. Stinken tut es, diesmal ausnahmsweise nach etwas anderem als sonst – nämlich nach Bittermandeln. Der Kerl hat eine Zyankalikapsel zerbissen, wie auch Olivera sie hat. Scheinen alle solche Kapseln zu haben, die schweigsamen Herren. Nun sind es nur noch sechs. Und zwei Maate und der Zentralegast schieben den Toten in einen Jutesack, legen ein paar Kanteisen zu der Leiche und binden gut zu. Nachts, als das Boot auftaucht, schmeißen sie den Sack dann über Bord, bevor er zu stinken anfängt, der Tote, und das ganze Gepäck, das er hatte, schmeißen sie ihm nach. Scheiß drauf, was da für geheime Schriftstücke drunter sind! Weg mit Schaden. Ein Gebet wird nicht gesprochen. Der kommt schon so in den Himmel. Und Olivera macht gleich danach seine Freiübungen wie immer. Dg3 x h3, a4a3

In der Nacht zum sechzigsten Tag ihrer Reise verliert dann ein zweiter Zivilist vollends den Verstand. Er war schon seit einer Woche nicht mehr richtig im Kopf und hat dauernd von Röntgenstrahlen und Martin Luther geredet. In dieser Nacht springt er plötzlich auf und läuft Amok durch das Boot, und er hat ein Springmesser, Sh3f2, Lb3 x d1, weiß der Himmel, wo das her ist, Tg1g6, a3a2, und mit dem Springmesser sticht er auf jeden ein, der ihm in den Weg kommt, und auch auf jeden, der ganz friedlich pennt (es ist vier Uhr morgens), und er brüllt wie ein Tier und will raus, raus, raus. Td1 x d2, Kg8g7. Sie können ihn nicht überwältigen, und da nimmt der Kommandant seine Pistole – er ist der einzige, der eine Waffe haben darf – und schießt dem Rasenden drei Kugeln in den Bauch, und als der immer noch nicht tot ist, schießt er das ganze Magazin leer, und das genügt dann. Und wieder müssen sie einen unbekannten Toten in einen Jutesack schieben und Kanteisen dazu und den Sack zubinden und nachts über Bord schmeißen mit allen anderen Sachen. Und der Sani verarztet die Verletzten – sind zum Glück nur Fleischwunden, ungefährliche, nur mächtig desinfizieren muß er sie –, und Olivera ist wieder beschäftigt mit Kniebeugen und Bruststrecken und tief, tief durchatmen, d4 x e5, Se4 x d2. Und es ist erst der sechzigste Tag ihrer Reise.

Nun wird es immer heißer, grauenvoll heiß. Sie sind alle fast nackt im Boot und schwitzen wie die Schweine Tag und Nacht, denn auch die Nächte sind nun heiß, und jetzt haben fast alle Karbunkel und Mundfäule und Ekzeme. Nur Olivera immer noch nicht, De2 x c4, Dc7-c5. Wundervoll hat Rubinstein das gemacht, ganz prachtvoll!

Und siehe, es kommt die Nacht zum sechsundsiebzigsten Tag, und alle wissen: Jetzt ist es soweit! Und die Siechsten und Elendsten grinsen, und der Kommandant Heinz Jonson steht am Scherenfernrohr und beobachtet die Küste, die etwa dreißig Seemeilen entfernt vorüberzieht, und dann – es ist drei Uhr früh holt er das mächtige Rohr herunter und befiehlt aufzutauchen. Und sie klettern alle an Deck, bis auf jene, die Dienst haben, und sehen ein paar verlorene Lichter in der Ferne, und sie wissen, das sind die Lichter von einem Kaff namens Bartolome Bavio, das liegt auf der rechten Seite des Rio de la Plata, also links vor ihnen, und sie sind am Ziel, wenigstens die Zivilisten. Jonson hat sich mit seinen Leuten besprochen. Wenn die Zivilisten weg sind, wird er in das Mündungsbecken hineinfahren bis nach Buenos Aires und sich im Hafen den Amerikanern ergeben. Liegen amerikanische Schiffe dort, das weiß er. Der Kommandant wird sagen, daß sie mit dem Boot getürmt sind, weil sie die Schnauze voll gehabt haben vom Vaterland, dem teuren, schließ dich an, und daß sie als Beweis ihrer Aufrichtigkeit und ihres guten Willens ein ganzes deutsches Fernfracht-U-Boot, vom Stapel gelaufen 1941 auf der Werft von Blohm & Voss in Hamburg, sozusagen als Gastgeschenk mitgebracht haben. Und daß sie nach Nordamerika wollen. Wenn es sein muß, zuerst als Kriegsgefangene. Aber dann soll man sie um Himmels willen im Lande lassen, sie werden auch gute Bürger sein. Sie wollen nur in Amerika leben und in Frieden. In Amerika gibt es für sie noch Hoffnung. In Deutschland nicht. Darum haben sie diese Irrsinnsfahrt riskiert, die sechsundsiebzig Tage und sechsundsiebzig Nächte gedauert hat.

Ganz langsam nähert das Boot sich der Küste. Nach einiger Zeit beginnt der Signalgast sich zu melden. Er sendet mit Rotlicht ein vereinbartes Zeichen.

Und da! Das Signal wird erwidert! Vor der Küste flackert es auf, gleichfalls rot, wieder und wieder und wieder. Sie kommen, um die schweigsamen Männer zu holen. Donnerwetter, hat das vielleicht geklappt! Und den Krieg haben wir auch noch verloren. Tb7b3, Lc3g7.

Etwa zwei Stunden später geht ein sehr großes und sehr schnelles Motorboot längsseits. Deutsche Stimmen ertönen. Schnell! muß schnell gehen, überall paßt die Küstenwache auf. An Seilen werden die fünf Zivilisten und ihr Gepäck zum Motorboot hinübergehievt. Wieso seid ihr nur fünf? Wo sind die anderen zwei? Die sind ... Leise, leise. Flüstern. Und ihre Koffer? Im Meer. O verfluchte Scheiße! Der Kommandant steht neben dem Turm, er hat jedem der ungebetenen Gäste die Hand gegeben und fünfmal »Denn man tau« gesagt. Jetzt werden die Leinen gelöst. Das Motorboot dreht und nimmt sofort mit höchster Geschwindigkeit Fahrt Richtung Küste auf. Olivera schaut sich noch einmal um. Im Dämmerlicht steht Heinz Jonson ganz allein neben dem Turm.

Eine Viertelstunde später erreicht das Motorboot die Küste. Der Rio de la Plata ist hier flach, und der Strand besteht aus feinem, weißem Sand. Sie müssen ein Stück durchs Wasser waten, dann stehen sie auf argentinischem Boden. Die mit dem Motorboot hauen ab. Reglos stehen fünf Zivilisten in dreckigen Anzügen und dreckigen Mänteln, den Hut auf dem Kopf, in der feuchten Hitze und bewegen sich nicht. Sechseinhalb Minuten stehen sie so, dann tauchen sieben Autos auf, darunter zwei Jeeps. Wieder die Fragen, wo die zwei seien, die fehlen, die gleichen Antworten, wieder das Gefluche.

Weg, wir müssen hier schleunigst weg! Jeder der Herren wird in einem anderen Wagen verstaut mit seinem Gepäck. Zwei Wagen haben keinen Passagier. Eduardo Olivera sitzt neben einem großen Mann in weißem Hemd und weißer Hose vorn in

einem der Jeeps, das Gepäck liegt hinten, den Koffer mit der Filmrolle hält Olivera auf den Knien, das »Große Schachbuch« auch.

»Wir fahren nach Bartolome Bavio«, sagt der Mann am Steuer. »Da bleiben Sie den Tag über. Versteckt. Bei Freunden.« Er spricht jetzt Spanisch, und Spanisch antwortet Olivera: »Warum fahren wir nicht gleich nach Buenos Aires?«

Der Fahrer ist zufrieden mit Oliveras Aussprache. »Zu gefährlich«, sagte er. »Sehr viel Militär hier überall.

Nachts bringe ich Sie weiter. In Ihr Haus. Alles vorbereitet!« Und er fährt los über den perlweißen, feinen Sand. Die andern Wagen sind schon verschwunden. Olivera wird leicht in seinen Sitz zurückgedrückt. Ein ungeheueres Glücksgefühl überflutet

ihn, stärker, viele Male stärker als jenes, das er in der JU 52 empfunden hat. Gerettet! In Sicherheit! Er hat überlebt! Er beginnt zu lachen. Er lacht und lacht. Der Fahrer achtet überhaupt nicht darauf. Er fährt ohne Licht, klar. Jetzt sind sie auf einer Straße. Und da, als der Jeep um eine Kurve schießt, gleitet das »Große Schachbuch« von dem kleinen Koffer auf Oliveras Knien und fällt hinaus, hinaus in die Dunkelheit, in den weißen Sand. Und Olivera hat es doch aufbewahren wollen, aufbewahren für immer, das Buch, das ihn vor Irrsinn und Tod bewahrt hat.

»Was war das?« fragt der Fahrer. »War was?« »Da ist doch eben was rausgeflogen.«

»Ach so, ja.«

»Nämlich was?« fragt der Fahrer.

»Nichts Wichtiges«, sagt Olivera.

»Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!«

Eine Stewardeß war an eines der Telefonmikrofone getreten. Ihre Stimme ertönte aus den Lautsprechern in der ganzen riesigen Kabine, aber auch aus den Kopfhörern an jedem Sitz. Wenn sie auf Musik geschaltet waren, so wurde diese automatisch zurückgenommen. Daniel öffnete die Augen, er brauchte einen Moment, bis er wußte, wo er sich befand. Eben noch hatte er von der Landung seines Vaters in Argentinien taggeträumt. Mercedes hielt seine Hand, bemerkte er.

Unterdessen hatte die Stewardeß weitergesprochen: »In wenigen Minuten werden wir auf dem internationalen Flughafen von Sao Paulo landen. Wir haben einen kleinen Defekt in der Klimaanlage, den wir vor dem Weiterflug beseitigen lassen wollen. Das wird voraussichtlich etwa eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Wir müssen Sie bitten, die Maschine zu verlassen und in den Transiträumen zu warten. Sie sind herzlich zu Drinks eingeladen. Nach dem Start servieren wir das Abendessen. Darf ich Sie jetzt bitten, das Rauchen einzustellen und sich anzuschnallen. Danke!« In drei anderen Sprachen wiederholte das Mädchen ihre Ansage.

Es war Nacht geworden. Licht brannte in der Kabine. »Wie geht es, Danny?«

»Viel besser«, sagte er. »Ich bin ziemlich benommen, aber es geht viel besser, Mercedes.«

Sie streichelte seine Hand. »Du hast geschlafen.« »Ja.«

»Du siehst fabelhaft aus im Schlaf.«

»Mercedes!«

»Nein, wirklich. Und ich habe deinen Schlaf bewacht.« »Das war lieb von dir. Du siehst fabelhaft aus im Wachen.« »Wir sehen beide ganz fabelhaft aus.« Sie hatte ihm seine

Kopfhörer abgenommen und küßte ihn auf die Wange. Der Priester, der aus dem Fenster sah, sagte auf englisch zu Daniel: »Das ist die größte Stadt Brasiliens. Mittelpunkt des wissenschaftlichen Lebens. Drei staatliche Universitäten und eine katholische.« Mercedes und Daniel sahen in die Tiefe. Die Maschine überflog ein gewaltiges Lichtermeer. Das Straßensystem ähnelte dem von Buenos Aires. »Eine Menge Industrie«, fuhr der Priester fort. »Die meisten brasilianischen Filme werden hier gedreht. Dies ist auch das Fernsehzentrum des Landes. Zwei Flughäfen. Viele Autobahnen. Zum Hafen Santos. Bis nach Rio. Fünfzehnhundertvierundfünfzig ist Sáo Paulo als Jesuitenmission gegründet worden«, sagte der Priester stolz. »Heute nennt man es das Chicago Südamerikas. Herr, Du hast uns in Deiner Güte bisher so wunderbar beschützt. Beschütze uns weiter, wir bitten Dich. « Der Jumbo verlor jetzt rapide an Höhe.

»Fliegen Sie noch weiter?« fragte Mercedes. »O ja«, sagte der Priester. »Bis Frankfurt. Und dann nach

Köln. Der Herr Erzbischof dort hat mich heimgerufen.« »Sie sind Deutscher?«

»Ja«, sagte der Priester, während der Jumbo aufsetzte und über die Landebahn schoß, deren beide Seiten von Lichtern markiert waren. Er sprach jetzt deutsch: »Aus Köln. Sie merken es am Tonfall. Ich heiße Heinrich Sander.«

»Wie lange waren Sie in Südamerika?«

»In Buenos Aires, nur in Buenos Aires«, sagte der Priester, der Sander hieß. »Fünfundzwanzig Jahre.« Er lächelte, und es war das gütigste Lächeln der Welt, dachte Ross. »Jetzt bin ich alt. Jetzt kann ich für mich sein. Ich werde endlich Zeit haben zu lesen. Und in einem großen Garten zu arbeiten. Ich bin ein sehr guter Gärtner, wissen Sie?«

Die Maschine war zum Halten gekommen, die Luftkühlung schaltete sich ab. Sofort brach allen Passagieren der Schweiß aus. Sie beeilten sich, das Flugzeug zu verlassen. Der sehr große, sehr schlanke und braungebrannte junge Mann, der sechs Reihen hinter Mercedes und Daniel in der mittleren Sektion gesessen die beiden seit dem Abflug nicht aus den Augen gelassen hatte, erhob sich gleichfalls. Er sah, daß Mercedes die rote Flugtasche, in der sie die beiden Videokassetten verstaut hatte, aus der Gepäckablage hob. Seine Augen verengten sich. Der alte Priester vor Mercedes und Daniel ging an einem schweren, silberbeschlagenen Stock aus schwarzem Holz.

Im Freien war es so unerträglich heiß wie in Buenos Aires. Die Zubringerbusse fuhren schnell. Eine Stewardeß sagte, die Transiträume seien klimatisiert. Mercedes hatte sich bei Daniel eingehängt und stützte ihn, als sie einen langen, hellen Gang im Airport entlang gingen, den Priester an ihrer Seite. Daniel taumelte ein wenig. Sein Gesicht war eingefallen, er sah sehr bleich aus. Im Augenblick, in dem er den Transitraum betreten wollte, wurde er herumgerissen.

Mercedes schrie gellend auf. Daniel sah, daß ein großer junger Mann mit randloser Brille versuchte, ihr die rote Flugtasche zu entreißen. Sie wehrte sich verzweifelt. Der junge Mann war stärker. Nun hatte er die Tasche. Er wollte weglaufen, ging aber gleich darauf laut stöhnend in die Knie. Der alte Priester hatte ihm den Griff seines Stocks über den Schädel geschlagen.

Nun schrien viele Passagiere durcheinander. Zwei Polizisten in der Halle rannten los. Der alte Priester bückte sich mit einer Geschwindigkeit, die ihm niemand zugetraut hatte, und entriß dem jungen Mann, dem aus einer Platzwunde unter dem Haar Blut über das Gesicht rann, die rote Tasche.

»Policia!« schrie er. »Policia! Socorro! Socorro!« Der junge Mann kam auf die Beine, schlug sich rücksichtslos

den Weg frei und rannte durch einen Seiteneingang in die riesige Halle hinaus. Die beiden Polizisten kümmerten sich um Mercedes. Der Priester erklärte, was sich ereignet hatte. Mercedes war zu aufgeregt, sie konnte nicht sprechen. Daniel schwankte. Die Polizisten nahmen die Verfolgung des jungen Mannes auf. Sie kamen in dem nun von Menschen vollends verstopften Gang nur langsam voran.

»Sie müssen etwas trinken auf den Schreck«, sagte der Priester Sander auf deutsch mit kölnischem Tonfall. »Ich mache das schon. So viele Leute. Ich bestelle an der Bar. Setzen Sie sich hier hin, und rühren Sie sich nicht weg! Ich bin gleich wieder da.« Daniel bemühte sich, Mercedes zu beruhigen. Sie zitterte am ganzen Leib. Mühsam öffnete sie die Tasche und vergewisserte sich, daß die beiden Kassetten noch da waren.

»Ich bin nämlich auch eingeschlafen, kurze Zeit, neben dir«, sagte sie zu Daniel.

»Er hätte dir die Tasche nicht weggerissen, wenn er die Kassetten schon gehabt hätte«, sagte Daniel.

»Der Lump«, sagte Mercedes. »Der schmutzige Lump.« Sie schloß die rote Tasche und legte beide Arme um sie. Gleich darauf kam der Priester mit einem Tablett und drei großen Gläsern.

»Gin-Tonic«, sagte Sander. »Ich habe gleich doppelte genommen.« Er setzte sich.

Die kleinen grünen Zitronen, dachte Daniel und sah in sein Glas, wie bei meinem Vater.

»In fünf Minuten bringt der Kellner uns noch einmal dasselbe«, sagte der Priester. »Haben Sie etwas Wertvolles in der Tasche?«

»Ja«, sagte Mercedes.

»Diese Burschen klauen alle«, sagte der alte Priester. »Am liebsten in der U-Bahn oder in so einem Gedränge.«

»Sie waren ganz prima, Hochwürden«, sagte Mercedes. »Ich danke Ihnen!«

»Nichts zu danken«, sagte der alte Mann. »War mir ein Vergnügen. Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, hätte der Knabe keine Chance gehabt, abzuhauen. Cheerio, auf diesen Schrecken!« Er hob sein Glas. Sie tranken ihm zu. »Ich war mal bester Boxer im Orden«, sagte Sander. »Und der Schnellste über tausend Meter. Die neuen Drinks müssen gleich kommen.«

Zu dieser Zeit saß der junge Mann mit der randlosen Brille in einem schwarzen Peugeot, der auf dem Platz vor dem Flughafen parkte. Ein anderer junger Mann, er war kleiner und hatte sehr langes schwarzes Haar, saß hinter dem Steuer und behandelte die Platzwunde. Er hielt einen Erste-Hilfe-Blechkasten auf den Knien. Nachdem er die Wunde desinfiziert hatte, wickelte er dem Größeren einen Verband über Haar und Stirn. Dann wischte er sein Gesicht mit Alkohol sauber. Dabei unterhielten sie sich.

»Also, du weißt jetzt, wo sie sitzen, Pablo. Und wo ich gesessen habe. Du mußt dir einen anderen Platz suchen. Die Maschine ist halb leer.«

››Die stellen jetzt die Tasche natürlich zwischen sich«, sagte Pablo. »Du nimmst den Wagen und fährst in die Stadt, Leon. Hauptpost. Kein Risiko. Ruf von der Hauptpost Cristobal an. Er sagte mir, London hat den richtigen Mann gefunden. Der übernimmt jetzt. Er wird in Frankfurt sein, wenn wir landen, hat Cristobal gesagt, und er wird mich ansprechen. Er weiß, wie ich aussehe. Ich halte eine Orchidee in der Hand. Erzähl Cristobal, was passiert ist. Damit dieser Mann es schon weiß. Fotos von den beiden hat er zu sehen bekommen, sagte Cristobal. So, der Verband hält. Verschwinde hier bloß, Leon!« Er schloß den Erste-Hilfe-Kasten und warf ihn auf den Rücksitz. »Ich gehe jetzt rein. Eingecheckt habe ich schon. Ate logo, Leon, mach’s gut!«

»Du auch, Pablo«, sagte Leon. Sie stiegen beide aus und schüttelten sich die Hände. Leon sah Pablo nach, wie dieser auf das Portal des Flughafens zuging, dann setzte er sich hinter das Steuer des Peugeot und fuhr los. Er war sofort auf einer Autobahn, die in die Stadt führte.

In der Wohnung des einsamen alten Mannes namens Cristobal im Haus fünfundzwanzig an der Straße Husares gegenüber den Kasernen und Exerzierplätzen des »Regimento 3 de Infanteria/General Belgrano« in Buenos Aires schrillte das Telefon. Cristobal, wie in den ganzen letzten Wochen daheim nur mit einem Handtuch um die Lenden bekleidet, weil ihn die Hitze fast umbrachte, kam aus dem hinteren Zimmer herbeigeschlurft und hob ab.

»Ja?«

»Hier ist Leon.«

»Wo bist du?«

»Sao Paulo. Hauptpost.«

»Was ist los?«

Leon sagte, was los war.

Cristobal fluchte. »Du beschissener Sohn einer Hure, wer hat dir gesagt, daß du aktiv werden sollst? Begleiten solltest du die beiden bis Sao Paulo, sonst nichts.«

»Ich weiß. Aber ich habe die Kassetten gesehen. Das hat mich völlig verrückt gemacht, Cristobal. Kannst du das nicht verstehen? Ich habe gedacht, ich schaffe es ganz leicht. Und ich hätte es auch geschafft, wenn dieser verdammte Pfaffe nicht gewesen wäre.«

»Wenn ... wenn ... Wenn ihr nur für fünf Pesos Verstand hättet, alle miteinander!« Cristobal fluchte wieder. »Aber nein, so ein kleiner Kacker wie du muß natürlich Nullnullsieben spielen. Hättest du nur gemeldet, daß die Kassetten in der Tasche sind, wärest du ein großer Mann gewesen, Arschloch! Du fliegst natürlich von dem anderen Flughafen zurück.«

»Natürlich. Es tut mir leid.«

»Leid, Scheiße! Ist Pablo jetzt in der Maschine?« »Ja.«

»Übernachte in einer kleinen Pension! Bring den Leihwagen zurück! Flieg morgen früh! Gute Nacht, Idiot!«

Cristobal legte auf, schaltete den Zerhacker ein, seufzte tief und rief Anwalt Roger Morley in London an.

Söldner Wayne Hyde lag im Bett seines Zimmers im Hotel RICHMOND und las Sonette von Shakespeare. Das tat er seit über einer Stunde. Es war halb vier Uhr früh, und Hyde konnte nicht schlafen. Vermutlich konnte kein Mensch in London schlafen. Ein Sturm von einer Stärke, die Hyde nur bei nordamerikanischen Blizzards kannte, raste seit zwei Stunden über die Stadt hinweg. Er deckte Dächer ab, brachte Mauern zum Einsturz, entwurzelte große, alte Bäume und tobte mit dem Lärm eines Bombergeschwaders. Der Sturm, der von ungeheueren Schneefällen begleitet wurde, war in der Tat ohrenbetäubend. Obwohl die Fenster geschlossen waren, wehten die Vorhänge, und eisige Luft erfüllte den Raum. Selbst das alte Hotel mit seinen dicken Mauern erzitterte, Hyde konnte es deutlich spüren. Er hatte Kopfweh und schon zwei Tabletten genommen, die nicht wirkten.

»Wie Wellen eilen zu dem Kieselstrand, / So unsre Stunden ihrem Ende zu ...«Das war der Beginn des sechzigsten Sonetts. Hyde kannte und liebte es. Für diesen Mann, der in jeder freien Minute las, las wie ein Verdurstender, wie ein Maniac, war Literatur das, was für fromme Menschen ihre Religion, für Fanatiker ihre Ideologie bedeutet. Ja, ein Lesefanatiker war der vielfache Mörder gegen Bezahlung Wayne Hyde.

»... Und jede wird im Laufe überrannt / Von jeder nächsten, hastend ohne Ruh. / Einmal geboren in das Meer des Lichts, / Drängt jedes Leben nach der Reife hin, / Und ist’s soweit, naht Dunkel schon und Nichts, / Und Zeit, die schuf, wird zur Zerstörerin ...«

Das Telefon auf dem Nachttisch läutete. Hyde hob ab.››Ja?« ››Hier ist der Nachtportier. Verzeihen Sie die Störung, Sir,

aber ein Gentleman hat angerufen und bittet dringend um Rückruf. Ich gebe Ihnen seine Nummer.« Er nannte sie, und Hyde bemerkte nach der dritten Zahl, daß es der Anschluß zu Roger Morleys Telefonbeantworter war. Er dankte, hängte ein, setzte sich im Bett auf, ließ die Beine baumeln, und während draußen der Sturm weiter wütete, wählte er Morleys Nummer. Auf dem Nachttisch lag der kleine weiße Decoder. Er nahm ihn in die freie Hand.

Morleys Stimme meldete sich am Gerät und nannte Namen und Adresse des Besitzers, der angeblich nicht zu Hause war. Man konnte aber eine Nachricht hinterlassen. »Bitte«, sagte Morleys Stimme vom Band, »sprechen Sie – jetzt!«

Hyde hielt das schwarze Oberteil des Decoders vor das Mikrofon des Telefonhörers und drückte auf den schwarzen Knopf des kleinen Apparates. Daraufhin sendete der Decoder drei verschieden hohe und verschieden lange Töne. Hyde hielt wieder den Hörer ans Ohr. Er bemerkte, wie ein Band zurücklief, dann ertönte Morleys Stimme: »Morgen, morgen. Tut mir leid, falls ich störe, aber ich nehme an, Sie schlafen so wenig wie ich. Neuigkeiten für Sie ...« Morleys Stimme berichtete vom Band, was der alte, einsame Mann namens Cristobal in Buenos Aires ihm soeben telefonisch mitgeteilt hatte. Sie schloß: »... leider haben auch wir es mit Idioten zu tun, mein Lieber. Nun, es ist noch einmal gutgegangen. Also, die Kassetten sind an Bord, und wir wissen jetzt auch, wo. In den Unterlagen haben Sie gelesen, woran Sie in Frankfurt sofort den Mann erkennen, der jetzt mit den beiden nach Europa herüberfliegt. Er heißt Pablo. Großes Pech, dieser Schneesturm. Ich habe Heathrow angerufen. Die sagen, das wird noch zwei, drei Stunden so weitergehen. Bis Mittag fliegt keine Maschine, das ist sicher. Fast sicher ist, daß auch am Nachmittag noch keine fliegen kann. Schneeverwehungen auf allen Bahnen von über zwei Metern Höhe. Und es wird ständig schlimmer. Die Chancen, daß Sie rechtzeitig in Frankfurt sind, stehen zwanzig zu achtzig, bestenfalls. Good luck. Ende.« Das Band hielt mit einem leisen Klicken. Hyde legte den Telefonhörer in die Gabel und den Decoder auf den Nachttisch zurück, ließ sich ins Bett fallen, nahm das Buch und las weiter ... »... Die Zeit zersticht der Jugend grüne Flur, / Gräbt Linien in die Stirn, wo Schönheit lag, / Zehrt an den Kostbarkeiten der Natur, / Und nichts besteht vor ihrem Sensenschlag: / Und doch trotz’ ich der grausam harten Hand, / Mein Lied, dein Preis, hält der Zerstörung stand.«

Wunderbar, dachte Hyde, einfach wunderbar. Zwanzig zu achtzig? Da hatte ich, weiß Gott, schon miesere Chancen. Viel miesere ...

»Natürlich brachte mich der Mann mit dem Jeep nicht gleich hierher in diese Villa«, hatte Olivera einige Tage zuvor spätnachts im Park am Pool, der blau leuchtete, erzählt. »Sie hatten eine große Wohnung für mich vorbereitet im Zentrum. Kein Prunk, keine Pracht, aber sauber und solide. Eine Haushälterin, eine ältere Frau, erwartete mich. Ich wurde offiziell als neuer Direktor einer kleinen Bank eingeführt, Banca Imperiale hieß sie.«

An diese Worte seines Vaters dachte Daniel Ross, während er sich in seinem Sitz zurücklehnte. Sie waren nun wieder in der Luft und flogen Rio de Janeiro entgegen. Das Dinner war vorüber. Daniel hatte keinen Appetit gehabt und kaum etwas gegessen. Der Tremor seiner Hände wurde immer stärker, sein Kopf schmerzte zum Zerspringen, und er fühlte wieder die Angst, die Angst ... Noch war sie nicht da, aber sie lauerte, sie war auf dem Sprung. Mercedes beobachtete ihn mit großer Besorgnis. »Schlimm, ja?« fragte sie leise.

Er nickte.

»Du mußt durchhalten! Denk daran, was auf dem Spiel steht!«

»Ich denke daran.« Er zwang sich zu einem Lächeln, »Das Blöde ist, daß das Nobilam nicht mehr wirkt. Ich habe in Sáo Paulo zwölf Tabletten geschluckt. Dazu die zwei Gin-Tonics. Keine Wirkung.« Er strich über ihre Hand. »Aber ich schaffe es.« Er wandte sich an den Priester, der eine halbe Flasche Wein vor sich stehen hatte und ganz langsam trank. »Könnte ich bitte einmal die Tasche haben?«

»Aber gewiß.« Der Priester namens Sander gab sie ihm. Sie befand sich links von ihm, zwischen seinem Körper und der Kabinenwand. Der junge Mann mit dem langen schwarzen Haar, der Pablo hieß und drei Reihen hinter ihnen in der gleichen Sektion, links, saß, sah, wie der Priester die rote Tasche zu Daniel hinüberreichte. Dieser öffnete sie, entnahm ihr ein Fläschchen und sprach mit einer Stewardeß. Sie nickte, eilte fort in die nahe Pantry und kam mit einem Glas Wasser zurück. Pablo konnte nicht sehen, daß Daniel zwanzig Tropfen aus dem Fläschchen in das Wasser fallen ließ und es dann trank. Er konnte nur sehen, daß die Stewardeß fortging und Daniel dem Priester die rote Tasche zurückgab. Der steckte sie wieder zwischen sich und die Bordwand. Leon, du verfluchter Scheißkerl! dachte Pablo wütend, jetzt kommt kein Mensch mehr an die Tasche heran. Natürlich wäre es Wahnsinn, in Rio etwas zu unternehmen. Aber hoffentlich klappt es dann nach der Landung in Frankfurt zusammen mit diesem Mann, der auf mich wartet. Pablo hielt einen kleinen Klarsichtkarton. Eine braungrün gefleckte Orchidee, ein sogenannter Frauenschuh, lag darin: das Erkennungszeichen.

Daniel sagte: »Ich habe die Tropfen auf alle Fälle genommen, ehe es noch schlimmer wird. Es sind genügend da. Und wenn ich sie alle nehmen muß – ich halte durch, Mercedes.« Er ergriff ihre Hand, die auf der Lehne zwischen ihnen lag und schloß die Augen. Wieder dachte er an die Erzählung seines Vaters ...

Die Banca Imperiale beschäftigte vor allem deutschstämmige Angestellte. Sie betreute viele spezielle Kunden. Olivera hatte gewußt, was ihn erwartete. Sogleich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches begann eine bestens vorbereitete und ausgerüstete Firma mit dem Namen ODESSA zu arbeiten. ODESSA war die Abkürzung für Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen. Sie hatte ihre Mitglieder und Mitarbeiter praktisch überall, und in den ersten Jahren nach dem Krieg arbeitete sie auf Hochtouren, später etwas langsamer. ODESSA betrachtete es als ihre Aufgabe, mit Hilfe von offiziellen Stellen der verschiedensten Staaten, mit Hilfe von reichen Privatpersonen, Politikern und hohen katholischen Würdenträgern, die zum Teil sogar im Vatikan amtierten, an Leib und Leben gefährdete Top-Nazis und Kriegsverbrecher aus Deutschland heraus nach Übersee, insbesondere nach Südamerika und da nach Argentinien zu schaffen. So kam beispielsweise Adolf Eichmann dorthin. Geld und Gold besaß die nun im Untergrund arbeitende SS im Überfluß. Die Männer, die aus Deutschland herausgeschleust wurden, führte ihr Weg meistens über Österreich, Südfrankreich, Spanien und Portugal. Von dort ging es mit dem Schiff weiter. Natürlich mußte wie im Falle Ross alias Olivera in der neuen Heimat alles für den Flüchtigen vorbereitet sein. Es gibt heute exakte Dokumentationen über die ODESSA. Auch die Banca Imperiale war von ihr eingerichtet worden. So klein dieses Institut war, über so ungeheuere Summen verfügte es. Anweisungen kamen zum größten Teil aus der Schweiz, aber auch aus der Bundesrepublik. Eine gewichtige Rolle bei den Aktivitäten der ODESSA spielte die deutsche Nachkriegsindustrie. Unter ihren neuen Bossen gab es genügend ehemalige Wehrwirtschaftsführer und SS-Männer. Oliveras Bank diente den ins Land Geschleusten als Anlaufstelle. Hier bekamen sie Geld und wichtige Informationen. Es gab noch elf weitere Banken mit den gleichen Aufgaben in Argentinien. Sie alle gehörten zur ODESSA.

Olivera schätzte sich glücklich, diesen entkommenen Massenmördern und gesuchten NS-Größen helfen zu können – er war schließlich auch entkommen. Die Aluminiumtrommel mit dem Fünfunddreißig-Millimeter-Film bewahrte er in einem privaten Tresor seiner Bank auf. Er führte ein außerordentlich zurückgezogenes Leben und wartete auf den Befehl, den Film der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Er wußte, daß er Jahre würde warten müssen, viele Jahre. Vielleicht das ganze Leben. Seine ODESSA-Kunden sorgten von Zeit zu Zeit durchaus für nervenaufreibende Zwischenfälle, Langeweile kam nicht auf. Olivera lebte gerne allein. Natürlich brauchte er ab und zu eine Frau. Es gab sehr diskrete Häuser in der Stadt.

Jahre vergingen. Es kam die Blockade Berlins, es kam der kalte Krieg und am 25. Juni 1950 der erste heiße Krieg in Korea. Die Entwicklung, die Goebbels vorhergesehen hatte, begann. Gegen die Mittagstunde des 12. Juli 1950 erhielt Olivera den Anruf eines Unbekannten, der ihn in fließendem Spanisch aufforderte, am gleichen Tag, pünktlich um 15 Uhr im internationalen SKALCLUB in der Viamonte achthundertsiebenundsechzig zu sein. Ein Mann mit einer weißen Nelke im Knopfloch eines blauen Anzugs werde ihn ansprechen. Olivera solle seine Hälfte des zerrissenen Autogrammfotos mitbringen.

Er saß in einer Ecke im Teeraum des SKAL-CLUBS, er war etwas zu früh gekommen. Schlag 15 Uhr betrat ein untersetzter Mann von etwa fünfzig Jahren, unter dessen Augen schwere, dunkle Tränensäcke hingen, den Raum. Er trug eine weiße Nelke im Knopfloch des Revers eines hellblauen Anzugs aus Schantungseide. Der Mann steuerte direkt auf Olivera zu und gab ihm eine schlaffe, feuchte Hand. Er sagte deutsch und leise: »Heil, Kamerad!«

»Heil«, sagte Olivera. Ein Kellner eilte herbei. Sie waren zu dieser Stunde die einzigen Gäste. Der Mann mit der Nelke bestellte gleichfalls Tee. Dann saß er neun Minuten schweigend da. Solange dauerte es, bis der Kellner den Tee gebracht hatte und wieder verschwunden war.

»Also«, sagte er dann und legte eine Hälfte des postkartengroßen Fotos von Adolf Hitler, das Goebbels im Bunker der Reichskanzlei auf so bizarre Art in zwei Teile zerrissen hatte, auf den Tisch. Olivera nahm die andere Hälfte aus der Brusttasche seines Anzugs und setzte die beiden Teile des Bildes zusammen. »Gut. Alles in Ordnung mit dem Film?« Der Dicke sprach unter sonderbarem Zischen und versprühte Speichel. Sein Gesicht war schmerzverzogen und auf einer Seite geschwollen.

»Natürlich«, sagte Olivera. »Was haben Sie?« »Wurzelvereiterung. Komme direkt vom Zahnarzt. Sie

machen sich keine Vorstellung, wie weh das tut, Kamerad. Wo ist der Film?« Er besprühte den Tisch, die Teetassen, Oliveras Gesicht, alles.

»In einem Tresor meiner Bank.«

»Gut, Kamerad. Bin gestern gelandet. Habe die verfluchte Vereiterung auf dem Frachter gekriegt. Seit zwei Wochen kein Auge zugetan.« Er trank einen Schluck Tee und stöhnte laut auf. »Scheiße, zu heiß. Zentrale ODESSA hat Befehl für Sie.«

»Ja?« Einen verrückten Augenblick lang dachte Olivera, der Fremde werde ihm sagen, daß der Zeitpunkt gekommen sei. Blut schoß ihm ins Gesicht.

»Die internationale Situation ist noch lange nicht schlimm genug. Sie müssen weiter warten. Diese Sache ist von erstrangiger Bedeutung. Sie hören wieder von uns.« Der Mann mit der Nelke steckte seine Hälfte des Hitler-Fotos ein, gab Olivera wieder die nasse, schlaffe Hand, stand auf und ging schnell aus dem Teeraum.

In den folgenden vierunddreißig Jahren hörte Olivera von niemandem mehr ein Wort über den Film.

»Hast du eigentlich jemals an Mutter und mich gedacht?« hatte Daniel den Vater nach diesem Bericht gefragt. Es war fast halb drei Uhr früh, und die Luft wurde nun angenehm frisch. Sie saßen noch immer an dem beleuchteten Pool.

»Manchmal«, sagte Olivera. »Nicht oft.«

»Hast du versucht, herauszubekommen, ob wir noch leben, wie es uns geht?«

»Nein, nie. Wie ist es euch gegangen?« fragte Olivera höflich. »Lange Zeit sehr schlecht. Bis ich dann zu arbeiten anfangen konnte.«

»Dora«, sagte Olivera und sah in das Wasser des Pools. »Ich habe an Dora gedacht. Nur an Dora. Ich habe Tag und Nacht an sie gedacht. Ich habe sehr oft von ihr geträumt. Von ihrem Lachen. Von ihrem Ende. Ich habe sie sehr geliebt. Ich mußte immer daran denken, daß sie mit mir nach Argentinien hätte kommen können. Wir wären sehr glücklich miteinander gewesen. Noch viel glücklicher als in Berlin ...« Seine Stimme verlor sich.

»Mutter ist neunzehnhundertneunundsechzig gestorben. Am zwölften Dezember«, sagte Daniel.

Olivera reagierte nicht.

»Ich habe gesagt, Mutter ist...«

»Ja, ja, ja, ich weiß. Woran?«

»Leukämie.«

»Hat es lange gedauert?«

»Fast ein Jahr. Sie mußte sehr leiden, Vater.« »Ich bin nicht so gefühllos, wie du glaubst, Daniel. Alles, was

ich euch beiden angetan habe, tut mir leid, schrecklich leid. Aber ich habe eben immer noch Dora geliebt. Obwohl sie schon so lange tot war. Immer nur Dora. Neunzehnhundertvierundfünfzig habe ich sie dann wiedergesehen.«

»Was hast du?« Daniel starrte ihn an.

»Ich habe Dora wiedergesehen«, wiederholte Olivera.

Der blaue Ball rollte Olivera direkt vor die Füße. Über den kiesbestreuten Weg stolperte ein kleines Mädchen

in weißem Kleid, mit weißen Schuhen und weißen Söckchen. Das war am Nachmittag des 5. Mai 1954, und Olivera ging durch den großen Parque de Febrero. Er kam aus dem Planetarium, wo er einen Vortrag gehört hatte.

Nun bückte er sich und hob den Ball auf. Das kleine Mädchen kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Es war ein noch sehr kleines Mädchen.

»Das ist aber ein feiner Ball«, sagte Olivera. »Ich habe noch zwei andere, einen grünen und einen roten«,

sagte das sehr kleine Mädchen. »Aber den blauen habe ich am liebsten. Wie heißt du?«

»Hör mal, du kannst den Herrn doch nicht so einfach fragen«, sagte eine dunkle Frauenstimme. Olivera sah auf und erhob sich. Ihm wurde siedendheiß und danach eiskalt. Vor ihm stand Dora Holm. Ihr schwarzes Haar glitzerte in der Sonne, ihre hellblauen Augen leuchteten, und sie lachte ihn mit ihrem schöngeformten Mund an. Sein Atem stockte. Dora, dachte er, meine Dora!

Es war natürlich nicht Dora Holm.

Es war eine Frau, die Dora Holm ungeheuer ähnlich sah. Sie war gewiß zehn Jahre älter und ihre Haut war nicht so weiß wie die Doras, sondern sonnengebräunt. Sie trug ein blaues Kleid mit weißen Punkten und weißem Kragen, dazu weiße Handschuhe und Schuhe. Olivera wollte sprechen und stotterte. »Danke, daß Sie den Ball aufgehalten haben«, sagte die junge Frau.

»Aber ich bitte Sie!« Er hob seinen Leinenhut. »Ein so bezauberndes kleines Mädchen. Und eine so... bezaubernde Mama. Mein Name ist Eduardo Olivera.«

»Ich heiße Mangalez. Eliza Mangalez.«

»Und ich heiße Mercedes«, sagte das sehr kleine Mädchen. Olivera bemerkte, daß es auch schwarze Haare und hellblaue Augen hatte. Im Haar trug Mercedes eine rote Schleife.

Die Frau, die Dora Holm so ähnlich sah, lachte wieder. »Warum starren Sie mich so an, Herr Olivera?«

Sie redeten spanisch.

»Weil Sie mich an ... Weil Sie so schön sind«, verbesserte er sich. »So wunderschön, daß ich ...«

»Ja?« fragte sie.

»Nichts«, sagte er. »Darf ich Sie ein Stück begleiten? Da drüben ist ein Restaurant. Ißt du gerne Eis, Mercedes?«

»O ja! Eis ist das Beste, was es gibt.«

»Nun, Senora? Und wollen wir einen Drink nehmen? Es ist sehr heiß ... Ich meine natürlich nur, wenn Sie möchten. Es würde mich sehr glücklich machen ... Aber vielleicht müssen Sie nach Hause ... Vielleicht erwartet Sie Ihr Mann ...«

Das Lachen erstarb auf ihren Lippen. »Mein Mann erwartet mich nicht.«

»Verzeihen Sie ...«

»Mein Mann hat sich vor eineinhalb Jahren scheiden lassen«, sagte sie ruhig. »Einer anderen Frau wegen. Er ist mit ihr fortge-zogen, weit fort. Er arbeitet jetzt in Venezuela.«

»Da hörst du es«, sagte Mercedes. »Papa ist weg. Er wartet nicht zu Hause. Wir können ruhig Eis essen gehen. Ich möchte Erdbeer-Schokolade. Das ist das Allerbeste, was es gibt.« Olivera sah Eliza Mangalez fest in die riesengroßen stahlblauen Augen. Sie erwiderte den Blick und lächelte wieder. Nicht ganz drei Monate später heirateten sie.

»Keine vier Jahre warst du damals alt«, sagte Olivera nachts am Pool im großen Park zu der schönen jungen Frau, die neben ihm saß. »Du kannst dich an das alles natürlich nicht mehr erinnern.« »Aber ja doch«, sagte sie. »Das Eis war prima. Ich glaube, ich habe zwei Portionen bekommen. Und als wir uns eine Woche kannten, habe ich dich gefragt: ›Heiratest du meine Mami?‹ Mutter erzählte mir, daß sie sich fast zu Tode für mich schämte.« »Ja«, sagte Olivera, »das war ein berühmter Ausspruch von dir, Mercedes. Mit euch beiden kam das Glück zu mir zurück. Privat und geschäftlich. Fünfundfünfzig übernahm eine Militärjunta die Macht im Lande. General Lonardi wurde zum Präsidenten gewählt. Ich kannte ihn schon seit drei Jahren. Man darf sagen, wir waren befreundet. Ich habe ihm und seinen Leuten im Rahmen der Möglichkeiten meiner Bank sehr geholfen.« »Ich dachte, du hättest dir eine demokratische Gesinnung zugelegt«, sagte Daniel.

»Das hatte ich auch«, sagte Olivera ernst. »Aber - ich habe es schon gesagt - ich war und ich bin davon überzeugt, daß eine Demokratie in Argentinien nie funktionieren wird. Denke an das, was seit fünfundfünfzig geschah. Demokratische Regierungen kamen immer wieder. Wie lange blieben sie? Wie lange wird Alfonsin bleiben?«

»Ich verstehe«, sagte Daniel. »Und deine Freunde, denen du so sehr geholfen hast, zeigten sich nun erkenntlich.« »So ist es, Daniel.« Olivera trank Whisky und zündete sich eine Zigarette an. »Sehr erkenntlich zeigten sie sich. Ich bekam die Möglichkeit, eine eigene Bank zu gründen. Damals verdiente ich in kurzer Zeit enorm viel Geld. Damals zogen wir hier ein, in diese Villa.« Er machte eine kreisende Handbewegung. »Waren wir glücklich, wir drei. Mit sechs mußte Mercedes in die Schule. Hier im Viertel gibt es die feinste von Buenos Aires, Lyzeum angeschlossen. Mercedes war eine großartige Schülerin. Ihr Abitur machte sie mit Auszeichnung. Dann ging sie auf die Universität...« Olivera brach ab. Er legte eine Hand über die Augen. »Was ist?«

»So unendlich glücklich waren wir drei«, sagte der alte Mann leise. »So viele Jahre. Zwanzig Jahre Glück. Wer hat schon so viel, Daniel? Dann, am siebenten Januar vierundsiebzig ...« Er schwieg.

»... hatte Mama einen Autounfall auf dem Weg zum Flugha-fen«, sagte Mercedes. »Sie wollte eine Freundin abholen. Ein Betrunkener rammte ihren Wagen. Der überschlug sich und ging in Flammen auf. Mama muß sofort tot gewesen sein. Sie hat sich das Genick gebrochen.«

»... Moskau: Mit schärfsten Worten hat ein Sprecher des sowjetischen Außenministeriums die Pläne des amerikanischen Verteidigungsministers Weinberger verurteilt, den Weltraum aufzurüsten ...« Eine englische Sprecherstimme drang aus den Kopfhörern von Mercedes und Daniel. Sie hatten den Schalter an den Armstützen auf fünf gestellt.

Nach der Zwischenlandung hatte der Jumbo um 3 Uhr 55 auf einer Startbahn zwischen den Sümpfen, die den Flughafen von Rio de Janeiro umgaben, abgehoben und in einer weiten Schleife die Stadt umflogen. Jetzt hielt er direkten Kurs auf den riesigen Christus aus weißem Stein, der mit segnend ausgebrei-teten Armen auf der Spitze des Corcovado, einem Berg, der schon im Dschungel verschwand, hoch über der Stadt stand.

Die Statue wurde von starken Scheinwerfern angestrahlt. Der Christus leuchtete. Viele Passagiere sahen aus den Fenstern und fotografierten.

»... Der sowjetische Sprecher nannte derlei Pläne verbrecherischen Wahnsinn, der einem kranken Gehirn entsprungen ist‹...« Zu jeder vollen Stunde strahlte der Überseedienst der BBC die neuesten Nachrichten aus.

Immer näher kam der strahlende Christus. Die Maschine legte sich schräg und begann, eine Schleife zu ziehen.

Der alte Priester betete laut: »Herr aller Völker, höre uns, da wir Dich bitten, daß Du der Welt wahren Frieden geben wollest ...«

»... Washington: Präsident Reagan unterstützt, wie bereits gemeldet, mit allen Kräften die Pläne Weinbergers vor dem amerikanischen Kongreß«, erklang die Sprecherstimme aus dem Londoner Studio der BBC.

»... daß Du die Herzen der Menschen von Haß, Neid und Zwietracht befreien wollest«, betete der alte Priester.

»... Senator Edward Kennedy bezeichnete Reagan deshalb in einem vor zwei Stunden von Küste zu Küste ausgestrahlten Interview der amerikanischen Fernsehgesellschaft NBC als den›gefährlichsten Präsidenten des Nuklearzeitalters‹ ...«

Mercedes und Daniel sahen einander an.

»Wir bitten Dich, daß Du uns und alle Völker im Dienste der Gerechtigkeit bestärken und erhalten wollest ...«

Der massige Jumbo umflog den segnenden Christus nun in einem riesigen Halbkreis.

»Mann, Dad! Die Pershings der dritten Generation haben eine solche Zielsicherheit, daß sie den Jesus da über fünftausend Meilen weg mit einer Wahrscheinlichkeit von neunzig zu zehn knacken würden«, sagte der amerikanische Junge mit den kurzen Hosen und dem lose hängenden Hemd, der als Gegner seines gutmütigen, rotgesichtigen Vaters nach dem Abflug aus Buenos Aires so lange Zeit NATO – DER KRIEG IN EUROPA gespielt hatte.

»Hast du verdammt recht«, sagte Dad. Die beiden waren aufgestanden. Eine Hand des Christus war direkt auf sie gerichtet. Dad fotografierte unablässig.

Der alte Priester betete: »... daß Du den Regierenden aller Länder und Völker wahre Einsicht und rechte Entschlüsse geben und die Früchte der Erde erhalten wollest ...«

»... Bonn: In der Bundeshauptstadt ist die von den Amerikanern geplante Aufrüstung des Weltraums zum universellen Kriegsschauplatz bei allen Parteien auf schwerste Bedenken gestoßen«, kam die Sprecherstimme aus den Kopfhörern.

»... daß Du den Heimatlosen Ruhe und Geborgenheit in unserer Mitte bereiten wollest, wir bitten Dich, o Herr, erhöre uns!«

»Die sozialdemokratische Fraktion im Bundestag hat von der Bundesregierung verlangt, der Forderung von Verteidigungsminister Weinberger nach Anti-Satellitenwaffen eine scharfe Absage zu erteilen.«

»... daß Du in uns die helfende Liebe zu den Darbenden und Leidenden entzünden wollest...«

»Die Begründung Weinbergers, die Sowjetunion verfüge bereits über derartige Waffensysteme und eine große Zahl von Killersatelliten, nannte der stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreises Außen- und Sicherheitspolitik, Jungmann, einen ›fadenscheinigen Vorwand‹.«

Die Maschine hatte den segnenden Christus nun hinter sich gelassen und nahm Kurs nach Nordosten auf das offene Meer. Die Statue konnte man noch lange sehen.

»... daß Du die abwesenden Brüder und Schwestern zu ihren wartenden Familien zurückführen wollest, wir bitten Dich, o HERR, erhöre uns!«

»Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG schreibt in ihrer neuesten Ausgabe unter der Vierspaltenüberschrift ›Rüstungswettlauf nun auch im Weltraum‹: ›Die Bundesregierung hat sich gegen ein Wettrüsten im Weltraum gewandt.‹ Die Sowjetunion habe zwar auf dem Gebiet der sogenannten Killersatelliten einen militärischen Vorsprung erreicht ...«

Wieder sahen Mercedes und Daniel einander an. »Daß Du unsere Toten in Dein ewiges Reich aufnehmen

wollest ...«

»... bei amerikanischen Gegenmaßnahmen müsse es jedoch darauf ankommen, die strategische Einheit des NATO-Bündnis-Gebietes zu bewahren. Diese Einheit gerate durch weitere Aufrüstung im Weltraum in schwere Bedrohung.«

»... und schenke uns Frieden, o HERR, wir bitten Dich inniglich, schenke uns Frieden, Amen.«

Der Christus war verschwunden. Finsternis machte die Erde unsichtbar.

Mercedes umklammerte Daniels Hand. Sie flüsterte: »Ich habe Angst.«

»Wie ich«, antwortete er. »Ist dir wieder sehr elend?« »Sehr.«

»Es wird alles gut werden, Danny!«

»Ja«, sagte er, »sicherlich.«

In der Kabine brannte die Nachtbeleuchtung. Daniel fiel endlich in einen wirren Halbschlaf, den Kopf an

die Schulter von Mercedes gelehnt. Er träumte von seinem Vater. Sie waren endlich zu Bett gegangen in jener Nacht am Pool, todmüde. Am folgenden Vormittag entdeckten sie dann das Verschwinden Miguels. Olivera war außer sich vor Sorge und auch Angst. Er rief die Polizei. Beamte kamen und stellten viele Fragen. Sie suchten nach Spuren. Sie fanden keine. Ihre Fragen konnte Olivera nicht beantworten. Er vermochte sich nicht vorzustellen, wie und warum Miguel verschwunden war. Hing es mit ihm zusammen? Wieso mit ihm? wollten die Beamten wissen. Darauf hatte Olivera keine Antwort.

Am späten Nachmittag machte er mit Daniel einen Spaziergang durch den weitläufigen Park. Er erzählte den Schluß seiner Geschichte, wie er nach dem Tod der geliebten Frau einen Sinn in seinem Leben gesucht und sich an den alten Film erinnert habe. Nun war die Weltlage in der Tat schon chaotisch geworden. Nun war es an der Zeit, zu handeln.

»Nun war es an der Zeit, zu handeln«, erzählte Olivera, der neben Daniel ging. Sie trugen beide ganz leichte Hosen, offene Hemden und Sandalen. Wieder war es unbarmherzig heiß, auch unter dem Schatten der hohen, alten Bäume, in denen die Vögel sangen. »Mein Leben war mir egal. Ich hätte jede Gefährdung

riskiert – aber da gab es Mercedes, meine geliebte Mercedes. Ich mußte es anders anfangen. Nicht allein. Du schaust mich an, Daniel. Ich weiß, du denkst: Damals hat er begonnen nachzuforschen, was aus seinem Sohn in Österreich geworden ist.«

»Na, das hast du doch auch«, sagte Daniel.

»Ja, das habe ich«, sagte Olivera. Er sah den Sohn bittend an. »Bei all deinem Haß auf mich, den ich verstehen kann, Daniel, bei aller Bitterkeit: Versuche wenigstens zu begreifen, was ich getan habe. Du sollst mir ja nicht verzeihen. Du sollst nur zur Kenntnis nehmen, was alles in einem Menschenleben geschehen

kann, warum ich so gehandelt habe, wie ich handelte. Ich habe deine Mutter und dich unglücklich gemacht. Ich habe euch im Stich gelassen. Und mehr. Und mehr. Ich gebe doch alles zu. Ich erzähle dir doch alles, was ich getan habe. Nenn mich ein Schwein! Einen Lumpen. Was habe ich zu meiner Verteidigung zu sagen? Daß ich eine Frau über alles in der Welt geliebt habe: Dora. Daß sie das Leben für mich war. daß ich ein fanatischer Nazi gewesen bin, der nach dem Tod Doras den Auftrag von Goebbels annahm, weil er weg wollte, weg, weg, weg aus diesem Deutschland. Daß ich Dora dann in Eliza wiederzubegegnen glaubte. Wieder glücklich war – zwanzig Jahre lang. Hasse mich! Verachte mich! Aber sag, du siehst ein, daß einem Mann all das passieren kann. Sag wenigstens, daß so etwas passieren kann!«

»Gut«, sagte Daniel. »So etwas kann passieren. Bleiben wir also bei den Tatsachen. Du mußt mir alles erzählen, wenn wir nun zusammenarbeiten wollen. Ich werde alles zur Kenntnis nehmen – ohne Wertung von nun an.«

»Danke«, sagte Olivera. Als fühle er sich plötzlich schwach, sank er ins Gras und lehnte seinen Rücken an den Stamm eines Eukalyptusbaumes. Daniel setzte sich neben ihn. Sie waren jetzt weit von der Villa entfernt.

»Du hast also Nachforschungen nach Mutter und mir angestellt.«

»Ja, Daniel.«

»Nach dem Tod deiner Frau Eliza. Vierundsiebzig war das, sagst du.«

»Ja, vierundsiebzig. Über Freunde in Deutschland, über eine Agentur. Du verstehst das, nicht wahr? Der Tod Elizas. Meine Verzweiflung. Die Leere. Ich mußte etwas tun. Tun! Da war die endgültige Katastrophe, auf die wir zusteuerten. Und da war ich mit meinem Film, diesem ungeheuerlichen Dokument. Ich redete mir ein, daß es meine Pflicht sei, mit ihm an die Öffentlichkeit zu treten, um vielleicht – vielleicht – das Ärgste zu verhindern. Ich hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. Mein Leben war noch nicht sinnlos. Mercedes studierte. Sie war inzwischen dreiundzwanzig. Ich zeigte ihr den Film. Du kannst dir vorstellen, wie sie reagiert hat. Nun waren wir beide besessen von meiner Idee, Mercedes noch mehr als ich.«

Daniel hatte einen Zweig aus dem Gras genommen und spielte mit ihm. Er sagte: »Und du hast von neunzehnhundertvierundsiebzig bis vierundachtzig, also zehn Jahre, nach uns suchen lassen, bevor du mich gefunden hast.«

Olivera schwieg.

»Na! Du hast dich doch entschlossen, mir die Wahrheit über alles zu sagen! Bisher hast du ja einen ganz ordentlichen Seelenstriptease geliefert ...«

»Bitte, Daniel!«

»Doch, doch, er war beachtlich. Zehn Jahre hat es also gedauert, zehn Jahre, ja?«

»Nein«, sagte Olivera. »Ich wußte natürlich schon nach zwei Monaten, wo du lebtest, daß Thea tot und du beim Fernsehen warst.«

»Und warum hast du mich dann nicht schon vor zehn Jahren von Mercedes holen lassen? Schweig nicht wieder! Sieh mich an! Warum hast du noch zehn Jahre vergehen lassen, Vater?« Olivera sagte: »Es ist ja alles nicht wahr.«

»Was ist nicht wahr?«

»Was ich zuletzt erzählt habe. Über den Film. Über meine fixe Idee, ich hätte eine Mission zu erfüllen mit ihm. Es war alles ganz anders.«

»Wie war es? Die Wahrheit! Sag die Wahrheit!« »Die Wahrheit ...« Olivera warf eine Hand hoch. »Schön, also

auch das noch! Im Grunde ist es gleichgültig. Du kannst mich nicht noch mehr verachten und hassen. Ich habe gelogen, als ich sagte, daß ich dank der Militärjuntas und Perons immer wohlhabender geworden bin. Vierundsiebzig war ich in einer verzweifelten Lage. Isabel Peron wurde im Sommer Staatspräsident. Ich hatte den Militärs Riesenkredite gegeben. Die meisten Generäle waren korrupt. Ja, korrupte Schweine waren meine Freunde. Und ich machte meine Geschäfte mit ihnen – auf Kosten des Landes, das immer mehr und mehr verelendete. Schau es dir heute an! Die Militärs und die Peronisten haben es an den Rand des Staatsbankrotts getrieben. Präsident Alfonsin hat ein furchtbares Erbe anzutreten.«

Mit unsicherer Stimme sagte Daniel: »Du, der intime Freund der Generäle, nennst sie korrupte Schweine?«

»Ich nenne mich selber ein korruptes Schwein. Ich habe mit meinen Schweinefreunden gemeinsam die fettesten Trüffeln ausgegraben, die man in diesem Lande finden konnte, und ich habe sie gefressen zusammen mit meinen Schweinefreunden. Wird dir das, was du meinen Seelenstriptease genannt hast, jetzt nicht zuviel? Ich habe dir die Wahrheit versprochen. Das ist sie, mein lieber Sohn.«

»Mich überrascht nichts mehr, was du getan hast. Also vierundsiebzig war deine Lage verzweifelt. Und?«

»Und! Und! Und da fiel mir der alte Film ein – ich hatte ihn fast schon vergessen. Da kam ich dann auf die Idee, diesen Film zu verhökern. Für sehr viel Geld. Ich hätte sehr viel Geld dafür bekommen, das meinst du doch auch, was?«

»Meine ich auch, ja. Also war auch all das Geschwätz über die moralische Mission, zu der du dich aufgerufen fühltest, gelogen?«

»Jedes Wort. Es war mir scheißegal, was mit dieser Welt geschah. Was mit mir und Mercedes geschah, das war wichtig, das allein. Hier« – mit einer ausladenden Gebärde der rechten Hand deutete Olivera auf das ganze Gelände – »hier, die Villa, den Luxus wollte ich unter allen Umständen bewahren. Ich

wollte nicht alles aufgeben müssen. Nicht bankrott gehen. Nicht ins Elend abgleiten nach all den Jahren, in denen ich mich so sehr an den Reichtum gewöhnt hatte. Und ich sah nur noch eine Rettung: den Film zu verkaufen!«

»Und warum hast du es nicht getan? Warum hast du mich nicht hergerufen?«

»Alvarez«, sagte Olivera.

»Was, Alvarez?«

»Mein Freund, der General Carlo Alvarez. Von dem ich Miguel erhielt, neun Jahre später. Er war Mitglied der letzten Junta. Alvarez half mir. Ich erhielt mein Geld zurück. Er schaffte es, daß alles wieder in Ordnung kam.«

»Wie konnte er es schaffen?«

»Na, wie wohl? Mit Erpressung. Es gab zwei Selbstmorde von Mitgliedern der Junta damals. Dann wurden alle Kredite zurückbezahlt. Gefällt dir die Wahrheit, Daniel, ja, gefällt sie dir?« Olivera lachte. »Du brauchst eben die größten Schweine, wenn du die größten Trüffeln haben willst! Ich bekam meine Trüffeln zurück. Also, wozu den Film verkaufen? Viel zu gefährlich.«

»Du hattest Angst, daß man dich töten würde.« »Natürlich. Bevor ich die Trüffeln zurückbekam, war meine

Angst vor dem Ruin größer. Damals ließ ich bei dem Juden Paolo Klein schon Videokassetten des Films herstellen. Damals war ich zu allem entschlossen.«

»Aber dann kamen die Trüffeln«, sagte Daniel. Olivera lachte. »Dann kamen die Trüffeln. Du hast es kapiert,

Daniel. Und auch die Angst kam, daß mir der Film zum Verhängnis werden könnte. Also, zurück in den Tresor mit den Kopien! Mercedes habe ich übrigens damals den Film nicht gezeigt. Sie hatte keine Ahnung von seiner Existenz. Als begeisterte Anhängerin der Friedensbewegung hätte sie mir doch nur die Hölle heiß gemacht, wie? Ist doch klar.«

»Völlig klar. Aber nun kennt sie den Film. Seit wann? Warum hast du ihn ihr gezeigt? Warum hast du mich jetzt doch kommen lassen?«

»Weil ich von den Generälen noch einmal beschissen worden bin«, sagte Olivera, plötzlich ungemein gelassen. »Weil die Hunde mich noch einmal betrogen haben. Und weil mein guter Freund Alvarez mir diesmal nicht helfen konnte. Mein guter Freund Alvarez sitzt im Gefängnis. Die halbe Junta sitzt. Die aber, die mich betrogen haben, sind rechtzeitig aus dem Land gegangen. Wie du mich hier siehst, Daniel, bin ich – und zwar schon seit längerem, nur weiß es noch keiner- erledigt. Absolut erledigt. Noch werden meine Wechsel akzeptiert. Noch arbeiten die großen Banken mit mir. Noch! Vielleicht noch einen Monat, vielleicht zwei. Drei nicht mehr. Wenn bis dahin nicht alles in Ordnung gebracht ist, werden sie mir alles wegnehmen, was ich besitze – und ich werde ins Gefängnis gehen wie mein Freund Alvarez, wenn auch aus einem anderen Grund. Wegen betrügerischem Bankrott. Wegen Veruntreuung von Millionen. Ich bin siebenundsiebzig, Daniel. Ich will nicht ins Gefängnis gehen. Ich will nicht erledigt sein. Ich scheiße auf diese Welt, wahrhaftig, es ist mir egal, was mit ihr geschieht. Aber ich habe einen Film, der die Menschen auf dieser Welt brennend interessieren würde. Du hast ihn gesehen, er würde die Menschen doch brennend interessieren, wie?«

»Ja«, sagte Daniel. Er hatte den Zweig fallen lassen. »Darum die Eile, verstehst du?«

»Ich verstehe.«

»Darum habe ich Mercedes den Film nun gezeigt und sie verrückt gemacht mit ihm.«

»Ich verstehe.«

»Darum mußt du mit dem Film nach Deutschland und ihn verkaufen! An deinen Sender. Du hast selber gesagt, daß ich viel Geld für den Film bekommen könnte.«

Daniel nickte.

»Na also, jetzt ist der Striptease aber zu Ende. Jetzt kennst du die ganze Wahrheit, Junge.«

»Wieviel willst du für den Film?«

»Zehn Millionen Dollar«, sagte Olivera.

»Du hast den Verstand verloren«, sagte Daniel. »Wieso?« »Weil das ein absolut wahnsinniger Betrag ist.« Olivera lachte, als würde er gekitzelt. »Absolut wahnsinnig?

Und wieviel haben die superschlauen Jungs vom STERN lässig für die gefälschten Hitler-Tagebücher hingeblättert, obwohl in diesen Fälschungen kein einziger interessanter Satz stand? Neuneinhalb Millionen Mark. Mark, schön, nicht Dollar. Immerhin.«

»Das kannst du nicht vergleichen! Das war doch Betrug, eine kriminelle Affäre!«

»Ach, wenn es Betrug ist, wenn es kriminell ist, bezahlen die Deutschen lieber?«

»Vater! Hör auf! Zehn Millionen Dollar! Für zwanzig Millionen Dollar kann das deutsche Fernsehen von ABC die Senderechte der ganzen Olympiade in Los Angeles erwerben.«

»Mein Film ist aber mehr wert als die Übertragung der Olympiade. Zugegeben, zehn Millionen Dollar sind viel Geld. Es soll viel Geld sein. Das erhöht noch den Wert des Films. Der ungeheure Wert, den er schon hat, ist fast unbezahlbar. Zehn Millionen, wie gesagt.«

»Die kriegst du nie! Höchstens eine.«

»Eine? Lächerlich! Ich brauche zehn, um aus meiner Misere auch nur halbwegs wieder rauszukommen.«

»Das interessiert aber das Fernsehen nicht.« Olivera wurde tückisch. »Dann scheißen wir auf das deutsche

Fernsehen. Dann scheiße ich auf dich. Bleibst du eben, was du bist: ein kleiner Redakteur. Und ich habe im Handumdrehen zwölf Millionen, fünfzehn, zwanzig, was ich verlange.«

»Von wem?«

»Von den Amerikanern zum Beispiel.« Oliveras Gesicht war jetzt wie aus Stein. »Dafür, daß ich ihnen den Film und alle Kopien übergebe, damit sie ihn verschwinden lassen können und niemand in der Lage ist, den Film auszustrahlen.«

Daniel schluckte.

»Du darfst deinen alten Vater nicht für einen Idioten halten«, klagte Olivera. »Meinst du, von den Amerikanern würde ich zehn Millionen bekommen, Daniel?«

»Ja, und danach sechs Kugeln in den Bauch.« »Ah, du sollst mich nicht für einen Idioten halten, Daniel!

Eine Kopie liegt auf der Bank, ich habe es dir doch gesagt. Mein Schutz. Wenn mir etwas zustößt, bekommt Gaddafi den Film. Und das lasse ich die Amis wissen.«

»Wer bekommt ihn dann?«

»Oberst Gaddafi, Staatschef von Libyen. Der haßt die Amerikaner wie kein anderer Mensch auf der Welt. Der würde hundert Millionen bezahlen und allen Ländern der Welt Kopien des Films und die Senderechte schenken. Und verrückt werden vor Freude. Noch verrückter, als er schon ist. Oder meinst du, er würde nein sagen und das Geld lieber für eine Olympiade-Übertragung ausgeben?«

Daniel Ross starrte seinen Vater an, als hätte er ihn noch nie gesehen.

»Siehst du, es wirkt schon, Kleiner. Ich könnte auch gleich an Gaddafi herantreten und nach Libyen gehen. Wäre absolut in Sicherheit. Ich habe ja die Sensation des Jahrhunderts. Ich biete einen sendereifen Film an. Keine Produktionskosten. Nicht einen Dollar mehr muß der Sender ausgeben. Aber Lizenzen kann er verkaufen an andere Länder. An sechzig, siebzig andere Länder in der ganzen Welt. Was meinst du, wie schnell der Sender da seine zehn Millionen wieder eingenommen hat? Oder zweifelst du daran, mein lieber Sohn? Ich kriege die zehn Millionen. Und Angst? In meinem Alter? Jeder muß sterben. Es ist gefährlich – so oder so. Angst habe ich jetzt nur noch vor dem Elend, der Schande, dem Gefängnis. Und deshalb brauche ich die zehn Millionen Dollar. Und deshalb werde ich sie kriegen. Mit dir oder ohne dich. Willst du also den Film zu deinem Sender bringen und sehen, wie gierig der ihn kauft und du Karriere machst – eine Riesenkarriere? Oder willst du lieber, daß ich mich allein um alles kümmere?«

»Ich nehme den Film mit«, sagte Daniel. Danach bemerkte er, daß seine Hände zitterten. Er verschränkte die Finger ineinander. Aber Olivera hatte es schon bemerkt.

Olivera lachte wieder.

Um 12 Uhr 35 am 21. Februar 1984 überflog der Jumbo der AEROLINEAS ARGENTINAS die westafrikanische Stadt Dakar und nahm Kurs auf Europa. Es war sehr kalt in Dakar. Das Airconditioning sorgte jetzt für Wärme. Als sie später Gibraltar überquerten und sich über spanischem Gebiet befanden, kamen sie in den ersten Schneesturm. Zahlreiche weitere sollten folgen. Der flachshaarige Junge und sein Dad spielten wieder NATO – DER KRIEG IN EUROPA, und Junior gewann wieder. Er war von sich begeistert und blickte beifallheischend in die Runde. Dabei bemerkte er, daß ihm die junge Frau in der Sektion links den Rücken wandte. Das ärgerte ihn.

»He!« rief er. »Interessiert Sie nicht, was?«

Mercedes gab keine Antwort. Sie und der Priester namens Sander beobachteten voller Sorge Daniel, der zwischen ihnen zusammengesunken in seinem Sitz lag. Nachts war er ein paarmal auf die Toilette gegangen, um sich zu übergeben. Er hatte ein ganzes Fläschchen Tropfen ausgetrunken. Sie hatten nicht mehr gewirkt. Der junge Mann mit den langen schwarzen Haaren beobachtete drei Reihen hinter ihnen gespannt, was vorging.

»Nur noch wenige Stunden«, sagte Mercedes verzweifelt, »dann sind wir in Frankfurt. Geht es noch so lange, Danny? Danny!« Das zweite Mal schrie sie den Namen, denn sein Gesicht war plötzlich weiß geworden, seine Lippen wurden blau. Er ächzte. Dann, jäh und schrecklich, begannen seine Arme und seine Beine zu zucken, mehr und mehr, richtige Schüttelkrämpfe waren das, die den Körper hin und her warfen.

»Danny!« schrie Mercedes wieder.

Im nächsten Moment sackte Daniel seitlich nach vorne. Mit Hilfe des Priesters richtete Mercedes ihn mühsam auf. Daniel war ohnmächtig geworden. Nun schrien auch andere Passagiere, die den Vorgang beobachtet hatten. Panik entstand. Zwei Stewards und eine Stewardeß bemühten sich, die Menschen auf ihre Plätze zurückzuschicken. Daniel war wieder bei sich. Er starrte ins Leere. Seine Lippen blieben blau, das Gesicht blieb weiß. »Danny! Danny! Was war das?«

»Weiß nicht«, sagte er mühsam. »Einen großen Cognac!« rief der Priester der Stewardeß zu. Sie verschwand und kehrte gleich darauf mit einem halbgefüllten Schwenkglas zurück. Daniel nahm es mit bebenden Händen und trank den Cognac aus. Er nickte und stellte das Glas weg. Im nächsten Augenblick begannen seine Arme und Beine wieder zu zucken, ein neuer Schüttelkrampf, ärger als der erste, setzte ein, und Ross wurde abermals ohnmächtig.

Die Stewardeß lief zum nächsten Telefonmikrofon, riß den Hörer von der Halterung und sagte über Lautsprecher: »Meine Damen und Herren, einem unserer Passagiere ist schlecht geworden. Befindet sich ein Arzt an Bord?«

Sie wiederholte die beiden Sätze in vier Sprachen. Nach der französischen Version erhob sich ein kleiner Mann

mit glänzendem, glattem schwarzem Haar ganz hinten in der Maschine.

»Sanatorium Kingston bei Heiligenkreuz.«

»Guten Tag. Hier ist die Erste Medizinische Universitätsklinik Frankfurt. Herr Doktor Reinstein muß dringend mit Frau Primaria Mannholz sprechen.«

Da war es 15 Uhr 59 am 21. Februar 1984. »Ein Momenterl, ich verbinde.«

Sibylle Mannholz war diesmal in ihrem Arbeitszimmer allein, als das Telefon läutete. Sie hob ab. Zwei Sekunden später hörte sie eine Männerstimme: »Frau Primaria Mannholz?«

»Ja.«

»Hier ist Reinstein aus Frankfurt.«

»Oh, guten Tag, Herr Kollege. Was gibt es?« »Es handelt sich um Ihren Patienten Daniel Ross, den ich

untersucht habe.«

Sibylle packte den Hörer mit beiden Händen. »Ross? Was ist mit ihm?«

»Er befindet sich im Augenblick auf dem Rückflug von Buenos Aires über Spanien. Vor etwa einer halben Stunde bekam er Schüttelkrämpfe und wurde ohnmächtig.«

»O Gott!«

Die Tür ging auf. Der Arzt Herdegen kam herein, ohne anzuklopfen. Wortlos trat er an den Schreibtisch und hielt den zweiten Hörer ans Ohr. Sein bleiches Gesicht war unbewegt wie immer, und da war auch der seltsame Ausdruck seiner Augen, die eine Kombination von zwei Eigenschaften vermittelten: Eiseskälte und Traurigkeit.

»Woher wissen Sie das?« fragte Sibylle. Sie strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn.

»Warten Sie! Der Reihe nach. Es ist ein französischer Arzt an Bord.«

»Gott sei Dank!«

»Er ist allerdings Gynäkologe. Aber nach den Symptomen diagnostizierte er einen epileptischen Anfall als Folge von schweren Medikamentenmißbrauch. Ross hat ihm die Wahrheit gesagt.«

»Die Diagnose ist richtig. Was hat dieser Arzt getan?« »Bevor er geholt wurde, hatte eine Stewardeß Ross nach

einem ersten Anfall Cognac gebracht. Den hat er getrunken ...« »O nein!«

»... und daraufhin sofort einen zweiten epileptischen Anfall erlitten.«

»Natürlich!« rief Sibylle. »Cognac war das Verkehrteste, was man ihm geben konnte. Der Cognac hat den zweiten Anfall provoziert.«

»Ja, das sagt auch der Gynäkologe. Er hat Ross Alymin gespritzt. Intravenös.«

»Alymin? «

»Er weiß selber, daß das nur wenig helfen wird. Aber er hatte nichts Besseres in seiner Tasche. Wenn sich die Anfälle wiederholen, wird er wieder Alymin spritzen, hat er dem Chefpiloten gesagt. So kommt Ross wenigstens bis Frankfurt, und die Maschine muß nicht vorher landen. Es besteht keine akute Lebensgefahr. Ross ist offenbar nur völlig am Ende.«

HIERHER MIT IHM! UNTER ALLEN UMSTÄNDEN! schrieb Herdegen auf einen Block.

»Der Arzt meint allerdings, daß er sofort nach der Landung in eine Klinik muß.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Der Pilot hat auf Kurzwelle mit Frankfurt Tower gesprochen und einen Bericht gegeben. Frankfurt Tower hat mich angerufen, weil Frau Olivera – das ist die Begleiterin von Herrn Ross dem Piloten gesagt hat, daß ich ihn kürzlich untersucht habe und am besten wissen werde, was mit ihm nach der Landung geschehen soll. Sie wollte offensichtlich verhindern, daß der Flughafenarzt ihn übernimmt. Ich habe mit dem Kollegen telefoniert und erklärt, ich kenne Herrn Ross wirklich. Der Arzt ist einverstanden, wenn ich Ross nach der Landung weiterbehandle und entscheide, was mit ihm geschieht, sofern ich die Verantwortung dafür übernehme. Ich habe gesagt, ich weiß, daß Herr Ross zu Ihnen unterwegs ist, um einen Entzug zu machen. Ich habe gesagt, ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen und Sie bitten, mir entsprechende medizinische Anweisungen zu geben. Ich bin kein Psychiater, Sie müssen das verstehen. Wenn ich wirklich die Verantwortung übernehme, und es passiert etwas ...«

ORGOLAN! schrieb Herdegen auf den Block und darunter: DANN HÄLT ROSS DURCH. ER muß HIERHER! »Ich verstehe Sie vollkommen, Herr Kollege. Ich bin Ihnen

außerordentlich dankbar für Ihre Hilfe.«

»Sie haben mir doch auch schon geholfen. Oft.« »Er muß gleich hierher zu mir. Unter allen Umständen. Ich

kenne ihn seit einer Ewigkeit und habe ihn schon zweimal behandelt.«

Herdegen, der neben Sibylle stand, nickte beifällig und strich mit einem Finger über den Rahmen des großen Farbfotos, das auf dem Schreibtisch stand und einen etwa vierzigjährigen Mann mit braunen Augen und braunem Haar zeigte. Er hatte große Ähnlichkeit mit der Primaria Mannholz.

»Also gut, liebe Kollegin. Sie sagen, was ich machen muß, dann werde ich zum Flughafen fahren. Ich vertraue Ihnen.«

»Wann landet die Maschine?«

»Siebzehn Uhr fünfundvierzig. Also in eindreiviertel Stunden.«

»So lange kommt der Arzt in der Maschine mit Alymin zurecht. Wahrscheinlich braucht er es gar nicht mehr. Ross wird schlafen. Wissen Sie, wann die nächste Anschlußmaschine nach Wien geht?«

»Habe ich mich bereits erkundigt. Achtzehn Uhr dreißig. An Wien neunzehn Uhr fünfzig.«

»Dann kann Ross gleich weiterfliegen. Das ist gut. Sie geben ihm zehn Kubikzentimeter Orgolan intravenös. Nein, spritzen Sie ihm zwanzig! Dann ist er absolut ruhiggestellt. Und sein Kreislauf bricht nicht zusammen. Ich übernehme auch dafür die

Verantwortung. Geben Sie mir bitte die Nummer und den Namen des Flughafenarztes, ich spreche mit ihm. Wir schicken eine Ambulanz zum Wiener Flughafen. Hier hat es zu schneien aufgehört. Bei Ihnen auch?«

»Ja. Die Maschine hat ständigen Kontakt mit Frankfurt. Ich rufe sofort an, wenn sich irgend etwas Unvorhergesehenes ereignet. Jetzt noch der Flughafenarzt, notieren Sie ...«

Nach dem nächtlichen Blizzard blieb der Londoner Airport Heathrow am 21. Februar gesperrt bis 15 Uhr. Dann endlich hatten Schneepflüge und Räumfahrzeuge eine Startbahn gesäubert, und die erste Maschine – eine PAA nach New York – konnte um 15 Uhr 15 starten. Wayne Hyde traf um 19 Uhr 05 mit einem Airbus der BEA in Frankfurt ein.

Der große hagere Mann mit dem wettergegerbten Gesicht verließ die Maschine als letzter. Nach der Paßkontrolle schlenderte er ohne Eile zur Gepäckausgabe. Inmitten vieler wartender Passagiere entdeckte er sofort seinen Mann. Pablo mit den langen schwarzen Haaren trug einen dünnen Mantel und fror erbärmlich. Er stand abseits und hielt den Klarsichtkarton mit der Orchidee in der rechten Hand. Hyde ging an ihm vorbei und sagte leise auf englisch: »Ich hole mein Gepäck. Dann gehen Sie mir nach in die BLAUE BAR ...« Eine knappe Viertelstunde später saß er mit Pablo in einer Ecke der BLAUEN BAR. Die beiden großen Kleidersäcke lagen auf dem Boden. Hyde hatte Tee bestellt, Pablo Tee mit weißem Rum. Es war längst dunkel. Durch die Fenster der Bar sah man die Befeuerungen der Startbahnen und der Flugzeuge, die in schneller Folge landeten oder mit mächtigem Dröhnen starteten und steil in den Nachthimmel hinaufzogen.

Pablo hatte Hyde alles berichtet, was er vor und nach dem Start des Jumbos in Rio de Janeiro miterlebt hatte. Hyde hörte schweigend zu.

»Nach der Landung hier brachten sie Ross sofort in eine Flughafenambulanz. Zusammen mit einem Arzt. Der wartete schon an der Gangway. Diese Olivera hat gebeten, daß man ihn verständigt, er kennt Ross. Das habe ich bei dem ganzen Durcheinander in der Maschine mitgekriegt. Sie haben den Arzt über Funk hergerufen. Reinstein heißt er. Doktor Reinstein ...« Pablo verstummte, denn der Kellner servierte die Getränke.

»Ja?« sagte Hyde, als der Kellner gegangen war. »Doktor Reinstein muß ein verflucht guter Arzt sein. Oder ein

verflucht gutes Mittel gehabt haben. In der Luft habe ich gedacht, Ross nibbelt ab, so mies ging es ihm. Auch noch bei der Landung. Ich habe mich vor der Rot-Kreuz-Station hier rumgetrieben. Nach zwanzig Minuten kam Ross raus. Mit der Olivera. Da konnte er wieder ohne Hilfe laufen und hatte Farbe im Gesicht, und dieses scheußliche Gliederschütteln war weg. Er schien nur sehr benommen zu sein.«

»Klar«, sagte Hyde und trank Tee.

»Die rote Flugtasche hat die Olivera nicht eine Sekunde aus der Hand gegeben. Die schleppte sie überall hin mit. Der alte Priester, der Leon eins über die Rübe gab, saß in der Maschine neben den beiden. Nach der Landung kümmerte er sich um Ross. War mit in der Rot-Kreuz-Station. Kamen alle zusammen raus, auch dieser Doktor Reinstein.« Pablo zitterte. »Scheißkälte. Drüben hat es über vierzig Grad.«

»Wann fliegen Sie zurück?«

»Morgen um zweiundzwanzig Uhr. Leider geht früher keine Maschine. Ich habe hier im Flughafenhotel ein Zimmer genommen.«

»Lassen Sie sich Corofax besorgen. Nehmen Sie die doppelte Menge, die auf dem Waschzettel steht.«

»Was ist das?«

»Bestes Mittel gegen Diarrhoe. Die kriegen Sie sonst auf alle Fälle bei diesen Temperaturunterschieden. Mit Koliken können Sie schlecht fliegen. Ich nehme es immer.«

»Corofax. Okay. Also weiter. Sie gingen alle zum Schalter der AUSTRIAN AIRLINES, wo Ross und die Olivera zweimal Wien buchten für den Flug um achtzehn Uhr dreißig. Der Priester hatte sich um ihr Gepäck gekümmert. Na ja, und so sind sie jetzt schon über Österreich. Soviel ich mitgekriegt habe, soll Ross sofort in ein Sanatorium.«

»Ja. Ich weiß Bescheid. Es geht zum Glück noch eine Maschine nach Wien heute. LUFTHANSA. Kommt aus Paris. Fliegt hier ab um einundzwanzig Uhr zehn. Hat die Olivera auch ganz bestimmt die rote Tasche mitgenommen?«

»Ganz bestimmt! Dieser Doktor Reinstein ist mit Ross und der Frau in einer Ambulanz zum Flugzeug gebracht worden. Ich hab’ gesehen, wie sie eingestiegen sind. Die Olivera hatte die rote Tasche dabei.«

»Aber ob die Kassetten noch drin waren?«

Erschrocken sagte Pablo: »Das weiß ich natürlich nicht.« Er erregte sich. »Sie haben recht! Das war ja nicht vorgesehen, daß der Kerl einen Zusammenbruch kriegt. Sicher hatten die beiden die Absicht, die Kassetten hier in Frankfurt in Sicherheit zu bringen. Mierda! Weiß Gott, wo die Kassetten jetzt sind! Der Priester kann sie haben, der Arzt, was weiß ich. Was machen wir jetzt?«

»Bleiben Sie hier, Pablo«, sagte Hyde. »Ich muß mal telefonieren. Bin gleich wieder da.« Er verließ die Bar und ging in das Flughafen-Postamt. Seine Kleidersäcke nahm er mit. In der Zelle hatte jemand mit großen Buchstaben und in roter Farbe folgende Worte an die Wand gesprüht: FRESSEN, FICKEN, FERNSEHEN. Hyde führte zwei Gespräche, dann ging er zum LUFTHANSA-Schalter, buchte einen Platz in der 21 Uhr 10-Maschine, die aus Paris kam und nach Wien weiterflog, und gab sein Gepäck auf. Neben dem Schalter saß ein etwa zwanzig Jahre alter Junge auf der Erde. Er hatte einen kleinen Teppich ausgebreitet und war in eine bunte Decke gehüllt. Der Junge spielte Gitarre und sang mit schöner, warmer Stimme: »Der Rüstungsboom ist reich an Gnade. Der Krieg zieht sich noch etwas hin. Wer Pech hat, der zerstrahlt zu Marmelade. Es kocht sich gut mit Napalmin ...«

Ein paar Menschen standen um ihn herum. Sie waren aufgeregt. Ein älterer Mann rief: »Du mit deinen Scheißliedern! Wenn’s dir hier nicht paßt, geh doch in’n Osten!«

»Da komm ick jerade her«, sagte der Junge. »Die wollten mir ooch nich.«

Hyde kehrte in die BLAUE BAR zurück.

»Wir werden bald wissen, ob die Kassetten noch bei der Olivera sind«, sagte er zu Pablo, der jetzt beständig zitterte.

»Wann?«

»Wenn Ross in Wien gelandet ist.« Hyde sah den jungen Mann besorgt an. »Sie gehen jetzt schleunigst ins Bett! Trinken Sie weiter Tee mit Rum! Und vor allem vergessen Sie nicht das Corofax! Ich rufe Sie an, sobald ich etwas weiß. Wirklich,

Pablo, Sie können nicht weiter hier herumsitzen.« »Ja, dann ... Mir ist sehr mies ... Aber Sie rufen an, ja?

Versprochen?«

»Versprochen.« Hyde gab dem jungen Mann die Hand. »Vielen Dank und alles Gute!« Als er allein war, bestellte der Söldner eine neue Portion Tee, und aus einer großen Tasche seines pelzgefütterten Dufflecoats holte er den Band mit den Shakespeare-Sonetten. Er lehnte sich zurück, blätterte ein wenig und las dann ergriffen diese Worte: »Kein Erz und Stein ist, Erde nicht und Flut, / Die die Vergänglichkeit nicht schlägt in Trümmer, / Wie trotzt die Schönheit solcher trüben Wut, / Da sie nicht stärker als ein Blütenschimmer?«

Ach, dachte Wayne Hyde, wie schön. Wie schön. Um 20 Uhr 40 läutete in der BLAUEN BAR das Telefon. Der

Mixer hob ab, sprach kurz und sah sich dann suchend im Raum um, in dem sich etwa ein Dutzend Menschen befand. Er sagte: »Meine Herrschaften, hier ist ein Gespräch für ...«

Hyde war schon aufgesprungen und zur Theke geeilt. »Wayne Hyde«, sagte er, »nicht wahr?«

»Ja, mein Herr.« Der Mixer überreichte ihm den Hörer. Die Menschen in der Bar sprachen ziemlich laut.

»Herdegen«, sagte eine Männerstimme. »Hyde. Und?« »Sie haben die Kassetten dabei.«

»Sie wissen das genau?«

»Der Zoll. Ich bin mit einer Ambulanz gekommen, und sie ließen uns aufs Flugfeld hinausfahren, um den Mann abzuholen. Aber der Zoll hat dann die Frau gefilzt. Auch die Tasche. Ich stand ganz in der Nähe.«

»Okay, fein. Ich fliege kurz nach einundzwanzig Uhr und bin gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig in Wien.«

»In Ordnung.«

»Wie geht es ihm?«

»Schlecht.«

»Gut«, sagte Hyde. Er grüßte kurz und legte auf. Dann hörte er, daß sein Name aufgerufen wurde. Er sollte zur Paß- und Zollkontrolle kommen. »Wie kann ich von hier einen Hotelgast anrufen?« fragte er den Mixer.

»Wählen Sie die Neun, und Sie haben die Zentrale.« Wenige Sekunden später war Hyde mit Pablo verbunden. »Hier ist Hyde. Sie haben die Kassetten bei sich.«

»Gott sei Dank! Guten Flug, Mister Hyde!« »Danke. Und alles Gute für dich, Kleiner!« Hyde zahlte.

Dann nickte er dem Mixer zu und verließ die Bar: Er dachte an die letzten Worte des Sonetts, das er gelesen hatte: »Wer hemmt den schnellen Fuß, des Alterns Wüten? / Wer schützt die Schönheit vor Vergänglichkeit? / Ach niemand, wenn dies Wunder nicht geschieht, / daß hell aus schwarzer Schrift mein Lieben glüht.«

Hoffentlich bringt Franz eine Springfield, dachte Hyde. Das ist ein amerikanisches Gewehr. Ich fühle mich damit immer sicherer als mit einem deutschen Achtundneunzig.

»Seien Sie ganz ohne Sorge«, sagte Dr. Gerd Herdegen. Er wischte Daniel Ross mit einem Tuch die Schweißperlen von der Stirn. »Alles wird ganz schnell wieder ganz gut.« Er lächelte. In seinen seltsamen Augen überwog jetzt der Eindruck von Traurigkeit den von Eiseskälte. Daniel sah zu dem Mann im weißen Kittel auf, der neben ihm saß. Er lag in Hemd und Hose auf einer Trage in der Ambulanz, die sehr schnell vom Flughafen südostwärts über eine nächtliche Landstraße fuhr.

Daniel gegenüber saß Mercedes. Sie hatte ihren Pelzmantel abgelegt. Der Wagen war geheizt. Mercedes hielt die rote Flugtasche auf den Knien. Die Sirene des Wagens sang. Ein Blaulicht, das sich zuckend auf dem Dach drehte, schickte in kurzen Abständen Lichtreflexe durch den Wagen.

»Ist es noch weit?« fragte Mercedes.

»Keine zwanzig Kilometer, gnädige Frau«, antwortete der Arzt. Die Ambulanz fuhr durch dichten Wald. Es schneite jetzt wieder heftig. Der Wagen schlidderte von Zeit zu Zeit, aber der Fahrer ging nicht mit dem Tempo herunter.

»Er soll langsamer fahren«, sagte Daniel.

»Er ist sehr sicher. War früher Rennfahrer«, sagte der Arzt. »Es ist mir egal, was er früher war. Er soll langsamer fahren.«

»Sie müssen schnellstens ins Sanatorium«, sagte Herdegen. »Es geht Ihnen nicht gut. Wollen Sie wieder einen Anfall kriegen?«

»Ja«, sagte Daniel. »Ich will wieder einen Anfall kriegen. Lieber noch zwei. Hier auf der Liege.«

»Danny!« sagte Mercedes. Und zu dem Arzt: »Entschuldigen Sie, bitte.«

Herdegen lächelte ihr zu, legte eine Hand auf die ihre, erhob sich dann, schob das Fenster zu den Fahrersitzen etwas auf und sprach mit dem Chauffeur. Er schloß das Fenster und setzte sich wieder neben Daniel. »Er fährt langsamer. Merken Sie es? Zufrieden?«

Daniel gab keine Antwort.

Die Sirene heulte immer weiter, und immer weiter zuckten die blauen Lichtreflexe.

Nach einer Weile wurde es draußen hell. Mercedes sah durch einen klaren Streifen oben in den Milchglasfenstern beleuchtete Straßen und Häuser. Sie fuhren an einem Rathaus vorüber.

»Jetzt sind wir schon in Mödling«, sagte der Arzt. »Beliebter Ausflugsort am Rand des Wienerwaldes. Auch ein Kulturzentrum. Hier haben Schubert, Hugo Wolf, Wildgans und Grillparzer gearbeitet. Jetzt fahren wir durch die Hauptstraße. Da, sehen Sie, das angestrahlte Gebäude. Es heißt Hafnerhaus und ist eine Gedenkstätte. In den Sommermonaten achtzehnhundertachtzehn und neunzehn schuf Beethoven hier die›Missa solemnis‹.«

»Tresor«, sagte Daniel undeutlich. »Bitte?« fragte Herdegen. Daniel wies auf Mercedes. »Ich kann nur schwer sprechen«,

sagte er.

Mercedes sagte: »Sicher gibt es einen Tresor in Ihrem Sanatorium, Herr Doktor.«

»Im Zimmer der Frau Primaria, ja. Warum?« Die Lichter blieben zurück. Sie fuhren wieder durch Wald.

Mercedes klopfte auf ihre Flugtasche. »Ich habe hier wichtige Unterlagen. Wir wollten sie in Frankfurt zur Bank bringen, aber das war unmöglich. Wir konnten den Flug nach Wien nicht aufschieben. Darum habe ich die Unterlagen immer noch bei mir.«

»Selbstverständlich steht Ihnen der Tresor zur Verfügung«, sagte Herdegen lächelnd. »Seien Sie ganz ohne Sorge!« Nach einer Weile tauchten wieder vereinzelte Lichter auf. »Hinterbrühl«, sagte der Arzt. »Hier gibt es ein aufgelassenes Gipsbergwerk mit dem größten unterirdischen See Europas. In der Saison fahren da Elektroboote hinein. Große Fremdenverkehrsattraktion.«

»Ich habe Angst um Herrn Ross«, sagte Mercedes leise. »Müssen Sie nicht haben, gnädige Frau. Er ist in besten Händen. Bald wird er wieder ganz in Ordnung sein.« Herdegen lächelte Daniel zu und fühlte den Puls.

»Wieviel?« fragte Daniel.

»Erhöht«, Sagte Herdegen. »Das ist ganz natürlich. Jetzt sind wir gleich da. Da ist schon Heiligenkreuz.« Zu Mercedes sagte er: »Da drüben – die angestrahlte Kirche, sehen Sie? – liegt das älteste Zisterzienserkloster Österreichs.« Es schneite jetzt sehr heftig und in großen Flocken. Mercedes erblickte ein riesiges Bauwerk neben der Kirche. »Gegründet elfhundertfünfunddreißig von dem Markgrafen Leopold dem Heiligen. Großartig! Wenn Sie den Entzug hinter sich haben, Herr Ross, werden Sie sich das alles zusammen mit der gnädigen Frau ansehen. Hier liegen die Gräber der alten Landesherren Österreichs. Das Kloster Heiligenkreuz ist auch eine Wallfahrtsstätte und ...« Der Wagen schleuderte wieder heftig.

»Wirklich ein prima Fahrer«, sagte Daniel.

Nach kurzer Weiterfahrt sagte Herdegen: »Wir sind da.« Der Fahrer hupte.

Die Wange an die kalte Scheibe gepreßt, sah Mercedes im Licht der Scheinwerfer ein hohes schmiedeeisernes Tor in einer hohen Mauer. Hinter der Mauer erblickte sie den Teil eines Wächterhauses, aus dem nun ein Mann in Stiefeln und Anorak trat, der das große Tor öffnete. Die Flügel schwangen seitlich zurück. Die Ambulanz fuhr durch einen tiefverschneiten, großen Park und hielt Minuten später vor einem weißen Gebäude.

Es ging alles sehr schnell. Der Fahrer und sein Kollege stiegen aus und öffneten die hinteren Türen des Wagens. Herdegen hatte Mercedes in den Pelzmantel geholfen und eine Decke über Ross gelegt. Nun war er Mercedes, welche die Flugtasche an sich drückte, beim Aussteigen behilflich. Der Fahrer und sein Kollege zogen schnell und geschickt die Trage mit Daniel aus dem Wagen. Schweigend eilten sie die Treppen zum Eingang des Sanatoriums hinauf und hoben die Trage auf ein Gestell mit Gummirädern. Nun ging es einen blendendweißen Gang entlang bis zu einem Lastenlift. Die beiden Männer fuhren mit Daniel nach oben. Ein anderer Gang. Sehr helles Licht auch hier. Die Männer schoben die Trage schnell und dabei vorsichtig. Daniel sah kurz die Gesichter einiger Schwestern und Ärzte vorübergleiten, sah Türen, Türen. Eine stand offen. Und dann erblickte Daniel die Frau mit dem kurzgeschnittenen kastanienbraunen Haar und den großen braunen Augen. Sie trug einen Ärztekittel, und Daniel fühlte, wie sein Herz plötzlich stürmisch zu schlagen begann. Sie neigte sich über ihn, und er schlang die Arme um sie.

»Sibylle«, sagte er heiser.

»Guten Abend, Danny«, sagte sie und küßte ihn auf beide Wangen.

Die Männer hoben die Trage von dem Gestell, eilten mit ihr in ein weißes Krankenzimmer und legten Daniel auf das Bett. Sie verschwanden wortlos.

Sibylle kam näher. Sie preßte ihren Mund an Daniels linkes Ohr. Er hörte sie sehr schnell flüstern: »Da ist ein Mikrofon in deinem Zimmer. Jedes Wort wird abgehört. Sag das deiner Begleiterin! Aber leise!«

Zwei Pfleger brachten das Gepäck.

»Kann ich sonst noch was tun, Frau Primaria?« fragte der eine. Er hatte graue Haare, graue Augen, ein gutmütiges Gesicht und den Körper eines Athleten.

»Nein, danke, Herr Aigner«, sagte Sibylle.

»Wenn Sie mich brauchen, ich bin in der Teeküche, Frau Primaria.« Er sah Sibylle ernst an.

»Ist gut, Herr Aigner«, sagte diese.

»Auf Wiedersehen, Herr Ross«, sagte der Pfleger und verschwand.

Sibylle hatte sich neben Daniel auf den Bettrand gesetzt. Sie sahen einander in die Augen, sie sprachen kein Wort miteinander. Er versuchte ein paarmal zu lächeln. Sie erwiderte den Versuch nicht ein einziges Mal. Ihre Augen waren sehr groß und ernst, und ihr Gesicht war so schön, wie er es kannte, aber voller Sorge.

Endlich sagte sie leise: »Nach so langer Zeit, Danny.« »Ja, nach so langer Zeit«, sagte er.

»Und natürlich bist du wieder rückfällig geworden! Schlimm diesmal.«

»Wirst du mich hinkriegen, Sibylle?«

»Habe ich dich nicht noch jedesmal hingekriegt?« Sie flüsterte in sein Ohr: »Bei der ersten Gelegenheit lasse ich dir alles erklären, was hier vorgeht; bis dahin seid vorsichtig!« Und er roch den Duft ihres Haares und alles, alles war plötzlich wie gestern; wie gestern und nicht zwölf Jahre her, zwölf lange Jahre, die ausgelaufen waren im Sandmeer der Zeit.

»Geht es dir gut, Sibylle?«

»Sehr gut, Danny«, sagte sie, aber große Traurigkeit lag auf ihrem Gesicht und strafte ihre Worte Lügen.

Er streichelte ihren Arm und lächelte wieder, und wieder blieb sie ernst, so ernst.

Er wollte etwas sagen, aber sie machte eine warnende Bewegung. »Denkst du noch manchmal an ... unsere Zeit, Sibylle?«

»Oft, Danny, oft.«

»Weißt du, ich träume immer wieder von uns«, sagte er, zog sie zu sich herab und küßte sie auf den Mund. »Seit zwölf Jahren träume ich von uns beiden. Verrückt, wie?«

»Ja«, sagte sie, »total verrückt.«

Plötzlich waren ihre Augen voller Tränen. Er sah sie fassungslos an. Wieder machte sie das warnende Zeichen. Mit einem Taschentuch tupfte sie schnell ihre Augen trocken.

»›Wenn ich mir was wünschen dürfte ...‹«, sagte er. »Erinnerst du dich noch?«

»An alles, Danny. An alles. Ich erinnere mich an alles.« »Ich auch. Ganz genau. Das Leben ist komisch, nicht?« »Ja«, sagte sie. »Wahnsinnig komisch. Ich glaube, jetzt

kommt deine Begleiterin mit Doktor Herdegen.« »Wo waren sie so lange?«

»Anmeldung. Du hast Frau Olivera doch deinen Paß gegeben, nicht wahr?«

»Ja. Dieser Doktor Herdegen hat darum gebeten.« »Die Bestimmungen sind sehr streng«, sagte Sibylle. »Wir

haben viele ausländische Patienten hier, weißt du. Alle An- und Abmeldungen müssen gleich zu dem Gendarmerieposten in Heiligenkreuz gebracht werden.« Wieder flüsterte sie in sein Ohr: »Sie fotokopieren deinen Paß und behalten ihn dann in Aufbewahrung, solange du da bist. Die Fotokopien brauchen sie sofort. Ich werde dir alles erklären ...«

Auf dem Gang wurden Stimmen und Schritte laut. Sibylle erhob sich. Gleich darauf traten Herdegen und

Mercedes ins Zimmer. Daniel machte die beiden Frauen miteinander bekannt. Mercedes war größer und so ernst wie Sibylle, als sie einander die Hand gaben. Dann lächelten beide. Daniel sah, daß sie einander in der Folgezeit genau beobachteten. Sie sprachen jetzt mit Herdegen über ihn, als wäre er nicht anwesend. Er müsse sofort untersucht werden, sagte Sibylle. Herz, Kreislauf, Lunge. Routine. Ein EKG könne man im Bett machen. Alles andere auch.

»Wenn Sie wollen, schlafen Sie hier bei Herrn Ross«, sagte Herdegen. »Das ist ein großes Zweibettzimmer.«

»Danke!« sagte Mercedes. »Sie sind sehr freundlich.« »Wir beginnen dann sofort mit der Behandlung«, sagte

Sibylle, sehr sachlich. »Ich werde mich darum kümmern, Doktor Herdegen. Herr Ross ist ein sehr alter Freund von mir. Ich hatte schon mit ihm zu tun. Leider. Er wurde immer wieder rückfällig. Wenn Sie vielleicht seine Waschsachen und ein Pyjama aus dem Gepäck nehmen wollten, Frau Olivera!« Und zu Daniel: »Das Badezimmer ist da drüben. Ich komme in einer halben Stunde zur Untersuchung, okay?«

»Okay, Sibylle«, sagte er leise. »Danke.«

Mercedes hatte schon einen Koffer geöffnet. Während sie noch suchte, sagte der bleiche Herdegen mit dem dichten schwarzen Haar und dem seltsamen Ausdruck in den Augen: »Frau Olivera hat noch eine Bitte. Sie möchte gerne wichtige Dokumente in Ihrem Tresor verwahren, Frau Primaria.«

Sibylles Gesicht gefror zu einer Maske, fand Daniel, der sie dauernd ansah. Zu einer Maske des Erschreckens und der Angst, dachte er verstört.

»In meinem Tresor ...?« Sibylles Stimme war klanglos. »Ja, Frau Doktor. Es sind sehr wichtige Unterlagen«, sagte

Mercedes.

»Hier wird nicht gestohlen, Frau Olivera.«

»Natürlich nicht. Aber es wäre mir doch sehr lieb, wenn ich die Unterlagen in Ihrem Tresor wüßte.«

»Mir auch, Sibylle«, sagte Daniel.

»Da hören Sie es, Frau Primaria.« Nur der Ausdruck in Herdegens Augen wechselte. Nun war er eiskalt. »Gewiß werden Sie nichts dagegen haben.«

Sibylle schwieg. »Frau Primaria ...« Sie zuckte zusammen. »Gewiß nicht«, sagte sie, und ihr verkrampftes Lächeln gefror ebenfalls zur Maske, einer anderen Maske.

»Dann gehen wir am besten gleich«, sagte Herdegen liebenswürdig. »Herr Ross kann inzwischen ins Badezimmer.«

»Wie Sie wünschen.« Sibylle nickte Daniel zu, dann verließ sie mit den beiden anderen das Zimmer. Über den hellerleuchteten Gang eilten die drei zum Lift. Die Tür des Stationsraumes stand offen. Ein junger Arzt und zwei Schwestern saßen darin und tranken Kaffee. Sie grüßten freundlich. Sonst sah Mercedes auf dem ganzen Weg bis zum Arbeitszimmer Sibylles, das im Erdgeschoß lag, nicht einen einzigen Menschen.

Der Tresor war sehr groß – die Tür höher als Sibylle – und in die Wand links neben dem mit Papieren, Büchern und Medikamentenpackungen überhäuften Schreibtisch eingelassen. Matt glänzte seine Stahlplatte. In halber Höhe trug sie ein versilbertes großes Rad, in dessen Zentrum sich ein stählerner Konus vom Ausmaß eines Wasserglases befand. Der Konus besaß viele Rillen. Eine Skala mit Strichen und Zahlen umgab ihn. Sibylle trat vor den Konus. Durch Hin- und Herdrehen des Stahlkerns begann sie, die Sperre des Panzerschranks zu lösen. Ihr schmaler Rücken verdeckte dabei Konus und Zahlenkreis.

»Ein Riesending«, sagte Mercedes erstaunt. Sibylle antwortete nicht. An ihrer Stelle sprach Herdegen:

»Hier werden alle wichtigen Papiere der Klinik und unserer Patienten aufgehoben – die Krankengeschichten zum Beispiel. Seien Sie ganz ohne Sorge! Der Tresor hat eine fünfstellige Nummernkombination, die man jederzeit nach Belieben mit einem Wählschlüssel – sehen Sie – ändern kann. Eine Million Möglichkeiten gibt es. Wir wechseln die Kombination immer wieder. Nur die Frau Primaria öffnet und schließt den Tresor. Nur sie kennt die momentan eingestellte Kombination.«

Sturm war aufgekommen und peitschte Schnee gegen das große nachtdunkle Fenster.

»Fünf Zahlen, und immer wieder andere – wie merken Sie sich das, Frau Doktor?« fragte Mercedes.

»Ich habe eine sehr gute Methode«, sagte Sibylle, die an dem Konus drehte.

»Aber Sie werden sie nicht verraten«, sagte Herdegen und lachte herzlich. Sibylle wandte sich um und sah ihn ernst an. Er lachte weiter. Die Ärztin zog an dem großen silbernen Rad. Mit einem saugenden Geräusch öffnete sich die gewiß einen Drittel Meter dicke Panzertür. Gleichzeitig flammte in der mannshohen Kammer dahinter elektrisches Licht auf. Mercedes sah einen

Tisch und Regale an den Wänden im Innenraum des Tresors. Sehr viele Akten lagen da, verschnürte Pakete und Leitzordner.

»Was wollen Sie deponieren?« fragte Sibylle. Ihr Gesicht war nun grau. Mercedes stellte die rote Flugtasche auf eine Ecke des Schreibtisches, zog den Reißverschluß auf und holte zwei Videokassetten hervor. Sie trugen Beschriftungen in spanischer Sprache und die Systembezeichnung VHS.

»Hier bitte!« Herdegen reichte Mercedes einen großen gelben Umschlag.

»Danke.« Sie steckte die beiden Kassetten hinein. »Und nun?«

»Nun treten Sie in den Tresor und legen das Päckchen auf das erste Regalbrett links«, sagte Sibylle. Ihre Stimme klang plötzlich unendlich müde.

Mercedes folgte der Aufforderung. Ihr wurde unheimlich zumute, als sie in das Tresorinnere stieg. Schnell trat sie wieder ins Freie.

»So«, sagte Herdegen sonnig, »jetzt können Sie aber beruhigt sein.« Sibylle stellte die Nummernkombination ein und schloß die große Tür. Sie muß sich die Zahlen irgendwo notieren, dachte Mercedes, wenn sie immer wieder wechseln. Ihr Blick fiel auf die gerahmte Farbfotografie eines etwa vierzigjährigen Mannes mit braunem Haar und braunen Augen. Der Mann lachte. »Oh«, sagte Mercedes überrascht. »Was für eine Ähnlichkeit, Frau Doktor! Ihr Bruder?«

»Ja«, sagte Sibylle und hielt sich wie in einem Anfall von Schwäche an dem versilberten Rad des Tresors fest. »Das ist mein Bruder Eugen.«

Etwa eine Stunde später schloß Frau Primaria Sibylle Mannholz Daniel Ross an einen Tropf an. Sie stieß ihm geschickt und schnell die Nadel am Ende des langen dünnen Plastikschlauches, der von der Flasche voll leuchtendgelber Flüssigkeit herabhing, in eine Vene des rechten Arms und fixierte sie. Danach erhob sich Sibylle und regelte die Geschwindigkeit des Tropfenfalls. Zuvor hatte sie Ross gründlich untersucht. Sie war erschrocken gewesen über das Ausmaß seiner Erschöpfung.

»Ich komme fünf nach zwölf, was?« sagte er. »Zehn nach zwölf. Dein Herz möchte ich haben, Danny! Jeder

andere wäre längst tot.«

»Sibylle?«

»Ja?«

»Ich bin sehr glücklich, bei dir gelandet zu sein.« »Ich auch, du Verrückter.«

Während sie sich so unterhielten, hatte Sibylle auf einen Umschlag, den sie ihm nun reichte, geschrieben: REDE WEITER MIT MIR, WÄHREND DU LIEST...

»Du nimmst mir jetzt natürlich das Nobilam weg«, sagte er ... ICH WEISS NICHT, WAS DU IN BUENOS AIRES HERAUSGEFUNDEN HAST. UNTER KEINEN UMSTÄNDEN DARFST DU DARÜBER LAUT MIT FRAU OLIVERA REDEN ...

»Natürlich nehme ich es dir weg«, sagte Sibylle. »Bis es aus dem Körper raus ist, das dauert zweiundsiebzig Stunden. Drei, vier Tage werden wir dich entgiften.«

... DU WOLLTEST ZU MIR, KLAR, las ROSS. DU HÄTTEST AN KEINEM GEFÄHRLICHEREN ORT LANDEN KÖNNEN. ERST WENN DU WIEDER BEI KRÄFTEN BIST UND SPAZIERENGEHEN KANNST, WIRD MAN DIR ALLES ERKLÄREN. ICH BIN IN EINER SEHR SCHLIMMEN LAGE ...

»Und nach drei, vier Tagen?«

»Wirst du dich nicht mehr so gemütlich fühlen wie jetzt, mein Lieber.«

... FRAU OLIVERA HÄTTE NIEMALS DIE VIDEOKASSETTEN IN MEINEM TRESOR DEPONIEREN DÜRFEN, las Daniel weiter. NIEMALS! JETZT IST ES ZU SPÄT. JETZT KÖNNEN WIR NUR HOFFEN, DASS ALLES GUTGEHT ...

»Und was machst du dann mit mir?«

... ICH WIEDERHOLE: KEIN PERSÖNLICHES WORT! SAG DAS FRAU OLIVERA INS OHR! ODER SCHREIB ES AUCH AUF!

»Das wirst du dann schon sehen. Angst vor Entzugserscheinungen, ja?«

»Natürlich. Du weißt doch, was für ein Feigling ich bin.« Sibylle hatte ihm den Umschlag fortgenommen und war ins Badezimmer gegangen, wo sie das Papier in kleine Stücke riß und in der Toilette hinunterspülte. Sie kam zurück und sagte: »›Der Feigling stirbt tausend Tode‹, heißt es im Sprichwort, ›der Tapfere nur einen.‹ Das ist natürlich Geschwätz. Der Tapfere stirbt zehntausend Tode, wenn er intelligent ist.«

»Ich bin intelligent«, sagte er und fühlte, wie seine Glieder schwer wurden. »Leider.«

»Ja«, sagte Sibylle. »Dafür mußt du aber auch nicht mutig sein, mein kleiner Feigling! Es würde keinen Unterschied machen. Wir werden dich schon nicht sterben lassen, Danny. Und so eine Portion Angst und Entzugserscheinungen sind eine gute Sache. Dann merkst du dir das hoffentlich eine Weile. Die Menschen vergessen so schnell.« Sie küßte ihn auf beide Wangen und auf den Mund und strich über sein Haar. »So, schlaf schön, mein Alter!«

»Werde ich schlafen können?«

»Wie ein Murmeltier. Du wirst nicht einmal aufwachen, wenn ich die Flasche wechsle. See you later, alligator!« Ihr tragischer Gesichtsausdruck stand in schrecklichem Gegensatz zu der bemüht fröhlichen Stimme. Sie ging zur Tür und winkte Daniel noch einmal zu.

Auf dem Gang saß Mercedes in einem Sessel. Sie stand auf. »So, fertig«, sagte Sibylle. Jetzt lächelte sie sogar. »Sie können zu ihm gehen, Frau Olivera. Alles in Ordnung.«

»Ich danke Ihnen, Frau Doktor. Ich danke Ihnen sehr.« »Danke für gar nichts«, sagte Sibylle. Sie ging den weißen

Gang hinunter. Die Hände hatte sie in die Taschen ihres Ärztekittels gesteckt. Mercedes sah ihr nach und bemerkte, daß Sibylles Rücken ein wenig zuckte. Sie ahnte nicht, daß die schlanke Frau mit dem braunen Haar, die da von ihr fortging, alle Kraft zusammennahm, um sich auf den Beinen zu halten und nicht zusammenzubrechen.

Mercedes kam ins Zimmer und drehte sich um, weil sie die Tür schließen wollte. Im gleichen Augenblick erlosch die starke Neonbeleuchtung auf dem weißen Gang, der nun in blaues Nachtlicht getaucht war. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Genau 22 Uhr. Sie drückte die Tür ins Schloß und sah, daß Daniel einen Block auf den angezogenen Knien liegen hatte und hastig mit der linken Hand schrieb. Sein rechter Arm hing am Tropf, doch als Linkshänder konnte er mit beiden Händen schreiben. Mercedes wollte etwas sagen, aber er legte schnell einen Finger auf seine Lippen und hielt ihr den Block hin. Die erste Seite hatte er vollgeschrieben. Mercedes begriff die Situation schnell.

»Hallo, Danny, wie geht’s?«

»Müde«, sagte er. »›Ich denke einen langen Schlaf zu tun, denn dieser letzten Tage Qual war groß.‹ Schiller. ›Wallensteins Tod‹. Fünfter Akt, fünfte Szene.«

Hatte zuvor er gelesen, was Sibylle schrieb, während er sich mit ihr unterhielt, so las jetzt Mercedes während der Unterhaltung, was er geschrieben hatte.

»Aber du fühlst dich besser, ja?«

»Viel besser. Jetzt bin ich hier. Jetzt ist alles gut.« »Das ist eine großartige Frau, deine Sibylle.« »Ja«, sagte er, »nicht wahr?«

Mercedes hatte seine Zeilen gelesen. Sie wußte nun alles, was Sibylle Daniel anvertraut hatte. Sie sah ihn fassungslos an. Er hob die Schultern und legte wieder einen Finger auf den Mund. Danach strich er über ihre Hand und sah sie an. Mut! sagte sein Lächeln. Mut!

»Du hast Sibylle sehr geliebt, ja?« fragte sie. »Sehr, ja, Mercedes.«

»Das muß ein seltsames Wiedersehen gewesen sein.« »O ja, das war es.«

»Liebst du sie immer noch?«

»Ja. Aber wie eine Schwester. Wie eine sehr eng Vertraute.« »Sagst du auch die Wahrheit?«

»Ich sage die Wahrheit, Mercedes.«

»Du mußt die Wahrheit sagen, hörst du? Es wäre gemein, zu lügen. Ich könnte es gut verstehen, wenn du sie immer noch liebst. Das wäre dann mein Pech. Aber ich muß die Wahrheit wissen, denn ich liebe dich so.«

»Und ich dich, Mercedes. Anders. Ganz anders, aber genauso stark, wie ich einmal Sibylle liebte.«

»Oh, das ist gut. Ich liebe dich, wie ich noch niemals geliebt habe, Danny.«

Stille folgte.

»So. Und nun langer Kuß«, sagte ein etwa dreißigjähriger, schwammiger Mann mit rotem Gesicht und blaßblondem Haar. »Tief rein in den Mund mit der Zunge.«

»Halt’s Maul, Toni!« sagte Herdegen, der vor dem Lautsprecher stand.

Die Stille dauerte lange an.

»Na«, sagte der Schwammige, der Toni hieß. »Werden doch nicht erstickt sein?«

Aus dem Lautsprecher ertönten sich entfernende Schritte. Dann begann Wasser zu rauschen.

»Nimmt ein Bad, die Dame«, sagte Toni. »Ach, was für eine schöne, wunderbare Liebesszene!«

Der Lautsprecher befand sich in einem fensterlosen Raum, der vollgestopft war mit elektronischen Geräten. Eine ganze Wand lang standen in Regalen moderne kleine Recorder. An der schmalen Front der schwarzen Bretter waren unter jedem Recorder auf einem kleinen, angeklebten Etikett ein Name und eine Zahl angebracht. Drei Dutzend Lautsprecher gleich jenem, aus dem das von einem versteckten Mikrofon aufgenommene Gespräch zwischen Mercedes und Daniel hierher gedrungen war, hingen über dem Regal. Tatsächlich gehörte jeweils ein schwarzer Lautsprecher zu einem Recorder, und jeder trug die entsprechende Zahl in weißer Farbe aufgemalt. Vor dieser Wand standen hinter einem langen Tisch zahlreiche Bürostühle mit verstellbaren Rückenlehnen. An der anderen Wand waren große und kleine Maschinen und Apparaturen installiert, darunter eine komplette Funkanlage. Ein Exhaustor sorgte ständig für Frischluft.

»Was anderes werden Sie nie zu hören kriegen, Herr Doktor«, sagte der Schwammige. Er saß im Hemd da und schwitzte. Unter den Achselhöhlen zeigte das Hemd dunkle Flecke. Der Raum war überheizt, die Luft trotz des Exhaustors schlecht. »Die Mannholz hat die beiden gewarnt.«

»Die Mannholz? Nie im Leben, Toni! Das wagt sie nicht. Sie weiß, was passiert, wenn wir es herausbekommen.«

»Wie wollen Sie es herausbekommen, Herr Doktor? Genügt, wenn sie den Mann gewarnt hat, diesen Ross. Waren doch einmal große Lovers, die beiden.«

»Trotzdem. Viel zuviel Angst. Hat auch sofort den Tresor aufgemacht.«

»Warum?«

»Warum was?«

»Warum hat die Mannholz den Tresor aufgemacht?« fragte der schwammige Mann auf dem Stühlchen.

»Die Olivera wollte die Videokassetten in absoluter Sicherheit wissen.«

Der Mann, der Toni hieß, erlitt einen Lachkrampf. »Sie hat schon in der Ambulanz dauernd davon gesprochen.

Na, ich habe ihr von dem großen Tresor erzählt. Jetzt sind die Kassetten in Sicherheit, Toni.«

Immer noch erklang das Rauschen von Wasser aus dem Lautsprecher.

»Wenn die Mannholz sie nicht gewarnt hat, dann müssen sie aber überdämlich sein«, sagte Toni, plötzlich düster. »Und wenn sie überdämlich sind, warum reden sie dann nicht von der Sache?«

»Die sind nicht überdämlich. Die sind hochintelligent, beide. Du weißt, Ross hat die Mannholz mal geliebt. Sie ihn. Er vertraut ihr vollkommen. Also vertraut ihr auch die Olivera. Es ist etwas Wunderbares um Vertrauen, Toni.«

»Und wenn sie so viel Vertrauen haben, warum reden sie dann nicht von den Kassetten?«

»Weil sie eben intelligent sind.« Herdegen setzte sich auf einen der kleinen Bürostühle. »Sie haben Phantasie. Sie wollen einfach kein Risiko eingehen. In ihrer Lage. Haben schon mal was von Wanzen gehört.«

»Das ist nun völlig idiotisch. Und dann gibt die Olivera die Kassetten in den Tresor – damit sie in Sicherheit sind?«

»Ich sage dir doch, sie vertrauen der Mannholz vollständig. Hör auf damit! Wir müssen jetzt warten, bis dieser Wayne Hyde kommt.«

»Wer kommt?«

»Der Mann, den London angekündigt hat. « Herdegen sah auf die Uhr. »Seine Maschine landet in dreißig Minuten.«

Während dieser Unterhaltung war Daniel Ross aufgestanden. Er bewegte sich langsam und vorsichtig, damit die Nadel des Tropfes in der Vene blieb. Er hatte die verchromte Stange auf dem Dreifuß mit Rädern, an welcher sich die Flasche voll goldgelber Flüssigkeit befand, mit der Linken ergriffen und schob das Gerät behutsam vor sich her ins Badezimmer, wo Wasser in die Wanne strömte.

Nur mit einem Höschen bekleidet stand Mercedes beim Waschbecken und putzte ihre Zähne. Sie fuhr herum, als sie Ross im Spiegel auftauchen sah.

»Danny! Bist du verrückt geworden?«

»Psst! Leise!« Er trat in das Badezimmer, schob den Tropf vor sich her und setzte sich auf einen Hocker.

»Du darfst doch nicht aufstehen! Wenn etwas passiert!« flüsterte sie. Das Rauschen des Wassers übertönte ihre Stimmen. »Passiert schon nichts. Ich muß dir noch etwas sagen, Mercedes.«

»Was?« Ihr wurde bewußt, daß sie fast nackt war. Schnell zog sie einen Frotteemantel über.

»Es ist nicht wahr«, flüsterte Daniel bedrückt. »Was ist nicht wahr?«

»Was ich eben gesagt habe. Über Sibylle. daß ich sie wie eine Schwester liebe, wie eine sehr eng Vertraute.«

»Oh.« Eine Pause folgte. Das Wasser rauschte. Mercedes setzte sich auf den Wannenrand.

»Ich meine: Es war wahr. Vor zwei Stunden noch war es wahr, verstehst du, das kann ich schwören bei meinem Leben, Mercedes. Aber dann, als ich sie wiedersah, als ich ihre Stimme wieder hörte ...«

»Da war es so wie früher«, flüsterte Mercedes. »Ja, Mercedes. So wie früher. Ich ... ich kann dich nicht

belügen. Dazu liebe ich dich zu sehr. Ich ... ich bin vollkommen durcheinander ... Das habe ich niemals erwartet ... wirklich nicht ... Aber als ich sie wiedersah, da war alles so wie vor zwölf Jahren ... So, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen ... nicht ein Tag ...«

»Und Sibylle?« flüsterte Mercedes.

»Ich weiß es nicht ... Sie hat kaum etwas gesagt ...« »So etwas merkst du doch sofort, Danny!«

»Ich weiß wirklich nicht, was sie empfindet ... Sie ist sehr verändert ... So ernst und verschlossen. Sie muß einen großen Kummer haben ...«

»Hast du sie nicht gefragt, welchen?«

»Ich sage doch, wir haben kaum gesprochen miteinander. Ich ... ich bin so kaputt ... Vielleicht ist alles nur deshalb so ... Vielleicht liebe ich sie in ein paar Tagen ... morgen schon ... wirklich wie eine Schwester ... Aber im Moment ...«

»Liebst du uns beide?«

»Ja«, flüsterte er. »Beide gleich?«

»Ja ... nein ... ja, doch ... verzeih mir, Mercedes.« »Was ist da zu verzeihen. Ich habe so etwas geahnt, die ganze

Zeit, ich habe es erwartet ...«

Sie sahen einander stumm an.

Das Wasser rauschte noch immer ...

... und darum war dieses Gespräch für Herdegen und den Schwammigen, der Toni genannt wurde, unhörbar. Die beiden unterhielten sich weiter.

»Was war los in deiner Schicht?« fragte Herdegen. »Schwester Gertie sagt, der Mann von der ›Union of Concerned Scientists‹ hatte Besuch.«

»Der Mann von den ›Besorgten Wissenschaftlern‹, ja. Der hatte Besuch, Herr Doktor. Einen Ami. Hochinteressant.« Toni wies mit der Hand auf einen der vielen kleinen Recorder. »Nummer zwoundzwanzig. Alles drauf. Reagan hat doch Befehl gegeben, den Himmel aufzurüsten, nicht? Das ›Schlachtfeld der Zukunft‹ nennt er das Weltall. Innerhalb der nächsten zehn Jahre soll es ständig besetzte Raumstationen geben. Gebaut werden sie mit Space Shuttles, diesen wiederverwendbaren Raumfähren wie dem ›Challenger‹. Die können große Lasten tragen, haben sie schon bewiesen. Wenn diese Raumstationen erst installiert sind, haben sie auch Laserkanonen, mit denen anfliegende Feindraketen in der Luft zerstört werden. Aber das ist nur eine Sache in der Planung. Bei den Russen sieht es angeblich ebenso aus. Jedenfalls wird der Kinobegriff ›Krieg der Sterne‹ von Reagan und Weinberger bereits einer lückenlosen Verteidigung gegen ballistische Raketen gleichgesetzt. Die beiden glauben, daß sie in zehn Jahren absolut gegen sowjetische Raketen geschützt sind. Die ›Besorgten Wissenschaftler‹ scheinen sehr besorgt zu sein. Sie müssen sich das anhören, Herr Doktor, was der Ami noch alles erzählt hat! Sie kriegen das Gefühl, alle russischen und amerikanischen Großkopferten gehören zu uns ins Irrenhaus! Aber sie kommen nicht zu uns. Was wird in zehn Jahren sein?«

»Hängt davon ab, ob das alles überhaupt möglich ist, und wenn, wer es zuerst schafft. Dann: Gute Nacht! Was noch?«

»Piontak hatte auch Besuch. Pole, Landsmann. Tut auf Computerschulung. So darf er rein und raus. Sie haben neue Aktionen der ›Solidarität‹ besprochen. Da soll vielleicht was losgehen. Alles auf Band. Müssen die Sowjets schnellstens erfahren.«

»Werden sie, Toni, werden sie. Was noch?« »Nummer vierzehn. Der Mann vom MAD. Besuch eines

Kollegen. Der Militärische Abschirmdienst ist doch jetzt so unter Beschuß, weil er mit Strichjungen als Zeugen behauptet hat, daß dieser NATO-General schwul ist. Sollen Köpfe rollen beim MAD. Die werden jetzt eine Sauerei versuchen. Wenn

man sie nicht in Ruhe läßt, wollen sie sagen, daß sie im Auftrag des amerikanischen NATO-Chefs gehandelt haben, weil der den Deutschen unbedingt los sein wollte.«

»Feine Gesellschaft!«

»Alles auf Band, Herr Doktor.«

»Was noch?«

»Natürlich Damiani. Stundenlanger Streit mit Isabella von Kastilien, Ferdinand von Aragon und diesem Borgia-Papst. Wie immer der Vertrag von Tordesillas. Siebenter Juni vierzehnhundertvierundneunzig. Ich kann das alles schon auswendig. Natürlich nicht aufgenommen. Armer Hund, dieser Damiani. So ein berühmter Völkerrechtler! Total meschugge, was?«

»Schwer schizophren.«

»Und? Wird nicht besser, wie?«

»Nein. Aussichtslos. Wir werden ihn den Italienern zurückschicken. Warten nur noch auf die Anweisung von oben.«

»Ach, Herr Doktor, das Wichtigste: der Mullah!« »Was ist mit dem?«

»Das müssen sofort die Amis kriegen. War einer von der Gesandtschaft bei ihm heute nachmittag. Khomeini will eine Großoffensive starten mit einer halben Million Mann, um den Irak endgültig zu erledigen. Und dann den Golf sperren. Und den Westen erpressen.«

Herdegen war plötzlich aufgeregt. »Wo ist das Band?« »Dreiundfünfzig.«

Herdegen nahm den Recorder mit der Nummer 53 aus dem Fach. »Ich höre es mir gleich an. Das war ja ein ereignisreicher Nachmittag, Toni.«

»Kann man sagen. Ich bin total erledigt. Und jetzt noch bis Mitternacht! Mir tun alle Knochen weh. Wer löst mich ab?«

»Buja.«

»Immer kriegt Buja die Friedhofschicht! Der hat’s gut. Zwischen Mitternacht und Frühstück schlafen sie alle. Buja kann ruhig auch schlafen. Kopfweh hab ich. Das ist ein Mief hier drin. Trotz der Frischluftanlage. Stinkt wie im Scheißhaus, wirklich, Herr Doktor.«

»Das bist du!«

»Ich? Na also, hören Sie, Herr Doktor!«

»Du schwitzt. Du stinkst dich selber an. Bißchen mehr waschen. Öfter ein frisches Hemd. Wirklich, Toni, ich habe dich gerne, aber du bist einfach ein grauenvolles Schwein.«

In diesem Gebäude wird in der ersten Classe täglich 2 Gulden, in der zweyten täglich 30 Kreutzer gezahlet. Umsonst werden eyngenommen: die Gestifteten, deren Stipendium im Haus zufällt; weyters Wahnwitzige aus der Classe derjenigen, welche bey dem allgemeynen Krankenhaus mit 10 Kreutzern oder sonder Entgelt aufgenommen werden.

Für Geistliche, welche das Unglück haben, wahnwitzig zu werden, sind bey den Barmherzigen Brüdern Zimmer bestimmt, daher sie der Aufnahme in dieß Haus nicht bedürfen. Für die ruhigen Wahnsinnigen wird das sogenannte Lazarethgebäude zugerichtet werden.

Auf brüchigem, vergilbtem Papier gedruckt, hing diese Nachricht unter Glas an einer Wand von Sibylles Sprechzimmer im ersten Stock der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik in Wien. Darunter stand ein einfaches Bett. Hier schlief die Dozentin Dr. Mannholz, wenn sie Nachtdienst hatte. An diesem Spätherbstabend im November 1970 konnte man durch die geöffneten Fenster viele andere Kliniken auf dem riesigen Areal des Allgemeinen Krankenhauses sehen, dessen Haupteingang sich in der Lazarettgasse fünfzehn befand. Das Gebäude der Psychiatrie stand auf einem sanften Hügel über den anderen Kliniken. Sibylle war sechsunddreißig Jahre alt, mittelgroß und schlank. Sie hatte kastanienbraunes Haar und besonders große Augen derselben Farbe. Ihr Mund war breit, die Lippen waren sanft geschwungen und zum Lachen geschaffen. Daniel war dreiunddreißig Jahre alt, und sein Haar war noch blond. Er sah erholt und gesund aus. Daniel und Sibylle standen einander bei ihrem Schreibtisch gegenüber.

»Da wäre noch eine Komplikation, über die ich zu berichten habe«, sagte er.

»Noch eine Komplikation?«

»Ja«, sagte er.

»Welche?«

»Ich liebe Sie, Sibylle. Seit ich Sie kenne. Ich bete Sie an.« Ihre Augen waren plötzlich riesengroß. Er schlang die Arme

um sie und preßte seinen Körper an den ihren. Sie wehrte sich vergeblich. Die Lippen trafen aufeinander. Er küßte sie hart, und hart blieb ihr Mund. Dann öffneten sich ihre Lippen und wurden weich und wunderbar. Der Kuß dauerte lange. Zuletzt legte sie

den Kopf an seine Schulter, ihre Wange an die seine. Sie flüsterte: »Ich verstehe dich, Daniel ...« Ihre Arme

umklammerten ihn. Sie küßten sich wieder. Danach sahen sie einander in die Augen.

»Für alle Zeit«, sagte er.

»Für alle Zeit«, erwiderte sie. Dann lächelte sie plötzlich. »Was ist?«

»Nichts, Liebster.«

»Doch! Warum hast du gelächelt?«

»Bitte nicht.«

»Bitte ja! Woran hast du gedacht?«

»Ich habe gedacht: Mutterbindung! Natürlich bin ich älter«, sagte Sibylle und lächelte wieder ...

So hatte es begonnen, damals.

Und so begann der Traum, den Daniel seither gewiß viele Dutzende Male geträumt hatte. Immer so. Genau so. So begann er auch in der Nacht zum 22. Februar 1984, der ersten, die Daniel im Sanatorium Kingston bei Heiligenkreuz verbrachte, auf dem Rücken liegend, den rechten Arm mit einem Tropf verbunden.

Er lächelte im Schlaf. Mercedes saß an seinem Bett und sah ihn an. Sie trug einen Frotteemantel, und ihr Gesicht war ernst. Nur eine kleine Lampe auf dem Schreibtisch brannte im Hintergrund. Es war sehr still. Der Sturm hatte sich gelegt. Doch weiter fiel Schnee, sehr viel Schnee. Daniel träumt von ihr, dachte Mercedes. Sie war ganz sicher, daß er von Sibylle träumte.

Der Mann mit dem Tirolerhut stand vor der großen Glasscheibe, welche die Ankunftsebene des Flughafens Wien-Schwechat in zwei Teile zerschnitt. Jetzt warteten nur noch wenige Menschen, die gekommen waren, um Freunde oder Verwandte abzuholen, die mit der letzten Maschine dieses Tages, dem LUFTHANSA-Flug 345 aus Paris mit Zwischenlandung in Frankfurt, um 22 Uhr 30 ihr Ziel erreicht hatten. Es war 22 Uhr 50, und der Mann mit dem großen Gamsbart und dem breiten grünen Band auf dem schwarzen Hut sah durch die Scheibe Wayne Hyde von der Gepäckausgabe her auf sich zukommen. Der Söldner trug seine beiden großen, alten Kleidersäcke. Jetzt erkannte er den winkenden Mann hinter der Scheibe und lachte erfreut. Er steuerte auf eine der zahlreichen Einwegtüren in der gläsernen Trennwand zu. Der Mann in einem Lodenmantel und mit dem Tirolerhut ging auf seiner Seite zu dieser Tür. Andere Passagiere tauchten jetzt hinter Hyde auf, andere Menschen, die gewartet hatten, winkten. In der riesigen Halle verbreiteten Neonröhren ihr scheußliches Licht wie aus dem Reich der Toten. Alle Menschen hatten wächserne Gesichter. Die geschminkten Lippen der Frauen sahen schwarz aus.

Wayne Hyde passierte die Einwegtür, warf sich einen Kleidersack über die Schulter und schüttelte dem Mann, der ihn erwartet hatte, herzlich die Hand. Auf Hydes kurzgeschnittenem, blondem Haar lagen Schneekristalle, sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht war gerötet.

»Hallo, Franz, mein Alter!« sagte er.

»Servas, Burschi!« sagte Franz Loderer. Auch sein Gesicht war schmal geschnitten, und auch seine Augen waren sehr hell. Er schlug Hyde auf die Schulter. »Dös is a Freid«, sagte er. »Alsdem, wirklich. Waaßt, wie lang mir uns nimma gsehn ham?«

»Genau. Seit neunzehnhundertachtundsiebzig. Angola. Da waren wir zum letztenmal zusammen.«

»Hamms die MPLA außerghaut, was? Heerst, das war a Gschicht! Wie mir mit dem Sikorski-Hubschrauba abgstürzt san?« Sie lachten beide laut.

»Noch viel heiterer als der Kongo«, sagte Hyde. »Gar ka Vergleich«, sagte Franz. »Der Kongo, dös war a

Trauaspül dagegen. Gib mir deine Säck.«

»Nein, laß nur! Ich komme sehr gut zurecht.« »Mei Wagen steht ganz in der Näh.« Sie gingen nun Seite an

Seite. Franz Loderer strahlte noch immer. »Na, wirklich, Burschi. Wia du angrufen hast, hab i echt wana müassen, stell dir dös vor!«

»Guter, alter Franz«, sagte Hyde. Sie erreichten einen der Ausgänge. Es schneite heftig.

»Da ume!« sagte Franz. »Ersta Parkplatz.« Er mußte schon wieder lachen. »I hab ma den Orden von der MPLA angschaut, nach deim Anruf. Des Riesentrumm. Kannst die erinnern? Hast deinen aa no?«

»Klar.«

»Alsdenn, bei mir is a ganze Lad von ans Kommod voll mit dem Blechzeug. Könnt a Gschäft aufmacha. Du aa. Dös war vielleicht a Pletschn, der Stern von der MPLA. Der größte Orden von alle.«

»Haben die Kaffer von den Russen gekriegt. Russische Orden sind immer die größten«, sagte Wayne Hyde, der an der Seite seines alten Freundes durch das Schneetreiben ging. Nach dem angolanischen Bürgerkrieg, welcher 1976 begonnen hatte, war nach Jahren endlich die von der Sowjetunion und Kuba sowie deren Söldnern unterstützte marxistische MPLA-Partei an die Macht gekommen. Wayne Hyde und sein Freund Franz Loderer

hatten zwei Jahre lang für sie gekämpft.

»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« sagte Hyde. »Boy, o boy, die Weltanschauung, für die wir noch keine Menschen umgelegt haben, gibt's nicht.«

»Da steh i«, sagte sein Freund mit dem Tirolerhut und öffnete den Kofferraum eines schwarzen Mercedes. Hyde verstaute die beiden Kleidersäcke. Dann setzten sie sich in den Wagen. Die Windschutzscheibe war zugeschneit. Franz knipste das Innenlicht an. Er hob eine schwere Segeltuchtasche auf Hydes Knie. »So, Burschi«, sagte er. »Alles da.«

In der Tasche lagen Schaft, Lauf und aufsetzbares Zielfernrohr eines Gewehrs, Munition und eine mächtige Pistole.

»Wast hast ham wolln«, sagte Franz. »Springfield nulldrei, Kaliba siebenzwarasechzig, Magazin für zehn Schuß. Zielfernrohr. I hab zehn Magazin mit bracht, weil da san imma nur sechs Patronen drinna. Okeh, Merc?«

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