Sie hatte das gleiche dunkle, lockige Haar und das verschmitzte Lächeln, das Männer bei ihrer Tochter so bezaubernd finden würden. Sie hatte die einfache, unschuldige Ehrlichkeit, die für einen ihrer Söhne kennzeichnend sein würde, und sie hatte eine Gabe – eine seltene und wunderbare Kraft —, die sie dem anderen weiterreichen würde.
Sie hatte Magie in ihrem Blut wie auch ihr Sohn. Aber sie war schwach – schwach im Willen, schwach im Geist. So ließ sie es zu, daß die Magie die Oberhand über sie bekam, und so starb sie schließlich.
Weder die seelisch robuste Kitiara noch den körperlich starken Caramon berührte der Tod der Mutter sonderlich. Kitiara haßte ihre Mutter mit bitterer Eifersucht, während Caramon sich zwar um seine Mutter kümmerte, aber seinem Bruder näherstand. Zudem stellten das unheimliche Umherstreifen und die geheimnisvollen Trancen seiner Mutter für den jungen Krieger ein völliges Rätsel dar.
Aber ihr Tod vernichtete Raistlin. Er war ihr einziges Kind, das sie wirklich verstand, das sie bemitleidete, auch wenn es sie gleichzeitig verabscheute. Und er war wütend auf sie, weil sie starb, wütend auf sie, weil sie ihn allein auf dieser Welt zurückließ, allein mit der Gabe. Er war wütend und tief im Innern von Angst erfüllt, denn er sah in ihr seinen eigenen Untergang.
Nach dem Tod ihres Vaters war seine trauernde Mutter in eine Trance verfallen, aus der sie nicht wieder herauskam. Raistlin war hilflos gewesen. Er konnte nichts unternehmen, nur zusehen, wie sie dahinschwand. Verloren trieb sie auf magischen Ebenen, die nur sie sehen konnte. Und der Magier, ihr Sohn, war bis ins Mark erschüttert.
Er saß bei ihr an jenem letzten Abend. Er hielt ihre geschwächte Hand, beobachtete, wie ihre eingefallenen, fiebrigen Augen auf Wunder starrten, die von einer mißratenen Magie herbeigerufen worden waren.
In jener Nacht schwor Raistlin tief in seiner Seele, daß niemand und nichts jemals über die Macht verfügen würde, ihn so zu lenken – nicht sein Zwillingsbruder, nicht seine Schwester, nicht die Magie, nicht die Götter. Er und er ganz allein würde die führende Kraft in seinem Leben sein.
Das schwor er. Er legte einen bindenden Eid ab.
Aber er war noch ein Junge, allein in der Dunkelheit zurückgelassen, als er in jener Nacht bei seiner Mutter saß.
Er beobachtete sie, wie sie ihren letzten zitternden Atemzug nahm. Er hielt ihre schmale Hand mit ihren zierlichen Fingern und flehte sie durch seine Tränen an: »Mutter, komm nach Hause... Komm nach Hause!«
Jetzt in Zaman hörte er wieder diese Worte, die ihn herausforderten, ihn verhöhnten, ihm trotzten. Sie ertönten in seinen Ohren, hallten in seinem Gehirn in einem wilden Klirren wider. Sein Kopf zersprang vor Schmerz, und er stolperte gegen eine Wand.
Raistlin hatte einst gesehen, wie Ariakas einen gefangengenommenen Ritter gefoltert hatte, indem er ihn in einen Glockenturm eingesperrt hatte. Die dunklen Kleriker läuteten in jener Nacht die Glocken, um ihre Königin zu ehren – die ganze Nacht lang. Am nächsten Morgen wurde der Mann tot aufgefunden; ein Blick des Entsetzens lag auf seinem Gesicht, so eindringlich und schrecklich, daß selbst die Grausamsten sich schnell der Leiche entledigten.
Raistlin hatte das Gefühl, in seinem eigenen Glockenturm eingesperrt zu sein, in seinem Schädel läuteten seine eigenen Worte seinen Untergang ein. Verzweifelt versuchte er das Geläut auszulöschen.
»Komm nach Hause... Komm nach Hause...«
Von Schmerz blind, versuchte der Magier dem Klang zu entrinnen. Er taumelte umher, ohne eine klare Vorstellung zu haben, wo er sich befand, suchte nur zu entkommen. Seine Füße verloren ihren Halt. Er stolperte über den Saum seiner schwarzen Roben und fiel auf die Knie.
Ein Gegenstand sprang aus einer Tasche seiner Roben und rollte über den Steinboden. Als Raistlin ihn sah, schrie er vor Angst und Zorn auf. Ein weiteres Zeichen seines Versagens – die Kugel der Drachen, zersplittert, verdunkelt, nutzlos. Hastig griff er nach ihr, aber sie sprang wie eine Murmel über den Fußboden, wich seinem Griff aus. Verzweifelt kroch er ihr nach, und schließlich blieb sie liegen. Mit einem wütenden Fauchen wollte Raistlin sie ergreifen, als er innehielt. Er hob den Kopf, erkannte, wo er war, und schrak zitternd zurück.
Vor ihm ragte das Große Portal auf.
Es sah genauso aus wie im Turm der Erzmagier in Palanthas. Auf einem erhöhten Podest war eine riesige, ovale Tür, bewacht von den Köpfen der fünf Drachen.
Im Turm von Palanthas war die Tür zum Portal verschlossen. Sie war nur von der anderen Seite zu öffnen gewesen, wenn man aus der Hölle kam – ein Ausgang aus einem Ort, den keiner jemals verließ. Diese Tür war ebenfalls verschlossen, aber sie konnte von zwei Personen geöffnet werden – von einem weißgekleideten Kleriker unendlicher Güte und einem schwarzgekleideten Erzmagier unendlicher Bösartigkeit. Mit dieser unwahrscheinlichen Kombination hatten die großen Zauberer gehofft, den schrecklichen Eingang zu einer unsterblichen Ebene auf ewig zu versiegeln.
Ein gewöhnlicher Sterblicher, der auf das Portal blickte, konnte lediglich eisige Dunkelheit sehen.
Aber Raistlin war nicht mehr gewöhnlich. Je näher er seiner Göttin kam und seine Energien auf dieses eine Ziel konzentrierte, desto intensiver schwebte er in einem Zustand zwischen diesen zwei Welten. Als er auf die geschlossene Tür starrte, konnte er diese Dunkelheit fast durchdringen! Sie schwankte in seinem Sichtfeld. Er löste seinen Blick von ihr und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Kugel der Drachen.
Wie ist sie mir entwichen? fragte er sich wütend. Er bewahrte die Kugel in einem Beutel, der tief verborgen in einer Geheimtasche seiner Roben lag. Aber dann grinste er höhnisch, denn er wußte die Antwort. Jede Kugel der Drachen war mit einer starken Gabe der Selbsterhaltung ausgestattet. Die Kugel war in Istar der Umwälzung entgangen, indem sie den Elfenkönig Lorac verführte, sie zu stehlen und nach Silvanesti zu bringen. Als die Kugel für den verrückten Lorac keine Verwendung mehr hatte, hatte sie sich Raistlin angeschlossen. Sie hatte Raistlins Leben erhalten, als er in Astinus’ Bibliothek im Sterben lag. Sie hatte mit Fistandantilus ein Komplott geschmiedet, um den jungen Mann zur Königin der Finsternis zu bringen. Jetzt spürte sie die größte Gefahr und versuchte ihm zu entkommen.
Er würde das nicht zulassen! Seine Hand streckte sich ihr entgegen und schloß sich um sie.
Etwas kreischte auf... Das Portal öffnete sich.
Raistlin sah auf. Es hatte sich nicht geöffnet, um ihm Eintritt zu verschaffen. Nein, sie hatte sich geöffnet, um ihn zu warnen, ihm die Strafe für ein mögliches Versagen zu zeigen.
Kniend, die Kugel an seine Brust drückend, spürte Raistlin die Gegenwart und die Hoheit von Takhisis, der Königin der Finsternis. Voll Ehrfurcht kniete er zitternd vor den Füßen der Dunklen Königin.
»Das ist dein Untergang!« Ihre Worte zischten in seinem Geist. »Du wirst das gleiche Schicksal wie deine Mutter erleiden. Verzehrt von deiner Magie, wirst du für alle Ewigkeit im Zauber gefangen sein, ohne jemals den süßen Trost des Todes zu genießen, ohne dein Leiden beenden zu können.«
Raistlin brach zusammen. Er fühlte seinen Körper schrumpfen – so wie er den Körper von Fistandantilus bei der Berührung des Blutsteins hatte schrumpfen sehen.
Sein Kopf lag auf dem Steinboden, so wie er in seinen Alpträumen auf dem Richtblock des Scharfrichters gelegen hatte. Raistlin wollte seine Niederlage zugeben... Aber in ihm steckte eine unerschütterliche Stärke. Vor langer Zeit hatten die Götter Par-Salian, dem Oberhaupt des Ordens der Weißen Roben, eine Aufgabe erteilt. Sie benötigten einen Zauberkundigen, der stark genug war, um die zunehmende Bosheit der Königin der Finsternis besiegen zu helfen. Par-Salian hatte lange gesucht und schließlich Raistlin ausgewählt, denn er hatte in dem jungen Magier diese unerschütterliche Stärke gesehen. Sie war wie eine kalte, formlose Eisenmasse gewesen, als Raistlin jung war. Aber Par-Salian hatte gehofft, daß das glühendheiße Feuer des Leidens, des Schmerzes, des Krieges und des Ehrgeizes diese Masse in erstklassig geschmiedeten Stahl verwandeln werde.
Raistlin hob den Kopf von dem kalten Steinboden.
Die Hitze des Zornes der Königin umgab ihn. Schweiß strömte aus seinem Körper. Er konnte nicht atmen, als das Feuer seine Lungen durchglühte. Sie folterte ihn, verhöhnte ihn mit seinen eigenen Worten, seinen eigenen Visionen. Sie lachte über ihn, so wie viele über ihn zuvor gelacht hatten. Und dennoch, während sein Körper vor einer Angst zitterte, wie er sie niemals erlebt hatte, begann Raistlins Seele zu frohlocken.
Verwirrt versuchte er diese Reaktion zu begreifen. Er versuchte, die Herrschaft über sich selbst wiederzuerlangen, und nach einer Anstrengung, die ihn schwach und benommen zurückließ, verbannte er die schallende Stimme seiner Mutter aus seinen Ohren. Er schloß seine Augen vor dem höhnischen Lächeln seiner Königin.
Dunkelheit hüllte ihn ein, und er sah in dieser kühlen, süßen Dunkelheit die Angst seiner Königin.
Sie hatte Angst... Angst vor ihm!
Langsam erhob sich Raistlin. Heiße Winde wehten aus dem Portal und bauschten seine schwarzen Roben auf, bis er von Donnerwolken umgeben zu sein schien. Er hatte jetzt einen ungehinderten Einblick in das Portal. Seine Augen verengten sich. Er musterte die angsterregende Tür mit einem grimmigen, verzerrten Lächeln. Dann hob er die Hand und schleuderte die Kugel der Drachen in das Portal.
Die Kugel schlug gegen eine unsichtbare Mauer und zerbrach. Ein fast unmerklicher Schrei ertönte. Dunkle Flügel flatterten um den Kopf des Magiers, und mit einem Klagelaut lösten sie sich in Rauch auf.
Kraft strömte durch Raistlins Körper, eine Kraft, wie er sie niemals gekannt hatte. Die Kenntnis der Schwäche seines Feindes wirkte auf ihn wie berauschender Alkohol. Er spürte die Magie aus seinem Geist in sein Herz und von dort in seine Adern fließen. Die in Jahrhunderten des Lernens angesammelte Macht gehörte ihm – ihm und Fistandantilus!
Und dann hörte er den klaren Trompetenruf; seine Melodie war so kalt wie die Luft um die schneebedeckten Gipfel der entfernten Zwergenheimat. Rein und schneidend hallte der Trompetenruf in seinem Geist wider, vertrieb die ablenkenden Stimmen, rief ihn in die Dunkelheit, verlieh ihm die Macht über den Tod.
Raistlin hielt inne. Er hatte nicht beabsichtigt, das Portal so schnell zu durchschreiten. Er hätte gern noch ein wenig Zeit gehabt. Die Ankunft des Kenders bedeutete, daß die Zeit verändert werden konnte. Der Tod des Gnoms stellte sicher, daß von dem magischen Gerat keine Störung ausgehen würde – die Störung, die den Tod von Fistandantilus herbeigeführt hatte.
Die Zeit war gekommen.
Raistlin schenkte dem Portal einen letzten sehnsüchtigen Blick. Dann verbeugte er sich vor seiner Königin, wandte sich um und schritt zielstrebig den Korridor entlang.
Crysania kniete in ihrem Zimmer und betete.
Sie hatte wieder ins Bett gehen wollen, als sie von dem Kender zurückgekehrt war, aber eine seltsame Vorahnung erfüllte sie. Der Schlaf wollte nicht kommen. Sie war munter, hellwach, wie sie es noch nie in ihrem ganzen Leben gewesen war.
Der Himmel war hell erleuchtet – das kalte Feuer der Sterne brannte in der Dunkelheit; der silberne Mond Solinari glänzte wie ein Dolch. Sie konnte jeden Gegenstand in ihrem Zimmer mit unheimlicher Deutlichkeit erkennen. Alles schien sie zu beobachten, mit ihr zu warten.
Wie versteinert starrte sie auf die Sterne. Ihre Finger, die auf dem Stein ruhten, wurden eiskalt. Sie nahm ihr Zittern wahr und drehte sich um, sagte sich, daß es Zeit zum Schlafengehen sei. Aber in der Nacht herrschte immer noch dieses atemlose Warten.
Und dann hörte sie die Trompete. Rein und schneidend drang die Melodie in ihr Herz, sang ein Lob des Sieges, das ihr Blut in Wallung versetzte.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür ihres Zimmers.
Sie war nicht überrascht. Es war, als hätte sie seine Ankunft erwartet, und sie drehte sich um, um ihm ins Gesicht zu blicken. Raistlin stand in der Tür.
Sie hielt den Atem an. Sie hatte ihn in der Ekstase seiner Magie erlebt, sie hatte ihn Niederlage und Tod bekämpfen sehen. Jetzt sah sie ihn in der Fülle seiner Kraft, in der Herrlichkeit seiner finsteren Macht. Uralte Weisheit war in seinem Gesicht scharf herausgearbeitet.
»Die Zeit ist gekommen, Crysania«, sagte er und streckte ihr die Hände entgegen.
Sie ergriff sie. Ihre Finger waren eiskalt, seine Berührung brannte in ihr Fleisch. »Ich habe Angst«, flüsterte sie.
Er zog sie an sich. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er. »Dein Gott ist bei dir. Ich sehe ihn deutlich. Es ist meine Göttin, die Angst hat, Crysania. Ich spüre ihre Furcht! Wir beide, du und ich, werden die Grenzen der Zeit überschreiten und das Reich des Todes betreten. Gemeinsam werden wir die Dunkelheit bekämpfen. Gemeinsam werden wir Takhisis auf die Knie zwingen!« Er hielt sie an seine Brust gedrückt, seine Arme umfingen sie. Seine Lippen schlossen sich über den ihren.
Crysania ließ das magische Feuer, das die Körper der Toten verzehrte, ihren Körper verzehren, das kalte, ängstliche, weißgekleidete Gefäß, in dem sie sich in all den Jahren versteckt hatte.
Er wich zurück, fuhr mit der Hand über ihren Mund, hob ihr Kinn, so daß sie in seine Augen sehen konnte. Und dort, gespiegelt von seiner Seele, sah sie sich in einer flammenden Aura strahlenden, reinen weißen Lichtes glühen. Sie sah sich wunderschön, geliebt, verehrt. Sie sah sich die Wahrheit und die Gerechtigkeit in die Welt bringen, jedes Leid, jede Angst und jede Verzweiflung verbannen. »Gepriesen sei Paladin«, flüsterte sie.
»Gepriesen sei er«, erwiderte Raistlin. »Ich werde dir noch einen Zauber geben. So wie ich dich im Eichenwald von Shoikan beschützt habe, so sollst du beschützt sein, wenn wir durch das Portal gehen.«
Sie erbebte. Er preßte die Lippen auf ihre Stirn. Schmerz schoß durch ihren Körper. Sie zuckte zusammen, schrie aber nicht auf.
Er lächelte sie an. »Komm.«