8

»Schon wieder kein Wasser«, stellte Caramon ruhig fest.

Regar blickte finster. Obgleich die Stimme des Generals bar jeden Vorwurfs war, wußte der Zwerg, daß er verantwortlich gemacht wurde. Die Erkenntnis, daß es größtenteils seine Schuld war, half auch nicht weiter.

»Ungefähr einen halben Tagesmarsch von hier stoßen wir auf ein weiteres Wasserloch«, knurrte Regar; sein Gesicht wurde steinhart. »In den alten Zeiten gab es sie hier überall wie Pockennarben.«

Caramon sah sich um. So weit sein Auge reichte, gab es nichts – keinen Baum, keinen Vogel, nicht einmal Gestrüpp. Nichts als endlose Meilen von Sand und hier und dort verstreut seltsame, kuppelförmige Erdwälle. In der Ferne schwebten die dunklen Schatten des Gebirges von Thorbadin.

Die Armee des Fistandantilus war am Verlieren, bevor die Schlacht überhaupt begonnen hatte.

Nach einem tagelangen Gewaltmarsch waren sie endlich aus dem Gebirgspaß von Pax Tarkas herausgekommen und befanden sich jetzt in der Ebene von Dergod. Der Nachschub hatte sie noch nicht eingeholt, und aufgrund ihres schnellen Tempos sah es aus, als ob es noch über eine Woche dauern würde, bis die schwerfälligen Wagen sie fanden.

Raistlin wies die Offiziere der Armee darauf hin, daß Eile vonnöten sei, und obgleich Caramon seinem Bruder offen widersprach, unterstützte Regar den Erzmagier, und es gelang ihm, die Barbaren auf ihre Seite zu ziehen.

Wieder blieb Caramon nichts anderes übrig, als mitzumachen. Und so brach die Armee vor der Morgendämmerung auf, marschierte mit nur einer kleinen Rast am Mittag und setzte den Marsch bis zum Zwielicht fort. Dann hielten sie an und errichteten ein Lager, solange es noch hell genug war, um etwas zu sehen.

Die Armee wirkte beileibe nicht siegreich. Verschwunden waren die Kameradschaft, der Spaß, das Gelächter, die Spiele am Abend. Verschwunden war das Singen am Tag; sogar die Zwerge hatten mit ihrem aufwühlenden Gesang aufgehört und zogen es vor, ihren Atem für den ermüdenden Marsch Meile um Meile aufzusparen.

In der Nacht fielen die Männer praktisch dort zu Boden, wo sie standen, aßen ihre mageren Rationen und schliefen sofort erschöpft ein, bis sie am nächsten Tag von den Feldwebeln mit Tritten geweckt wurden.

Die Stimmung war schlecht. Es gab Gemurre und Klagen, besonders als die Lebensmittel sich dem Ende zuneigten. Im Gebirge war das kein Problem gewesen. Dort hatte es genügend Wild gegeben. Aber in den Ebenen waren sie die einzigen Lebewesen, so wie Caramon es vorausgesagt hatte. Sie lebten von ungesäuertem Brot und Trockenfleisch, das auf zwei Stücke am Tag beschränkt war – morgens und abends. Und Caramon wußte, daß auch diese kleine Menge noch einmal geteilt werden mußte, wenn der Nachschub sie nicht bald einholte.

Aber der General hatte noch andere Probleme, von denen zwei besonders kritisch waren. Ein Problem war der Mangel an frischem Wasser. Regar hatte ihm zwar mitgeteilt, daß es in den Ebenen Wasserlöcher gebe, aber die zwei ersten, auf die sie gestoßen waren, waren ausgetrocknet. Erst dann hatte der alte Zwerg mürrisch zugegeben, daß er das letzte Mal in den Ebenen vor der Zeit der Umwälzung gewesen war. Caramons anderes Problem war die sich schnell verschlechternde Beziehung zwischen den Verbündeten.

Bestenfalls immer nur fadenscheinig, riß das Bündnis jetzt an allen Nähten auseinander. Die Menschen aus dem Norden gaben den Zwergen und den Barbaren die Schuld für ihre derzeitigen Probleme, da sie den Zauberer unterstützt hatten.

Die Barbaren ihrerseits waren niemals zuvor in den Bergen gewesen. Jetzt, da sie das gigantische Gebirge von Thorbadin am südlichen Horizont aufragen sahen, begannen sie zu denken, daß alles in der Welt nicht so schön wie das flache Grasland ihrer Heimat sei. Mehr als einmal sah Caramon ihre dunklen Augen nach Norden schweifen, und er wußte, daß er eines Morgens aufwachen und feststellen würde, daß sie verschwunden waren.

Die Zwerge ihrerseits betrachteten die Menschen als feige Schwächlinge, die sofort heulend nach Hause zur Mutter liefen, sobald die Dinge ein wenig schwierig wurden. Folglich wurde das Fehlen von Essen und Trinken als geringfügige Störung abgetan. Über den Zwerg, der es wagte anzudeuten, daß er durstig sei, fielen unverzüglich seine Kameraden her.

Caramon dachte über seine zahlreichen Probleme nach, während er an jenem Abend mitten in der Wüste stand. Dann hob er die Augen, und sein Blick blieb auf Regar ruhen. Da der alte Zwerg sich von Caramon nicht beobachtet fühlte, hatte er seine steinharte Strenge verloren – seine Schultern sackten ein, und er seufzte erschöpft. Seine Ähnlichkeit mit Flint war groß. Beschämt über seinen Zorn, tat Caramon, was er konnte, um es wiedergutzumachen. »Mach dir keine Sorgen. Für die Nacht haben wir ausreichend Wasser. Morgen stoßen wir sicherlich auf ein Wasserloch, nicht wahr?« fragte er und klopfte Regar unbeholfen auf den Rücken.

Der alte Zwerg sah zu Caramon hoch, verblüfft und sofort argwöhnisch; er fürchtete, die Zielscheibe eines Witzes zu sein. Aber als er Caramons erschöpftes Gesicht sah, das ihn fröhlich anlächelte, entspannte er sich. »Ja«, antwortete er mit einem widerwilligen Lächeln, »morgen bestimmt.«

Die zwei wandten sich von dem trockenen Wasserloch ab und gingen ins Lager zurück.

Die Nacht brach über die Ebene von Dergod früh herein. Nur wenige Lagerfeuer brannten; die meisten Männer waren zu müde, um welche anzuzünden, und zum Kochen gab es sowieso nicht genügend Lebensmittel. In Gruppen zusammengekauert, musterten die Hügelzwerge, die Menschen aus dem Norden und die Barbaren einander argwöhnisch. Jeder mied natürlich die Dewaren.

»Paß auf!« Regar ergriff Caramon am Arm.

Caramon blinzelte und sah gerade rechtzeitig auf, bevor er gegen einen dieser seltsamen Erdwälle stolperte, die die Ebene übersäten. »Was sind das für Bauten?« knurrte Caramon. Er betrachtete den Wall, der ungefähr einen Meter hoch und genauso breit war, und schüttelte den Kopf.

»Sie wurden von Zwergen gebaut! Kannst du das nicht sehen? Sieh dir doch mal die Ausführung an.« Regar fuhr liebevoll über die glatte Seite der Kuppel. »Seit wann leistet die Natur eine so vollkommene Arbeit?«

Caramon schnaufte. »Zwerge! Aber warum? Wofür? Nicht einmal Zwerge lieben ihre Arbeit so sehr, daß sie es nur für ihre Gesundheit tun! Warum Zeit verschwenden, um Erdwälle in einer Wüste zu bauen?«

»Beobachtungsstellen«, sagte Regar kurz angebunden.

Caramon grinste. »Und was beobachten sie? Schlangen?«

»Das Land, den Himmel, Armeen – wie unsere.« Regar stampfte mit dem Fuß auf. »Hörst du das?«

»Was hören?«

»Das.« Regar stampfte wieder. »Hohl.«

Caramons Brauen glätteten sich. »Tunnel!« Seine Augen öffneten sich weit. Als er sich jetzt in der Wüste von einem Erdwall zum nächsten umsah, die sich über das Flachland erstreckten, pfiff er leise.

»Meilenweit!« sagte Regar und nickte. »Sie wurden vor so langer Zeit gebaut, daß sie selbst für meinen Urgroßvater alt waren. In Legenden wird erzählt, daß es einmal zwischen hier und Pax Tarkas Festungen gab, die durch die Kharolisberge miteinander verbunden waren. Ein Zwerg konnte von Pax Tarkas nach Thorbadin laufen, ohne jemals die Sonne zu sehen, wenn die alten Geschichten wahr sind. Die Festungen sind jetzt verschwunden. Und auch viele der Tunnel. Durch die Umwälzung wurden viele zerstört. Dennoch«, fuhr Regar fröhlich fort, als er und Caramon ihren Weg wieder aufnahmen, »wäre ich nicht überrascht, wenn Dunkan ein paar Spione hier unten hätte, die wie Ratten herumschleichen.«

»Von oben oder von unten können sie uns schon meilenweit im voraus sehen«, brummte Caramon. Sein Blick untersuchte das flache, leere Land.

»Ja«, erwiderte Regar beherzt, »und es wird ihnen sehr nützen.«

Caramon antwortete nicht, und die zwei gingen weiter, bis der große Mann allein in sein Zelt zurückkehrte und der Zwerg zu dem Lager seines Volkes.

In einem der Erdwälle, nicht weit von Caramons Zelt entfernt, beobachteten Augen die Armee. Aber jene Augen waren nicht an der Armee selbst interessiert. Sie waren an drei Personen interessiert, lediglich drei Personen...

»Nicht mehr lange«, sagte Kharas. Er spähte durch Schlitze, die so geschickt in den Stein gemeißelt waren, daß sie jenen in den Erdwällen das Umherschauen ermöglichten, aber jeden außerhalb des Walles hinderten hineinzusehen. »Wie groß ist die Entfernung?« Er fragte einen Zwerg von uraltem, mürrischem Aussehen, der einmal gelangweilt aus den Schlitzen und dann wieder in den Tunnel sah.

»Zweihundertdreiundfünfzig Schritte. Bringt dich direkt in die Mitte«, sagte der Zwerg ohne zu zögern.

Kharas sah wieder auf die Ebene hinaus, wo das große Zelt des Generals abseits von den Lagerfeuern seiner Männer stand. Es schien Kharas wie ein Wunder, daß der alte Zwerg die Entfernung so genau berechnen konnte. Er hatte ausdrückliche Zweifel gehabt, wäre es ein anderer als Schleicher gewesen.

Aber der alte Dieb, der eigens für diese Mission seinen Ruhestand unterbrechen mußte, genoß einen zu großen Ruf für bemerkenswerte Taten – einen Ruf, der Kharas’ eigenem fast gleichkam.

»Die Sonne geht unter«, sagte Kharas. »Der General kehrt zurück. Er betritt sein Zelt.« Er runzelte die Stirn. »Beim Barte Reorx’, ich hoffe, er ändert heute abend seine Gewohnheiten nicht...«

»Wird er nicht«, sagte Schleicher. Sich in einer Ecke gemütlich zusammenkauernd, sprach er mit der ruhigen Gewißheit einer Person, die in vergangenen Zeiten ihren Lebensunterhalt verdient hatte, indem sie das Kommen und Gehen ihrer Mitmenschen beobachtet hatte. »Anfangs lernst du zwei Dinge, wenn du in Häuser einbrichst – jeder hat seine Routine, und niemand mag Veränderungen. Das Wetter ist gut, es gibt keine Unruhen, nichts außer Sand und noch mehr Sand. Nein, er wird nichts ändern.«

Kharas runzelte die Stirn, ihm gefiel nicht, an die gesetzlose Vergangenheit des Zwergs erinnert zu werden. Sich seiner eigenen Grenzen wohl bewußt, hatte Kharas Schleicher für diese Mission ausgewählt, da er jemanden benötigte, der sich schnell und lautlos bewegen konnte, der geschickt bei Angriffen in der Nacht war und in der Dunkelheit entkommen konnte.

Aber Kharas litt an Gewissensbissen. Er besänftigte seine Seele, indem er sich erinnerte, daß Schleicher vor langer Zeit für seine Taten bezahlt und sogar mehrere Dienste für seinen König erledigt hatte, die ihn zwar nicht zu einer völlig angesehenen Persönlichkeit, aber zu einem kleineren Helden gemacht hatten.

Außerdem, sagte sich Kharas, denk an die Leben, die wir retten werden. Bei diesem Gedanken stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. »Du hast recht, Schleicher. Jetzt kommt der Zauberer aus seinem Zelt und die Hexe aus ihrem.«

Mit einer Hand den Griff seines Messers ergreifend, der sicher an seinem Gürtel befestigt war, verwendete Kharas die andere Hand, um ein Kurzschwert, das auch in seinem Gürtel steckte, in eine etwas bessere Position zu bringen. Schließlich nahm er einen Beutel und zog ein Stück eingerolltes Pergament hervor; mit einem nachdenklichen, feierlichen Ausdruck in seinem bartlosen Gesicht stopfte er es in eine sichere Tasche seiner Lederrüstung. Er drehte sich zu den vier Zwergen, die hinter ihm standen, um und sagte: »Fügt der Frau oder dem General nicht mehr Schaden als notwendig zu! Aber der Zauberer muß sterben, und er muß schnell sterben, denn er ist der Gefährlichste.«

Schleicher grinste und machte es sich noch gemütlicher. Er würde nicht mitgehen. Einst hätte ihn das beleidigt, aber er hatte jetzt ein Alter erreicht, in dem es ein Kompliment war. Außerdem knirschten seine Kniegelenke alarmierend. »Laßt sie mit ihrem Abendessen beginnen. Dann«, er zog sich die Hand über die Kehle und gluckste, »zweihundertdreiundfünfzig Schritte...«

Vor dem Zelt des Generals Wache stehend, lauschte Garik dem Schweigen im Inneren. Es war beunruhigender und schien lauter widerzuhallen als der heftigste Streit.

Als er einen Blick durch den Zeltvorhang warf, sah er die drei zusammensitzen, wie sie es jeden Abend taten, still, nur gelegentlich etwas murmelnd, jeder augenscheinlich mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Der Zauberer war in seine Studien vertieft. Es kursierten Gerüchte, daß er große, mächtige Zauber plane, mit denen er die Tore von Thorbadin aufsprengen wolle.

Was jedoch die Hexe betraf, wer wußte schon, was sie dachte? Garik war zumindest dankbar, daß Caramon ein Auge auf sie hatte.

Bei den Männern gab es einige unheimliche Gerüchte über die Hexe, Gerüchte von Wundertaten, die sie in Pax Tarkas vollbracht hatte, von den Toten, die bei ihrer Berührung wieder ins Leben zurückkehrten, von Gliedmaßen, die wieder an blutigen Stümpfen wuchsen. Garik nahm diese Geschichten natürlich mit Vorsicht auf. Dennoch war in letzter Zeit etwas an ihr, das den jungen Mann sich fragen ließ, ob seine ersten Eindrücke richtig gewesen waren.

Am meisten sorgte sich Garik um seinen General. Im Laufe der vergangenen Monate hatte der junge Ritter Caramon verehren gelernt. Er hatte Caramons offensichtliche Niedergeschlagenheit bemerkt, von der der große Mann dachte, daß er sie ganz gut verbarg.

»Es sind diese verdammten Dunkelzwerge«, murmelte Garik und stampfte gegen die Kälte mit den Füßen auf. »Ich traue ihnen nicht, das steht fest. Ich würde sie fortjagen, und ich wette, der General würde das auch, wenn nicht sein Bru...« Er stockte, hielt den Atem an, lauschte. Nichts. Aber er hätte schwören können...

Mit der Hand am Schwertgriff starrte der junge Ritter in die Wüste hinaus. Obgleich sie tagsüber heiß war, verwandelte sie sich in der Nacht zu einem kalten und widerwärtigen Ort. In der Ferne sah er die Lagerfeuer. Hier und dort konnte er die Schatten von vorbeigehenden Männern sehen.

Dann hörte er es wieder. Ein Geräusch in seinem Rücken. Das Geräusch schwerer, eisenbesohlter Stiefel...


»Was war das?« fragte Caramon und hob den Kopf.

»Der Wind«, murmelte Crysania, sah zu einer Zeltwand und erbebte. Sie beobachtete, wie das Gewebe sich wellte und atmete wie ein lebendiges Ding. »An diesem entsetzlichen Ort weht er unablässig.«

Caramon hatte sich halb erhoben, seine Hand lag auf seinem Schwertknauf. »Es war nicht der Wind.«

Raistlin sah kurz zu seinem Bruder auf. »Setz dich!« fauchte er verärgert, »und beende dein Essen, damit wir das hier hinter uns bringen können. Ich muß zu meinen Studien zurück.«

Der Erzmagier beschäftigte sich in Gedanken mit einem besonders schwierigen Zauberspruch; seit Tagen mühte er sich damit ab. Er schob seinen nicht angerührten Teller beiseite und wollte gerade aufstehen, als die Welt buchstäblich unter seinen Füßen nachgab. Er starrte verblüfft hinab und sah ein riesiges Loch, das vor ihm gähnte. Eine der Pfahlstangen, die das Zelt hielten, stürzte in das Loch hinein. Eine Laterne baumelte heftig, Schatten hüpften wie Dämonen umher.

Instinktiv bekam Raistlin den Tisch zu fassen und schaffte es, nicht in das schnell größer werdende Loch zu fallen. Aber während er das tat, sah er Gestalten aus dem Loch heraufklettern, untersetzte, bärtige Gestalten. Einen Augenblick blitzte das wild tanzende Licht gegen Stahlklingen, glänzte in dunkle, grimmige Augen. Dann wurden die Gestalten in Schatten getaucht.

»Caramon!« schrie Raistlin, aber aus den Geräuschen hinter sich, einem bösartigen Fluch und dem Rasseln eines Stahlschwertes, das aus seiner Scheide glitt, konnte er entnehmen, daß sich Caramon der Gefahr bewußt war.

Raistlin hörte eine kräftige weibliche Stimme den Namen von Paladin ausrufen und erblickte ein reines, weißes Licht, aber er hatte keine Zeit, sich um Crysania zu sorgen. Ein riesiger Zwergenhammer, der von der Dunkelheit selbst geschwungen zu werden schien, blitzte im Laternenlicht auf und zielte auf seinen Kopf.

Raistlin sagte den ersten Zauber auf, der ihm einfiel, und beobachtete mit Zufriedenheit, wie eine unsichtbare Kraft den Hammer aus der Zwergenhand riß. Auf seinen Befehl trug die magische Kraft den Hammer durch die Dunkelheit, um ihn in einer Zeltecke fallen zu lassen.

Durch den unerwarteten Angriff anfangs betäubt, war Raistlins Geist jetzt aktiv. Als der erste Schock sich legte, betrachtete der Magier ihn lediglich als weitere ärgerliche Unterbrechung seiner Studien. Mit dem Vorsatz, die Störung schnell zu beenden, wandte er seine Aufmerksamkeit seinem Feind zu, der vor ihm stand und ihn mit Augen musterte, die ohne Angst waren.

Selbst keine Angst empfindend, gelassen in dem Wissen, daß ihn nichts töten konnte, da er von der Zeit beschützt wurde, rief Raistlin seine Magie gemächlich auf.

Er spürte mit sinnlichem Vergnügen, wie sie sich in seinem Körper wand und sich sammelte, spürte, wie die Ekstase ihn durchflutete. Dies würde eine angenehme Ablenkung von seinen Studien sein, dachte er. Eine interessante Übung... Er breitete die Hände aus und begann die Worte auszusprechen, die blaue Blitze durch den Körper des Feindes senden würden. Da wurde er unterbrochen.

Mit der Unmittelbarkeit eines Donnerschlages tauchten vor ihm zwei Gestalten auf, sprangen aus der Dunkelheit vor ihm auf, als ob sie von einem Stern gefallen wären.

Vor die Füße des Magiers stolpernd, starrte eine Gestalt in wilder Aufregung zu ihm hoch. »O schau mal! Es ist Raistlin! Wir haben es geschafft, Gnimsch! Wir haben es geschafft! Hallo, Raistlin! Ich wette, du bist überrascht, mich zu sehen! Und ich kann dir die wundervollste Geschichte erzählen! Weißt du, ich war tot. Nun, ich war es nicht richtig, aber...«

»Tolpan!« keuchte Raistlin. Gedanken zischten durch sein Gehirn, so wie die Blitze, die eigentlich aus seinen Fingerspitzen zischen sollten.

Der erste – ein Kender! Zeit könnte verändert werden!

Der zweite – Zeit kann verändert werden...

Der dritte – ich kann sterben!

Der Schock dieser Gedanken schoß durch Raistlins Körper, brannte die Nüchternheit und Gelassenheit fort, die für den Magier zum Werfen seiner Zauber so notwendig sind.

Als die unvorhergesehene Lösung seines Problems und die beängstigende Erkenntnis, was es ihn kosten könnte, sein Gehirn durchströmten, verlor Raistlin die Beherrschung. Die Worte des Zaubers entglitten seinem Gedächtnis. Aber sein Feind kam immer näher.

Raistlin suchte nach dem kleinen, silbernen Dolch, den er bei sich trug.

Aber es war zu spät...

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