3

Bertrem ging leise durch die Korridore der Großen Bibliothek von Palanthas. Er hatte das Frühlingsfest von den Fenstern der Großen Bibliothek aus beobachtet, und jetzt, da er zu seiner Arbeit zwischen den Tausenden von Büchern und Schriftrollen zurückkehrte, die in der Bibliothek verwahrt wurden, verweilte die Melodie eines Liedes noch in seinem Kopf.

»Ta-tum, ta-tum«, sang Bertrem leise, um kein Echo in den riesigen Korridoren der Großen Bibliothek hervorzurufen.

Da die Bibliothek bereits für die Nacht geschlossen und verriegelt war, war Bertrems Gesang das einzige Geräusch, das ein Echo hervorrufen konnte. Die meisten anderen Ästheten – Mitglieder des Ordens, deren Leben dem Studium und der Erhaltung der Großen Bibliothek gewidmet war – schliefen bereits oder waren in ihre eigenen Arbeiten vertieft.

»Ta-tum, ta-tum. Die Augen meiner Geliebten sind die Augen einer Hirschkuh. Ta-tum, ta-tum. Und ich bin der Jäger, der sich heranschleicht...« Bertrem gab sich sogar einem improvisierten Tanzschritt hin.

»Ta-tum, ta-tum. Ich hebe meinen Bogen und ziehe meinen Pfeil...« Bertrem hüpfte um eine Ecke. »Ich schieße den Pfeil ab. Er fliegt in das Herz meiner Geliebten und... Nanu! Wer bist denn du?«

Bertrems Herz sprang in seine Kehle, als er plötzlich einer hochgewachsenen Gestalt mit schwarzen Roben und schwarzer Kapuze mitten in der schwachbeleuchteten Marmorhalle gegenüberstand.

Die Gestalt antwortete nicht. Sie stand einfach da und starrte ihn schweigend an.

Bertrem raffte seinen Verstand und seinen Mut zusammen und funkelte den Eindringling an. »Was hast du hier zu suchen? Die Bibliothek ist geschlossen! Ja, selbst für die Schwarzen Roben.« Er runzelte die Stirn und winkte mit einer dicken Hand. »Verschwinde. Komm morgen wieder und nimm die Vordertür, so wie jeder andere auch.«

»Aber ich bin nicht jeder andere«, entgegnete die Gestalt. Bertrem zuckte zusammen; die Gestalt hatte zwar solamnisch geredet, aber er hatte einen elfischen Akzent herausgehört. »Und was Türen betrifft, sind sie für jene bestimmt, die nicht die Macht haben, durch Mauern zu gehen. Ich habe diese Macht, so wie ich auch die Macht zu anderen Dingen habe, von denen viele nicht so angenehm sind.«

Bertrem erschauerte. Diese glatte, kühle Elfenstimme sprach keine müßigen Drohungen aus. »Du bist ein Dunkelelf«, entgegnete Bertrem anschuldigend; sein Gehirn überschlug sich mit der Frage, was er tun sollte. Sollte er Alarm schlagen? Nach Hilfe schreien?

»Ja.« Die Gestalt entfernte ihre schwarze Kapuze, so daß das magische Licht, das in den von der Decke herabhängenden Kugeln gefangengehalten wurde – ein Geschenk der Zauberkundigen an Astinus während des Zeitalters der Träume —, auf sein Elfengesicht fiel. »Mein Name ist Dalamar. Ich diene...«

»Raistlin Majere!« keuchte Bertrem. Er sah sich unbehaglich um, in der Erwartung, daß der Erzmagier ihn unverzüglich anspringen werde.

Dalamar lächelte.

Aber in dem Lächeln lag eine kalte, zielstrebige Entschlossenheit, die Bertrem erschauern ließ. »Was... was willst du?« stammelte er.

»Du meinst, was mein Herr will«, berichtigte Dalamar. »Hab keine Angst. Ich suche hier lediglich Wissen, sonst nichts. Wenn du mir hilfst, werde ich genauso schnell und lautlos verschwinden, wie ich gekommen bin.«

Wenn ich ihm nicht helfe... Bertrem zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. »Ich will tun, was in meiner Macht steht, Magus«, stotterte er, »aber du solltest wirklich mit...«

»... mir reden«, ertönte eine Stimme aus dem Schatten.

Bertrem fiel vor Erleichterung fast in Ohnmacht.

»Astinus!« stotterte er und zeigte auf Dalamar, »dies... er... ich habe ihn nicht hereingelassen... erschien... Raistlin Majere...«

»Ja, Bertrem«, sagte Astinus besänftigend. Er trat vor. »Ich weiß alles, was sich ereignet hat.« Dalamar hatte sich nicht bewegt, nicht einmal zu verstehen gegeben, daß er sich der Gegenwart Astinus’ bewußt war. »Kehre zu deinen Studien zurück, Bertrem«, fuhr Astinus fort; seine tiefe Baritonstimme dröhnte durch die stummen Korridore. »Ich werde mich um diese Angelegenheit kümmern.«

»Ja, Meister!« Bertrem wich dankbar in den Korridor zurück; seine Roben flatterten um ihn, sein Blick war auf den Dunkelelf gerichtet, der sich weder gerührt noch gesprochen hatte.

Der Vorstand der Großen Bibliothek von Palanthas lächelte, aber es war ein inneres Lächeln. In den Augen des Dunkelelfs, der ihn beobachtete, spiegelte das gelassene Gesicht genauso wenig Gefühle wie die sie umgebenden Marmorwände wider.

»Folge mir, junger Magier«, sagte Astinus, wandte sich um und ging mit schnellen Schritten den Korridor entlang.

Völlig überrascht zögerte Dalamar, dann eilte er hinterher. »Woher weißt du, was ich suche?« verlangte er zu wissen.

»Ich bin Geschichtsschreiber«, erwiderte Astinus gleichmütig. »Selbst während wir sprechen und gehen, bin ich mir der Ereignisse, die um uns geschehen, bewußt. Ich höre jedes gesprochene Wort, ich sehe jede verübte Tat, gleichgültig, wie banal, wie gut oder wie schlecht sie ist. So habe ich die ganze Geschichte beobachtet. Da ich der erste war, werde ich auch der letzte sein. Hier entlang.« Er machte eine scharfe Wendung nach links. Dabei hob er eine glühende Lichtkugel aus ihrem Ständer und nahm sie mit.

Im Licht konnte Dalamar jetzt lange Reihen von Büchern in Holzregalen sehen. An den Ledereinbänden konnte er erkennen, daß sie alt waren. Aber sie befanden sich in einem hervorragenden Zustand. Die Ästheten staubten sie ständig ab; wenn notwendig, banden sie besonders verschlissene Bücher neu ein.

»Hier steht das, was du suchst«, sagte Astinus, »die Zwergentorkriege.«

Dalamar machte große Augen. »Alle diese?« Er blickte auf die scheinbar endlose Bücherreihe; ein Gefühl der Verzweiflung überkam ihn.

»Ja«, erwiderte Astinus kalt, »und auch die nächste Bücherreihe.«

»Ich... ich...« Dalamar war völlig verlegen. Sicherlich hatte Raistlin die Ungeheuerlichkeit dieser Aufgabe nicht bedacht. Sicherlich erwartete er nicht von ihm, daß er den Inhalt von Hunderten von Bänden innerhalb kurzer Frist verschlang. Dalamar hatte sich niemals zuvor dermaßen hilflos gefühlt. Er lief tiefrot an, als er Astinus’ eisige Augen auf sich spürte.

»Vielleicht kann ich helfen«, bot der Historiker sanft an. Ohne den Buchrücken zu lesen, griff Astinus nach oben und holte einen Band aus dem Regal. Er öffnete ihn, überflog schnell die dünnen, brüchigen Seiten; seine Augen suchten eine Zeile nach der anderen der sauberen, sorgfältig und mit schwarzer Tinte geschriebenen Buchstaben ab.

»Ah, hier ist es.« Astinus zog ein elfenbeinernes Lesezeichen aus einer Tasche seiner Roben hervor und legte es zwischen zwei Buchseiten, dann schloß er sorgfältig das Buch und überreichte es Dalamar. »Entnimm diesem Buch die Information, nach der er sucht. Und richte ihm folgendes aus: ›Der Wind bläst. Die Fußstapfen im Sand werden ausgelöscht sein, aber erst, nachdem er sie beschriftet hat.‹« Er verbeugte sich würdevoll vor dem Dunkelelf, dann ging er an ihm vorbei auf den Korridor zu. Als er dort stand, hielt er an und drehte sich zu Dalamar um, der dastand, das Buch umklammernd, das Astinus in seine Hände gelegt hatte.

»Oh, junger Magier, du brauchst nicht zurückzukommen. Das Buch wird aus eigenem Antrieb seinen Weg zurückfinden, wenn du fertig bist. Ich kann nicht zulassen, daß du die Ästheten erschreckst. Der arme Bertrem hat sich bestimmt ins Bett gelegt. Richte deinem Meister meine Grüße aus.« Astinus verbeugte sich wieder und verschwand im Schatten.

Dalamar blieb stehen, grübelte, hörte den langsamen, festen Schritt des Historikers im Korridor verklingen. Schulterzuckend sprach der Dunkelelf ein Wort der Magie und kehrte zum Turm der Erzmagier zurück.

»Astinus hat mir seinen eigenen Kommentar über die Zwergentorkriege mitgegeben, Meister. Er bezieht sich auf die uralten Texte, die er schrieb...«

»Astinus wußte, was ich brauche. Fahr fort.«

»Ja, Meister. Hier beginnt der markierte Abschnitt. ›Und der große Erzmagier Fistandantilus benutzte die Kugel der Drachen, um seinem Lehrling in der Gegenwart den Auftrag zu erteilen, die Große Bibliothek in Palanthas aufzusuchen und in den Geschichtsbüchern zu lesen, um herauszufinden, ob sich das Ergebnis seiner großen Unternehmung als erfolgreich erweisen würde.‹« Dalamars Stimme erstarb, als er diese erstaunliche Erklärung noch einmal las.

»Fahr fort!« ertönte die Stimme seines Meisters, und obwohl sie eher in seinem Geist als in seinen Ohren erscholl, entging Dalamar nicht der Ton bitteren Zornes. Eilig riß er seinen Blick von dem Absatz, der vor Hunderten von Jahren geschrieben wurde, aber genau die Mission wiedergab, die er gerade unternommen hatte, und las weiter.

»›An dieser Stelle ist es wichtig, Folgendes zu beachten: In den Chroniken, so wie sie an diesem Punkt in der Zeit existierten, wird darauf hingewiesen...‹ Diese Stelle ist unterstrichen, Meister«, unterbrach sich Dalamar.

»Welche Stelle?«

»›An diesem Punkt in der Zeit‹ ist unterstrichen.«

Raistlin gab keine Antwort, und Dalamar, der einen Augenblick den Faden verloren hatte, fand ihn wieder und hastete weiter. »›Hier wird darauf hingewiesen, daß das Unternehmen erfolgreich gewesen sein könnte. Fistandantilus und der Kleriker Denubis hätten in der Lage sein sollen, gemäß allen Anzeichen, die der große Erzmagier sah, das Portal sicher zu durchschreiten. Was in der Hölle passiert wäre, ist natürlich nicht bekannt, da sich die historischen Ereignisse anders abspielten. In der festen Überzeugung, daß sein Ziel, das Portal zu durchschreiten und die Königin der Finsternis herauszufordern, in seiner Reichweite stand, betrieb Fistandantilus die Zwergentorkriege mit erneuter Energie. Pax Tarkas wurde von den Armeen der Hügelzwerge und der Menschen der Ebenen erobert. (Siehe Chroniken, Bank 126, Buch 6, Seiten 589700.) Angeführt von Fistandantilus’ großem General Pheragas, einem ehemaligen Sklaven aus dem nördlichen Ergod, den der Zauberer gekauft hatte und als Gladiator bei den Spielen von Istar ausbilden ließ, trieb die Armee des Fistandantilus die Streitkräfte von König Dunkan zurück und zwang die Zwerge, sich in der Gebirgsfestung von Thorbadin zu sammeln.

Fistandantilus interessierte dieser Krieg nur wenig. Er diente ihm lediglich zur Förderung seiner eigenen Ziele. Er fand das Portal unter der Gebirgsfestung Zaman, richtete dort sein Hauptquartier ein und begann seine endgültigen Vorbereitungen zur Erlangung der Macht.

Was an diesem Punkt geschah, liegt jenseits meines Wissens, da die hier waltenden magischen Kräfte so mächtig waren, daß sie meine Vision verdunkelten.

General Pheragas wurde im Kampf gegen die Dewaren, die Dunkelzwerge von Thorbadin, getötet. Nach seinem Tod zerfiel die Armee des Fistandantilus. Die Bergzwerge zogen aus Thorbadin in Richtung der Festung Zaman.

In dem Wissen, daß die Schlacht verloren war und ihnen nur noch wenig Zeit verblieb, eilten Fistandantilus und Denubis während des Kampfes zum Portal. Hier begann der große Zauberer seinen Zauber zu werfen.

Im gleichen Augenblick aktivierte ein Gnom, der von den Zwergen von Thorbadin gefangengehalten wurde, ein Zeitreisegerät, das er in der Absicht, seinem Gefängnis zu entkommen, gebaut hatte. Entgegen jedem aufgezeichneten Beispiel in der Geschichte Krynns funktionierte dieses Gnomengerät tatsächlich.

Von diesem Punkt an kann ich lediglich spekulieren, aber es scheint wahrscheinlich, daß das Gerät des Gnoms irgendwie auf die feinen und mächtigen Zaubersprüche, die von Fistandantilus gesprochen wurden, einwirkte. Das Ergebnis ist uns allen nur zu gut bekannt.

Eine Explosion solchen Ausmaßes erfolgte, daß die Ebene von Dergod völlig zerstört wurde. Beide Armeen wurden fast vollständig ausgelöscht. Die hoch emporragende Gebirgsfestung Zaman zerbrach, fiel in sich zusammen und schuf einen Hügel, der in der Zwischenzeit den Namen Schädeldach erhalten hat.

Der unglückliche Denubis kam bei der Explosion ums Leben. Fistandantilus wäre auch gestorben, wenn seine Magie nicht so gewaltig gewesen wäre, daß sie es ihm ermöglichte, sich an ein Stück Leben zu klammern, obgleich sein Geist gezwungen war, auf einer anderen Ebene zu existieren, bis er den Körper eines jungen Zauberkundigen namens Raistlin Majere fand...‹«

»Es reicht!«

»Ja, Meister«, murmelte Dalamar.

Und dann war Raistlins Stimme verschwunden.

Dalamar, der im Arbeitszimmer saß, wußte, daß er allein war. Über das Gelesene äußerst erstaunt, fing er heftig zu beben an. Er blieb auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch – Raistlins Schreibtisch – sitzen und versuchte gedankenverloren, den Sinn des Ganzen zu ergründen, bis sich die Schatten der Nacht zurückzogen und die graue Dämmerung den Himmel erhellte.

Ein Prickeln der Erregung ließ Raistlins mageren Körper erbeben. Seine Gedanken waren verwirrt, und er würde eine lange Zeit des Nachdenkens brauchen, um absolute Sicherheit über das zu erlangen, was er gerade herausgefunden hatte. Ein Satz glänzte mit schwindelerregender Helligkeit in seinem Kopf: Das Unternehmen hätte erfolgreich sein können!

Raistlin saugte die Luft mit einem Keuchen ein; er erkannte, daß er bis dahin seinen Atem angehalten hatte. Seine Hände auf der kalten Oberfläche der Kugel der Drachen zitterten. Ein Frohlocken wallte durch ihn. Er lachte sein seltsames Lachen, denn die Fußstapfen, die er in seinem Traum sah, führten nicht mehr zu einem Schafott, sondern zu einer Platintür, die mit den Symbolen des Fünfköpfigen Drachen verziert war. Auf seinem Befehl würde sie sich öffnen. Er mußte lediglich diesen Gnom finden und töten...

Raistlin spürte ein heftiges Ziehen an seinen Händen. »Hör auf!« befahl er und verfluchte sich, die Beherrschung verloren zu haben.

Aber die Kugel gehorchte seinem Befehl nicht. Zu spät erkannte Raistlin, daß er ins Innere gezogen wurde...

Er bemerkte, daß sich die Hände verändert hatten, als sie ihn näher und näher zogen. Vorher waren sie nicht zu unterscheiden gewesen – weder menschlich noch elfisch, jung oder alt. Aber jetzt waren es Hände mit einer weiblichen, weichen, geschmeidigen, glatten weißen Haut, und sie hatten den Griff des Todes.

Schwitzend, die heiße Welle der Panik bekämpfend, die ihn zu zerstören drohte, nahm Raistlin seine ganze Kraft zusammen, sowohl körperlich als auch geistig, und rang mit der Willenskraft, die sich hinter den Händen befand.

Immer näher und näher zogen sie ihn. Er konnte jetzt das Gesicht sehen – das Gesicht einer Frau, wunderschön, mit dunklen Augen, sie sprach Worte der Verführung, auf die sein Körper mit Leidenschaft reagierte.

Näher und näher...

Verzweifelt rang Raistlin, den Griff zu brechen. Tief tauchte er in seine Seele – aber wonach er suchte, wußte er kaum. Irgendwo existierte ein Teil von ihm, der ihn retten würde...

Das Bild einer wunderschönen, weißgekleideten Klerikerin mit dem Medaillon von Paladin erschien. Sie glänzte in der Dunkelheit, und kurz lockerte sich der Griff der Hände. Raistlin hörte das anzügliche Lachen einer Frau. Das Bild zerbrach.

»Mein Bruder!« rief Raistlin, und ein Bild von Caramon trat in den Vordergrund. In eine goldene Rüstung gehüllt, sein Schwert in seinen Händen aufblitzend, stand er vor seinem Zwillingsbruder und beschützte ihn. Aber der Krieger hatte noch keinen Schritt nach vorne getan, als er niedergeschlagen wurde – von hinten.

Raistlins Kopf fiel nach vorne, Kraft und Bewußtsein verließen ihn. Und dann erschien eine einsame Gestalt. Sie war nicht in Weiß gekleidet, sie trug kein glänzendes Schwert. Sie war klein und schmuddelig, und ihr Gesicht war tränenverschmiert. In ihrer Hand hielt sie eine tote Ratte.


Caramon erreichte das Lager gerade bei den ersten Strahlen der Morgensonne. Er war die ganze Nacht durchgeritten und jetzt steif, müde und unglaublich hungrig.

Gedanken an sein Frühstück und sein Bett hatten ihn in der vergangenen Stunde getröstet, und sein Gesicht brach in ein Lächeln aus, als das Lager in Sichtweite kam. Er wollte gerade seinem erschöpften Pferd die Sporen geben, als er genauer auf das Lager sah. Er zügelte sein Pferd und brachte seine Eskorte mit erhobener Hand zum Anhalten. »Was ist dort los?« fragte er beunruhigt.

Garik, der zu ihm ritt, schüttelte verwundert den Kopf.

Rauchschwaden hätten von den morgendlichen Herdfeuern aufsteigen und das verstimmte Prusten von Männern hätte ertönen sollen, die aus tiefem Schlaf geweckt wurden. Aber keine Feuer waren angezündet, Leute liefen in offensichtlicher Ziellosigkeit umher oder standen in Gruppen zusammen, die sich in heller Aufregung befanden.

Jemand erblickte Caramon und stieß einen Schrei aus. Die Menge strömte voran. Sofort rief Garik seine Männer zu sich, und innerhalb von Sekunden waren sie herangaloppiert und bildeten einen Schutzschild aus gepanzerten Körpern um ihren General.

Zum ersten Mal erlebte Caramon diesen Beweis von Treue und Zuneigung seiner Männer, und einen Augenblick konnte er vor Überwältigung nicht sprechen. Dann befahl er ihnen, beiseite zu gehen. »Es ist keine Rebellion«, knurrte er und ritt weiter, als seine Männer sich widerstrebend teilten, um ihn passieren zu lassen. »Schaut! Niemand ist bewaffnet. Die Hälfte von ihnen sind Frauen und Kinder.«

Inzwischen hatte die Menge Caramon erreicht. Hände ergriffen sein Zaumzeug, erschreckten sein Pferd, das seine Ohren bedrohlich gespitzt hatte, bereit, mit seinen Hufen auszuschlagen.

»Tretet zurück!« brüllte Caramon; er konnte das Tier kaum in Schach halten. »Tretet zurück! Seid ihr verrückt geworden? Ihr seht genauso aus, was ihr auch seid – ein Haufen Bauern! Ich sagte, tretet zurück! Was soll das hier bedeuten? Wo sind meine Offiziere?«

»Hier, Herr«, ertönte die Stimme eines der Hauptleute. Rotgesichtig, verlegen und wütend, schob sich der Mann durch die Menge. Gekränkt über die Rüge ihres Befehlshabers, beruhigten sich die Männer, und das Geschrei erstarb zu einem vereinzelten Gemurmel, als eine Gruppe von Wachen, die dem Hauptmann folgte, den Mob aufzulösen begann.

»Ich bitte um Entschuldigung für diese Situation, Herr«, begann der Hauptmann, als Caramon vom Pferd stieg und besänftigend den Hals des Tieres tätschelte. Bei Caramons Berührung wurde es ruhig, obgleich seine Augen immer noch rollten und seine Ohren zuckten.

Der Hauptmann war ein älterer Mann, kein Ritter, sondern ein Söldner mit dreißigjähriger Erfahrung. Sein Gesicht war mit Narben übersät, ein Teil seiner linken Hand war ihm bei einem Schwertstreich abhanden gekommen, und er hinkte deutlich. An diesem Morgen war sein vernarbtes Gesicht vor Scham errötet, als er dem strengen Blick seines jungen Generals ausgeliefert war.

»Die Kundschafter haben über euer Kommen berichtet, Herr, aber bevor ich dich erreichen konnte, fiel dieses Rudel wilder Hunde« – er funkelte die zurückweichenden Männer an – »über dich her wie eine räudige Hündin. Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte er wieder. »Ich habe keine Respektlosigkeit beabsichtigt.«

»Was ist geschehen?« fragte Caramon und führte sein erschöpftes Pferd zu Fuß in das Lager.

Der Hauptmann antwortete nicht sofort, sondern warf Caramons Eskorte einen bedeutsamen Blick zu.

Caramon verstand. »Geht voraus, Männer«, sagte er. »Garik, kümmere dich um mein Quartier.«

Als er und der Hauptmann allein waren, wandte sich Caramon dem Mann mit fragendem Blick zu.

Der alte Söldner sagte nur zwei Worte: »Der Zauberer.«

Als Caramon Raistlins Zelt erreichte, erblickte er den Kreis bewaffneter Wachen, die Neugierige zurückhielten. Beim Anblick Caramons wurden hörbare Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, viele Bemerkungen fielen: »Der General ist jetzt da. Er wird sich um die Angelegenheit kümmern.«

Von einigen Flüchen des Hauptmanns aufgefordert, trat die Menge zurück, um einen Weg für Caramon freizumachen. Die bewaffneten Wachen traten zur Seite, als er vorbeiging, dann schlossen sie schnell wieder die Reihen. Schiebend und drängend spähte die Menge über die Schultern der Wachen, um etwas erkennen zu können. Da ihm der Hauptmann nicht schildern wollte, was sich ereignet hatte, wäre Caramon überhaupt nicht überrascht gewesen, einen Drachen auf dem Zelt seines Bruders sitzen oder auch das ganze Ding von grünen und purpurroten Flammen umzingelt zu sehen.

Statt dessen sah er einen jungen Mann Wache stehen und Crysania, die vor dem verschlossenen Zelt hin und her schritt. Caramon starrte den jungen Mann neugierig an; er glaubte ihn wiederzuerkennen. »Gariks Vetter«, sagte er zögernd und versuchte sich an den Namen zu erinnern. »Michael, nicht wahr?«

»Ja, General«, antwortete der junge Ritter. Er richtete sich auf und versuchte zu grüßen. Aber es war ein kläglicher Versuch. Das Gesicht des jungen Mannes war blaß und verhärmt, seine Augen rotgerändert. Er war kurz davor, vor Erschöpfung umzufallen, aber er hielt seinen Speer vor sich, blockierte grimmig den Weg zum Zelt.

Als Crysania Caramons Stimme hörte, sah sie auf. »Paladin sei Dank!« rief sie leidenschaftlich.

Ein Blick auf ihr blasses Gesicht genügte, um Caramon erzittern zu lassen.

»Vertreibt sie von hier!« befahl er dem Hauptmann, der sofort seinen Männern entsprechende Anweisungen gab. Mit Murren löste sich die Menge auf; die meisten glaubten, daß das Aufregendste sowieso schon vorbei wäre.

»Caramon, hör mir zu!« Crysania legte ihre Hand auf seinen Arm. »Das...«

Aber Caramon schüttelte sie ab. Ihre Erklärungsversuche ignorierend, wollte er sich an Michael vorbeischieben. Der junge Ritter hob seinen Speer und versperrte ihm den Weg.

»Geh mir aus dem Weg!« befahl Caramon verblüfft.

»Es tut mir leid, Herr«, erklärte Michael mit fester Stimme, obgleich seine Lippen bebten, »aber Fistandantilus hat mir aufgetragen, daß niemand vorbeigehen darf.«

»Versteh mich«, sagte Crysania aufgebracht, als Caramon einen Schritt zurücktrat und Michael in sprachlosem Zorn anstarrte. »Ich habe versucht, dir das zu sagen, wenn du nur zuhören würdest! Das geht jetzt schon die ganze Nacht so, und ich weiß, daß im Zelt etwas Schreckliches passiert! Aber Raistlin ließ ihn einen Schwur leisten... O Caramon, ich hatte solche Angst!« murmelte sie. »Es war furchtbar. Ich bin aus tiefem Schlaf wach geworden, als ich Raistlin meinen Namen schreien hörte. Ich lief hierher... In dem Zelt blitzten Lichter auf. Er kreischte unzusammenhängende Worte, dann rief er deinen Namen... und dann begann er verzweifelt zu stöhnen. Ich wollte hineingehen, aber...« Sie machte eine schwache Handbewegung zu Michael, der jedoch geradeaus starrte. »Und dann begann seine Stimme zu... zu verblassen! Es war schrecklich, als ob sie irgendwie weggesaugt werden würde!«

»Und was geschah dann?«

Crysania hielt inne. Dann erzählte sie zögernd weiter. »Er... er sagte etwas anderes. Ich konnte es kaum verstehen. Es wurde auf einmal dunkel. Dann hörte man einen durchdringenden Krach, und... und alles war ganz still, entsetzlich still!«

»Was hat er gesagt? Konntest du es verstehen?«

»Das ist eben das Seltsame.« Crysania hob den Kopf und sah ihn verwirrt an. »Es klang wie... Bupu.«

»Bupu?« wiederholte Caramon erstaunt. »Bist du dir sicher?«

Sie nickte.

»Warum sollte er den Namen einer Gossenzwergin rufen?« wollte Caramon wissen.

»Ich habe keine Ahnung.« Crysania seufzte erschöpft und strich ihr Haar zurück. »Ich habe mich das Gleiche gefragt. Aber... war das nicht die Gossenzwergin, die Par-Salian erzählt hat, wie nett und freundlich Raistlin zu ihr gewesen ist?«

Caramon schüttelte den Kopf. Er würde sich später Gedanken über Gossenzwerge machen. Seine unmittelbare Sorge galt Michael. Lebhafte Erinnerungen an Sturm kamen ihm in den Sinn. Wie viele Male hatte er diesen Blick im Gesicht des Ritters gesehen?

Verdammter Raistlin!

Michael würde jetzt bis zum Umfallen an seinem Posten stehen und sich dann umbringen, wenn er aufwachte und erkannte, daß er versagt hatte. Es mußte einen Weg geben, dies zu umgehen. Caramon sah zu Crysania. Sie konnte ihre klerikalen Kräfte einsetzen, um den jungen Mann zu verzaubern...

Caramon schüttelte den Kopf. Dann wäre das ganze Lager schnell bei der Hand, sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen! Verdammter Raistlin! Verdammte Kleriker! Verdammte Ritter von Solamnia!

Er stieß einen Seufzer aus und ging zu Michael. Der junge Mann hielt ihm drohend seinen Speer entgegen, aber Caramon streckte lediglich seine Hände hoch, um zu zeigen, daß sie leer waren.

Er räusperte sich, wußte zwar, was er sagen wollte, aber nicht ganz, wie er anfangen sollte. Und als er dann an Sturm dachte, sah er plötzlich wieder das Gesicht des Ritters, so klar und deutlich, daß es ihn verblüffte. Aber es war nicht das Gesicht, wie er es in seinem Leben gehabt hatte – streng, ehrenhaft, kalt. Und dann wußte Caramon es – er sah Sturms Gesicht im Tod! Zeichen schrecklichen Leidens und Schmerzes hatten die rauhen Linien des Stolzes und der Unbeweglichkeit geglättet. In den dunklen, gehetzten Augen lagen Mitgefühl und Verständnis, und – so schien es Caramon – der Ritter lächelte ihn traurig an.

Einen Augenblick war Caramon über diese Vision dermaßen verwirrt, daß es ihm die Sprache verschlug und er nur noch große Augen machen konnte. Aber das Bild verschwand, ließ an seiner Stelle das Gesicht des jungen Ritters zurück, grimmig, verängstigt, erschöpft – entschlossen...

»Michael«, sagte Caramon mit immer noch erhobenen Händen, »ich hatte einst einen Freund, einen Ritter von Solamnia. Er... er ist jetzt tot. Er starb in einem Krieg, weit von hier entfernt, als... Aber das spielt jetzt keine Rolle. Stur... mein Freund war genauso wie du. Er glaubte an die Ehre. Er war bereit, sein Leben dafür zu geben. Aber am Ende fand er heraus, daß es noch etwas Wichtigeres gibt.«

Michaels Gesicht verhärtete sich dickköpfig. Er umklammerte seinen Speer noch fester.

»Das Leben«, sagte Caramon leise.

Er sah ein Flackern in den rotgeränderten Augen des Ritters, ein Flackern, das von einem Tränenschimmer überflutet wurde. Wütend blinzelte Michael die Tränen weg, der Ausdruck fester Entschlossenheit kehrte zurück, obgleich Caramon den Eindruck hatte, daß er nun mit einem Ausdruck der Verzweiflung vermischt war.

Caramon trieb seine Worte in sein Herz, als ob sie die Spitze eines Schwertes wären, das das Herz des Feindes sucht. »Das Leben, Michael. Das ist alles, was da ist. Das ist alles, was wir haben.« Langsam, immer noch mit erhobenen Händen tat er einen Schritt auf den jungen Mann zu. »Ich bitte dich nicht, deinen Posten zu verlassen. Wir beide wissen, daß du ihn nicht aus Feigheit verläßt.« Caramon schüttelte den Kopf. »Die Götter wissen, was du in dieser Nacht gesehen und gehört hast. Ich bitte dich, deinen Posten aus Mitgefühl zu verlassen. Mein Bruder ist im Zelt, vielleicht liegt er im Sterben, vielleicht ist er schon tot. Als er dich den Eid schwören ließ, hatte er das nicht voraussehen können. Ich muß zu ihm gehen. Laß mich vorbei, Michael. Daran ist nichts Unehrenhaftes.«

Michael stand steif da, seine Augen geradeaus gerichtet. Und dann fiel sein Gesicht zusammen. Seine Schultern sackten ein, und der Speer fiel aus seiner kraftlosen Hand. Caramon fing den jungen Mann in seinen Armen auf und hielt ihn fest. Ein Schluchzen ging durch den Körper des jungen Mannes.

Caramon klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. »He, einer von euch«, er sah sich um, »soll Garik suchen... Ah, da bist du ja«, sagte er erleichtert, als er den jungen Ritter herbeikommen sah. »Bring deinen Vetter zum Feuer. Gib ihm etwas Warmes zu essen und kümmere dich darum, daß er schläft. Du«, er zeigte auf einen anderen Wächter, »übernimmst seinen Posten.«

Als Garik seinen Vetter fortführte, wollte Crysania das Zelt betreten, aber Caramon hielt sie zurück. »Ich gehe zuerst«, sagte er. Einen Einwand erwartend, war er überrascht, daß sie unterwürfig zur Seite trat. Caramons Hand lag an dem Zeltvorhang, als er ihre Hand auf seinem Arm spürte. Verblüfft drehte er sich um.

»Du bist genauso klug wie Elistan, Caramon«, sagte sie und musterte ihn aufmerksam. »Ich hätte dem jungen Mann die gleichen Worte sagen können. Warum habe ich das nicht?«

Caramon errötete. »Ich... ich habe ihn einfach verstanden, das ist alles«, brummte er.

»Ich wollte ihn nicht verstehen.« Crysania biß sich auf die Lippen. »Ich wollte nur, daß er mir gehorcht.«

»Hör mir zu«, sagte Caramon grimmig. »Deine Gewissensprüfung kannst du später ablegen. Gerade jetzt brauche ich deine Hilfe!«

»Ja, natürlich.« Der entschlossene, selbstbewußte Ausdruck kehrte in Crysanias Gesicht zurück. Ohne zu zögern, folgte sie Caramon in Raistlins Zelt.

Sich der Wache und anderer neugieriger Augen bewußt, schloß Caramon schnell den Zeltvorhang hinter sich. Im Inneren war es dunkel und still, so dunkel, daß beide anfangs im Schatten nichts erkennen konnten. Sie blieben am Eingang stehen und warteten darauf, daß sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnten, als Crysania sich plötzlich an Caramon klammerte. »Ich kann ihn atmen hören!« sagte sie erleichtert.

Caramon nickte und bewegte sich langsam vorwärts. Der hell werdende Tag vertrieb die Nacht aus dem Zelt, und mit jedem weiteren Schritt konnte er deutlicher sehen.

»Dort«, sagte er. Er stieß eilig einen Schemel beiseite, der in seinem Weg stand. »Raist!« rief er leise, als er sich hinkniete. Der Erzmagier lag auf dem Boden. Sein Gesicht war aschgrau, seine dünnen Lippen blau. Sein Atem ging flach und unregelmäßig, aber er atmete. Caramon hob seinen Bruder vorsichtig auf und trug ihn zu seinem Bett. Im schwachen Licht konnte er ein leichtes Lächeln auf Raistlins Lippen sehen, als wäre er in einem angenehmen Traum verloren.

»Ich glaube, jetzt schläft er nur noch«, sagte Caramon verwirrt zu Crysania, die über Raistlin eine Decke zog. »Aber irgend etwas ist geschehen. Das steht fest.« Er sah sich bei dem heller werdenden Licht im Zelt um. »Ich frage mich... Im Namen der Götter!«

Crysania sah über ihre Schulter zu ihm.

Die Zeltstangen waren versengt und geschwärzt, der Stoff selbst angekohlt. Es sah aus, als ob ein Feuer vorbeigefegt wäre, doch unverständlicherweise war das Zelt stehengeblieben und kaum beschädigt. Jedoch war es ein Gegenstand auf dem Tisch, der Caramon zu diesem Ausruf veranlaßt hatte.

»Die Kugel der Drachen!« flüsterte er eingeschüchtert.

Vor Urzeiten von den Magiern aller drei Roben hergestellt, versehen mit der Essenz der guten, bösen und neutralen Drachen, mächtig genug, um die Gestade der Zeit zu überspannen, ruhte die Kristallkugel auf dem silbernen Ständer, den Raistlin für sie angefertigt hatte.

Einst war es ein Gegenstand mit einem magischen, in Trance versetzenden Licht gewesen. Doch jetzt war es ein Gegenstand der Dunkelheit, leblos; ein Sprung lief durch seine Mitte.

»Sie ist zerstört«, sagte Caramon mit leiser Stimme.

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