Im Frühsommer kam Sulla aus Gallia Cisalpina zurück. Er nahm ein Bad, wechselte die Kleider und machte dann als erstes einen Besuch bei Gaius Marius. Marius sah ganz und gar nicht gut aus, stellte er fest, und das überraschte ihn nicht. Die Ereignisse bei der Verabschiedung der lex Appuleia hatten sich bis in den äußersten Norden des Landes herumgesprochen. Marius mußte die Geschichte auch nicht noch einmal erzählen. Wortlos blickten sich Sulla und Marius an, und was sie voneinander wissen mußten, erfuhren sie ohne Worte.
Nachdem aber die erste Gefühlswallung sich gelegt hatte - und das erste gute Glas Wein getrunken war -, schnitt Sulla das leidige Thema an.
»Deine Glaubwürdigkeit hat schwer gelitten«, sagte er.
»Das weiß ich, Lucius Cornelius.«
»Es ist Saturninus, wie ich höre.«
Marius seufzte. »Ja, und kann man ihm vorwerfen, daß er mich haßt? Er hat mehr als fünfzig Reden von der rostra gehalten, und beileibe nicht alle vor korrekt einberufenen Versammlungen. Und jedesmal hat er mir Betrug vorgeworfen. Da er ein glänzender Redner ist, strömten die Menschen herbei, um sich die Geschichte meines Verrats in seiner Version anzuhören. Er zieht die Massen an. Nicht nur die üblichen Besucher des Forums, auch Männer aus der Dritten, Vierten, Fünften Klasse. Sie sind anscheinend so fasziniert von ihm, daß sie zum Forum strömen, wann immer sie einen freien Tag haben.«
»Spricht er denn so häufig?« fragte Sulla.
»Jeden Tag!«
Sulla pfiff leise. »Das ist etwas Neues in den Annalen des Forums! Jeden Tag? Bei Regen und Sonnenschein? Ob offizielle Versammlung oder nicht?«
»Jeden Tag. Als ihn der Stadtprätor - sein alter Freund Glaucia - auf Anweisung des pontifex maximus davon unterrichtet hat, daß er an Markttagen, an Feiertagen und anderen versammlungsfreien Tagen nicht sprechen darf, hat er das einfach ignoriert. Und weil er Volkstribun ist, wagt niemand, ihn zum Schweigen zu bringen.« Marius runzelte sorgenvoll die Stirn. »Als Folge davon wächst sein Ruhm, wir sehen jetzt eine ganz neue Besucherschicht auf dem Forum - solche, die nur kommen, um Saturninus’ Schimpftiraden zu hören. Er hat - ich weiß nicht genau, wie man es beschreiben kann, die Griechen haben wie üblich ein Wort dafür - Charisma. Diese Leute, die jetzt kommen, sind keine geübten Zuhörer; sie wissen nichts von Rhetorik. Es ist ihnen egal, wie er seinen kleinen Finger spreizt, wie er seine Gangart variiert. Sie spüren seine Leidenschaft. Ja, sie stehen einfach da und starren ihn mit offenen Mündern an. Er reißt sie mit, und zum Schluß jubeln sie ihm laut zu.«
»Wir müssen ihn im Auge behalten«, sagte Sulla. Er blickte Marius sehr ernst an. »Warum hast du es getan?«
Marius konnte nicht ausweichen. Er antwortete sofort. »Ich hatte keine andere Wahl, Lucius Cornelius. Die Wahrheit ist, daß ich nicht - wie soll ich sagen - verschlagen genug bin. Ich kann nicht um so viele Ecken denken, wie ich müßte, wenn ich Männern wie Scaurus zwei Schritte voraus sein wollte. Er hat mich so sauber eingewickelt, wie man es sich nur wünschen kann. Das gebe ich offen zu.«
»Aber in gewisser Weise hast du doch den Plan gerettet«, versuchte Sulla ihn zu trösten. »Das zweite Ackergesetz ist immer noch auf der Tagesordnung, und ich glaube nicht, daß die Versammlung der Plebs - oder in dem Fall die Volksversammlung - das Gesetz annullieren wird. Zumindest sagte man mir, daß die Dinge so stünden.«
»Stimmt«, sagte Marius, aber er wirkte nicht sehr getröstet. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und seufzte. »Saturninus ist der Sieger, Lucius Cornelius, nicht ich. Seine Empörung hält die Plebs bei der Stange. Ich habe die Plebs verloren.« Er fiel in sich zusammen, streckte hilfesuchend die Hände aus. »Wie soll ich bloß das restliche Jahr durchstehen? Durch den Hagel von Buhrufen und Pfiffen zu gehen, die um die Rednerbühne erschallen, wenn Saturninus spricht, ist eine Qual. Das Senatsgebäude würde ich am liebsten gar nicht mehr betreten. Ich hasse das aalglatte Lächeln auf Scaurus’ düsterem Gesicht, ich hasse das unerträglich süffisante Grinsen auf dem Kamelgesicht von Catulus - ich tauge nicht für die politische Bühne, das ist die Wahrheit, die mir langsam immer deutlicher wird.«
»Aber du hast den cursus honorum eingeschlagen, Gaius Marius!« sagte Sulla. »Du warst einer der großen Volkstribunen! Du kanntest die politische Bühne und hast sie geliebt, sonst wärst du nie ein großer Volkstribun geworden.«
Marius zuckte mit den Achseln. »Ach, damals war ich jung, Lucius Cornelius. Und konnte scharf denken. Aber ein Politiker durch und durch war ich nie.«
»Dann überläßt du das Feld einem Wolf mit gebleckten Zähnen wie Saturninus? Das sieht dem Gaius Marius, den ich kenne, nicht ähnlich«, sagte Sulla.
»Ich bin nicht der Gaius Marius, den du kennst.« Marius lächelte schwach. »Der neue Gaius Marius ist müde, sehr müde. Er ist mir genauso fremd wie dir, glaub mir!«
»Dann ruhe dich doch diesen Sommer irgendwo weit weg aus, bitte!«
»Das habe ich vor«, sagte Marius, »sobald du die Bande mit Aelia geknüpft hast.«
Sulla stutzte, dann lachte er. »Bei den Göttern, das habe ich ganz vergessen!« Er erhob sich, ein schöner Mann in der Blüte seiner Kraft. »Ich gehe besser nach Hause und bitte um eine Audienz bei unserer gemeinsamen Schwiegermutter, oder? Zweifelsohne denkt sie schon die ganze Zeit darüber nach«, bei diesen Worten überlief Sulla ein Zittern, »wann sie mich endlich los wird.«
Marius hatte das Zittern nicht bemerkt, er konzentrierte sich auf Sullas Worte. »Ja, sie ist besorgt. Ich habe ihr eine nette kleine Villa in Cumae gekauft, nicht weit von unserer.«
»Dann eile ich nach Hause, so schnell wie Merkur!« Sulla streckte die Hand aus. »Paß auf dich auf, Gaius Marius. Wenn Aelia noch will, werde ich schnell die Bande knüpfen.« Etwas fiel ihm noch ein, er lachte. »Du hast ja so recht! Catulus Caesar sieht wirklich aus wie ein Kamel! In Lebensgröße!«
Julia wartete vor der Tür des Arbeitszimmers, um Sulla abzufangen, bevor er ging. »Was meinst du?« fragte sie sorgenvoll.
»Er kommt wieder in Ordnung, kleine Schwester. Sie haben ihn geschlagen, und er leidet. Bring ihn in die Campania, laß ihn im Meer baden und in Rosen schwelgen.«
»Das werde ich, sobald du verheiratet bist.«
»Ich bin ja schon unterwegs!« rief er aus und hob kapitulierend die Hände.
Julia seufzte. »Eines läßt sich nicht leugnen, Lucius Cornelius, nämlich daß ein halbes Jahr auf dem Forum Gaius Marius mehr Kraft gekostet hat als zehn Jahre auf dem Schlachtfeld mit seinen Legionen.«
Es schien, als ob alle eine Pause bräuchten, denn als Marius nach Cumae abgereist war, verfiel das öffentliche Leben in Rom in laue Trägheit. Die vornehmen Römer verließen einer nach dem anderen die Stadt, die in der Sommerhitze unerträglich war, wenn Darmkrankheiten in der Subura und auf dem Esquilin grassierten und die Luft selbst auf dem Palatin und dem Aventin nicht unbedingt der Gesundheit zuträglich war.
Aurelia mußte sich über das Klima in der Subura nicht zu sehr den Kopf zerbrechen, denn sie lebte in einer kühlen Höhle, die grüne Laube im Innenhof und die unglaublich dicken Wände ihrer insula hielten viel Hitze ab. Gaius Matius und seine Frau Priscilla waren in derselben Lage wie sie und Caesar. Auch Priscilla war hochschwanger; ihr Baby sollte zur selben Zeit kommen wie Aurelias.
Für beide Frauen war bestens gesorgt. Gaius Matius schlich hilfsbereit herum, und Lucius Decumius schaute jeden Tag vorbei, ob auch alles in Ordnung war. Die Blumensträuße kamen weiterhin regelmäßig, und seit Aurelia schwanger war, schickte Lucius Decumius zusätzlich kleine Leckereien, seltene Gewürze und was er noch für geeignet hielt, den Appetit seines Lieblings anzuregen.
»Als ob ich den verloren hätte!« lachte sie mit Publius Rutilius Rufus, der ebenfalls regelmäßig vorbeischaute.
Am dreizehnten Tag des Quintilis wurde ihr Sohn Gaius Julius Caesar geboren. Die Geburt wurde in den Akten des Tempels der Juno Lucina registriert: zwei Tage vor den Iden des Quintilis geboren, aus patrizischem Geschlecht, mit Anspruch auf den Rang eines Senators. Er war sehr groß und sah deshalb leichter aus, als er war; er war kräftig, ernst und ruhig und weinte kaum. Sein Haar war so blond, daß man es kaum sah, obwohl er bei genauer Betrachtung ziemlich viel davon hatte. Von Geburt an hatten seine Augen eine blasse, grün-blaue Farbe, umgeben von einem tiefblauen, fast schwarzen Ring.
»Das ist mir einer, dein Söhnchen.« Lucius Decumius betrachtete eingehend das Gesicht des Säuglings. »Schau dir diese Augen an! Da wird deine Großmutter aber einen Schreck kriegen!«
»Sag doch nicht solche Sachen, du kleiner Giftzwerg!« knurrte Cardixa, die ganz vernarrt in diesen ersten Sohn war.
»Laß mich unten gucken«, verlangte Lucius und wühlte mit dreckigen Fingern in den Windeln. »Oho, oho!« krähte er. »Genau wie ich dachte! Große Nase, große Füße, großer Pimmel!«
»Lucius Decumius!« Aurelia war entrüstet.
»Jetzt reicht’s aber! Verschwinde!« Cardixa packte ihn am Kragen und setzte ihn vor die Haustür, so wie es eine schmächtigere Frau mit einem Kätzchen gemacht hätte.
Fast einen Monat nach der Geburt des Babys kam Sulla zu Besuch. Sie sei das letzte bekannte Gesicht in Rom, erklärte er und wollte sich damit für die Störung entschuldigen.
»Aber du störst doch nicht!« Aurelia war hoch erfreut, ihn zu sehen. »Ich hoffe sehr, daß du zum Essen bleiben kannst - oder, wenn es heute nicht paßt, vielleicht kannst du morgen kommen? Ich habe solche Sehnsucht nach Gesellschaft!«
»Ich kann bleiben«, sagte er ganz direkt. »Ich bin ohnehin nur nach Rom zurückgekehrt, um einen alten Freund zu besuchen - er hat Fieber.«
»Wer denn? Jemand, den ich kenne?« fragte Aurelia eher höflich als ernsthaft interessiert.
Doch Sulla sah einen Augenblick lang aus, als hätte sie eine unpassende Frage gestellt oder vielleicht eine schmerzliche. Der Ausdruck auf seinem Gesicht interessierte Aurelia viel mehr als der Name seines kranken Freundes. Sulla schaute düster, unglücklich und ärgerlich. Dann war es vorüber, und er lächelte frei und offen.
»Ich glaube kaum, daß du ihn kennst. Metrobius.«
»Der Schauspieler?«
»Genau der. Ich kannte viele Leute vom Theater. Früher. Bevor ich Julilla geheiratet habe und Senator wurde. Eine andere Welt.« Seine eigenartig hellen Augen schweiften über die Eingangshalle. »Eher wie diese Welt, nur dunkler. Seltsam! Heute kommt es mir vor wie ein Traum.«
»Du klingst traurig«, sagte Aurelia sanft.
»Nein, nicht wirklich.«
»Und wird er wieder gesund werden, dein Freund Metrobius?«
»Ja, ja! Er hat nur etwas Fieber.«
Sie schwiegen beide, ohne daß es bedrückend war. Wortlos stand er auf und ging zu der großen Öffnung, die als Fenster auf den Hof diente. »Es ist wunderschön hier draußen.«
»Das finde ich auch.«
»Und dein kleiner Sohn? Wie geht es ihm?«
Aurelia lachte. »Das wirst du gleich selber sehen.« »Gut.«
Er starrte immer noch auf den Hof.
»Lucius Cornelius, ist alles in Ordnung?« fragte Aurelia.
Er wandte sich um und lachte sie an. Was für ein schöner Mann er war, auf eine so ungewöhnliche Art! Wie beunruhigend seine Augen schimmerten - so hell - und so umgeben von Dunkelheit. Wie die Augen ihres Sohnes. Aus irgendeinem Grund zitterte sie bei diesem Gedanken.
»Ja, Aurelia, es ist alles in Ordnung«, sagte Sulla.
»Wenn ich nur glauben könnte, daß du mir die Wahrheit sagst.«
Er wollte noch etwas sagen, aber in diesem Augenblick kam Cardixa mit dem Stammhalter der Familie Caesar auf dem Arm herein.
»Wir sind auf dem Weg in den vierten Stock«, sagte Cardixa.
»Zeig ihn zuerst Lucius Cornelius, Cardixa.«
Aber die einzigen Kinder, die Sulla wirklich interessierten, waren seine eigenen zwei. Pflichtschuldig betrachtete er das Baby, dann warf er einen prüfenden Blick auf Aurelia, ob sie zufrieden war.
»Also, dann los, Cardixa«, sagte Aurelia und erlöste damit Sulla aus seinen Qualen. »Wer ist heute vormittag dran?«
»Sarah.«
Aurelia wandte sich Sulla mit einem offenen, unbefangenen Lächeln zu. »Ich habe keine Milch, leider! Das ist einer der vielen Vorteile, wenn man in einem großen Mietshaus wohnt. Es gibt immer mindestens ein halbes Dutzend stillende Mütter, und alle sind so nett und säugen meine Kinder mit.«
»Wenn er einmal groß ist, wird er die ganze Welt lieben«, sagte Sulla. »Deine Mieter kommen doch sicher aus der ganzen Welt.«
»Stimmt. Das macht das Leben farbiger.«
Sulla starrte wieder in den Hof.
»Lucius Cornelius, du bist ja gar nicht ganz hier«, klagte sie sanft. »Du hast doch etwas! Willst du es nicht mit mir teilen? Oder ist es eine von diesen Schwierigkeiten, die nur Männer etwas angehen?«
Er setzte sich auf das Sofa ihr gegenüber. »Ich habe einfach kein Glück mit den Frauen«, sagte er kurz.
Aurelia blinzelte. »Inwiefern?«
»Mit den Frauen, die ich - liebe. Mit den Frauen, die ich heirate.«
Interessant. Es fiel ihm leichter, über das Heiraten zu sprechen als über die Liebe. »Und um was geht es in diesem Fall?« fragte Aurelia.
»Um beides ein bißchen. In eine Frau bin ich verliebt, mit einer anderen verheiratet.«
»Ach, Lucius Cornelius!« Sie sah ihn mit echter Zuneigung, aber ohne jedes Verlangen an. »Ich frage dich nicht, um wen es geht, das will ich gar nicht wissen. Stell du mir die Fragen, und ich will versuchen, Antworten zu finden.«
Er zuckte die Achseln. »Viel gibt es nicht zu erzählen. Ich bin mit Aelia verheiratet, die unsere Schwiegermutter für mich ausgesucht hat. Nach Julilla wollte ich eine echte römische Hausfrau, jemand wie Julia oder wie du, wenn du ein bißchen älter wärst. Als Marcia mir Aelia vorstellte, dachte ich, sie wäre genau die Richtige: ruhig, ausgeglichen, humorvoll, gutaussehend, nett. Ich war begeistert! Endlich hatte ich meine römische Hausfrau. Ich kann sowieso niemand lieben, dachte ich, dann kann ich ja jemand heiraten, den ich gut leiden mag.«
»Deine germanische Frau mochtest du wohl«, sagte Aurelia leise.
»Ja, sehr. Ich vermisse sie immer noch, auf eine gewisse Art. Aber sie ist keine Römerin, was soll ich als römischer Senator mit ihr? Nun gut, ich meinte, daß es mit Aelia genauso werden würde wie mit Hermana.« Er lachte hart und bitter. »Aber weit gefehlt! Aelia ist dumm, farblos und langweilig. Ja, wirklich nett, aber nach ein paar Augenblicken in ihrer Gesellschaft fange ich an zu gähnen!«
»Kümmert sie sich gut um deine Kinder?«
»Sehr gut. Da kann ich mich nicht beklagen!« Er lachte wieder. »Ich hätte sie als Kindermädchen einstellen sollen - dafür ist sie genau die Richtige! Sie liebt die Kinder, und die Kinder lieben sie.«
Er sprach jetzt beinahe so, als wäre Aurelia gar nicht da oder als zählte sie nicht als Zuhörerin, sondern als diente ihm ihre Gegenwart nur als Entschuldigung, damit er das laut aussprechen konnte, was er schon lange insgeheim dachte. »Ich war gerade aus Gallia Cisalpina zurück, da wurde ich zu einer Abendgesellschaft bei Scaurus eingeladen. Ich fühlte mich geschmeichelt. Und war ein bißchen aufgeregt. Fragte mich, ob sie wohl alle da sein würden - Metellus Schweinebacke und die anderen -, um mich von Gaius Marius loszueisen. Und dann war sie da, die arme Kleine. Scaurus’ Ehefrau. Bei allen Göttern dieser Welt, warum mußte sie ausgerechnet mit Scaurus verheiratet sein? Er könnte ihr Urgroßvater sein! Delmatica. So wird sie genannt. Damit man die vielen tausend Caecilia Metellas nicht durcheinanderbringt. Ich war auf den ersten Blick in sie verliebt. Zumindest glaube ich, daß es Liebe ist. Es ist auch Mitleid dabei, aber ich kann nicht aufhören, an sie zu denken, dann wird es wohl Liebe sein, oder? Sie ist schwanger. Ist das nicht widerlich? Niemand hat sie gefragt, ob sie ein Kind will, natürlich nicht. Metellus Schweinebacke hat sie Scaurus gegeben, wie man einem Kind einen Honigkuchen gibt. Hier, dein Sohn ist tot, nimm das als Tröstung! Mach noch einen Sohn! Ekelerregend. Und doch, wenn sie nur die Hälfte von dem wüßten, was in mir vorgeht, dann wären sie angewidert. Ich verstehe es nicht, Aurelia. Sie sind viel schamloser, als ich es bin! Aber das würden sie nicht im Traum einsehen.«
Aurelia hatte viel gelernt, seit sie in der Subura lebte. Sie sprach mit vielen Menschen, von Lucius Decumius bis zu den Freigelassenen, die in den beiden obersten Stockwerken hausten. Es passierte allerhand - Dinge, mit denen die Hausbesitzerin zu tun bekam, ob sie es wollte oder nicht. Abtreibung. Zauberei. Mord. Raubüberfälle. Vergewaltigung. Trunksucht und schlimmere Süchte. Wahnsinn. Verzweiflung. Depression. Selbstmord. So etwas kam in jedem Mietshaus vor, immer mußte man selbst damit fertig werden, diese Dinge trug man nicht zum Tribunal des Stadtprätors! Die Menschen erledigten diese Dinge auf ihre eigene Art, und ein rauhes Recht herrschte hier; man fackelte nicht lang. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben.
Beim Zuhören setzte sich Aurelia ein Bild von Lucius Cornelius Sulla zusammen, das die Wahrheit ziemlich gut traf. Als einzige unter den römischen Aristokraten, die ihn kannten, verstand sie, wo er herkam, und sie verstand, was für unglaubliche Schwierigkeiten ihm sein Wesen und seine Erziehung bereiteten. Er hatte sich genommen, was ihm als Geburtsrecht zustand - aber das Leben in Rom hatte ihn für alle Zeiten gebrandmarkt.
Während Sulla sprach, gingen ihm andere Dinge durch den Kopf, die er seiner Zuhörerin nicht zu erzählen wagte. Wie verzweifelt er sie haben wollte, die kleine, schwangere Kindfrau von Scaurus, nicht nur wegen ihres Körpers, ihres Wesens. Sie war ideal für seine Zwecke. Aber sie war mit Scaurus verheiratet, er der großartig langweiligen Aelia verbunden. Keine confarreatio diesmal. Dennoch - Scheidung war ein zu scheußliches Geschäft, diese Lektion hatte er schon vor Delmatica gelernt. Frauen. Er würde nie Glück haben mit Frauen, das fühlte er im Innersten. War es wegen seiner anderen Seite? Dieses wunderbare, schöne, phantastische Verhältnis mit Metrobius! Und trotzdem wollte er mit Metrobius nicht leben, ebensowenig wie er mit Julilla hatte leben wollen. Vielleicht war es das - er wollte sich nicht teilen. Das war zu gefährlich. Ach, wie begehrte er Caecilia Metella Delmatica, die Frau des Senatsvorsitzenden Marcus Aemilius Scaurus! Es war widerlich. Nicht, daß er normalerweise etwas dagegen hatte, wenn sich alte Männer halbe Kinder zur Frau nahmen. Aber dieser Fall war persönlich. Er war verliebt in sie, darum war sie etwas Besonderes.
»Mochte sie - Delmatica - dich auch, Lucius Cornelius?« durchbrach Aurelia seine Gedanken.
Sulla zögerte nicht einen Augenblick. »0 ja, da gibt es keinen Zweifel!«
»Was willst du dann jetzt machen?«
Er seufzte. »Ich bin zu weit gekommen, ich habe zu viel bezahlt! Ich kann nicht mehr zurück, Aurelia! Auch nicht für Delmatica; wenn ich ein Verhältnis mit ihr anfinge, würden sämtliche boni dafür sorgen, daß ich ruiniert wäre. Außerdem habe ich nicht viel Geld. Es reicht gerade so, um im Senat durchzukommen. Bei den Germanen habe ich ein bißchen zugelangt, aber nicht mehr, als mir zustand. Der Weg, den ich noch vor mir habe, wird nicht leicht sein. Mit mir geht es ihnen wie mit Gaius Marius, wenn auch aus anderen Gründen. Keiner von uns paßt zu ihren verfluchten Idealen. Sie kommen nicht darauf, warum wir es können und sie nicht. Sie fühlen sich benutzt, ausgenutzt. Ich bin eindeutig besser dran als Gaius Marius. Ich habe wenigstens das richtige Blut. Aber es ist von der Subura befleckt. Schauspieler. Leben im Sumpf. Ich gehöre eben nicht zu den boni.« Er holte tief Luft. »Und dennoch, Aurelia, ich werde an ihnen allen vorbeiziehen! Ich bin das beste Pferd im Rennen!«
»Und wenn es den Preis nicht wert ist?«
Er schaute sie mit großen Augen an, verwundert, daß sie so beschränkt dachte. »Es geht nicht um den Preis! Niemals! Darum geht es uns nicht, keinem von uns. Wenn sie uns ins Geschirr nehmen, damit wir unsere sieben Runden auf der Rennbahn drehen, kämpfen wir gegen uns selbst. Welche Herausforderung könnte es denn noch geben für Gaius Marius? Er ist das beste Pferd auf dem Platz. So rennt er gegen sich selbst an. Genau wie ich. Ich kann es! Ich werde es tun! Aber weil ich es will, nicht für einen Preis!«
Aurelia errötete. »Natürlich.« Sie stand auf und reichte ihm die Hand. »Komm, Lucius Cornelius! Trotz der Hitze ist es ein wunderschöner Tag. Die Subura wird ganz sich selbst überlassen sein, alle, die es sich leisten können, Rom im Sommer zu verlassen, sind weg. Nur die Armen und die Verrückten sind übriggeblieben! Und ich. Komm, wir gehen spazieren, und wenn wir zurück sind, essen wir zusammen. Ich lasse Onkel Publius rufen - er soll uns Gesellschaft leisten. Ich glaube, er ist noch in der Stadt.« Sie verzog das Gesicht. »Ich muß vorsichtig sein, das verstehst du doch, Lucius Cornelius. Mein Mann vertraut mir ebensosehr, wie er mich liebt, das ist schon viel wert. Aber es würde ihm nicht gefallen, wenn es Gerüchte um mich gäbe. So versuche ich, eine altmodische Ehefrau zu sein. Er wäre entsetzt, wenn ich dich nicht zum Essen einladen würde - aber wenn Onkel Publius auch kommen kann, wird Gaius Julius mich loben.«
Sulla sah sie liebevoll an. »Was für einen Unsinn Männer über ihre Frauen im Kopf haben! Du hast nichts von einer Frau an dir, über die sich Gaius Julius während militärischer Gelage im Feld den Kopf zerbrechen müßte.«
»Ich weiß das, aber er weiß es nicht.«
Die Hitze auf dem Vicus Patricii legte sich bleischwer auf ihre Köpfe. Aurelia schnappte nach Luft und zog sich schnell ins Haus zurück. »Na gut, dann eben nicht. Ich hätte nicht gedacht, daß es so heiß ist. Eutychus soll in die Carinae zu Onkel Publius gehen, ein bißchen Bewegung kann ihm nicht schaden. Und wir setzen uns in den Garten.« Sie ging voraus, dabei sprach sie weiter. »Kopf hoch, Lucius Cornelius, bitte! Ich bin sicher, es wird alles gut werden. Geh zurück nach Circei, zu deiner netten, langweiligen Frau. Mit der Zeit wirst du sie besser leiden können, das verspreche ich dir. Und es wird dir besser gehen, wenn du Delmatica überhaupt nicht mehr siehst. Wie alt bist du jetzt?«
Sulla fühlte sich allmählich freier. Seine Miene hellte sich auf, sein Lächeln wirkte natürlicher. »Dieses Jahr habe ich einen Meilenstein hinter mich gebracht, Aurelia. Am Neujahrstag bin ich vierzig geworden.«
»Du bist doch noch kein alter Mann!«
»In mancher Hinsicht schon. Ich war noch nicht einmal Prätor; dabei bin ich schon ein Jahr über das Alter für einen Prätor hinaus.«
»Ach was, du siehst schon wieder so finster aus, dabei hast du gar keinen Grund. Schau dir das alte Schlachtroß Gaius Marius an! Mit fünfzig ist er das erste Mal Konsul geworden, acht Jahre über der unteren Altersgrenze. Hättest du ihn für das beste Pferd im Rennen gehalten? Hättest du auf ihn als bestes Pferd im Oktober gewettet? Und doch war er über fünfzig, als er seine größten Taten vollbracht hat.«
Sullas Stimmung hob sich. »Welcher Gott hat mir den glücklichen Gedanken eingegeben, dich heute zu besuchen? Du bist eine gute Freundin, Aurelia. Eine Hilfe.«
»Nun, vielleicht werde ich dich eines Tages um Hilfe bitten.«
»Du mußt es mir nur sagen.« Er blickte nach oben und bemerkte, daß die Balkone der oberen Stockwerke keine Gitter hatten. »Du bist aber mutig! Keine Gitter? Und sie mißbrauchen diese Gunst nicht?«
»Nein.«
Er lachte, ein Kichern echten Vergnügens drang aus seiner Kehle. »Das glaube ich gerne, daß dir alle Raufbolde der Subura aus der Hand fressen!«
Aurelia nickte und lachte ebenfalls. Sie schaukelte sanft auf ihrem Gartenstuhl hin und her. »Mir gefällt das Leben hier, Lucius Cornelius. Um ehrlich zu sein, mir würde es nichts ausmachen, wenn Gaius Julius niemals das Geld für ein Haus auf dem Palatin zusammenbekäme. Hier in der Subura kann ich mich sinnvoll betätigen, hier leben viele interessante Menschen. Ich laufe mein eigenes Rennen, verstehst du?«
»Da hast du aber noch einen weiten Weg vor dir.«
»Du auch«, sagte Aurelia.
Julia hatte natürlich geahnt, daß Marius nicht den ganzen Sommer in Cumae bleiben würde, auch wenn er davon gesprochen hatte, daß er erst Anfang September nach Rom zurückkehren wolle. Aber sobald er wieder einigermaßen im Gleichgewicht war, würde er sich wieder nach der Rennbahn zurücksehnen. So genoß sie jeden einzelnen Tag, der ihnen geschenkt war. Sie freute sich, daß Marius seine Amtstoga und seinen Brustharnisch ablegte und auf dem Lande für eine kurze Zeit zum Gutsherren wurde, wie es alle seine Vorfahren gewesen waren. An einem kleinen Strand unterhalb ihrer prächtigen Villa gingen sie im Meer schwimmen, sie gönnten sich Austern, Krabben, Garnelen und Thunfisch in Hülle und Fülle. Lange Spaziergänge führten sie über die spärlich besiedelten Hügel. Überall wuchsen Rosen und erfüllten die Luft mit ihrem Duft. Sie hatten selten Gäste, und wenn ein überraschender Besucher kam, taten sie, als wären sie ausgegangen. Marius baute ein kleines Boot für seinen Sohn, das aussah wie ein großer Fisch, zum Vergnügen der Eltern ebenso wie zum Vergnügen des kleinen Marius. Noch nie, dachte Julia, war sie so glücklich gewesen wie in diesem wunderbaren Sommer in Cumae. Sie war dankbar für jeden Tag.
Aber Marius kehrte nicht nach Rom zurück. In der ersten Nacht des Sextilis erlitt er einen kleinen Schlaganfall. Er spürte keinen Schmerz, er bemerkte nur beim Aufwachen, daß sein Kissen ein bißchen naß war; anscheinend hatte er im Schlaf gesabbert. Als er zum Frühstück kam, saß Julia auf der Terrasse über dem Meer. Er starrte sie zutiefst verwundert an, denn so einen Ausdruck hatte er noch nie auf ihrem Gesicht gesehen.
»Was ist los«, nuschelte er. Seine Zunge war dick und schwerfällig, ein sehr eigenartiges Gefühl.
»Dein Gesicht...« Julia war kreidebleich geworden.
Er befühlte sein Gesicht, die Finger seiner linken Hand waren ebenso unbeholfen wie seine Zunge. »Was ist das?« fragte er.
»Dein Gesicht - auf der linken Seite ist es heruntergerutscht.« Sie schnappte nach Luft. Jetzt begriff sie. »Oh, Gaius Marius! Du hast einen Schlaganfall gehabt!«
Da er keine Schmerzen hatte und ihm keine Veränderung bewußt war, wollte er ihr nicht glauben, bis sie ihm einen großen, polierten, silbernen Spiegel reichte und er sich selbst betrachten konnte. Die rechte Hälfte seines Gesichts war fest und straff, er hatte wenig Falten für einen Mann seines Alters. Die linke Hälfte hingegen sah aus wie eine Wachsmaske, die in der Hitze einer zu nahen Fackel dahinschmolz, weglief, herunterrutschte.
»Ich fühle keinen Unterschied!« Marius war fassungslos. »Nicht im Kopf, wo man doch die Krankheit spüren müßte. Die Zunge bildet die Worte nicht richtig, aber im Kopf weiß ich, was ich sagen will, und du verstehst, was ich sage. Und ich verstehe, was du sagst, also habe ich meine Sprachvermögen nicht verloren! Meine linke Hand ist ungeschickt, aber ich kann sie bewegen. Und ich habe keine Schmerzen, überhaupt keine Schmerzen!«
Zitternd vor Wut weigerte er sich, einen Arzt kommen zu lassen, und Julia gab nach, weil sie fürchtete, sein Zustand könne sich verschlimmern, wenn sie darauf bestünde. Den ganzen Tag über sorgte sie selbst für ihn, kurz nach Sonnenuntergang überredete sie ihn, ins Bett zu gehen. Sie konnte ihm versichern, daß die Lähmung genauso aussah wie am Morgen.
»Das ist ein gutes Zeichen, da bin ich sicher«, sagte sie. »Du wirst bald wieder gesund sein. Du mußt dich nur ausruhen, noch länger hierbleiben.«
»Das geht nicht! Sie werden sagen, ich sei zu feige, ihnen ins Gesicht zu sehen!«
»Wenn ihnen etwas daran gelegen ist, dich zu besuchen - und ich bin sicher, daß sie das tun werden! -, werden sie schon merken, was mit dir los ist, Gaius Marius. Ob es dir paßt oder nicht, du bleibst hier, bis es dir besser geht«, sagte Julia resolut, ein Zug, der Marius ganz neu war an ihr. »Nein, keine Diskussionen! Ich habe recht, und das weißt du auch! Was meinst du eigentlich, was du in Rom erreichen könntest, außer daß du noch einen Schlaganfall bekommst?«
»Nichts«, stotterte er. Verzweifelt ließ er sich in seine Kissen zurückfallen. »Julia, Julia, wie soll ich mich von dieser Krankheit erholen, bei der ich mich eher häßlich als krank fühle? Ich muß gesund werden! Sie dürfen mich nicht unterkriegen, wo es jetzt um soviel geht für mich!«
»Sie werden dich nicht unterkriegen, Gaius Marius«, sagte sie bestimmt. »Nur der Tod wird dich unterkriegen, und an diesem kleinen Schlaganfall stirbst du nicht. Die Lähmung wird zurückgehen. Und wenn du dich ausruhst, dich vernünftig bewegst, mäßig ißt, keinen Wein trinkst und dir keine Sorgen über die Politik in Rom machst, wirst du viel schneller wieder gesund.«
Im Frühling regnete es in Sizilien und Sardinien überhaupt nicht, in Africa nur ein paar Tropfen. Dann aber, als das Korn gerade die Ähren bildete, goß es in Strömen, und Fluten und Fäulnis zerstörten die Ernte vollständig. Nur aus Africa würden ein paar Säcke Korn nach Puteoli und Ostia kommen. Und das bedeutete, daß die Getreidepreise in Rom jetzt im vierten Jahr hintereinander hoch sein würden, und daß viele Menschen würden hungern müssen.
Der zweite Konsul und flamen Martialis, Lucius Valerius Flaccus, mußte feststellen, daß die Kornspeicher unter den Abhängen des Aventin und neben dem Hafen leer waren. Auch in den privaten Kornspeichern entlang des Vicus Tuscus war nicht viel gelagert. Diese geringen Mengen, so teilten die Kornhändler Flaccus und seinen Ädilen mit, würden mehr als fünfzig Sesterze pro Scheffel kosten. Die meisten Proletarierfamilien konnten nicht einmal ein Viertel bezahlen. Es gab andere, billigere Nahrungsmittel, aber alles wurde teurer durch den erhöhten Verbrauch bei verminderter Produktion. Mägen, die an gutes Brot gewöhnt waren, gaben sich nicht mit dünnem Haferschleim und Steckrüben zufrieden, der üblichen Kost der Massen in Hungerzeiten. Die Starken und Gesunden überlebten, aber die Alten und die Schwachen, die Säuglinge und die Kranken starben in solchen Zeiten nur allzuoft.
Im Oktober gärte es unter den Proletariern, die übrigen Bürger der Stadt lebten in Angst und Schrecken. Wenn die Proletarier in Rom nichts zu essen hatten, konnte das niemand gelassen hinnehmen. Viele Bürger aus der Dritten und Vierten Vermögensklasse, die auch nur unter großen Mühen die Getreidepreise bezahlen konnten, bewaffneten sich, um ihre Speisekammern gegen die Übergriffe derer, die noch weniger hatten, zu verteidigen.
Lucius Valerius Flaccus beriet sich mit den Ädilen, die für die staatlichen Getreideeinkäufe, für Lagerung und Verkauf des staatlichen Getreides zuständig waren. Er beantragte im Senat, zusätzliche Mittel zum Kauf von Getreide zur Verfügung zu stellen und Getreide überall zu kaufen, wo man es bekommen konnte, Getreide aller Art - Gerste, Hirse, Emmer und Brotweizen. Aber die wenigsten Senatoren waren wirklich beunruhigt. Zu viele Jahre waren seit den letzten Hungeraufständen der besitzlosen proletarii vergangen, zu groß war die Distanz der Senatoren zu der Welt, in der die Armen lebten.
Die Lage wurde zusätzlich dadurch verschlimmert, daß die beiden jungen Männer, die als Quästoren für den Staatsschatz zuständig waren, zwei besonders arrogante und mitleidslose Senatoren waren, die Ärmsten kümmerten sie nicht. Beide hatten sich nach der Wahl zu Quästoren für den Dienst in Rom gemeldet und gesagt, sie wollten »der ungerechtfertigten Belastung des Staatsschatzes von Rom ein Ende machen« - was im Klartext bedeutete, daß sie weder für die Veteranen des Proletarierheeres noch für billiges Getreide auch nur einen Sesterz ausgeben wollten. Der Stadtquästor, der ältere der beiden, war kein anderer als der junge Caepio, der Sohn des Konsuls, der das Gold von Tolosa gestohlen und die Schlacht von Arausio verloren hatte. Der andere war Metellus das Ferkel, der Sohn des verbannten Metellus Numidicus. Beide hatten alte Rechnungen mit Gaius Marius zu begleichen.
Üblicherweise hielten sich die Senatoren an die Empfehlungen der Quästoren, die für den Staatsschatz zuständig waren. Als der junge Caepio und der junge Metellus im Senat über die finanzielle Lage Rechenschaft ablegen sollten, erklärten sie schlichtweg, für Getreidekäufe sei kein Geld da. Die Ausstattung, Besoldung und der Unterhalt des Proletarierheeres hätten den Staat so viel gekostet, daß er jetzt pleite sei. Weder der Krieg gegen Jugurtha noch der Krieg gegen die Germanen hätten auch nur annähernd genug Geld durch Beute und Tributzahlungen eingebracht, um das Loch in der Staatskasse zu stopfen. Als Beweis legten sie ihre Rechnungsbücher vor. Rom war bankrott. Wer nicht genug Geld habe, um die steigenden Getreidepreise bezahlen zu können, werde eben hungern müssen. So sei nun einmal die Lage. Leider.
Anfang November hatte es sich in ganz Rom herumgesprochen, daß es kein staatliches Korn zu vernünftigen Preisen geben würde, weil der Senat gegen zusätzliche Mittel für den Getreidepreis gestimmt hatte. Da die Nachricht als Gerücht von Mund zu Mund ging, war von Mißernten und mürrischen Quästoren keine Rede. Es hieß einfach, es werde kein billiges Korn geben.
Sofort füllte sich das Forum Romanum mit Menschen, die dort normalerweise nicht auftauchten. Die anderen Forumsbesucher verschwanden oder gingen in der Masse der Neuankömmlinge unter. Die Proletarier und die Bürger der Fünften Klasse waren gekommen, und ihre Stimmung war äußerst gereizt. Für die Senatoren war es ein Spießrutenlauf, wenn sie unter dem Zischen aus Tausenden von Kehlen über das Forum gingen, das sie doch als ihr angestammtes Revier ansahen. Zuerst ließen sie sich nicht einschüchtern, doch bald zischten die Leute nicht nur, sondern schleuderten einen Hagel von Dreck - Exkremente, Mist, stinkenden Schlamm aus dem Tiber, verrotteten Abfall. Der Senat setzte alle Versammlungen bis auf weiteres aus. Bankiers, Kaufleute aus dem Ritterstand, Advokaten und Beamte des Staatsschatzes waren jetzt die Unglücklichen, die ohne Unterstützung durch den Senat die Besudelungen über sich ergehen lassen mußten.
Der zweite Konsul Flaccus war nicht energisch genug, um die Initiative zu ergreifen, er ließ den Dingen ihren Lauf, während Caepio und Metellus sich gegenseitig zu der gelungenen Tat beglückwünschten. Was machte es schon, wenn ein paar tausend capite censi in diesem Winter in Rom starben? Dann würde man in Zukunft weniger Mäuler zu stopfen haben.
Als sich die Lage so weit zugespitzt hatte, berief der Volkstribun Lucius Appuleius Saturninus eine Versammlung der Plebs ein und schlug ihr ein Korngesetz vor. Der Staat sollte verpflichtet werden, auf der Stelle jede Unze Weizen, Gerste, Hirse in Italien und Gallia Cisalpina aufzukaufen und zu dem lächerlich geringen Preis von einem Sesterz pro Scheffel zu verkaufen. Natürlich sagte Saturninus nichts darüber, wie schwierig es sein würde, Getreide aus Gallia Cisalpina in die Gebiete südlich des Apennin zu verschiffen, und er verschwieg auch, daß es südlich des Apennin praktisch nirgendwo Getreide gab. Er wollte die Massen hinter sich bringen, wollte als der Retter in der Not dastehen.
Da der Senat keine Versammlungen abhielt, gab es fast keinen Widerstand, denn jeder in Rom, der nicht zu den ganz Reichen gehörte, war von der Getreideknappheit betroffen. Alle Kaufleute, die mit Lebensmitteln zu tun hatten, waren für Saturninus’ Gesetz, ebenso die Dritte und Vierte Klasse und selbst viele Zenturien der Zweiten Klasse. Als der November zur Hälfte vorüber war und sich dem Dezember zuneigte, war ganz Rom auf Saturninus’ Seite.
»Wenn die Menschen sich kein Getreide leisten können, dann können wir es uns nicht leisten, Brot zu backen!« schrieen die Bäcker und Müller.
»Wenn die Menschen hungrig sind, arbeiten sie nicht gut!« schrieen die Bauunternehmer.
»Wenn die Menschen nicht genug Geld haben, um ihre Kinder satt zu kriegen, was wird dann mit ihren Sklaven passieren?« schrieen die Freigelassenen.
»Wenn die Menschen ihr ganzes Geld für Nahrungsmittel ausgeben müssen, werden sie ihre Miete nicht bezahlen können!« schrieen die Hausbesitzer.
»Wenn die Menschen so hungrig sind, daß sie anfangen, die Läden zu plündern und Marktstände umzuwerfen, was geschieht dann mit uns?« schrieen die Kaufleute.
»Wenn die Menschen auf der Suche nach Nahrung unsere Gärten zertrampeln, haben wir nichts zu verkaufen!« schrieen die Gärtner.
Es ging nämlich nicht nur darum, daß ein paar tausend Proletarier verhungern würden. Wenn sich Roms Mittel- und Unterschicht das Essen nicht mehr leisten konnte, bedeutete das Verluste für viele andere Firmen und Geschäfte. Eine Hungersnot war, kurz gesagt, eine wirtschaftliche Katastrophe. Aber der Senat trat nicht zusammen, nicht einmal in abseits gelegenen Tempeln, und so hing es an Saturninus, eine Lösung vorzuschlagen. Doch seine Lösung beruhte auf einer falschen Voraussetzung - nämlich auf der Voraussetzung, daß es Korn gab, das der Senat kaufen könnte. Saturninus glaubte felsenfest, daß es Korn gab und daß die Krise nur inszeniert war - von der konservativen Clique im Senat und den großen Getreidehändlern.
Tausende von Gesichtern auf dem Forum reckten sich ihm entgegen wie die Blumen der Sonne. Die Macht seiner Redekunst begeisterte ihn selbst, er glaubte bald jedes Wort, das er in die Menge schrie. Er glaubte, was er auf jedem Gesicht in der Menge las, er glaubte, Rom könnte auf eine völlig neue Art regiert werden. Was bedeutete schon das Amt des Konsuls? Was bedeutete schon der Senat, wenn eine Menschenmenge wie diese genügte, daß die Senatoren die Schwänze einzogen und sich in ihre Häuser verkrochen? Wenn es darauf ankam, zählte nur diese Menschenmenge. Sie hatten die eigentliche Macht, und diejenigen, die glaubten, sie besäßen die Macht, hatten sie nur so lange, wie die Köpfe in dieser Menschenmenge es ihnen erlaubten.
Also, was bedeutete das Amt des Konsuls schon? Was bedeutete der Senat schon? Nur Gerede, heiße Luft, sonst nichts! Es gab keine Armee in Rom, außer dem Trainingslager für Rekruten bei Capua gab es nicht einmal eine Armee in der Nähe von Rom. Die Konsuln und der Senat besaßen Macht ohne Waffengewalt, ohne ein Heer als Rückendeckung. Aber hier auf dem Forum war die Autorität, hier war die Rückendeckung der eigentlichen Macht. Warum mußte ein Mann Konsul sein, um der Erste Mann in Rom zu werden? Das war überhaupt nicht nötig! Hatte Gaius Gracchus das auch begriffen? Oder hatte er sich umbringen müssen, bevor er es begreifen konnte?
Ich, dachte Saturninus, werde der Erste Mann in Rom sein! Er konnte sich nicht satt sehen an den Gesichtern in der riesigen Menschenmenge. Der Erste Mann in Rom, aber nicht als Konsul. Als Volkstribun. Die Volkstribunen, nicht die Konsuln, besaßen die wirkliche Macht. Und wenn Gaius Marius sich anscheinend bis in alle Ewigkeit zum Konsul wählen lassen konnte, was sollte ihn, Lucius Appuleius Saturninus, daran hindern, sich bis in alle Ewigkeit zum Volkstribunen wählen zu lassen?
Dennoch wartete Saturninus einen ruhigen Tag ab, bis er sein Korngesetz vorlegte. Keine riesige Menschenmenge auf dem Forum durfte dem Senat einen Vorwand liefern, der Versammlung der Plebs Krawalle, Unruhen und Gewaltanwendung vorzuwerfen und deshalb das Gesetz für ungültig zu erklären. Lucius Appuleius hatte die Ereignisse um sein zweites Ackergesetz nicht vergessen, den Verrat von Gaius Marius, das Exil von Metellus Numidicus. Die Tatsache, daß das Gesetz immer noch auf den Tafeln stand, war sein Verdienst, nicht das Verdienst von Gaius Marius. Deshalb hatten die Veteranen der Proletarierarmee ihm, Saturninus, die Landzuweisungen zu verdanken.
Im November gab es nur wenige Feiertage, vor allem wenige, an denen das Volk von Rom zur Abstimmung einberufen werden durfte. Der Tod eines sagenhaft reichen Ritters brachte endlich die erwartete Gelegenheit. Die Söhne des Ritters veranstalteten zu Ehren ihres Vaters prächtige Gladiatorenspiele. Solche Spiele fanden normalerweise auf dem Forum Romanum statt, aber weil sich dort täglich die Menschenmassen sammelten, wich man mit den Spielen in den Circus Flaminius aus.
Der junge Caepio durchkreuzte Saturninus’ Pläne. Die Versammlung der Plebs war einberufen, die Zeichen standen günstig, die normalen Forumsbesucher füllten den Platz, denn die Mengen drängten sich auf dem Circus Flaminius. Die anderen Volkstribunen waren damit beschäftigt, durch Losentscheid festzulegen, in welcher Reihenfolge die Tribus abstimmen sollten. Saturninus stand vorne auf der Rednerbühne und mahnte die Wähler, in seinem Sinne abzustimmen.
Saturninus hatte nicht bedacht, daß die Senatoren die Vorgänge auf dem Forum aufmerksam verfolgten, obgleich keine Senatsversammlungen stattfanden. Einige Mitglieder des Senats freilich verachteten das feige Verhalten dieses Gremiums ebenso wie Lucius Appuleius Saturninus. Sie waren alle jung, gerade als Quästoren gewählt oder höchstens zwei Jahre älter. Sie hatten Verbündete unter den Söhnen der Senatoren und der Ritter der Ersten Vermögensklasse, die noch zu jung waren, um in den Senat einzutreten oder höhere Posten in den Unternehmen ihrer Väter zu bekleiden. Sie trafen sich grüppchenweise in ihren Häusern, der junge Caepio und der junge Metellus führten sie an. Und sie hatten einen reifen Vertrauten und Berater, der ihnen Richtung und Ziel wies. Ansonsten wären ihre Pläne möglicherweise in endlosen Diskussionen und Strömen von Wein untergegangen.
Der Vertraute und Berater wurde schnell eine Art Idol für sie, denn er verkörperte alles, was junge Männer bewundern - er war waghalsig, unerschrocken, bewahrte einen kühlen Kopf, war gebildet, so etwas wie ein Lebemann und Frauenheld, witzig, vornehm und hatte eine beeindruckende Reihe von Kriegserfahrungen vorzuweisen. Er hieß Lucius Cornelius Sulla.
Während Marius allem Anschein nach für mehrere Monate in Cumae darniederlag, hatte Sulla beschlossen, den Ereignissen in Rom nicht tatenlos zuzusehen. Sulla handelte nicht nur aus Treue zu Marius. Nach der Unterhaltung mit Aurelia hatte er seine Zukunftsaussichten im Senat kühl abgeschätzt und war zu dem Schluß gekommen, daß Aurelia recht hatte: Er war wie Gaius Marius das, was die Gärtner einen Spätblüher nannten. Es war zwecklos, wenn er versuchte, unter den Senatoren, die älter waren als er, Freunde und Verbündete zu finden. Bei Scaurus zum Beispiel hatte er keine Chance. Das hatte immerhin den Vorteil, daß er Scaurus’ reizender kleiner Kindfrau nicht mehr begegnen würde. Delmatica war inzwischen Mutter einer kleinen Aemilia Scaura. Die Nachricht, daß Scaurus Vater einer Tochter geworden war, hatte Sulla größtes Vergnügen bereitet. Der geile alte Bock hatte nichts anderes verdient.
Sulla dachte auch an seine eigene politische Karriere, während er damit beschäftigt war, Marius’ Zukunft zu retten. Er umwarb die jüngere Generation der Senatoren, dabei vor allem die, die leicht zu beeinflussen, nicht sehr intelligent, aber reich waren und aus wichtigen Familien kamen. Manche waren auf so arrogante Weise selbstsicher, daß jede Form von Schmeichelei Erfolg hatte. Sein Hauptinteresse galt dem jungen Caepio und Metellus dem Ferkel. Der junge Caepio war ein etwas beschränkter Patrizier, der mit jungen Männern wie Marcus Livius Drusus - den Sulla erst gar nicht zu umwerben versuchte - verkehrte. Metellus das Ferkel wußte, was bei den älteren boni vor sich ging. Niemand hätte es besser verstanden als Sulla, diesen jungen Männern den Hof zu machen, wenn auch nicht im entferntesten mit sexuellen Absichten. Bald war er es, der Hof hielt: Er wirkte immer leicht amüsiert über ihre jugendlichen Posen, aber auf eine Art, mit der er anzudeuten schien, daß er vielleicht seine Meinung ändern und die jungen Leute ernst nehmen wurde. Es waren keine Jugendlichen, die Ältesten waren nur sieben, acht Jahre jünger als er, die Jüngsten fünfzehn, sechzehn Jahre jünger; alle alt genug, um sich selbst als reife Erwachsene zu betrachten, und jung genug, um sich von Sulla aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Und sie waren der Kern der nächsten Senatorengeneration. Für einen Mann, der unbedingt Konsul werden wollte, würden sie irgendwann von größter Bedeutung sein.
Im Augenblick bereitete allerdings Saturninus Sulla die größten Sorgen. Seit sich die ersten Menschenmengen auf dem Forum versammelt hatten, seit die ersten mit der Toga bekleideten Würdenträger belästigt worden waren, verfolgte Sulla sein Tun genauestens. Ob das Getreidegesetz tatsächlich in Kraft treten würde oder nicht, war Sulla gleichgültig. Aber man mußte Saturninus endlich einmal zeigen, daß nicht alle jederzeit nach seiner Pfeife tanzen würden.
Am Abend vor der Abstimmung über das Getreidegesetz hatten sich ungefähr fünfzig Söhne aus gutem Haus bei dem jungen Metellus versammelt. Sulla hielt sich im Hintergrund und lauschte scheinbar unbeteiligt den Gesprächen, bis der junge Caepio ihn barsch fragte, was sie denn seiner Meinung nach tun sollten.
Sulla sah blendend aus. Sein dichtes, rotgoldenes Haar war so frisiert, daß seine Locken besonders gut zur Geltung kamen, seine weiße Haut war makellos, seine Augenbrauen und Wimpern auffallend schwarz - er behandelte sie mit etwas stibium, aber das fiel niemandem auf -, seine Augen hatten den eiskalten Glanz einer blauäugigen Katze. »Meiner Meinung nach produziert ihr hier nichts als heiße Luft«, sagte er.
Der junge Metellus glaubte inzwischen, daß Sulla keineswegs Marius’ Marionette war. Wie jeder Römer machte der junge Metellus es niemandem zum Vorwurf, wenn er einer bestimmten Gruppierung angehörte, und ebenso hielt er es für möglich, daß jemand die Fronten wechselte. »Nein, das ist nicht nur heiße Luft«, knurrte er und stotterte dabei überhaupt nicht. »Wir wissen bloß nicht, wie wir taktisch richtig vorgehen sollen.«
»Habt ihr etwas gegen ein bißchen Gewalt?« fragte Sulla.
»Nicht, wenn damit das Recht des Senats geschützt wird, über die Verwendung der öffentlichen Gelder Roms zu entscheiden«, sagte der junge Caepio.
»Genau darum geht es«, sagte Sulla. »Dem Volk wurde noch nie das Recht zugestanden, über die Verwendung der Gelder zu bestimmen. Das Volk soll die Gesetze machen, dagegen ist nichts einzuwenden, und der Senat stellt die Gelder für die Gesetze des Volkes zur Verfügung - oder verweigert sie. Wenn man uns die Kontrolle über den Geldhahn entzieht, haben wir überhaupt keine Macht mehr. Nur über das Geld können wir die Gesetze des Volkes unwirksam machen, wenn wir nicht damit einverstanden sind. So haben wir es schon bei Gaius Gracchus’ Getreidegesetz gemacht.«
»Wenn das Getreidegesetz durchkommt, werden wir wohl kaum verhindern können, daß der Senat das Geld dafür bewilligt«, sagte der junge Metellus. Er stotterte immer noch nicht, im Kreise seiner engsten Freunde stotterte er nie.
»Natürlich nicht!« sagte Sulla. »Wir können auch nicht verhindern, daß das Gesetz durchkommt. Aber wir können Lucius Appuleius wenigstens zeigen, wie stark wir sind.«
Und so geschah es. Saturninus ermahnte die Wähler noch einmal, für das Getreidegesetz zu stimmen, für die gute Sache. Die Menschenmassen waren weit weg, im Circus Flaminius, und die Versammlung lief so ordentlich ab, wie es jeder Konsular nur verlangen konnte. Bis der junge Caepio ungefähr zweihundert Männer auf die untere Hälfte des Forums führte. Sie trugen Knüppel und Holzprügel, die meisten waren fleischige, muskulöse Kerle mit schwarzen Bauchschärpen: ehemalige Gladiatoren, die gegen entsprechende Bezahlung ihre Dienste für jede Aufgabe anboten, bei der Körperkraft und Einschüchterung gefragt waren. Die fünfzig jungen Männer, die sich am Vorabend bei Metellus getroffen hatten, bildeten die Vorhut, angeführt von dem jungen Caepio. Lucius Cornelius Sulla war nicht dabei.
Saturninus zuckte nur die Achseln und verfolgte gelassen den Weg der Bande über das Forum. Dann erklärte er die Versammlung für geschlossen.
»Um meinetwillen werden keine Köpfe eingeschlagen!« schrie er den Wählern zu, die in Panik ihre Abstimmungsgruppen auflösten. »Geht nach Hause, kommt morgen wieder! Dann bringen wir unser Gesetz durch!«
Am nächsten Tag waren die Proletarier wieder in voller Stärke versammelt. Die aufsässigen Senatorensöhne ließen sich nicht blicken, und das Getreidegesetz wurde verabschiedet.
»Ich wollte lediglich ein formal korrektes Gesetz in einer rechtmäßig einberufenen Versammlung beschließen, du dickköpfiger Idiot«, fuhr Saturninus den jungen Caepio an, als der Senat im Tempel des Jupiter Optimus Maximus zusammentrat, wo die Senatoren nach Einschätzung von Valerius Flaccus vor den Menschenmassen sicher waren und ungestört über die Finanzierung der lex Appuleia frumentaria beraten konnten. »Die Massen waren nicht da, alles blieb friedlich, die Zeichen waren günstig. Und was passiert? Du und deine blödsinnigen Freunde kommen mit Knüppeln daher!« Er wandte sich an die Senatoren, die in kleinen Gruppen um ihn herum standen. »Mir dürft ihr nicht die Schuld geben, wenn das Gesetz inmitten von zwanzigtausend Proletariern verabschiedet werden mußte! Dieser Narr ist dafür verantwortlich!«
»Dieser Narr macht sich die größten Vorwürfe, daß er nicht Gewalt angewendet hat, wo Gewalt nötig gewesen wäre!« brüllte der junge Caepio. »Ich hätte dich töten sollen, Lucius Appuleius!«
»Ich danke dir, daß du das vor all diesen unparteiischen Zeugen gesagt hast«, erwiderte Saturninus lächelnd. »Quintus Servilius Caepio Junior, hiermit klage ich dich des Verrats an in einem minder schweren Fall. Du hast versucht, den Volkstribunen bei der Ausübung seines Amtes zu behindern. Du hast gedroht, der unantastbaren Person des Volkstribunen Gewalt anzutun.«
»Du reitest auf einem halbverrückten Gaul dem Abgrund entgegen, Lucius Appuleius«, sagte Sulla. »Spring ab, bevor es zu spät ist!«
»Ich habe eine offizielle Klage gegen Quintus Servilius erhoben, patres conscripti«, sagte Saturninus. Sullas Einwurf ignorierte er. »Damit soll sich der Gerichtshof für Verratsangelegenheiten beschäftigen. Heute bin ich hier, um Geld zu fordern.«
Nicht einmal achtzig Senatoren waren anwesend, alles Hinterbänkler, die anderen hatten sich nicht hergetraut. Saturninus blickte sie verächtlich an. »Ich brauche Geld, um Getreide für das Volk von Rom zu kaufen«, sagte er. »Wenn ihr im Schatzamt kein Geld mehr habt, schlage ich vor, daß ihr euch auf die Beine macht und welches leiht. Denn ich werde das Geld bekommen!«
Und Saturninus bekam sein Geld. Mit hochrotem Kopf und unter lautstarkem Protest nahm der Stadtprätor, der junge Caepio, den Befehl entgegen: Die für Notfälle aufbewahrten Silberbarren sollten im Tempel der Ops zu besonderen Münzen gepreßt werden, und die Senatoren würden ohne weiteren Widerstand die Getreidekäufe bezahlen.
»Wir sehen uns vor Gericht wieder«, sagte Saturninus am Ende der Versammlung zuckersüß zu dem jungen Caepio. »Mit allergrößtem Vergnügen werde ich persönlich die Anklage gegen dich vertreten.«
Damit war er aber zu weit gegangen. Die Geschworenen, in der Mehrzahl Ritter, mochten Saturninus nicht und waren dem jungen Caepio günstig gesonnen. Da zeigte Fortuna, daß auch sie auf der Seite des jungen Caepio stand. In die Rede des Verteidigers platzte ein Bote mit der dringenden Mitteilung, Quintus Servilius Caepio sei in Smyrna gestorben. Der einzige Trost, den er in seiner Todesstunde gehabt hatte, war sein Gold gewesen. Der junge Caepio weinte bitterlich, die Richter waren tief gerührt und wiesen die Anklage zurück.
Wahlen standen an, aber niemand wollte sie durchführen. Immer noch sammelten sich täglich Menschenmassen auf dem Forum Romanum, immer noch waren die Kornspeicher leer. Der zweite Konsul Valerius Flaccus bestand darauf, daß die Wahlen erst abgehalten werden sollten, wenn eindeutig erwiesen sei, daß Gaius Marius sie nicht werde durchführen können. Obwohl Lucius Valerius Flaccus Priester des Mars war, hatte er wenig Ähnlichkeit mit dem Kriegsgott. Er wußte, daß er in der gegenwärtigen Situation sein Leben riskieren wurde, wenn er Wahlen beaufsichtigen müßte.
Marcus Antonius Orator hatte drei Jahre lang sehr erfolgreich gegen die Piraten von Kilikien und Pamphylien gekämpft und den Kampf höchst stilvoll von seinem Hauptquartier im erfreulich großstädtischen und kultivierten Athen aus beendet. In Athen war sein guter Freund Gaius Memmius zu ihm gestoßen. Als Gaius Memmius nach seiner Zeit als Statthalter von Makedonien nach Rom zurückgekehrt war, hatte er sich zusammen mit Gaius Flavius Fimbria, seinem Kompagnon bei dem Getreidebetrug, vor Glaucias Repetundengericht auf der Anklagebank wiedergefunden. Fimbria wurde mit großer Mehrheit verurteilt, aber Memmius hatte Grund, mit dem Schicksal zu hadern: Er wurde mit nur einer Stimme Mehrheit verurteilt. Memmius ging nach Athen in die Verbannung, zu seinem Freund Antonius. Mit Unterstützung seines Freundes wollte er versuchen, beim Senat die Aufhebung des Urteils zu erwirken. Daß er die Kosten dieses Verfahrens tragen konnte, verdankte er einem glücklichen Zufall: Als Statthalter in Makedonien war er in einem Dorf der Skordisker buchstäblich über eine versteckte Goldschatulle gestolpert - hundert Talente hatte er darin gefunden. Wie Caepio in Tolosa hatte Memmius keinen Grund gesehen, warum er das Gold mit irgend jemandem hätte teilen sollen, und er hatte es auch mit niemandem geteilt - bis er in Athen dem äußerst geneigten Antonius etwas davon zukommen ließ. Wenige Monate später wurde Memmius nach Rom zurückgerufen, und auch seinen Sitz im Senat durfte er wieder einnehmen.
Da der Krieg mit den Piraten erfolgreich abgeschlossen war, wartete Gaius Memmius in Athen, bis auch Marcus Antonius Orator zur Heimreise bereit war. Ihre freundschaftlichen Bande waren fester geknüpft denn je, und sie hatten beschlossen, gemeinsam als Konsuln zu kandidieren.
Ende November ließ sich Antonius mit seinem kleinen Heer auf dem Marsfeld nieder und forderte einen Triumph. Die Senatoren, die im Schutz des Tempels der Bellona zusammengekommen waren, genehmigten ihm das mit Vergnügen, teilten ihm jedoch mit, daß sein Triumph nicht vor dem zehnten Tag des Dezembers stattfinden könne. Die neuen Volkstribunen seien noch nicht gewählt, und auf dem Forum Romanum versammelten sich immer noch große Massen von Proletariern. Man hoffe aber, daß die Volkstribunen demnächst gewählt würden und am zehnten Tag des Monats ihr Amt antreten könnten. In Anbetracht der gespannten Lage komme ein Triumphzug durch die Stadt derzeit nicht in Frage.
Antonius bangte um seine Kandidatur, denn solange sein Triumph nicht stattgefunden hatte, mußte er außerhalb des pomerium, der geheiligten Stadtgrenze, bleiben. Als Träger von imperium galt für ihn dasselbe wie für einen ausländischen König: Er durfte Rom nicht betreten. Und wenn er Rom nicht betreten durfte, konnte er seine Kandidatur für das Amt des Konsuls nicht öffentlich ankündigen.
Sein Sieg über die Piraten hatte ihm aber bei den Kornhändlern und anderen Geschäftsleuten große Sympathien eingebracht, denn die Schiffahrt auf dem Mittelmeer war seither so sicher und berechenbar wie seit fünfzig Jahren nicht mehr. Er konnte sich deshalb gute Chancen selbst gegen Gaius Marius ausrechnen. Und obwohl Gaius Memmius in Fimbrias Betrügereien verwickelt war, standen auch seine Chancen nicht schlecht. Sie beide waren, wie Catulus Caesar zum Senatsvorsitzenden Scaurus bemerkte, bei den Rittern, die die Mehrheit der Ersten und Zweiten Klasse ausmachten, so beliebt, wie es sich die boni nur wünschen konnten - und beide waren Gaius Marius unbedingt vorzuziehen.
Denn natürlich erwarteten alle, daß Gaius Marius in letzter Minute nach Rom zurückkehren und seine siebte Kandidatur anmelden wurde. Die Nachricht von seinem Schlaganfall hatte sich als zutreffend erwiesen, aber der Schlaganfall schien keine schlimmen Folgen gehabt zu haben. Die vielen Besucher, die nach Cumae gereist waren, kehrten mit der Überzeugung zurück, daß Gaius Marius ganz der alte war. Niemand zweifelte daran: Gaius Marius wurde mit Sicherheit kandidieren.
Den Konservativen gefiel die Idee außerordentlich, den Wählern zwei Kandidaten zu präsentieren, die gemeinsam Konsul werden wollten. Antonius und Memmius hatten gute Chancen, Marius‘ eisernen Griff um den Stuhl des Konsuls zu lösen. Aber Antonius blieb stur: Nicht einmal um der Kandidatur willen wollte er sein imperium ohne Triumph zurückgeben, und das hätte er tun müssen, um die Stadtgrenzen überschreiten zu können.
»Ich kann auch nächstes Jahr noch als Konsul kandidieren«, erklärte er Catulus Caesar und Scaurus, als sie ihn auf dem Marsfeld aufsuchten. »Der Triumph ist wichtiger - wahrscheinlich werde ich in meinem ganzen Leben keinen so erfolgreichen Krieg mehr führen.« Und davon war er nicht abzubringen.
»Nun gut«, sagte Scaurus zu Catulus Caesar, als sie niedergeschlagen Antonius’ Feldlager verließen, »dann müssen wir die Regeln eben großzügig auslegen. Gaius Marius hält sich an keine Regel, wenn es darauf ankommt. Warum sollen wir uns daran halten, wo jetzt so viel auf dem Spiel steht?«
Catulus Caesar trug dem hohen Haus ihren Vorschlag vor. Es waren gerade genug Senatoren im Schutz des Tempels des Jupiter Stator in der Nähe des Circus Flaminius zusammengekommen, daß der Senat beschlußfähig war.
»Wir durchleben harte Zeiten«, sagte Catulus Caesar. »Üblicherweise müssen sich alle Kandidaten für kurulische Ämter dem Senat und dem Volk von Rom auf dem Forum Romanum vorstellen und dort ihre Kandidatur öffentlich erklären. Die Getreideknappheit und die ständigen Demonstrationen auf dem Forum Romanum machen jede Versammlung an diesem Ort leider unmöglich. Daher schlage ich den verehrten Senatoren vor, für die Kandidatenvorstellung in diesem Jahr ausnahmsweise die Zenturien in der saepta auf dem Marsfeld einzuberufen. Wir müssen etwas tun, damit die Wahlen endlich abgehalten werden können! Wenn wir die Vorstellung der Kandidaten in die saepta verlegen, ist das zumindest ein Anfang - ab dann zählt die Zeitspanne zwischen der Ankündigung der Kandidaturen und der Wahl. Außerdem wäre dies ein Akt der Gerechtigkeit gegenüber Marcus Antonius, der als Konsul kandidieren möchte, aber die geheiligten Stadtgrenzen nicht übertreten darf, solange er seinen Triumph nicht gefeiert hat. Und den Triumph kann er wegen der Unruhen in unserer hungrigen Stadt nicht feiern. Auf dem Marsfeld könnte er seine Kandidatur verkünden. Wir erwarten alle, daß die Massen nach Hause gehen werden, wenn erst die Volkstribunen gewählt sind und ihre Ämter angetreten haben. Marcus Antonius kann seinen Triumph feiern, sobald die neuen Volkstribunen im Amt sind, danach können wir die Wahlen für die kurulischen Ämter abhalten.«
»Warum bist du so sicher, daß die Massen nach Hause gehen werden, wenn die neuen Volkstribunen im Amt sind?« fragte Saturninus.
»Ich denke, du müßtest diese Frage selbst am allerbesten beantworten können, Lucius Appuleius!« fauchte Catulus Caesar. »Du bist es doch, der sie immer wieder auf das Forum treibt. Du hetzt sie Tag für Tag auf, machst ihnen Versprechungen, die du niemals halten kannst, ebensowenig wie diese hochverehrte Versammlung! Wie sollen wir Getreide kaufen, wo es doch gar keines gibt?«
»Auch wenn meine Amtszeit abgelaufen ist, werde ich noch auf dem Forum stehen und zu den Menschen sprechen«, sagte Saturninus.
»Das wirst du nicht«, sagte Catulus Caesar, »wenn du erst wieder privatus bist, Lucius Appuleius, werde ich hundert Männer einen Monat lang darauf ansetzen, ein Gesetz auszugraben oder irgendeinen Präzedenzfall, woraus hervorgeht, daß du nicht auf der Rednerbühne oder irgendwo sonst auf dem Forum sprechen darfst!«
Saturninus schüttelte sich vor Lachen, sein röhrendes Gelächter erfüllte den Senat. Aber dennoch war niemand hier so dumm zu glauben, er lache vor Vergnügen. »Such du nur, solange es dir Spaß macht, Quintus Lutatius! Das wird nichts nützen. Denn auch nach Ablauf dieses Amtsjahres werde ich kein privatus sein, weil ich mich nämlich wieder zum Volkstribunen wählen lasse! Ja, ich habe von Gaius Marius gelernt, und ich werde euch keinen Grund liefern, daß ihr nach meinem Blut lechzen könnt! Mit welchen gesetzlichen Bestimmungen wollt ihr mich hindern? Nichts kann mich davon abhalten, daß ich mich jedes Jahr wieder zur Wahl stelle!«
»Es gibt Gebräuche, Traditionen«, sagte Scaurus. »Außer dir und Gaius Gracchus haben sich bisher alle daran gehalten. Kein Volkstribun hat eine dritte Amtszeit angestrebt. Und Gaius Gracchus sollte dir eine Warnung sein! Nur ein Sklave war bei ihm, als er im Hain der Furrina starb.«
»Ich werde bessere Gesellschaft haben«, gab Saturninus zurück. »Wir Männer aus Picenum halten zusammen. Stimmt’s, Titus Labienus? Stimmt’s, Gaius Saufeius? So schnell werdet ihr uns nicht los!«
»Fordere die Götter nicht heraus«, sagte Scaurus. »Sie nehmen gerne den Kampf mit den Menschen auf, Lucius Appuleius!«
»Ich habe keine Angst vor den Göttern, Marcus Aemilius! Die Götter stehen mir bei!« Und mit diesen Worten verließ Saturninus die Versammlung.
»Ich wollte es ihm sagen«, sagte Sulla im Vorbeigehen zu Scaurus und Catulus Caesar. »Er sprengt auf einem halbverrückten Pferd dem Abgrund entgegen.«
»Der auch«, sagte Catulus Caesar zu Scaurus, als Sulla außer Hörweite war.
»Und der halbe Senat«, sagte Scaurus. In aller Ruhe blickte er um sich. »Das ist wirklich ein sehr schöner Tempel, Quintus Lutatius! Wir haben ihn Metellus Macedonicus zu verdanken. Aber heute ist es ein einsamer Ort, ohne Metellus Numidicus.« Er zuckte die Achseln, seine Miene hellte sich auf. »Komm, wir müssen noch den hochverehrten zweiten Konsul festhalten, bevor er sich in den hintersten Winkel seiner Höhle verkriecht! Er kann Mars ebensogut wie Jupiter Optimus Maximus das Opfer darbringen. Wir werden ein ganz feierliches Staatsopfer daraus machen, mit lauter weißen Opfertieren, dann haben wir den göttlichen Segen für die Kandidatenvorstellung auf dem Marsfeld!
»Wer wird die Rechnung für einen weißen Stier, ein weißes Schaf und ein weißes Schwein übernehmen?« Catulus Caesar schaute zu dem jungen Metellus und dem jungen Caepio hinüber, die gemeinsam in einer Ecke standen. »Unsere Quästoren vom Schatzamt werden lauter quietschen als alle drei heiligen Opfertiere zusammen.«
»Ach, ich glaube, Lucius Valerius, unser weißer Hase, kann bezahlen«, grinste Scaurus. »Er hat schließlich beste Verbindungen zu Mars!«
Am letzten Tag des November traf in Rom ein Schreiben von Gaius Marius ein, in dem er für den nächsten Tag eine Versammlung in der curia hostilia anberaumte. Diesmal konnten die ständigen Unruhen auf dem Forum Romanum die eingeschriebenen Väter nicht abschrecken, zu gespannt waren sie, Gaius Marius wiederzusehen. Die Curia war bis auf den letzten Platz besetzt. An den Kalenden des Dezember kamen alle, noch bevor der Morgen graute, denn jeder wollte der erste sein. Gerüchte schwirrten durch die Luft, wahrend sie warteten.
Er kam als letzter. Er erschien so groß, so breitschultrig, so aufrecht wie immer, sein Auftreten ließ in keiner Weise an einen Krüppel denken. Seine linke Hand steckte wie immer in den Falten seiner purpurgesäumten Toga. Aber sein Gesicht. Die ganze Welt konnte es auf seinem Gesicht sehen! Auf der rechten Seite sein straffes früheres Selbst, auf der linken Seite eine traurige Karikatur davon.
Marcus Aemilius Scaurus, der Senatsvorsitzende, hob die Hände und begann zu klatschen. Die kahlen Dachsparren, die rötlichen Rundungen der Terrakottafliesen, die Wände und Dach bedeckten, warfen ein Echo in das alte Gemäuer zurück. Einer nach dem anderen fielen die Senatoren in das Klatschen ein. Als Marius auf seinem elfenbeinernen Amtsstuhl Platz nahm, hatte der Applaus donnernde Lautstärke erreicht. Er lächelte nicht, jedes Lächeln betonte die groteske Asymmetrie seines Gesichtes auf unerträgliche Weise. Wenn er lachte, sah er Tränen in den Augen seines Gegenübers, von Julia bis Sulla. Darum stand er jetzt nickend vor seinem Amtsstuhl und verbeugte sich majestätisch, bis der Beifall verstummte.
Scaurus erhob sich mit breitem Lächeln. »Gaius Marius, wie schön, dich zu sehen! Die letzten Monate waren hier im Senat so trübe wie ein Regentag. Als Vorsitzender heiße ich dich mit größtem Vergnügen zu Hause willkommen.«
»Ich danke dir, Senatsvorsitzender, und euch, eingeschriebene Väter, meine Magistratskollegen.« Marius’ Stimme war klar, kein Wort kam verzerrt aus seinem Mund. Gegen seinen Willen zog der Anflug eines Lächelns seinen rechten Mundwinkel nach oben, der linke hing traurig nach unten. »Wenn es euch ein Vergnügen ist, mich zu Hause willkommen zu heißen, so ist mein Vergnügen, endlich zu Hause zu sein, wohl zehnmal so groß. Wie ihr seht, war ich krank.« Er zog hörbar den Atem ein, seine Stimme bebte vor Trauer. »Wenn ich auch die Krankheit überwunden habe, so bin ich doch davon gezeichnet. Bevor ich dieses Haus zur Ordnung rufe und wir uns den Geschäften widmen können, die dringend unserer Aufmerksamkeit bedürfen, möchte ich eine Erklärung abgeben. Aus zweierlei Gründen werde ich mich nicht um die Wiederwahl als Konsul bewerben. Erstens meine ich, daß die Notlage, in der sich unser Staat befand und die mir die einmalige Ehre verschaffte, so viele Male hintereinander Konsul zu werden, nun endgültig und für immer ihr glückliches Ende gefunden hat. Zweitens glaube ich, daß mir mein Gesundheitszustand nicht erlauben wurde, meinen Pflichten ordnungsgemäß nachzukommen. Ganz offensichtlich trage ich die Verantwortung für das gegenwärtige Chaos in Rom. Der erste Konsul müßte in dieser Situation in Rom sein, wozu ist er schließlich da? Ich klage weder Lucius Valerius noch Marcus Aemilius noch irgendeinen anderen Amtsträger dieser Versammlung an. Der erste Konsul muß die Führung innehaben, und ich konnte meine Führung nicht wahrnehmen. Daraus habe ich gelernt, daß ich nicht mehr als Konsul kandidieren darf. Der erste Konsul muß gesund sein.«
Niemand antwortete. Niemand rührte sich. Sein verzerrtes Gesicht hatte vermuten lassen, daß so etwas in der Luft lag, aber die Fassungslosigkeit war ein Beweis dafür, wie sehr er in den letzten fünf Jahren den Senat beherrscht hatte. Ein Senat ohne Gaius Marius auf dem Stuhl des Konsuls! Undenkbar! Selbst der Senatsvorsitzende Scaurus und Catulus Caesar waren schockiert.
Dann ertönte eine Stimme aus der letzten Reihe hinter Scaurus. »G-g-gut! Jetzt ka-ka-kann mein Va-Va-Vater na-nach Hause koko-kommen.«
»Vielen Dank für dieses Kompliment, junger Metellus.« Marius blickte ihn direkt an. »Du setzt voraus, daß ich allein der Grund bin, warum dein Vater noch im Exil auf Rhodos ist. Das ist aber, wie du wissen müßtest, nicht der Fall. Die Gesetze dieses Staates halten Quintus Caecilius Metellus Numidicus im Exil fest. Und ich fordere jedes einzelne Mitglied dieser hochverehrten Versammlung auf, sich diese Tatsache ins Gedächtnis zurückzurufen! Auch wenn ich nicht Konsul bin, darf keine Verordnung, kein Beschluß des Volkes, kein Gesetz übertreten werden!«
»Jung und dumm«, flüsterte Scaurus zu Catulus Caesar. »Wenn er das nicht gesagt hätte, hätten wir Quintus Caecilius Anfang nächsten Jahres in aller Stille zurückholen können. Jetzt wird es nicht klappen! Der junge Metellus hätte einen ganz anderen Spitznamen verdient!«
»Und zwar?« fragte Catulus Caesar.
»Metellus Pi-Pi-Pius!« Scaurus war wütend. »Metellus, der brave Sohn, der ständig darum kämpft, daß sein Papa nach Hause kommt. Und es dauernd ver-ver-vermasselt!«
Es war schon erstaunlich, wie schnell der Senat zur Tagesordnung überging, jetzt, wo Gaius Marius wieder im Amtsstuhl saß. Das ganze Haus war von einem wohligen Gefühl durchdrungen, als ob die Menschenmenge vor der Tür seit Gaius Marius’ Rückkehr keine Bedrohung mehr darstellte.
Marius nickte nur zustimmend, als man ihn davon unterrichtete, daß die Kandidatenvorstellung ausnahmsweise auf dem Marsfeld stattfinden sollte. Dann befahl er Saturninus kurzerhand, die Versammlung der Plebs einzuberufen und die Tribunen wählen zu lassen, denn solange das nicht geschehen war, konnten die übrigen Amtsträger nicht gewählt werden.
Danach faßte Marius Gaius Servilius Glaucia scharf ins Auge, der auf dem Amtsstuhl des Stadtprätors schräg hinter Marius saß. »Ich habe ein Gerücht gehört, Gaius Servilius«, sagte Marius zu Glaucia, »daß du aufgrund von Unstimmigkeiten, die du angeblich in der lex Villia gefunden hast, für das Amt des Konsuls kandidieren willst. Tu das bitte nicht. Die lex Villia annalis legt eindeutig fest, daß zwischen dem Ende der Amtszeit als Stadtprätor und dem Beginn der Amtszeit als Konsul zwei Jahre liegen müssen.«
»Sieh mal einer an, wer da den Mund aufmacht!« Glaucia schnappte nach Luft. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, daß aus dieser Ecke, aus der er Unterstützung erwartet hatte, Widerstand kommen wurde. »Wie kannst du so - dreist sein, Gaius Marius, und mir vorwerfen, ich wollte die lex Villia brechen? Du hast dieses Gesetz fünf Jahre hintereinander gebrochen! In der lex VilIia heißt es doch wohl unmißverständlich, daß zwischen dem Ende der Amtszeit des Konsuls und einer erneuten Kandidatur als Konsul zehn Jahre vergehen müssen.«
»Ich habe nur ein einziges Mal kandidiert, Gaius Servilius«, sagte Marius ruhig. »Man hat mir das Amt wegen der Germanen übertragen, und das dreimal in absentia! In einer Notlage brechen alle Traditionen und selbst die Gesetze zusammen. Aber wenn die Gefahr vorüber ist, müssen alle Ausnahmeregelungen wieder aufgehoben werden.«
»Ha-ha-ha!« lachte der junge Metellus von der letzten Bank. Diesmal harmonierte der Einwurf bestens mit seinem Sprachfehler.
»Es herrscht Frieden, eingeschriebene Väter«, fuhr Marius fort, ohne den Einwurf zu beachten, »deshalb kehren wir zur üblichen Arbeit und zur üblichen Art des Regierens zurück. Gaius Servilius, das Gesetz verbietet dir die Kandidatur für das Amt des Konsuls. Als Wahlleiter werde ich deine Kandidatur nicht zulassen. Bitte verstehe dies als gutgemeinte Warnung. Gib deinen Plan mit Anstand auf, das stünde dir gut zu Gesicht. Rom braucht Männer, die so gute Gesetze entwerfen, wie du das zweifelsohne kannst. Aber du kannst natürlich keine Gesetze mehr machen, wenn du das Gesetz brichst.«
»Ich hab’ es dir gesagt!« ließ sich Saturninus vernehmen.
»Er wird mich nicht hindern, niemand wird mich hindern«, sagte Glaucia so laut, daß der ganze Senat es hören konnte.
»Was dich betrifft, Lucius Appuleius«, wandte sich Marius jetzt zu der Bank der Volkstribunen, »so geht ein Gerücht um, daß du ein drittes Mal Volkstribun werden willst. Nun, das ist nicht verboten. Deshalb kann ich dich nicht daran hindern. Aber ich kann dich bitten, den Plan aufzugeben. Du solltest dem Wort ›Demagoge‹ keine neue Bedeutung verleihen. Was du in den letzten Monaten getan hast, entspricht nicht dem üblichen Verhalten eines Mitglieds des Senats von Rom. Wir haben ein umfangreiches Gesetzeswerk, und wir haben die großartige Gabe, die Regierungsarbeit im wohlverstandenen Interesse Roms zu leisten. Es gibt keine Veranlassung, die Leichtgläubigkeit der unteren Klassen in politischen Fragen auszunützen. Sie sind unschuldig und dürfen nicht verführt werden. Wir haben die Aufgabe, uns um die unteren Klassen zu kümmern, nicht, sie für unsere eigenen politischen Ziele einzuspannen.«
»Bist du fertig?« fragte Saturninus.
»Ich bin am Ende, Lucius Appuleius.« Die Art, wie Marius das sagte, ließ vielerlei Deutungen zu.
So, das war überstanden, dachte Marius beim Hinausgehen. Er hatte sich eine kraftvolle neue Gangart angewöhnt, die verbergen sollte, daß er den linken Fuß leicht nachzog. Wie eigenartig, wie gräßlich die Monate in Cumae gewesen waren! Er hatte sich versteckt, so wenig Besucher wie möglich empfangen, weil er das Erschrecken, das Mitleid und die Schadenfreude nicht ertragen konnte. Am schlimmsten waren die Menschen, die ihn so liebten, daß sie ihn bedauerten, wie Publius Rutilius. Die liebe, sanfte Julia hatte sich in einen wahren Drachen verwandelt. Sie hatte allen Besuchern verboten, selbst Publius Rutilius, auch nur ein Wort über Politik oder sonstige öffentliche Angelegenheiten zu sagen. Weder von der Getreidekrise noch von Saturninus’ Werbung bei den Armen und Besitzlosen hatte er etwas erfahren, sein Leben war eine strenge Kur aus Diät, maßvoller Bewegung und klassischer Lektüre gewesen. Statt leckerer Speckstücke mit geröstetem Brot hatte es gebackene Wassermelonen gegeben, weil Julia gehört hatte, daß solche Kost Nieren, Blase und Blut von Steinen reinige, statt in die curia hostilia zu gehen, war er nach Baiae und Misenum gewandert, statt Senatsprotokolle und Berichte aus den Provinzen zu lesen, hatte er sich mit Isokrates, Herodot und Thukydides geplagt - und war zu dem Schluß gelangt, daß er keinem der drei trauen durfte, denn da sprachen Männer des Worts und nicht Männer der Tat.
Aber die Kur tat ihre Wirkung. Ganz allmählich ging es ihm besser. Doch er würde nie mehr ganz der alte sein, der linke Mundwinkel wurde sich nie mehr straffen, nie mehr wurde er die Tatsache verbergen können, daß er müde war. Seine innere Stimme sprach gegen ihn, und alle Welt konnte das sehen. Als ihm das klar wurde, begehrte er auf. Julia, die sich ohnehin gewundert hatte, wie lange er brav und gehorsam geblieben war, gab sofort nach. Er ließ Publius Rutilius kommen und kehrte nach Rom zurück, um die Scherben zusammenzukehren, soweit das möglich war.
Marius wußte natürlich, daß Saturninus seine Pläne nicht aufgeben wurde. Aber wenigstens hatte er ihn gewarnt. Wegen Glaucia machte er sich keine Sorgen, niemals würde man Glaucias Wahl zulassen. Zumindest konnte jetzt gewählt werden. Die Wahl der Volkstribunen war für den Tag vor den Nonen angesetzt, die der Quästoren für die Nonen, den Tag, an dem sie eigentlich ihr Amt aufnehmen sollten. Es wurden turbulente Wahlen werden, denn sie mußten auf dem Versammlungsplatz auf dem Forum Romanum stattfinden, und noch immer drängten sich dort die Menschenmassen. Sie brüllten wüste Beschimpfungen, bewarfen die Togaträger mit Dreck, drohten ihnen mit den Fäusten und lauschten in blinder Andacht Saturninus’ Reden.
Gaius Marius beschimpften und bewarfen sie nicht. Auf dem Heimweg nach jener denkwürdigen Versammlung spürte er nur Wärme und Liebe und Bewunderung. Niemand, der aus einer Klasse unterhalb der Zweiten Vermögensklasse kam, wurde Gaius Marius je unfreundlich behandeln. Wie die Gracchen, war er ihr Held. Manche sahen ihm ins Gesicht und weinten über die Verwüstung, manche hatten ihn nie zuvor leibhaftig gesehen und hielten sein Gesicht für normal, wie es war, und bewunderten ihn nur um so mehr. Niemand versuchte, ihn anzufassen, alle traten zurück, um ihm eine Gasse freizugeben. Stolz und doch ehrerbietig schritt er durch die Reihen, sein Herz und sein Geist reckten sich den Menschen entgegen. Eine wortlose Vereinigung. Saturninus, der alles von der Rednerbühne aus beobachtete, staunte.
»Ist die Masse nicht ein eindrucksvolles Phänomen?« fragte Sulla später beim Abendessen. Auch Publius Rutilius Rufus und Julia waren dabei.
»Ein Zeichen der Zeit, in der wir leben«, sagte Rutilius.
»Ein Zeichen dafür, daß wir sie betrogen haben.« Marius runzelte die Stirn. »Rom braucht eine Ruhepause. Seit Gaius Gracchus waren wir dauernd in ernsten Schwierigkeiten - Jugurtha, die Germanen, die Skordisker, die Unzufriedenheit der Bundesgenossen, Sklavenaufstände, Piraten, Getreideknappheit, die Liste nimmt kein Ende. Wir brauchen eine Ruhepause, ein bißchen Zeit, uns um Rom zu kümmern und nicht nur um uns selber. Hoffentlich bekommen wir jetzt diese Ruhepause. Wenn die Getreideversorgung besser wird, dann auf jeden Fall.«
»Ich habe eine Nachricht von Aurelia«, sagte Sulla.
Marius, Julia und Rutilius Rufus blickten ihn neugierig an.
»Du triffst dich mit ihr, Lucius Cornelius?« fragte Rutilius Rufus, ganz der wachsame Onkel.
»Du mußt dich nicht gleich wie eine Glucke aufführen, Publius Rutilius! Ja, ich treffe sie ab und zu, wir sind in gewisser Weise Gleichgesinnte. Sie sitzt dort unten in der Subura, und das ist auch meine Welt. Ich habe dort immer noch Freunde, Aurelia liegt gewissermaßen auf meinem Weg.«
»Ach je, ich hätte sie auch zum Abendessen einladen sollen«, sagte Julia und bedauerte ihr Versehen. »Dort unten vergißt man sie so leicht.«
»Das nimmt sie dir nicht übel«, sagte Sulla. »Versteht mich nicht falsch, sie liebt ihre Welt. Aber sie bleibt gern auf dem laufenden, was die Ereignisse auf dem Forum betrifft, und das ist meine Aufgabe. Du bist ihr Onkel, Publius Rutilius, du willst immer alle Schwierigkeiten von ihr fernhalten. Ich dagegen erzähle ihr alles. Ich stelle immer wieder verblüfft fest, wie klug sie ist.«
»Wie lautet die Botschaft?« fragte Marius und nippte an einem Glas Wasser.
»Sie stammt von ihrem Freund Lucius Decumius, dem eigenartigen kleinen Kerl, der den Kreuzwegeverein in ihrem Mietshaus leitet, und lautet ungefähr so: Wenn ihr geglaubt habt, es drängten sich Massen auf dem Forum, habt ihr bis jetzt noch gar nichts gesehen. An dem Tag, an dem die Volkstribunen gewählt werden, werdet ihr nicht in eine Pfütze, sondern in ein Meer von Gesichtern schauen.«
Lucius Decumius behielt recht. Bei Sonnenaufgang stiegen Gaius Marius und Lucius Cornelius Sulla auf die Arx des Kapitols. Sie lehnten an der niedrigen Brüstung, vor der die Mauern der Lautumiae steil abfielen, das Forum Romanum lag direkt unter ihnen. So weit das Auge reichte, erblickten sie ein einziges Menschenmeer, dicht gedrängt vom Clivus Capitolinus bis zur Velia. Die Menschen verhielten sich ruhig und diszipliniert, dennoch war der Anblick atemberaubend und ein bißchen bedrohlich.
»Was soll das?« fragte Marius.
»Lucius Decumius sagt, sie wollen nur zeigen, daß sie da sind. Heute werden die neuen Volkstribunen gewählt. Sie haben gehört, daß Saturninus kandidieren wird, und mit ihm rechnen sie sich die besten Chancen auf volle Bäuche aus. Der Hunger hat gerade erst angefangen, Gaius Marius. Und sie wollen nicht hungern«, sagte Sulla in gleichmütigem Ton.
»Aber sie können das Ergebnis der Wahlen in den Tribus und in den Zenturien doch gar nicht beeinflussen! Fast alle dürften zu den vier städtischen Abstimmungsgruppen gehören.«
»Das ist richtig. Und von den einunddreißig ländlichen Tribus werden nur wenige hier sein außer denen, die ohnehin in Rom leben«, sagte Sulla. »Heute ist keine Feiertagsstimmung, die Wähler vom Lande anlocken könnte. Nur wenige von denen, die dort unten stehen, werden also tatsächlich ihre Stimme abgeben können. Das wissen sie. Sie sind nicht hier, um zu wählen. Sie sind einfach hier, um uns zu zeigen, daß es sie gibt.«
»Ist das Saturninus’ Idee?« fragte Marius.
»Nein. Seine Gefolgschaft hast du an den Kalenden gesehen und jeden Tag seither. Abschaum. Angehörige der Kreuzwegevereine, ehemalige Gladiatoren, Diebe und Unzufriedene, leichtgläubige Ladenbesitzer, denen das Geld ausgegangen ist, Freigelassene, denen der Hader mit ihren ehemaligen Besitzern langweilig geworden ist, und viele, die sich ein paar Denare ausrechnen, wenn sie dafür sorgen, daß Lucius Appuleius Volkstribun bleibt.«
»So einfach ist es nicht«, sagte Marius. »Zum ersten Mal haben sie erlebt, daß jemand sie ernst genommen hat, und jetzt sind sie ihm ergeben.« Er stützte sich auf die linke, die gelähmte Körperseite. »Die Leute hier gehören nicht zu Lucius Appuleius Saturninus. Sie gehören niemandem. Bei den Göttern, auf dem Schlachtfeld von Vercellae habe ich nicht mehr Kimbern gesehen als heute Menschen auf dem Forum Romanum! Und ich habe kein Heer. Nur eine purpurgesäumte Toga. Ein ziemlich ernüchternder Gedanke.«
»In der Tat.«
»Obwohl, ich bin mir gar nicht so sicher... Vielleicht ist meine purpurgesäumte Toga die einzig richtige Waffe. Plötzlich erscheint mir Rom in einem ganz anderen Licht, Lucius Cornelius. Diese Menschen sind heute hierhergekommen, damit wir sie sehen. Aber sie leben jeden Tag hier in Rom, gehen ihren Geschäften nach. Jederzeit könnten sie innerhalb einer Stunde wieder hier stehen. Und wir glauben, daß wir sie regieren?«
»Wir regieren sie, Gaius Marius. Sie können sich nicht selbst regieren. Sie geben sich in unsere Hand. Gaius Gracchus gab ihnen billiges Brot zu essen, und die Ädilen gaben ihnen wunderbare Spiele zu bestaunen. Jetzt kommt Saturninus daher und verspricht ihnen mitten in der Hungersnot billiges Brot. Er kann seine Versprechungen nicht halten, und sie beginnen zu ahnen, daß er es nicht kann. Deshalb wollen sie sich ihm während seiner Wahl zeigen«, sagte Sulla.
Marius hatte ein Bild dafür gefunden. »Sie sind wie ein riesiger und doch sehr gutmütiger Stier. Wenn der Stier auf dich zukommt, weil du einen Eimer in der Hand hältst, interessiert er sich nur für das Futter im Eimer. Wenn er sieht, daß der Eimer leer ist, wird er nicht wütend und spießt dich mit seinen Hörnern auf, er glaubt bloß, du hättest das Futter irgendwo am Körper versteckt. Und bei der Suche nach dem Futter trampelt er dich zu Tode, ohne es auch nur zu bemerken.«
»Saturninus hat einen leeren Eimer.«
»Genau.« Marius wandte sich von der Mauer ab. »Komm, Lucius Cornelius, wir packen den Stier bei den Hörnern.«
»Und hoffen«, grinste Sulla, »daß Saturninus nicht doch irgendwo Heu für sie versteckt hat.«
Keiner aus der ungeheuren Menschenmenge stellte sich den Senatoren und den politisch interessierten Bürgern, die wie immer ihre Stimme in den Zenturiatkomitien abgeben wollten, in den Weg. Marius stieg auf die Rednerbühne, Sulla blieb mit den anderen patrizischen Senatoren auf der Treppe stehen. Die Wahlberechtigten in der Versammlung der Plebs waren eine Insel in einem Meer von ziemlich schweigsamen Zuschauern - eine weitgehend versunkene Insel mit der Rednerbühne als Fels in der Brandung. Man hatte natürlich mit dem Pöbel gerechnet. Viele Senatoren und gewöhnliche Wähler trugen Messer und Knüppel unter ihren Togen versteckt, besonders die kleine Gruppe konservativer Senatorensöhne unter Führung des jungen Caepio hatte sich gerüstet. Aber Saturninus’ Pöbel war nicht erschienen. Die Armen hatten sich in stummem Protest versammelt. Messer und Knüppel erschienen plötzlich völlig fehl am Platze.
Einer nach dem anderen stellten sich die zwanzig Kandidaten vor, Marius beobachtete sie genau. Als erster sprach der amtierende Volkstribun Lucius Appuleius Saturninus, und die ganze riesige Menschenmenge jubelte ihm begeistert zu. Saturninus war sichtlich überrascht, wie Marius feststellte. Saturninus dachte angestrengt nach, das war deutlich von seinem Gesicht abzulesen. Was für eine Gefolgschaft für diesen einen Mann! Was wurde er alles erreichen können mit dreihunderttausend Römern, den Armen und Besitzlosen, im Rücken? Wer wurde noch den Mut aufbringen, ihn vom Amt des Volkstribunen fernzuhalten, wenn dieses Ungeheuer aus menschlichen Leibern ihn trug?
Die anderen Kandidaten, die sich nach Saturninus vorstellten, nahm die Menge mit gleichgültigem Schweigen zur Kenntnis: Publius Funus, Quintus Pompeius Rufus aus der in Picenum ansässigen Linie der Familie, Sextus Titius aus Samnium, und der rothaarige, grauäugige und sehr vornehm wirkende Marcus Porcius Cato Salonianus, der Enkel von Cato dem Zensor, dem Bauern aus Tusculum, und Urenkel eines keltischen Sklaven.
Als letzter erschien Lucius Equitius, der immer noch überall herumerzählte, er sei ein Bastard von Tiberius Gracchus, und den Metellus Numidicus als Zensor nicht in die Liste der Ritter hatte einschreiben wollen. Die Menge begann wieder zu jubeln, die Begeisterung machte sich in wildem Geschrei Luft. Hier stand ein Nachfahre des geliebten Tiberius Gracchus. Und Marius erkannte, wie zutreffend sein Bild von dem riesigen, sanften Stier war. Die Menge drängte sich langsam immer näher an die Rednerbühne und an Lucius Equitius heran. Die Menschen wußten nichts von ihrer Kraft. In kleinen Wellen rückten sie unaufhaltsam vor und schoben die Wähler immer dichter zusammen. Panik kam auf bei denen, die wählen wollten, sie spürten die lähmende Angst und den hilflosen Schrecken, die alle Menschen befallen, wenn sie von einer Kraft umringt sind, gegen die sie nichts ausrichten können.
Während alle anderen wie gelähmt dastanden, trat der wirklich gelähmte Gaius Marius entschlossen vor. Mit ausgestreckten Armen zeigte er der Menge seine Handflächen, eine Geste, die »Halt! Keinen Schritt weiter!« bedeutete. Die Menge blieb sofort stehen. Der Druck ließ nach, und jetzt wurde Gaius Marius bejubelt, der Erste Mann in Rom, der dritte Gründer Roms, der Sieger über die Germanen.
»Schnell, du Narr!« fauchte er Saturninus an. »Sag, du hast Donner gehört - oder irgend etwas anderes, warum die Versammlung aufgehoben ist! Wenn wir die Wähler nicht wegschaffen, wird die Menge sie allein durch ihre Anzahl umbringen.« Er befahl den Herolden, ihre Trompeten zu blasen. In der überraschten Stille, die darauf eintrat, hob er noch einmal die Arme. »Donner!« brüllte er. »Die Wahl findet morgen statt! Geht nach Hause, Bürger Roms! Geht nach Hause!«
Und die Menschen gingen nach Hause.
Glücklicherweise hatten die meisten Senatoren in der Curia Zuflucht gesucht. Dorthin folgte ihnen Marius, sobald er sich einen Weg bahnen konnte. Saturninus war, wie er bemerkte, von der Rednerbühne gestiegen und badete in der Menge. Er lachte, reckte seine Arme empor, wie einer jener seltsamen Mystiker aus Pisidien, die an das Handauflegen glaubten. Und Glaucia, der Stadtprätor? Er hatte die Rednerbühne erklommen und beobachtete mit breitem Grinsen Saturninus’ Weg durch die Menge.
Kreidebleiche, verzerrte Gesichter wandten sich Marius zu, als er die Curia betrat.
»Wir stecken ganz schön in der Klemme!« sagte der Senatsvorsitzende Scaurus, wie immer in aufrechter Haltung, aber auch deutlich blasser als sonst.
Marius ließ den Blick über die Senatoren schweifen, die in Gruppen zusammenstanden, und sagte in festem Ton: »Geht nach Hause, ich bitte euch! Die Menge wird euch nichts tun, trotzdem nehmt besser den Weg über das Argiletum, auch wenn ihr in Richtung Palatin müßt. Wenn ihr euch nur über einen sehr langen Heimweg beklagen müßt, seid ihr gut weggekommen. Jetzt geht! Geht!«
Marius klopfte ein paar Senatoren, mit denen er noch sprechen wollte, auf die Schultern. Nur Sulla, Scaurus, der Zensor Metellus Caprarius, der pontifex maximus Ahenobarbus, Crassus Orator und sein Vetter Scaevola, beides kurulische Ädilen, blieben zurück. Marius registrierte mit Interesse, wie Sulla zu dem jungen Caepio und Metellus dem Ferkel hinüberging, ihnen etwas zuflüsterte und sie mit einem offensichtlich freundschaftlichen Schlag auf die Schultern verabschiedete. Ich muß herausfinden, was da vor sich geht, dachte Marius, aber später. Wenn ich Zeit habe. Falls ich je Zeit haben werde. »Tja, so etwas haben wir noch nicht erlebt«, fing er an. »Das kann einem schon Angst einjagen.«
»Ich glaube nicht, daß sie etwas im Schilde führen«, sagte Sulla.
»Das glaube ich auch nicht«, sagte Marius. »Aber sie sind trotzdem wie ein riesiger Stier, der seine Kräfte nicht einschätzen kann.« Er gab seinem ersten Schreiber ein Zeichen. »Hol mir jemand, der für mich zum Forum läuft. Ich brauche den Vorsteher der Liktoren, auf der Stelle.«
»Was schlägst du vor? Was sollen wir tun?« fragte Scaurus. »Sollen wir die Wahl der Volkstribunen verschieben?«
»Nein, wir können sie ebensogut jetzt hinter uns bringen«, sagte Marius bestimmt. »Im Augenblick ist unser Stier noch ein gehorsames Tier, aber wer kann schon sagen, wie wütend er wird, wenn wir die Hungersnot nicht beenden können? Wir sollten nicht warten, bis wir ihm Heu um die Hörner wickeln müssen, als Zeichen, daß er bösartig ist, denn wenn er böse ist, wird er einen von uns auf die Hörner nehmen. Ich lasse den Vorsteher der Liktoren kommen, weil ich glaube, daß ein leichter Zaun unseren Stier morgen noch zurückhalten kann. Die Staatssklaven sollen die ganze Nacht lang arbeiten und um den Versammlungsplatz sowie zwischen dem Versammlungsplatz und der Senatstreppe einen harmlos aussehenden Zaun ziehen, so einen, wie wir sonst bei Leichenfeiern auf dem Forum aufstellen, um die Zuschauer zurückzuhalten. Der Anblick wird ihnen vertraut sein, sie werden den Zaun nicht als Zeichen unserer Furcht deuten. Außerdem werde ich alle verfügbaren Liktoren an diesem Zaun aufstellen, alle in dunkelrote Tunikas gekleidet, unbewaffnet bis auf Knüppel. Unser Stier darf keinesfalls auf die gefährliche Idee kommen, er sei größer und stärker als wir. Auch Stiere können nämlich denken! Und morgen finden die Wahlen statt, auch wenn nur fünfunddreißig Wähler erscheinen. Das bedeutet, daß ihr alle auf dem Heimweg noch ein paar Besuche machen und die Senatoren in eurer Nachbarschaft für morgen zusammentrommeln müßt. Auf diese Weise können wir sicherstellen, daß zumindest ein Mitglied von jedem Tribus anwesend ist. Auch eine Wahl mit magerer Wahlbeteiligung ist gültig. Habt ihr das alle verstanden?«
»Verstanden«, sagte Scaurus.
»Wo war Quintus Lutatius heute?« fragte Sulla den Senatsvorsitzenden.
»Krank, glaube ich«, antwortete Scaurus. »Er wird wohl wirklich krank sein - an Mut fehlt es ihm gewiß nicht.«
Marius wandte sich an Metellus Caprarius, den Zensor. »Du, Gaius Caecilius, wirst morgen die schwierigste Aufgabe haben«, sagte er. »Wenn Equitius seine Kandidatur verkündet, werde ich dich fragen, ob du zustimmst. Was wirst du antworten?«
Caprarius zögerte keinen Augenblick. »Ich werde mit Nein antworten, Gaius Marius. Ein ehemaliger Sklave soll Volkstribun werden? Undenkbar.«
»Gut, das ist alles, ich danke euch«, sagte Marius. »Macht euch auf den Weg und schafft mir morgen alle eure schlotternden Kollegen her. Lucius Cornelius, du bleibst. Ich übergebe dir die Verantwortung für die Liktoren, du solltest also hier sein, wenn ihr Vorsteher eintrifft.«
Als der nächste Morgen graute, stand die Menge wieder da. Der Versammlungsplatz war mit einem einfachen Zaun aus Pfosten und Schnüren abgegrenzt, wie er üblicherweise aufgestellt wurde, wenn auf dem Forum Gladiatorenkämpfe zu Ehren eines Toten stattfanden. Im Abstand von ein paar Metern reihten sich die Liktoren in dunkelroten Tuniken mit dicken Knüppeln in den Händen entlang des Zaunes. Auch das machte keinen besonderen Eindruck. Und als Gaius Marius vortrat und erklärte, diese Maßnahmen sollten verhindern, daß jemand von der Menge zerquetscht wurde, jubelten sie ihm wie am Vortag zu. Was die Menschen allerdings nicht sehen konnten, war die Gruppe, die in der curia hostilia postiert war. Lange vor dem Morgengrauen hatte Sulla seine fünfzig vornehmen jungen Männer aus der Ersten Vermögensklasse dorthin gebracht. Sie trugen Schilde, Helme und Harnische, Schwerter und Dolche baumelten an ihren Hüften. Der junge Caepio zitterte vor Aufregung, obwohl er nur ihr stellvertretender Führer war. Die Kommandos gab Sulla selbst.
»Wir verhalten uns ruhig, bis ich einen Befehl gebe«, sagte Sulla. »Wer sich ohne meinen Befehl von der Stelle rührt, den bringe ich eigenhändig um.«
Auf der rostra war alles für die Wahl bereit. Eine erstaunlich große Zahl von Wählern hatte sich eingefunden, auch die Hälfte der Senatoren war gekommen. Die patrizischen Senatoren standen wie immer auf den Senatstreppen. Catulus Caesar war auch dabei, und er sah so krank aus, daß man ihm einen Stuhl gebracht hatte. Der Zensor Caprarius stand auch auf der Treppe, obwohl er als Plebejer eigentlich auf den Versammlungsplatz gehört hätte. Aber er hatte diesen Platz gewählt, weil er da besser gesehen wurde.
Als Saturninus zum zweiten Mal seine Kandidatur verkündete, jubelte ihm die Menge geradezu hysterisch zu. Die übrigen Kandidaturen wurden wieder stillschweigend zur Kenntnis genommen. Bis als letzter Lucius Equitius kam.
Marius drehte sich zu den Senatstreppen. Er zog die Augenbraue in der gesunden Gesichtshälfte in einer stummen Frage nach oben. Metellus Caprarius antwortete mit einem entschiedenen Kopfschütteln. Eine laute Frage wäre unmöglich gewesen, da die Menge immer noch Lucius Equitius zujubelte, als wollte sie nie mehr aufhören.
Die Herolde bliesen ihre Trompeten. Marius trat vor. Stille. »Dieser Mann, Lucius Equitius, steht für die Wahl als Volkstribun nicht zur Verfügung!« schrie er, so laut er konnte. »Es gibt Zweifel an seinem Status als Bürger. Der Zensor muß das klären, bevor sich Lucius Equitius um ein öffentliches Amt des Senats und des Volkes von Rom bewerben kann!«
Saturninus stieß Marius zur Seite und stand jetzt am äußersten Rand der rostra. »Es gibt keinerlei Zweifel!«
»Ich erkläre im Auftrag des Zensors, daß Zweifel bestehen«, wiederholte Marius ungerührt.
Saturninus wandte sich an die Menge. »Lucius Equitius ist ein Römer, wie ihr alle!« kreischte er. »Schaut ihn euch an, schaut ihn euch doch an! Als ob Tiberius Gracchus vor uns stünde!«
Lucius Equitius aber starrte in eine Ecke, die außerhalb des Blickfeldes der Menge lag, selbst außerhalb des Blickfelds derer, die in der ersten Reihe standen. Dort holten Senatoren und Söhne von Senatoren Messer und Prügel unter ihren Tuniken hervor und bewegten sich langsam auf die rostra zu, als hätten sie es auf Lucius Equitius abgesehen.
Lucius Equitius, der tapfere Veteran, der zehn Jahre in den Legionen gekämpft hatte - zumindest erzählte er es so -, zuckte zurück, drehte sich zu Marius um und umklammerte seinen rechten Arm. »Hilf mir!« schlotterte er.
»Am liebsten wurde ich dir mit dem Stiefelabsatz helfen, du dummer Unruhestifter«, grollte Marius. »Wir müssen heute unter allen Umständen die Wahlen durchführen. Du kannst nicht hier oben bleiben, sonst wird man dich lynchen. Am besten lasse ich dich zu deinem eigenen Schutz in die Zellen der Lautumiae eskortieren, und dort wartest du ab, bis alle nach Hause gegangen sind.«
Zwei Dutzend Liktoren standen auf der Rednerbühne, viele trugen Rutenbündel als Zeichen, daß sie zu Gaius Marius gehörten. Sie nahmen Lucius Equitius in die Mitte und machten sich auf den Weg in Richtung der Lautumiae. Die Menge wich vor ihnen zurück, vor der Autorität der einfachen, purpurumschlungenen Rutenbündel.
Es ist unglaublich, dachte Marius, während er mit den Augen den Weg der Liktoren durch die Menge verfolgte. Wenn man sie jubeln hört, muß man glauben, daß sie diesen Mann inbrünstiger als jeden Gott verehren. Für sie muß es so aussehen, als hätte ich diese Kreatur verhaften lassen. Und was tun sie? Was sie immer tun, wenn sie eine Gruppe von Liktoren mit Rutenbündeln sehen, hinter denen eine purpurgesäumte Toga herstolziert: Sie weichen zurück. Auch nicht für einen Lucius Equitius greifen sie die Macht der Ruten und der purpurgesäumten Toga an. Das ist Rom. Was ist dagegen schon ein Lucius Equitius? Er ist doch nur ein pathetischer Abklatsch von Tiberius Sempronius Gracchus, und den haben sie aus ganzem Herzen geliebt. Sie jubeln nicht für Lucius Equitius! Sie jubeln zum Andenken an Tiberius Gracchus.
Mit einem ganz neuen Gefühl von Stolz beobachtete Gaius Marius, wie sich für die Liktoren das Meer der Menschen, der Römer aus den unteren Schichten, teilte - Stolz auf das Althergebrachte, auf die Bräuche und Traditionen, die auch nach sechshundertvierundfünfzig Jahren noch so viel Macht besaßen. Diesem Ansturm, der stärker war als die Invasion der Germanen, war man mit nichts anderem als ein paar Rutenbündeln auf der Schulter gewachsen! Und ich, dachte Gaius Marius, stehe hier mit meiner purpurgesäumten Toga und habe überhaupt keine Angst, nur weil ich diese Toga trage. Ich stehe hier und weiß, daß ich größer bin als jeder König, der je auf dieser Welt geherrscht hat. Denn ich habe keine Armee, innerhalb dieser Stadt tragen die Liktoren keine Beile zwischen den Ruten, ich habe keine persönliche Wache mit Schwertern. Und dennoch geben sie dem Symbol meiner Autorität den Weg frei - ein paar Stöckchen und ein formloses Stück Stoff, das mit ein bißchen Purpur gesäumt ist. Ja, ich bin lieber Konsul von Rom als König der Welt.
Die Liktoren kamen von den Lautumiae zurück, kurz darauf war auch Lucius Equitius wieder da. Die Menge hatte ihn stillschweigend aus der Zelle befreit. Er hüpfte ohne großes Aufsehen auf die rostra, fast so, meinte Marius, als wollte er sich entschuldigen. Und da stand er, ein zitterndes Wrack, und wünschte sich an jeden anderen Platz der Welt außer diesem. Für Marius war die Botschaft der Masse eindeutig - füll meinen Eimer, ich bin hungrig, versteck mein Futter nicht.
Inzwischen beeilte sich Saturninus mit der Wahl. Er war besorgt und wollte wiedergewählt sein, bevor etwas Unvorhergesehenes passieren konnte. Insgeheim malte er sich seine Zukunft in den leuchtendsten Farben aus. Der Jubel der Menge stieg ihm zu Kopf. Jubelten sie nicht nur deshalb Lucius Equitius zu, weil er wie Tiberius Gracchus aussah? Jubelten sie nicht Gaius Marius zu, diesem gebrochenen alten Dummkopf, weil er Rom vor den Barbaren gerettet hatte? Ja, aber ihm jubelten sie anders zu als Lucius Equitius oder Gaius Marius! Was für ein Material stellten sie für seine Zwecke dar! Das hier war nicht der Pöbel aus den letzten Löchern der Subura, diese Menge bestand aus respektablen Bürgern, deren Bäuche zwar leer waren, die aber ihre Prinzipien nicht aufgegeben hatten.
Nacheinander traten die Kandidaten vor, und alle Tribus gaben ihre Stimmen ab. Die Wahlaufseher kritzelten eifrig, Marius und Saturninus beobachteten alles genau. Schließlich war der Zeitpunkt gekommen, wo man die Sache mit Lucius Equitius klären mußte. Marius schaute Saturninus an. Saturninus schaute Marius an. Marius blickte hinüber zu den Senatstreppen.
»Ich frage dich, den Zensor Gaius Caecilius Metellus Caprarius«, rief Marius. »Soll ich weiterhin diesem Mann die Kandidatur verwehren, oder ziehst du deine Einwände zurück?«
Caprarius wandte sich hilflos an Scaurus, der starrte auf den graugesichtigen Catulus Caesar, der wiederum starrte auf den pontifex maximus. Der blickte zu Boden. Eine lange Pause trat ein. Die Menge beobachtete schweigend das Geschehen, voller Faszination, aber ohne die leiseste Ahnung, was sich abspielte.
»Laß ihn kandidieren!« rief Metellus Caprarius.
»Laß ihn kandidieren«, sagte Marius zu Saturninus.
Die Stimmen wurden ausgezählt. Lucius Appuleius Saturninus war zum dritten Mal an erster Stelle als Volkstribun gewählt worden, außer ihm wurden Cato Saloninanus, Quintus Pompeius Rufus, Publius Funus und Sextus Titius gewählt. Auf den zweiten Platz kam, mit nur drei oder vier Stimmen hinter Saturninus, der ehemalige Sklave Lucius Equitius.
»Was für ein dienstbares Kollegium wir mit den Volkstribunen dieses Jahr haben werden!« höhnte Catulus Caesar. »Nicht nur ein Cato Salonianus, sogar ein echter Freigelassener!«
»Die Republik ist tot!« Ahenobarbus, der pontifex maximus, warf Metellus Caprarius einen verächtlichen Blick zu.
»Ja, was hätte ich denn tun sollen?« blökte Metellus Ziegenbock. Weitere Senatoren kamen herbei, und Sullas kämpferische Senatorensöhne, jetzt ohne ihre kriegerische Ausrüstung, tauchten aus dem Inneren der Curia auf. Die Senatstreppen schienen momentan der sicherste Platz zu sein - auch wenn immer deutlicher wurde, daß sich die Menschenmassen nun, wo ihre Helden gewählt waren, zerstreuten.
Der junge Caepio spuckte ihnen nach. »Da geht er für heute hin, der Pöbel!« preßte er mit wutverzerrtem Gesicht hervor. »Schaut sie euch an! Diebe, Mörder, Männer, die ihre eigenen Töchter vergewaltigen!«
»Sie sind kein Pöbel, Quintus Servilius«, sagte Marius mit strenger Miene. »Sie sind Römer, und sie sind arm, aber sie sind keine Diebe und Mörder. Und sie haben ihre tägliche Hirse mit Steckrüben langsam satt. Ihr solltet lieber hoffen, daß Lucius Equitius sie nicht aufhetzt. Während dieser ganzen elenden Wahlen haben sie sich ausgezeichnet benommen, aber das könnte sich schnell ändern, wenn Hirse und Steckrüben auf dem Markt immer teurer werden.«
»Ach, darüber müssen wir uns keine Sorgen machen«, sagte Gaius Memmius fröhlich. Er war in bester Laune, denn die Wahl der Volkstribunen hatte vorschriftsmäßig stattgefunden, und seine gemeinsame Kandidatur mit Marcus Antonius Orator für das Amt des Konsuls erschien aussichtsreicher denn je. »In ein paar Tagen wird sich die Lage bessern. Marcus Antonius hat mir erzählt, daß es unseren Agenten in der Provinz Asia gelungen ist, irgendwo ganz am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres eine große Menge Getreide aufzukaufen. Das erste Schiff der Getreideflotte müßte jeden Tag in Puteoli eintreffen.«
Alle starrten ihn mit offenen Mündern an.
»Nun«, sagte Marius, und weil er einen Augenblick vergaß, daß er nicht mehr mit süßer Ironie lächeln konnte, verzog er sein Gesicht zu einer furchtbaren Grimasse. »Wir alle haben zur Kenntnis genommen, daß du anscheinend die Gabe besitzt, die Zukunft der Getreideversorgung vorherzusehen. Dennoch wüßte ich gern, wie ausgerechnet du zu dieser Information gekommen bist, obwohl weder ich - immerhin der erste Konsul! - noch Marcus Aemilius hier - der Vorsitzende des Senats und curator annonae - etwas davon wissen?«
Zwanzig Augenpaare richteten sich auf Memmius. Der schluckte. »Es ist kein Geheimnis, Gaius Marius. In Athen sind wir zufällig im Gespräch darauf gestoßen, nachdem Marcus Antonius von seiner letzten Reise nach Pergamum zurückgekehrt war. Er hatte ein paar unserer Getreideaufkäufer dort getroffen, und die haben es ihm erzählt.«
»Und warum hat es Marcus Antonius nicht für nötig befunden, mich als den für die Getreideversorgung verantwortlichen Beamten davon in Kenntnis zu setzen?« fragte Scaurus in eisigem Ton.
»Ich nehme an, weil er - wie ich doch auch, wirklich! - angenommen hat, daß du das längst wußtest. Die Einkäufer haben doch Briefe geschrieben, warum solltest du nicht Bescheid gewußt haben?«
»Die Briefe sind hier nicht eingetroffen«, sagte Marius und nickte zu Scaurus hinüber. »Darf ich dir, Gaius Memmius, unseren Dank dafür aussprechen, daß du uns diese großartigen Neuigkeiten mitgeteilt hast?«
»Wirklich gute Nachrichten«, sagte Scaurus. Sein Zorn legte sich langsam.
»Wir sollten jetzt um unser aller Wohl willen hoffen, daß kein Sturm aufkommt und das Getreide auf dem Grund des Mittelmeeres versenkt«, sagte Marius. Die Menschen auf dem Forum hatten sich inzwischen so weit verlaufen, daß er den Heimweg für sicher hielt. Außerdem hatte er nichts dagegen, noch mit ein paar von ihnen zu sprechen. »Senatoren, morgen treffen wir uns wieder hier, zur Wahl der Quästoren. Und am Tage darauf marschieren wir alle hinaus auf das Marsfeld, wenn sich dort die Männer vorstellen, die als Konsuln und Prätoren kandidieren. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag.«
»Du bist ein Schwachkopf, Gaius Memmius«, verkündete Catulus Caesar von seinem Stuhl aus ein niederschmetterndes Verdikt.
Gaius Memmius hatte keine Lust, ein Streitgespräch mit einem Mitglied der hohen Aristokratie zu beginnen, und ging in Marius’ Kielwasser davon. Er wollte Marcus Antonius in seiner gemieteten Villa auf dem Marsfeld besuchen und ihm die Ereignisse des Tages berichten. Während er hurtig ausschritt, wurde ihm klar, wie er und Marcus Antonius sich zusätzliche Pluspunkte in der Gunst der Wähler erwerben konnten. Wenn sich am übernächsten Tag die Zenturien versammelten, um sich die Vorstellung der Kandidaten für die kurulischen Ämter anzuschauen, mußten Marcus Antonius und er nur ihre Agenten unter die Wähler mischen, und die Agenten sollten die Nachricht vom baldigen Eintreffen der Getreideflotte so verbreiten, als ob man das den beiden Kandidaten für das Konsulat zu verdanken hätte. Die Erste und die Zweite Vermögensklasse mochten darüber jammern, daß die Getreidekäufe den Staat viel zuviel Geld kosteten, aber nachdem Memmius die Menschenmengen auf dem Forum gesehen hatte, zählte er darauf, daß auch die Reichen froh wären, wenn Roms hungrige Mäuler endlich gestopft wurden.
In der Morgendämmerung des Tages, an dem die Vorstellung der Kandidaten in der Saepta stattfinden sollte, machte sich Memmius auf den Weg vom Palatin zum Marsfeld, begleitet von Freunden und Anhängern, die alle bester Laune waren, denn sie zweifelten nicht daran, daß Antonius und er es schaffen würden. Lachend und scherzend marschierten sie schnellen Schrittes über das Forum Romanum. An diesem klaren Morgen im Spätherbst wehte ein kühler Wind, und so zitterten sie ein wenig, als sie das Fontinalis-Tor passierten, das in tiefem Schatten lag. Aber der Gedanke an den Sieg, der auf der sonnigen Ebene unterhalb der Arx auf sie wartete, lenkte sie ab. Bald würde Gaius Memmius Konsul sein.
Auch andere Männer gingen zur Saepta, in Gruppen, paarweise, nur wenige allein. Ein Angehöriger der Vermögensklassen, die die kurulischen Beamten wählen durften, zeigte sich in der Öffentlichkeit gerne in Gesellschaft, denn das mehrte seine dignitas.
An der Stelle, wo die Straße vom Quirinal in die Via Lata mündete, stießen Gaius Memmius und seine Begleiter auf eine Gruppe von ungefähr fünfzig Männern, die niemand anderen als Gaius Servilius Glaucia begleiteten.
Verblüfft blieb Memmius stehen. »Wo gehst du denn hin, und in dieser Aufmachung?« fragte er mit einem verwunderten Blick auf Glaucia, der die Toga der Kandidaten trug. Die Toga wurde besonders gebleicht, indem man sie tagelang in die Sonne hängte. Zusätzlich wurde mit großer Sorgfalt zu Puder verriebener Kalk aufgetragen, bis ein Weiß von blendender Reinheit erschien. Eine solche Toga durfte man nur tragen, wenn man für ein öffentliches Amt zur Wahl stand.
»Ich kandidiere für das Amt des Konsuls«, sagte Glaucia.
»Das geht nicht, das weißt du doch selber«, sagte Memmius.
»Oh doch, ich kandidiere!«
»Gaius Marius sagte, daß du nicht kandidieren darfst.«
»Gaius Marius sagte, daß ich nicht kandidieren darf«, äffte Glaucia Gaius Memmius mit künstlich hoher Stimme nach. Dann wandte er Memmius demonstrativ den Rücken zu und sprach mit lauter Stimme, affektiert wie eine Tunte, zu seinen Begleitern. »Gaius Marius hat mir verboten zu kandidieren! Gut! Ich muß sagen, ich finde es schon ganz schön happig, wenn richtige Männer nicht mehr kandidieren dürfen, aber hübsche kleine Schwule schon!«
Inzwischen hatte sich eine Gruppe von Zuhörern um die beiden Kontrahenten versammelt, nichts Ungewöhnliches, denn Zusammenstöße der rivalisierenden Kandidaten gehörten bei einer Wahl einfach dazu, sie gaben der Sache die richtige Würze. Daß die beiden Kandidaten sich schon stritten, bevor sie überhaupt die Saepta erreicht hatten, störte die Zuschauer nicht im mindesten. Immer mehr Männer kamen auf der Via Lata aus der Stadt und vergrößerten die Menge.
Gaius Memmius krümmte sich voller Pein, als ihm bewußt wurde, wie viele Ohren gespitzt lauschten. Sein Leben lang hatte er darunter gelitten, daß er zu gut aussah, immer war er deshalb verspottet worden - er war ein Schönling, man konnte ihm nicht trauen, er mochte Jungen, man konnte ihn nicht richtig ernst nehmen, und so weiter, und so fort. Und jetzt verspottete ihn Glaucia vor all diesen Menschen, all diesen Wählern!
Gaius Memmius sah rot, verständlicherweise. Bevor seine Begleiter auch nur ahnten, was in ihm vorging, hatte er einen Satz nach vorn gemacht, Glaucia an der linken Schulter gepackt und ihm die Toga vom Leib gerissen. Als Glaucia herumflog, um zu sehen, wer der Angreifer war, holte Memmius zu einem harten Schlag auf Glaucias linkes Ohr aus und traf. Glaucia ging zu Boden, Memmius fiel über ihn. Glaucias Männer hatten Prügel und Knüppel unter ihren Gewändern versteckt, und die holten sie jetzt hervor und gingen mit wildem Rachegeschrei auf Memmius’ Begleiter los, die wie versteinert dastanden. Die Gruppe, mit der Memmius gekommen war, löste sich sofort auf. Laut um Hilfe schreiend stoben Memmius’ Freunde in alle Richtungen davon.
Wie immer in solchen Fällen, rührte keiner der Zuschauer auch nur einen Finger. Sensationsgierig sahen sie zu, keiner schritt ein. Natürlich, das sei zu ihrer Ehrenrettung gesagt, hätte sich niemand träumen lassen, daß hier etwas anderes als das übliche Gezänk zweier Kandidaten stattfinden wurde. Die Waffen waren zwar eine Überraschung, aber es war schon öfter vorgekommen, daß Freunde der Kandidaten Waffen getragen hatten.
Zwei große Männer hoben den heftig um sich schlagenden Memmius auf und hielten ihn fest, Glaucia rappelte sich auf und stieß seine ruinierte Toga mit einem Fußtritt zur Seite. Er sagte kein Wort. Dann griff er sich einen Prügel von einem, der in seiner Nähe stand, und blickte Memmius einen Augenblick lang an. Er hob den Knüppel mit beiden Händen wie einen Hammer und ließ ihn mit voller Wucht auf Gaius Memmius’ so auffallend schönen Kopf niedersausen. Keiner versuchte auch nur, ihn aufzuhalten. Gaius stürzte zu Boden, und Glaucia schlug unablässig auf seinen Kopf ein, bis er ihn in einen blutigen Brei verwandelt hatte.
Voll ungläubigen Erstaunens starrte Glaucia auf das, was er angerichtet hatte. Er warf den blutigen Prügel zur Seite und blickte zu seinem Freund Gaius Claudius, der mit aschfahlem Gesicht danebenstand.
»Wirst du mich verstecken, bis ich flüchten kann?« fragte er.
Claudius nickte wortlos.
Die Zuhörer begannen zu murmeln und drängten sich immer näher an die Gruppe heran. Von der Saepta kamen Männer gelaufen. Glaucia wandte sich um und rannte den Quirinal hinauf, seine Männer folgten ihm.
Saturninus lief gerade auf der Saepta hin und her und warb für Glaucias ungesetzliche Kandidatur, als die Nachricht bekannt wurde. Wütende Blicke, die ihm verstohlen zugeworfen wurden, sagten ihm deutlich, was die meisten fühlten, als sie von dem Mord an Memmius erfuhren. Als Glaucias bester Freund war auch er ins Zwielicht geraten. Unter den jungen Senatoren und Söhnen von Senatoren regten sich immer lauter erzürnte Stimmen, und einige Söhne von mächtigen Rittern gesellten sich zu ihren Altersgenossen. In ihrer Mitte stand der rätselhafte Sulla.
»Wir machen uns besser aus dem Staub«, sagte Gaius Saufeius, der am Vortag als Stadtquästor gewählt worden war.
»Du hast recht, das ist wohl besser.« Saturninus spürte die brodelnde Wut und fühlte sich immer unwohler.
Begleitet von seinen Gefolgsleuten aus Picenum, Titus Labienus und Gaius Saufeius, verließ Saturninus die Saepta. Er wußte, wohin sich Glaucia geflüchtet haben mußte - in Gaius Claudius’ Haus auf dem Quirinal. Doch als sie dort ankamen, fanden sie die Eingänge verriegelt und versperrt. Sie mußten lange und laut brüllen, bis Gaius Claudius endlich aufmachte und die drei Freunde einließ.
»Wo ist er?« fragte Saturninus.
»In meinem Arbeitszimmer«, sagte Gaius Claudius. Seine Augen waren vom Weinen gerötet.
»Titus Labienus«, sagte Saturninus, »mach dich auf den Weg und suche Lucius Equitius, ja? Wir brauchen ihn, die Menge ist doch so hingerissen von ihm.«
»Was hast du vor?« fragte Labienus.
»Das erfährst du, wenn du mir Lucius Equitius gebracht hast.« Glaucia saß mit aschfahlem Gesicht in Gaius Claudius’ Arbeitszimmer. Als Saturninus eintrat, blickte er auf, sagte aber nichts.
»Warum, Gaius Servilius? Warum?«
Glaucia zitterte. »Ich hab’ es nicht gewollt«, sagte er. »Ich habe - ich habe einfach die Nerven verloren.«
»Und du hast unsere Aussichten auf Rom verspielt«, sagte Saturninus.
»Ich habe die Nerven verloren«, wiederholte Glaucia.
Glaucia hatte bereits die Nacht vor der Vorstellung der Kandidaten für die kurulischen Ämter in diesem Haus verbracht, denn Gaius Claudius hatte ihm zu Ehren ein Fest gegeben. Gaius Claudius, der kein sehr standfester Mann war, bewunderte die Frechheit, mit der Glaucia sich über die Bestimmungen des Wahlgesetzes hinwegsetzte, und am besten, so fand er, konnte er seiner Bewunderung dadurch Ausdruck verleihen, daß er Glaucia mit einem unvergeßlichen Abschiedsfest auf den Weg zum Stimmenfang schickte. Dafür gab er gerne einen Teil seines ungeheuren Reichtums aus. Die fünfzig Männer, die Glaucia später auf dem Weg zur Saepta begleiteten, hatten auch alle an dem Fest teilgenommen, einem Fest nur für Männer, ohne Frauen. Im Laufe des Abends war aus dem Festessen ein Trinkgelage von äußerster Widerlichkeit geworden. In der Dämmerung konnte keiner mehr ganz aufrecht gehen, aber sie mußten Glaucia auf der Saepta unterstützen, Knüppel und Prügel schienen ihnen eine gute Unterstützung. Glaucia fühlte sich ebenso unwohl wie die anderen, er nahm ein Brechmittel, badete und hüllte sich dann in die gebleichte Toga. Mit glasigen Augen machte er sich auf den Weg. Tausend kleine Hämmer schienen seinen Kopf zu bearbeiten.
Die Begegnung mit dem munter strahlenden und lachenden Memmius, der seinen hübschen Kopf schon wie ein Sieger trug, war zuviel für Glaucias angespannte Nerven. So reagierte er auf Memmius’ Anruf mit grausamem Spott, und als Memmius ihm die Toga vom Leib riß, verlor er völlig die Kontrolle. Was er getan hatte, war nicht mehr rückgängig zu machen.
Die stumme Gegenwart von Saturninus in Gaius Claudius’ Arbeitszimmer war ein Schock. Schlagartig begriff Glaucia die Ungeheuerlichkeit seiner Tat, ihre Auswirkungen und Folgen. Er hatte nicht nur seine eigene Karriere zerstört, sondern sehr wahrscheinlich auch die seines besten Freundes. Ein unerträglicher Gedanke.
»Sag doch etwas, Lucius Appuleius«, weinte er.
Saturninus blinzelte. Langsam tauchte er aus seinen Gedanken auf, wie aus einem Traum. »Meines Erachtens haben wir nur noch eine Chance«, sagte er ruhig. »Wir müssen die Menge auf unsere Seite bringen. Wir müssen die Menge dazu benutzen, unsere Forderungen beim Senat durchzusetzen - ein sicheres Amt, mildernde Umstände für dich, die Garantie, daß keiner von uns belangt werden wird. Titus Labienus soll Lucius Equitius herholen, denn es wird leichter sein, die Menge auf unsere Seite zu bringen, wenn er dabei ist.« Er rieb sich die Hände und seufzte. »Sobald Labienus zurück ist, gehen wir zum Forum. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»Soll ich mitkommen?« fragte Glaucia.
»Nein. Du bleibst mit deinen Leuten hier. Sag Gaius Claudius, er soll Waffen an seine Sklaven verteilen. Und laßt niemanden herein. Macht nur auf, wenn ihr Labienus, Saufeius oder mich rufen hört.« Saturninus stand auf. »Bei Sonnenuntergang muß ich die Herrschaft über Rom haben. Wenn nicht, bin ich auch erledigt.«
»Laß mich fallen!« sagte Glaucia plötzlich. »Lucius Appuleius, du mußt das nicht für mich tun! Recke deine Arme voll Schrecken über meine Tat empor, stell dich an die Spitze derer, die meine Verurteilung fordern. Das ist der einzige Weg. Rom ist noch nicht bereit für eine neue Form der Regierung! Die Menge ist hungrig, ja. Sie haben die stümperhafte Regierung satt, ja. Sie wollen mehr Gerechtigkeit, ja. Aber sie sind nicht so weit, daß sie Köpfe einschlagen und Kehlen durchschneiden würden. Sie werden dir zujubeln, bis sie heiser sind. Aber sie werden für dich nicht töten.«
»Du täuschst dich«, sagte Saturninus. Er fühlte sich, als schwebte er über dem Erdboden, leicht, frei, unverwundbar. »Gaius Servilius, diese Menschenmengen, die sich auf dem Forum drängen, sind zahlreicher und mächtiger als eine Armee! Hast du nicht bemerkt, wie die von der konservativen Clique in die Knie gingen? Hast du nicht bemerkt, wie Metellus Caprarius vor Lucius Equitius gekuscht hat? Es gab kein Blutvergießen. Das Forum war schon rot von Blut, weil ein paar hundert Männer aneinandergeraten waren, und neulich standen Hunderttausende dort! Niemand kann diesen Menschen trotzen. Es wird gar nicht nötig sein, sie zu bewaffnen oder sie aufzuhetzen, daß sie Köpfe einschlagen und Kehlen durchschneiden. Ihre Macht liegt allein in der Masse! Einer Masse, die ich beherrschen kann, Gaius Servilius! Ich muß nur meine Redekunst einsetzen, muß für ihre Sache sprechen, und Lucius Equitius muß ein paarmal winken. Wer kann sich gegen einen Mann stellen, der diese Masse wie eine riesige Belagerungsmaschine zu handhaben versteht? Die Strohpuppen aus dem Senat vielleicht?«
»Gaius Marius«, sagte Glaucia.
»Nein, nicht einmal Gaius Marius! Und außerdem, der ist sowieso auf unserer Seite!«
»Das ist er nicht«, sagte Glaucia.
»Er glaubt das wahrscheinlich selber auch nicht, Gaius Servilius. Aber die Menge jubelt ihm genauso zu wie Lucius Equitius und mir. Für die konservative Clique und die anderen Leute vom Senat muß es so aussehen, als wurden wir an einem Strang ziehen. Ich habe nichts dagegen, die Macht mit Gaius Marius zu teilen - eine Zeitlang. Er wird alt, er hatte einen Schlaganfall. Wäre es nicht natürlich, daß er an einem zweiten Schlaganfall stirbt?« fragte Saturninus begierig.
Glaucia fühlte sich langsam besser. Er setzte sich in seinem Stuhl auf und betrachtete Saturninus mit gemischten Gefühlen. »Kann es klappen, Lucius Appuleius? Glaubst du wirklich, daß es klappen kann?«
Saturninus reckte die Arme zur Decke, berstend vor Selbstvertrauen. Ein wildes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Es wird gutgehen, Gaius Servilius. Überlaß das nur mir.«
Von Gaius Claudius’ Haus aus ging Lucius Appuleius Saturninus direkt zur Rednerbühne auf dem Forum Romanum, begleitet von Labienus, Saufeius, Lucius Equitius und zehn oder zwölf engen Freunden. Er nahm den Weg quer über die Arx, weil er das Gefühl hatte, er müsse seine Arena von oben betreten, wie ein Halbgott, der aus den höheren Gefilden der Tempel und Gottheiten herabsteigt. Von der obersten Stufe der Gemonius-Treppe warf er einen ersten Blick auf das Forum, und gleich wollte er sie wie ein König hinab schreiten. Da blieb er vor Schreck stehen. Die Menge! Wo war die Menge? Nach der Wahl der Quästoren am Vortag war sie nach Hause gegangen, das war die Antwort. Da kein weiteres Spektakel zu erwarten war, blieb das Forum am folgenden Tag leer. Auch kein einziger Senator war da, denn die wichtigen Ereignisse des Tages fanden auf dem grünen Feld der Saepta statt.
Das Forum war dennoch nicht ganz leer, zweitausend bis dreitausend Männer von Saturninus’ Gefolgschaft aus dem verrufensten Pöbel marschierten auf und ab. Sie brüllten, drohten mit den Fäusten, und forderten lautstark kostenloses Getreide, auch ohne Zuhörer. Die Enttäuschung trieb Saturninus beinahe die Tränen in die Augen. Dann blickte er entschlossen auf die abgebrühten Burschen, die sich am unteren Ende des Forums herumtrieben, und fällte eine Entscheidung. Diese Männer wurden ausreichen. Sie mußten ausreichen. Er würde sie als Speerspitze benützen, mit ihrer Hilfe wurde er die große Masse wieder auf das Forum holen. Sie kamen ja aus der großen Masse, er nicht.
Saturninus wünschte sehnlichst, er hätte Herolde, die seine Ankunft mit ihren Trompeten ankündigten. Er stieg die Gemonius-Treppe hinab und ging zur Rednerbühne. Die kleine Gruppe von Anhängern, die ihn begleitete, brüllte zu dem Pöbel hinüber, sie sollten sich um die Rednerbühne versammeln und Lucius Appuleius zuhören.
»Quirites!« rief er ihnen unter grölendem Jubelgeschrei zu, und mit ausgestreckten Armen gebot er Ruhe. »Quirites, der Senat von Rom unterschreibt gerade unsere Todesurteile! Ich, Lucius Appuleius Saturninus, sowie Lucius Equitius und Gaius Servilius Glaucia sollen des Mordes an einer Marionette der Aristokraten angeklagt werden, einer weibischen Puppe, die nur aus einem einzigen Grund für das Amt des Konsuls kandidierte: um dafür zu sorgen, daß ihr, das Volk von Rom, weiterhin hungern müßt!«
Die Männer, die sich dicht um die Rednerbühne drängten, verhielten sich ruhig und lauschten geduldig. Saturninus’ Selbstvertrauen und Kraft wuchs beim Anblick dieser konzentrierten Zuhörerschaft, er sprach lauter und eindringlicher. »Warum, was glaubt ihr, habt ihr immer noch kein Korn, obwohl ich mein Gesetz durchgebracht habe, daß ihr Korn zu einem Spottpreis bekommen sollt? Weil die Erste und die Zweite Vermögensklasse in unserer großen Stadt lieber weniger Getreide kaufen wollen, damit sie es teurer verkaufen können! Weil die Erste und die Zweite Klasse in unserer Stadt mit euren hungrigen Mäulern nichts zu tun haben wollen! Sie halten euch für den Kuckuck in ihrem Nest, überflüssige Mitbewohner, die Rom nicht braucht! Ihr seid Proletarier und Bürger aus niederen Klassen - ihr zählt nicht mehr, jetzt, wo alle Kriege gewonnen sind und sie die Beute sicher im Schatzamt untergebracht haben! Warum die Beute dafür verschwenden, eure wertlosen Wänste zu mästen? fragt der Senat von Rom und weigert sich, mir die Gelder zur Verfügung zu stellen, die ich brauche, um eure nutzlosen Bäuche zu füllen! Dem Senat von Rom und der Ersten und Zweiten Klasse würde es nämlich gut in den Kram passen, wenn ein paar Hunderttausend von Roms angeblich nutzlosen Bäuchen so lange zusammenschrumpften, bis ihre Besitzer verhungert wären. Stellt euch das einmal vor. Mit dem ganzen Geld in den Truhen und ohne die stinkenden, übervölkerten Mietshäuser - was wäre Rom für ein grüner, weitläufiger Park! Wo ihr jetzt zusammengepfercht leben müßt, könnten sie durch Lustgärten wandeln, die Taschen voll Gold, die Bäuche gut gefüllt! Ihr seid ihnen völlig egal! Ihr seid ihnen nur lästig, sie wären froh, euch los zu sein, und wie könnten sie euch besser loswerden als mit einer künstlich erzeugten Hungersnot?«
Er hatte sie, kein Zweifel. Wie wutende Hunde knurrten sie aus tiefster Kehle, ein Geräusch, das die Luft mit Bösartigkeit und Saturninus’ Herz mit Triumph erfüllte.
»Und ich, Lucius Appuleius Saturninus, habe so lange und so heftig für euer Getreide gekämpft, daß sie jetzt mich loswerden wollen. Und zwar mit einem Mord, den ich nicht begangen habe!« Das war ein guter Schachzug. Er hatte wirklich keinen Mord begangen, das war die Wahrheit, jedes seiner Worte war durchdrungen von Wahrhaftigkeit. »Mit mir werden alle meine Freunde untergehen, die ja auch eure Freunde sind. Lucius Equitius hier, Erbe des Namens und der Ziele von Tiberius Gracchus! Und Gaius Servilius Glaucia, der so großartige Gesetze für mich entwirft, daß nicht einmal die Adligen, die den Senat beherrschen, etwas dagegen unternehmen können!« Er unterbrach sich, seufzte, streckte ihnen hilflos die Arme entgegen. »Und wenn wir tot sind, quirites, wer bleibt dann übrig, der sich um euch kümmern könnte? Wer wird den Kampf weiterführen? Wer wird sich mit den Bessergestellten anlegen, um eure Bäuche zu füllen? Niemand!«
Aus dem Knurren war ein lautes Kläffen geworden, Fäuste wurden geballt. Er hatte sie, jetzt konnte er mit ihnen machen, was er wollte. »Volk von Rom, es liegt an euch! Wollt ihr dabeistehen und zusehen, wie die, die ihr liebt und verehrt, getötet werden, lauter unschuldige Männer? Oder wollt ihr nach Hause gehen, euch bewaffnen, in jedes Haus in eurer Nachbarschaft gehen und Massen von Menschen herbringen?«
Die Leute wollten sich auf den Weg machen, aber Saturninus hielt sie mit überschlagender Stimme noch einmal zurück. »Kommt zu Tausenden und Abertausenden wieder. Kommt zu mir, vertraut mir. Vor der Abenddämmerung wird Rom euch gehören, weil es dann mir gehört. Dann werden wir schon sehen, wessen Bäuche voll werden! Dann brechen wir die Truhen auf und kaufen Getreide. Nun geht, bringt mir die ganze Stadt hierher, hierher ins Herz von Rom! Zeigt dem Senat und der Ersten und Zweiten Klasse, wer wirklich unsere Stadt und unseren Staat regiert!«
Die Menge stob unter unverständlichem Gebrüll in alle Richtungen davon - als ob ein einziger Hammerschlag Tausende kleiner Bälle getroffen hätte. Saturninus sackte zusammen und wandte sich auf der Rednerbühne zu seinen Anhängern um.
»Großartig«, schrie Saufeius und gab damit den Ton an.
»Wir werden gewinnen, Lucius Appuleius, wir gewinnen!« stimmte Labienus ein.
Begeistert klopften sie Saturninus auf die Schultern, majestätisch stand er in ihrer Mitte und dachte an seine glänzende Zukunft.
Und genau in diesem Moment brach Lucius Equitius in Tränen aus. »Aber was willst du denn tun?« heulte er und wischte sich mit einem Zipfel seiner Toga über das Gesicht.
»Was ich tun will? Hast du mich nicht verstanden, du Schwachkopf? Ich werde die Macht in Rom an mich reißen, was denn sonst!«
»Mit dem Haufen?«
»Wer stellt sich ihnen in den Weg? Und außerdem, sie werden mit Tausenden und Abertausenden wiederkommen. Wart’s nur ab, Lucius Equitius! Niemand wird etwas gegen uns unternehmen können!«
»Auf dem Marsfeld steht eine ganze Armee von Seesoldaten, zwei Legionen!« Lucius Equitius schniefte und zitterte.
»Noch nie ist eine römische Armee innerhalb der Stadtgrenzen von Rom aufmarschiert. Niemand, der einer römischen Armee befehlen würde, innerhalb der Stadtgrenzen von Rom aufzumarschieren, würde das überleben.« Verächtlich blickte Saturninus auf Lucius Equitius, dieses unvermeidliche Werkzeug. Sobald er an der Macht war, mußte Lucius Equitius gehen, und wenn er Tiberius Gracchus noch so ähnlich sah.
»Gaius Marius würde den Befehl geben«, schluchzte Equitius.
»Gaius Marius wird auf unserer Seite sein, du Narr!« sagte Saturninus abfällig.
»Die Sache gefällt mir nicht, Lucius Appuleius!«
»Sie muß dir auch nicht gefallen. Wenn du für mich bist, hör auf mit dem Geplärre. Wenn du gegen mich bist, werde ich das Geplärre beenden!« Bei diesen Worten machte Saturninus mit dem Finger eine Bewegung quer über die Kehle.