21

Ich hielt mich nun seit vier Tagen wieder in Turia auf. Ich war zu Fuß zurückgekehrt — in der Verkleidung eines kleinen Juwelenhändlers. Den Tarn hatte ich bei den Wagen zurückgelassen und mir von meiner letzten Tarnmünze eine Sammlung von Steinen gekauft, die keinen großen Wert hatten; sie gaben mir aber einen Vorwand, mich in der Stadt umzusehen.

Ich hatte Kamchak im Wagen des Kutaituchik vorgefunden, der neben der Standarte der vier Boskhörner aufgefahren und mit allerlei Holz und trockenem Gras angefüllt worden war. Der riesige Haufen war sodann mit duftigem Öl übergossen worden, und im Morgengrauen des Abmarschtages hatte Kamchak mit eigener Hand eine Fackel in das Gefährt geworfen. Irgendwo auf diesem Wagen, mit griffbereiten Waffen, saß der tote Kutaituchik, der Kamchaks Freund gewesen war und den man den Ubar der Tuchuks genannt hatte. Der Rauch des Wagens mußte auch von den Mauern des fernen Turias aus zu sehen sein.

Kamchak hatte kein Wort gesagt; er hatte mit versteinertem Gesicht auf dem Rücken seiner Kaiila gesessen. Er bot einen fürchterlichen Anblick, und obwohl ich sein Freund war, wagte ich nicht, das Wort an ihn zu richten. Ich war nicht in den Wagen zurückgekehrt, in dem ich mit ihm gelebt hatte, sondern war sofort zum Wagen Kutaituchiks geritten, wohin man mich wies, als ich nach ihm fragte.

Rings um den Hügel hatten mehrere Hundertschaften der Tuchuks Aufstellung genommen, die Lanzen erhoben. Verbissen sahen die Krieger zu, wie der Wagen verbrannte.

Ich fragte mich, wie ein Mann wie Kamchak die Belagerung der Stadt so einfach beenden konnte.

Als der Wagen schließlich ausgebrannt war und der Wind in die geschwärzten Planken fuhr und die Asche über die grüne Prärie verstreute, hob Kamchak die rechte Hand. »Die Standarte aufladen!« rief er.

Ich erblickte einen Spezialwagen, der von einem Dutzend Bosks den Hügel heraufgezogen wurde. Auf diesem Wagen wurde der riesige Pfosten mit der Standarte gestellt und weggefahren. Verkohltes Holz und schwarze Asche blieben zurück — dem Wind und dem Regen und dem Schnee und dem grünen Gras der Prärie überlassen.

»Wendet die Wagen!« befahl Kamchak.

Wagen um Wagen formte sich der gewaltige Zug der Tuchuks — jeder Wagen an seinem vorbestimmten Platz, jede Wagenreihe nach einem ganz bestimmten Plan — und auf einem Gebiet von mehreren Pasang Ausdehnung begann der Rückzug von der Stadt.

In der Ferne machte ich die Boskherden aus; der Staub, den ihre Hufe aufwirbelten, verdunkelte den Horizont.

Kamchak richtete sich in seinen Steigbügeln auf. »Die Tuchuks verlassen Turia!« rief er.

Stumm, grimmig wendeten die Tuchukkrieger ihre Kaiila und formierten sich zum Schutz der Wagen, während eine ganze Hundertschaft als Nachhut zurückblieb.

Kamchak ritt den Hügel hinauf und starrte lange auf die Überreste des Ubarwagens. Schließlich riß er sein Tier herum und kam den Hügel herab.

Als er mich sah, zügelte er sein Tier. »Es freut mich, daß du am Leben bist«, sagte er.

Ich neigte den Kopf, bestätigte die Bindung, die er mit seinen Worten ausdrückte. Ich war diesem ernsten Krieger dankbar, obwohl er mir in den letzten Tagen fremd geworden war in seinem Haß auf Turia. Ich wußte nicht, ob ich den alten Kamchak je wiedersehen würde. Ich befürchtete, daß ein Teil seines Ich — vielleicht der Teil, der mir am meisten am Herzen gelegen hatte — in der Nacht des Überfalls gestorben war, als er den Wagen Kutaituchiks betrat.

Ich blickte auf. »Wollt ihr einfach so abziehen?« fragte ich. »Genügt euch das?«

Er sah mich an, doch ich vermochte seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten. »Die Tuchuks verlassen Turia«, sagte er.

Und er ritt weiter, ließ mich auf dem Hügel zurück. Zu meiner Überraschung hatte ich am Morgen nach dem Abmarsch keine Mühe, die Stadt zu betreten. Ich war den Wagen eine Zeitlang gefolgt und hatte meine Händlerverkleidung und den Beutel mit Juwelen erworben. Ich verließ den Wagenzug und kehrte zu Fuß in die Nähe der Stadt zurück. Die Nacht verbrachte ich im Freien und näherte mich schließlich den Stadtmauern um die achte Stunde des zweiten Tages nach dem Rückzug. Mein Haar war unter der Kapuze eines dünnen knöchellangen Umhangs verborgen, ein schmutzigweißer Stoff, ein passendes Kleidungsstück für einen unbedeutenden Händler. Unter dem Umhang trug ich Schwert und Quiva.

Die Wächter an den Toren kümmerten sich kaum um mich, denn die Stadt ist eine Handelsoase in der Ebene, und jedes Jahr treffen Hunderte von Karawanen ein, ganz zu schweigen von den vielen tausend Kleinhändlern, die die Stadt zu Fuß oder mit einem Tharlarionwagen erreichen. Zu meiner Überraschung standen die Tore Turias nach dem Abzug der Wagen wieder offen. Bauern strömten hindurch, kehrten zu ihren Feldern zurück. Hunderte von Stadtbewohnern unternahmen Ausflüge und wagten sich dabei sogar bis zu den Überresten des Tuchuklagers vor, um Souvenirs zu sammeln. Als ich das Tor durchschritt, betrachtete ich die beiden schweren Doppelflügel und fragte mich, wie lange es dauern mochte, sie zu schließen.

Nun wanderte ich durch die Straßen Turias, ein Auge halb geschlossen, den Kopf geneigt, als hoffte ich eine verlorene Tarnmünze wiederzufinden, und näherte mich dabei langsam dem Anwesen Saphrars. Die Menge stieß mich herum, und zweimal wurde ich von Offizieren der Wache des Administrators Phanius Turmus fast zu Boden geschlagen.

Immer wieder hatte ich das Gefühl, verfolgt zu werden, doch wenn ich mich umsah, war nichts Verdächtiges festzustellen. Die einzige Person, die ich dabei mehr als einmal zu Gesicht bekam, war ein schlankes Mädchen in einer Robe der Verhüllung, einen Marktkorb am Arm, die beim zweitenmal an mir vorbeiging, ohne Notiz von mir zu nehmen. Ich atmete erleichtert auf. Der Aufenthalt in einer feindlichen Stadt ist eine anstrengende Sache, das Bewußtsein, daß eine Entdeckung Folter und Tod bedeuten kann, bestenfalls die Aufspießung auf den Stadtmauern bei Sonnenuntergang, ist nicht sehr angenehm.

Ich erreichte den etwa dreißig Meter breiten Zwischenraum, der das von Mauern umschlossene Anwesen Saphrars von den übrigen Häusern trennt. Zu meinem Ärger mußte ich feststellen, daß man sich den hohen Mauern des Besitzes nur auf Lanzenlänge nähern konnte.

»Verschwinde, Wicht!« brüllte ein Wächter von der Mauer und hob seine Armbrust. »Hier ist Herumlungern nicht gestattet!«

»Aber Herr!« rief ich. »Ich habe Juwelen, die ich dem ehrenwerten Saphrar zeigen möchte!«

»Dann komm ans Tor!« brüllte der Mann. »Gib dort an, was du willst!«

Ich trat vor ein kleines Tor in der Mauer, das schwer vergittert war, und bat darum, vorgelassen zu werden und Saphrar meine Waren zeigen zu dürfen. Ich hoffte, daß ich vor ihn hintreten und ihm drohen könnte, ihn zu töten. So wollte ich die goldene Kugel an mich bringen.

Leider wurde ich nicht einmal auf das Grundstück gelassen. Ein Diener untersuchte meinen Vorrat fast wertloser Steine und taxierte das Angebot sofort richtig ein. Mit angewiderter Geste schleuderte er meine Schätze durch das Tor in den Staub, und die zwei Krieger, die neben ihm standen, bearbeiteten mich durch das Gitter mit den Schäften ihrer Waffen. »Verschwinde, du Narr!« brüllten sie. Ich tat, als wäre ich zu Tode erschreckt, humpelte hinter meiner Steinen her, kniete im Staub und stöhnte und jammerte meinen Kummer hinaus, während ich sie eilig aufsammelte.

Ich hörte die Wächter lachen.

Ich hatte den letzten Stein an mich gebracht und wieder in den Beutel gesteckt und wollte mich eben erheben, als ich die schweren Sandalen eines Kriegers vor mir erblickte.

»Gnade, Herr!« wimmerte ich.

»Warum trägst du ein Schwert unter deinem Umhang?« fragte er.

Ich erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte Kamras aus Turia, dem Ersten Kämpfer der Stadt, den Kamchak bei den Spielen des Liebeskrieges besiegt hatte.

Ich stürzte vor, packte seine Beine und riß ihn zu mir herab. Während er sich noch im Staub wälzte, sprang ich auf und ergriff die Flucht.

Ich hörte ihn brüllen: »Haltet den Mann! Haltet ihn! Ich kenne ihn! Es ist Tarl Cabot aus Ko-ro-ba! Haltet ihn!«

Ich stolperte über den Saum meines langen Gewandes, rappelte mich fluchend wieder auf und rannte weiter. Der Bolzen einer Armbrust knallte funkenstiebend rechts neben mir in eine Steinmauer und schlug Steinsplitter los. Ich bog in eine schmale Straße ein. Irgend jemand — wahrscheinlich Kamras und seine Helfer — rannten hinter mir her. Plötzlich hörte ich den Aufschrei eines Mädchens, dann ein Fluchen von zwei Männern. Ich sah mich um und entdeckte das Mädchen mit dem Marktkorb, das den Krieger versehentlich in den Weg gelaufen war. Sie schrie die Männer ärgerlich an und schwenkte ihren ruinierten Korb hin und her. Sie stießen sie grob zur Seite und nahmen die Verfolgung wieder auf. Doch inzwischen war ich um eine Ecke gebogen, durch ein Fenster gesprungen, von dort zum nächsten Fenster hinaufgeklettert und dann auf das flache Dach eines Ladens. Ich hörte die schnellen Schritte der beiden Krieger, die von vier weiteren Soldaten gefolgt wurden — der ganze Trupp eilte vorbei. Kinder folgten aufgeregt kreischend den Männern. Unter mir in der Straße tauschten einige Passanten noch ihre Vermutungen über den Zwischenfall aus, dann wurde es wieder ruhig.

Ich lag auf dem Dach und wagte kaum zu atmen. Die Sonne schien sehr heiß hier oben. Ich zählte fünf goreanische Ehn — oder Minuten — und überlegte, ob ich mich nicht am besten in entgegengesetzter Richtung über die Dächer davonmachte, mir einen Unterschlupf suchte, dort bis zum Anbruch der Dunkelheit ausharrte, um dann die Stadt zu verlassen. Ich konnte die Wagen einholen, die sich sowieso langsam bewegten, konnte den Tarn an mich bringen, den ich dort zurückgelassen hatte, und dann auf dem Rücken des Tiers zu Saphrars Haus zurückkehren. Bestimmt war es in nächster Zeit nicht ungefährlich, die Stadt zu verlassen, zweifellos hatten die Wachen an den Toren bereits Befehl, nach mir Ausschau zu halten. Turia zu betreten war kein Problem gewesen — doch das Verlassen der Stadt würde mir nicht so leicht gelingen. Aber wo konnte ich mich verstecken, bis die Wachsamkeit an den Toren wieder nachließ — was in drei oder vier Tagen der Fall sein mochte? Jeder Wächter Turias würde nach Tarl Cabot suchen, der leider leicht zu erkennen war.

Plötzlich hörte ich jemanden die Straße entlangkommen, der ein Lied pfiff — ich kannte die Melodie. Ich hatte sie schon oft bei den Wagenvölkern gehört — es war ein Tuchuklied, ein Wagenlied, das von den Sklavenmädchen gesungen wurde, wenn sie die Zugbosks antrieben.

Ich pfiff einige Takte mit, und der Unbekannte und ich beendeten gemeinsam das Lied. Vorsichtig steckte ich nun den Kopf über den Dachrand. Die Straße war leer bis auf ein Mädchen, das unten vor dem Haus stand und zu mir aufschaute. Sie trug die Robe der Verhüllung — ich hatte sie schon einmal gesehen und für eine Verfolgerin gehalten. Es war das gleiche Mädchen, das auch meine Verfolger aufgehalten hatte. Sie trug einen zerbrochenen Marktkorb über dem Arm.

»Du gibst keinen guten Spion ab, Tarl Cabot«, sagte sie.

»Dina« rief ich überrascht.

Ich blieb vier Tage in der Wohnung über Dinas Laden. Hier färbte ich mein Haar schwarz und kleidete mich in die braune Tunika der Bäcker, deren Kaste Dinas Vater und Brüder angehört hatten.

Der Laden unten war verwüstet — der Tresen lag zersplittert am Boden, die Öfen waren zerschlagen. Früher, so berichtete mir Dina, war der Laden ihres Vaters in der Stadt sehr bekannt gewesen; die meisten Bäckereien hatten jedoch S aphrar gehört, dessen Angebote Dinas Vater immer wieder ausgeschlagen hatte. Schließlich waren acht Schläger über den Laden hergefallen, hatten ihn verwüstet und ihren Vater und ihre Brüder totgeschlagen. Kurz darauf war ihre Mutter an dem Schock gestorben. Dina hatte kurze Zeit von den Ersparnissen ihrer Familie gelebt und dann einen Platz in jener Karawane nach Ar erworben, die von den Kassars überfallen worden war.

»Möchtest du den Laden nicht wieder eröffnen?« fragte ich.

»Ich habe kein Geld«, sagte sie.

»Ich habe auch nur sehr wenig.« Ich öffnete den Beutel und schüttelte meinen nicht sehr kostbaren Schatz auf den Tisch.

Sie lachte und betrachtete die Steine. »Die sind leider nicht viel wert.« Sie blickte mich an. »Das ist sehr freundlich, mein lieber Tarl Cabot — aber selbst wenn ich das Geld für den Laden hätte, Saphrars Männer würden doch bald wiederkommen.«

Wahrscheinlich hatte sie recht. »Reicht es, um eine Fahrt nach Ar zu bezahlen?« fragte ich.

»Nein«, erwiderte sie. »Aber ich würde sowieso lieber in Turia bleiben — ich bin hier geboren.«

»Wovon lebst du?«

»Ich tätige Einkäufe für reiche Frauen«, sagte sie. »Kuchen und Torten — Dinge, die sie ihren Sklavinnen nicht anvertrauen möchten.«

Ich berichtete ihr von meinen Plänen, und sie lachte. Natürlich befürwortete sie meine Absicht, billigte sie doch alles, was ihrem Feind Saphrar Schaden zufügte. Vier Tage lang wohnte ich bei dem Mädchen, und jeden Tag unternahmen wir gegen Mittag und gegen Abend einen Spaziergang zu einem Tor der Stadt, um zu sehen, ob die Wachsamkeit der Soldaten etwas nachließ. Zu meiner Enttäuschung wurde weiterhin jede Person, die die Stadt verließ, sorgfältig überprüft. Man verlangte einen Identitätsbeweis. Bestand der geringste Zweifel über die Person, wurde sie zum Verhör gebracht. Dina und ich fielen den Wächtern nicht weiter auf. Mein Haar war jetzt schwarz, und ich trug die Tracht der Bäcker; außerdem war ich in Begleitung einer Frau.

Einige Wächter kamen auch in den Laden und durchsuchten ihn — wie es wohl überall in der Stadt geschah. Während dieser Zeit lag ich auf dem flachen Dach des Ladens und wartete, bis die Beamten verschwunden waren.

Dina und ich verstanden uns sehr gut. Sie war ein intelligentes, warmherziges und mutiges Mädchen. Ich bewunderte sie und hatte zugleich Angst um sie. Sie riskierte natürlich ihr Leben, indem sie mich in ihrer Heimatstadt versteckte. Wahrscheinlich hätte man mich schon an jenem ersten Tag gefangen, wäre mir Dina nicht gefolgt und zu Hilfe gekommen.

Wenn Dina ihren Geschäften nachging und für ihre Kundinnen einkaufte, was gewöhnlich am frühen Morgen und am späten Nachmittag geschah, hielt ich mich in den Zimmern über dem Laden auf. Hier dachte ich lange über das Ei der Priesterkönige und das Haus Saphrars nach. In Kürze würde ich die Stadt verlassen — wenn sich ein sicherer Ausweg bot —, würde zu den Wagen zurückkehren, den Tarn an mich nehmen und dann eine Überraschungsangriff gegen Saphrar durchführen, um das Ei an mich zu bringen. Ich räumte diesem Plan keine großen Erfolgscchancen ein. Aber ich lebte in ständiger Angst, daß der graue Mann — der Mann mit den Augen wie Glas — nach Turia kommen und die goldene Kugel an sich nehmen konnte, ehe ich etwas erreicht hatte — jenes Ei, für das schon soviel riskiert worden war, für das schon mehr als ein Mensch sein Leben hatte lassen müssen.

Manchmal stiegen Dina und ich bei unseren Spaziergängen auf den hohen Mauern und schauten über die Ebene. Niemand hatte etwas dagegen, vorausgesetzt, niemand versuchte sich den Unterkünften der Wächter zu nähern. Bei Belagerungen oder im Kriegszustand hatten natürlich nur Soldaten und sonstige Offizielle auf den Mauern Zutritt.

»Du scheinst dir Sorgen zu machen, Tarl Cabot«, sagte Dina, die neben mir ging.

»Allerdings.«

»Du hast Angst, daß das Ei aus der Stadt gebracht wird?«

»Ja.«

»Du möchtest heute nacht die Stadt verlassen?«

»Vielleicht«, sagte ich.

Sie wußte so gut wie ich, daß die Wächter noch immer an den Toren alle Reisenden befragten, aber jeder Tag, jede Stunde, die ich in Turia blieb, arbeitete gegen mich.

Ich hoffe, daß du es schaffst«, sagte Dina.

Ich legte den Arm um sie, und gemeinsam schauten wir über das weite Land.

»Sieh mal«, sagte ich, »da kommt ein einzelner Händler mit seinen Wagen. »Die Prärie scheint wieder sicher zu sein.«

»Die Tuchuks haben sich zurückgezogen«, sagte sie und fügte hinzu: »Du wirst mir fehlen, Tarl Cabot.«

»Und du mir, Dina«, sagte ich.

Wir standen auf der Mauer nahe dem Haupttor Turias, durch das ich vor vier Tagen die Stadt betreten hatte — an dem Morgen nach dem Abmarsch der Tuchukwagen.

Ich beobachtete den Wagen des Kaufmanns, ein schweres und breites Gefährt, dessen Planken weiß und golden angemalt waren, von einer weißgoldenen Regenplane bedeckt. Der Wagen wurde nicht von Tharlarions gezogen, wie es sonst bei den Händlern üblich ist, sondern von vier braunen Bosks.

»Wie willst du die Stadt verlassen?« fragte Dina.

»Mit Hilfe eines Seils«, sagte ich. »Und zu Fuß.«

Sie beugte sich über die Brüstung und schaute skeptisch nach unten.

»Es ist tief«, sagte sie. »Außerdem werden die Mauern nach Einbruch der Dunkelheit bewacht und sind von Fackeln erhellt. Und du bist zu Fuß — du weißt sicher, daß wir in der Stadt auch Jagdsleen haben.«

»Ja.«

»Schade, daß du keine schnelle Kaiila hast, mit der du am hellichten Tage an den Wächtern vorbeigaloppieren könntest.«

»Du darfst die Tarnreiter nicht vergessen ...«

»Richtig«, sagte sie. Nein, ein Tarnkämpfer hatte keine Mühe, einen einzelnen Mann, der zu Fuß unterwegs war, auf der Ebene aufzuspüren — auch wenn es einig Zeit dauern mochte, die Söldner aus den Bädern, den Pagatavernen oder den Spielhöllen der Stadt herbeizurufen, wo sie zur Freude der Turianer ihren Sold durchbrachten. Nachdem ihre Mission nun beendet war, würde Ha-Keel wahrscheinlich in einigen Tagen seine Männer zusammenrufen und mit ihnen die Stadt verlassen.

Allerdings konnte ich nicht so lange warten.

Der schwere Wagen war nun in der Nähe des Haupttors und wurde herangewinkt.

Ich blickte über die Prärie und dachte an Kamchak. Im Grunde hatte er weise gehandelt — er hatte sich vor einer Situation zurückgezogen, in der wenig zu gewinnen und viel zu verlieren war. Die Wagen und die Bosks waren nun einmal schlecht zu verteidigen. Aber wie sehr mußte ihn der Abzug geschmerzt haben, die Tatsache, Kutaituchik nicht rächen zu können und dem triumphierenden Turia den Rücken kehren zu müssen, der Stadt der hohen Mauern und der neun Tore, der unbesiegten Festung der Prärien.

Mein Gedankengang wurde durch Lärm unterbrochen, der jetzt unten am Tor aufklang. Wächter brüllten wütend, der Fahrer des Handelswagens schrie protestierend. Amüsiert stellte ich fest, daß das rechte Hinterrad des breiten, schweren Wagens von der Achse glitt und daß sich nun das ganze Gefährt, das offensichtlich schwer beladen war, zur Seite neigte. Im nächsten Augenblick berührte die Achse den Boden und grub sich tief ein.

Ich bedauerte den armen Fahrer, der vom Kutschbock gesprungen war und nun neben dem umgestürzten Rad stand und heftig gestikulierte. Unsinnigerweise stemmte er dann die Schulter unter den Wagen und versuchte ihn anzuheben — was natürlich unmöglich war.

Mehrere Wächter sahen amüsiert zu, und auch einige Passanten blieben stehen und genossen das Unglück des Fahrers. Dann befahl der wachhabende Offizier, fast außer sich vor Wut, seinen amüsierten Männern, dem Mann zu helfen. Aber auch das fruchtete nichts; der Wagen war zu schwer. Offenbar mußte man nach Hebeböcken schicken.

Ich wandte mich nachdenklich ab und schaute über die Prärie. Dina beobachtete weiter das Durcheinander unter uns und lachte, denn der Fahrer schien völlig außer sich zu sein. Plötzlich bemerkte ich draußen am Horizont eine feine Staublinie, die vor wenigen Minuten noch nicht vorhanden gewesen war.

Selbst die Wächter auf den Mauern schienen ausschließlich den umgekippten Wagen am Tor zu beobachten.

Ich schaute wieder hinab. Der Fahrer war ein junger Mann. Er hatte blondes Haar und kam mir irgendwie bekannt vor.

Plötzlich fuhr ich herum und griff nach der Brüstung. Die Staubwolke war größer geworden. Sie näherte sich dem Haupttor Turias.

Ich umfing Dina mit den Armen.

»Was ist los?« fragte sie erstaunt.

Ich flüsterte ihr zu: »Du läufst jetzt sofort nach Hause und schließt dich ein. Geh nicht mehr auf die Straße!«

»Was meinst du . . .?«

»Stell keine Fragen! Du mußt gehorchen!«

»Du tust mir weh!« sagte sie.

»Bitte gehorche!«

Plötzlich blickte sie in die Ferne und sah ebenfalls den Staub. Ihre Hand fuhr an den Mund. Ihre Augen weiteten sich vor Angst.

»Du kannst nichts mehr dagegen tun«, sagte ich. »Lauf!«

Ich küßte sie heftig, drehte sie herum und stieß sie von mir. Sie stolperte einige Schritte und wandte sich um. »Was ist mit dir?« rief sie.

»Lauf!« befahl ich.

Und Dina lief davon und brachte sich in Sicherheit.

Unter der offenen Tunika der Bäcker trug ich mein Schwert und meine Quiva, die durch ein braunes Cape zusätzlich verborgen waren. Vorsichtig legte ich nun die Waffen ab und rollte sie in mein Cape.

Dann blickte ich wieder über die Brüstung. Die Staubwolke war nähergekommen. Jeden Augenblick mußte ich die Kaiila erkennen, mußte das Blitzen der Tuchuklanzen sehen können. Ich ahnte, daß die ersten Hundertschaften in schmaler Formation ritten, um den Staub möglichst gering zu halten. Bald konnte ich die erste Hundertschaft ausmachen — dann den Zwischenraum der dazu diente, den Staub sich verteilen zu lassen, dahinter dann die zweite Hundertschaft.

Ohne mich zu beeilen, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, stieg ich von der Mauer und näherte mich dem havarierten Wagen, dem offenen Tor und den Wächtern.

Jeden Augenblick konnte jemand auf den Mauern Alarm schlagen.

Am Tor schimpfte der Offizier der Wache noch immer mit dem Wagenführer, der blond war und blaue Augen hatte. »Gnade, Herr!« wimmerte Harold von den Tuchuks. In diesem Augenblick ertönte ein gellender Schrei von der Mauer über uns. »Tuchuks!« Die Soldaten sahen sich verblüfft um. »Schließt die Tore!«

Der Offizier blickte entsetzt nach oben und wandte sich an seine Männer an den Torwinden.

»Du wirst feststellen, daß mein Wagen im Weg ist«, sagte Harold.

Als der Offizier begriff, was los war, stieß er einen Wutschrei aus und riß sein Schwert aus der Scheide, doch ehe er einen Streich führen konnte, hatte ihm Harold seine Quiva ins Herz gestoßen.

Weitere Rufe tönten von den Mauern, Befehle wurden gebrüllt, Wächter eilten auf den Wagen zu. Die Männer an der Winde ließen das riesige Doppeltor langsam zuschwingen, aber völlig schließen ließ es sich wegen des Wagens nicht. Harold hatte seine Quiva wieder an sich genommen. Zwei Männer stürzten sich mit gezogenen Schwertern auf ihn, aber ich sprang dazwischen, nahm den Kampf für ihn auf, tötete einen und machte den anderen kampfunfähig.

»Gut gemacht, Bäcker!« rief Harold.

Ich knirschte mit den Zähnen und nahm es mit einem weiteren Soldaten auf. Außerhalb des Tors dröhnten nun Kaiilahufe. Die Wagenbosks, durch die rennenden Menschen aufgescheucht, warfen die Köpfe auf und nieder und stampften im Sand.

Mein turianischer Gegner war meinem Angriff nicht gewachsen, doch schon verwickelten mich zwei Soldaten in einen neuen Kampf.

Ich hörte Harolds Stimme hinter mir. »Während das Brot im Ofen ist, hat man wohl Zeit, sich mit dem Schwert zu üben.«

Ich hätte ihm gern etwas Passendes gesagt, aber ich war ziemlich beschäftigt.

»Ich hatte mal einen Freund«, sagte Harold, »der hieß Tarl Cabot. Der hätte beide Gegner längst erledigt.«

Ich vermochte einen Angriff knapp abzuwehren.

»Längst, längst«, sagte Harold gelassen. Der Mann zu meiner Linken versuchte, mich zu umkreisen, um in meinen Rücken zu gelangen, während mich der andere weiter von vorn bedrängte. Ich wich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen den Wagen stand und versuchte mich meiner Gegner zu erwehren.

»Es besteht übrigens eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dir und meinem Freund Tarl Cabot«, sagte Harold in aller Ruhe, »außer daß dein Umgang mit dem Schwert entschieden zu wünschen übrig läßt. Auch gehörte er der Kriegerkaste an und hätte sich nie in der Tracht der Bäcker sehen lassen. Außerdem war sein Haar rot — während deins ziemlich langweilig schwarz ist.«

Es gelang mir, einen meiner Gegner unschädlich zu machen und gleichzeitig dem zweiten auszuweichen — aber schon wurde der Gefallene durch einen neuen Gegner ersetzt.

»Es wäre ratsam, auch auf der rechten Seite aufzupassen«, bemerkte Harold.

Ich wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um einen dritten Mann abzuwehren.

»So etwas hätte man Tarl Cabot nicht zu sagen brauchen«, kommentierte Harold.

In diesem Augenblick liefen einige Passanten schreiend vorbei. Die großen Alarmglocken der Stadt vollführten einen unbeschreiblichen Lärm.

»Ich frage mich manchmal, wo der alte Tarl Cabot wohl stecken mag«, sagte Harold.

»Du Tuchuk-Idiot!« brüllte ich.

Plötzlich sah ich, wie sich meine Gegner angstvoll umsahen. Sie machten auf dem Absatz kehrt und ergriffen die Flucht.

»Jetzt wäre es wohl ratsam, unter dem Wagen Schutz zu suchen.« In der nächsten Sekunde huschte Harold an mir vorbei und kroch unter den Wagen. Ich warf mich zu Boden und rollte hinterher. Schon ertönte der wilde Schrei, das Kriegsgebrüll der Tuchuks, und die ersten fünf Kaiila sprangen auf den Wagen. Zu meiner Überraschung fanden die Hufe der Tiere festen Halt auf der Plane des Wagens, dessen Ladung offenbar aus Erde und Steinen bestand, was auch das unvorstellbare Gewicht des Gefährts erklärte. Die fünf Reiter sprangen mit einem Satz vom Wagen — nach links und nach rechts und nach vorn — sofort gefolgt von den nächsten fünf, und so weiter. In wenigen Minuten waren die ersten beiden Hundertschaften in die Stadt eingedrungen. Die Tuchukkrieger schwärmten aus, die schwarzen Lackschilde in der linken Hand, die Lanzen mit der Rechten umfaßt. Ringsum dröhnten die Hufe der Kaiila, zum Teil schon ohne Reiter, die zu Fuß weiter vorstießen, dazu das Brüllen von Männern, das Klirren von Waffen, und immer neue Tuchuks, die auf den Wagen sprangen und mit gellendem Kriegsgeschrei in die Stadt stürmten. Jede der Hundertschaften nahm sofort ihr vorherbestimmtes Ziel in Angriff, verschwand in Straßen und um Ecken; einige Abteilungen stiegen ab und kletterten auf die Dächer, sicherten mit ihren kleinen Bögen die Straßen von oben. Schon roch ich das erste Feuer.

Unter dem Wagen leisteten uns drei entsetzte Turianer Gesellschaft, ein Weinverkäufer, ein Töpfer und ein Mädchen. Der Weinverkäufer und der Töpfer spähten angstvoll zwischen den Speichen der Räder hindurch, musterten die Reiter, die durch die Straßen donnerten. Harold dagegen kümmerte sich um das Mädchen, das ihn entsetzt anstarrte. »Ich bin Harold von den Tuchuks«, sagte er. »Ich habe leider schon ein Mädchen zu Hause.« Das Mädchen nickte wie betäubt. »Wenn du diesen Wagen verläßt und wirst von einem Tuchuk angehalten — das sind unangenehme Burschen —, dann sagst du nur, du gehörst bereits Harold von den Tuchuks. Das ist natürlich gelogen, aber naja, wir haben schwere Zeiten.« Das Mädchen hatte Tränen in den Augen. Ich saß mit untergeschlagenen Beinen unter dem Wagen, das Schwert über die Knie gelegt, und beobachtete die wirbelnden Beine der vorbeistürmenden Kaiila. Ich hörte das Zischen von Armbrustpfeilen, und schon stürzte einer der Tuchukreiter neben dem Wagen von seinem Tier. Andere Krieger sprangen über ihn hinweg. Das schrille Sirren der Tuchukbögen ertönte, gleich darauf war das dumpfe Atmen eines Tharlarions und das Kreischen einer Kaiila zu hören, gefolgt vom dumpfen Aufprall von Lanzen auf Schilde. Überall bimmelten Alarmglocken, ein unbeschreiblicher Lärm. Das Dach eines nahegelegenen Gebäudes brannte bereits, Rauch und Funken stiegen zum Himmel auf und wurden vom Wind über die benachbarten Gebäude getragen. Ein Dutzend Tuchuks hatte sich zur großen Winde über dem Tor vorgekämpft und öffnete nun langsam die Torflügel. Gleich darauf drangen die Tuchuks in Zwanzigerreihen vor, so daß eine Hundertschaft nur noch aus fünf Reihen bestand. Auf der langen Straße, die vom Tor in die Stadt führte, sah ich an verschiedenen Stellen Rauch aufsteigen. Schon hatten sich Tuchuks mit Beutestücken geschmückt oder trieben Frauen zusammen. Und immer neue Tuchuks drängten in die Stadt. Die Mauern eines Gebäudes an der Hauptstraße stürzten brennend ein und blockierten den Weg. Aus allen Richtungen ertönte Waffengeklirr, das Zischen der Armbrustpfeile, das Sirren der blitzschnellen gefiederten Tuchukgeschosse. Wieder brach eine Mauer ein; zwei turianische Krieger sprangen aus den Ruinen und wurden sofort von Tuchuks niedergeritten.

Auf dem freien Platz hinter dem Tor erblickte ich nun Kamchak von den Tuchuks. Er saß auf- seiner Kaiila, hatte die Lanze in der Hand, drehte sein Tier und brüllte Befehle — er gab seinen Männern Zeichen, in diese und in jene Straße vorzudringen und weitere Dächer zu besetzen. Seine Lanzenspitze war rot. Der schwarze Lack seines Schildes war zerkratzt und verbeult. Er hatte den Metallschutz seines Helmes hochgeklappt, und sein Gesicht bot einen fürchterlichen Anblick. Die Offiziere der Tuchuks flankierten ihn, die Befehlshaber der Tausendschaften.

Er drehte seine Kaiila zur Stadt herum, ließ sie auf die Hinterhand steigen, hob Schild und Lanze hoch und brüllte: »Ich will das Blut Saphrars des Kaufmanns!«

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