Erstes Buch

1. Kapitel


San Francisco

Juli 1990


»Hunter, Kate.«

»Hier.«

»Taft, Bettie Lou.»

»Ich bin da.«

»Taylor, Paige.«

»Hier.«

Sie waren die einzigen Frauen in der großen Gruppe von neu aufgenommenen Assistenzärzten im ersten Jahr ihrer medizinischen Fachausbildung, welche sich im großen, tristen Auditorium des Embarcadero County Hospital versammelt hatte.

Es war das älteste Krankenhaus in San Francisco und gehörte zu den ältesten im ganzen Land. Beim Erdbeben von 1989 hatte Gott sich mit den Einwohnern San Franciscos den Scherz erlaubt, das Krankenhaus stehenzulassen. Es war ein häßlicher Gebäudekomplex, der mehr als drei Straßenblöcke einnahm, mit Häusern aus Stein und Ziegeln, altersgrau und verrußt.

Die Eingangshalle des Hauptgebäudes war ein großer Warteraum mit harten Holzbänken für Patienten und Besucher. Die Farbschichten an den Wänden bröckelten und blätterten ab, die Flure waren abgenutzt und ausgetreten vom ewigen Hin- und Hergelaufe von Abertausenden von Patienten in Rollstühlen und auf Krücken.

Der gesamte Komplex war verkrustet von der schalen Patina der Zeit.

Das Embarcadero County Hospital war in San Francisco eine Stadt für sich. Das Krankenhaus beschäftigte über neuntausend Menschen, einschließlich vierhundert festangestellten Ärzten, hundertfünfzig freiwilligen Teilzeitärzten, achthundert Assistenzärzten und dreitausend Krankenschwestern - dazu Techniker, Helfer und sonstiges Personal. Die oberen Stockwerke beherbergten einen Komplex von zwölf Operationssälen, ein zentrales Lager, eine Knochenbank, ein zentrales Terminbüro, drei Notfallabteilungen, eine Aids-Abteilung und mehr als zweitausend Betten.

Es war Juli, als die neuen Assistenzärzte ankamen. Wie immer erhob sich der Verwaltungspräsident des Krankenhauses, Dr. Benjamin Wallace, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Wallace war die Verkörperung eines Politikers, ein großer, eindrucksvoll wirkender Herr ohne große Fähigkeiten, aber mit genügend Charme, um sich zu dieser verantwortungsvollen Position hochgearbeitet zu haben.

»Ich möchte Sie alle als unsere neuen Assistenzärzte begrüßen. In den ersten zwei Jahren Ihres Medizinstudiums an der Universität haben Sie an Leichen gearbeitet; in den abschließenden zwei Jahren haben Sie unter der Aufsicht erfahrener Ärzte an Krankenhauspatienten gearbeitet. Von jetzt an sind Sie persönlich für Ihre Patienten verantwortlich. Es ist eine furchteinflößende Verantwortung, die Sie nun übernehmen; sie erfordert Hingabe, Einsatz und Können.«

Er ließ seinen Blick über die Zuhörerschaft gleiten. »Manche von Ihnen werden in der Chirurgie, andere in der Inneren Medizin tätig sein. Beide Gruppen werden jeweils einem Oberassistenzarzt zugeordnet, der Sie in die tägliche Routine einweisen wird. Von nun an geht es bei allem, was Sie tun, um Leben oder Tod.«

Sie hörten aufmerksam zu, ja hingen ihm förmlich an den Lippen.

»Das Embarcadero ist ein Bezirkskrankenhaus. Das heißt: Wir nehmen alle auf, die an unsere Tür anklopfen. Unsere Patienten sind überwiegend arm und mittellos. Sie kommen zu uns, weil sie sich eine Privatklinik nicht leisten können. Unsere Notfallstationen sind Tag für Tag vierundzwanzig Stunden lang aktiv. Sie selbst werden hier überarbeitet und unterbezahlt sein. In einem Privatkrankenhaus würde man Ihnen in Ihrem ersten Assistenzjahr nur kleine Routinesachen überlassen; im zweiten Assistenzjahr wäre es Ihnen dann gestattet, dem Chirurgen ein Skalpell zu reichen, und im dritten Jahr dürften Sie schließlich unter Aufsicht kleinere chirurgische Eingriffe vornehmen. Bitte, das alles können Sie hier vergessen. Bei uns lautet die Devise: >Zuschauen, selber machen, andere lehren.<

Wir sind stark unterbesetzt, und je rascher wir Sie im Operationssaal arbeiten lassen können, desto besser. Gibt es noch Fragen?«

Es gab Millionen von Fragen, welche die neuen Assistenzärzte ihm nur zu gern gestellt hätten.

»Keine Fragen? Gut. Morgen ist Ihr erster offizieller Tag. Sie werden sich morgen früh um fünf Uhr dreißig am Hauptempfang melden. Viel Glück!«

Die Einführung war vorbei. Es gab ein allgemeines Gedränge zu den Türen hin und leises, aufgeregtes Gemurmel. Die drei Frauen standen beisammen.

»Wo sind nur die anderen Frauen geblieben?«

»Ich fürchte, daß wir die einzigen sind.«

»Das ist ja wie im Studium, nicht wahr? Eine richtige Männergesellschaft. Ich hab' fast den Eindruck, daß hier noch mittelalterliche Zustände herrschen.«

Die Worte kamen aus dem Mund einer makellos schönen schwarzen Frau; sie war an die ein Meter achtzig groß und trotz ihres kräftigen Knochenbaus von unglaublicher Anmut. Ihr Gang, ihre Haltung, der kühle, fragende Ausdruck ihrer Augen - alles an ihr verriet Reserviertheit und Distanz. »Ich bin Kate Hunter. Man nennt mich Kat.«

»Paige Taylor.« Jung, freundlich, klug wirkend, selbstsicher.

Die Blicke der beiden richteten sich auf die Dritte im Bunde. »Betty Lou Taft. Aber alle nennen mich Honey.« Sie sprach mit dem weichen Akzent der Südstaaten. Sie hatte ein offenes, argloses Gesicht, sanfte graue Augen und ein warmes Lächeln.

»Und woher kommst du?« wollte Kat wissen.

»Aus Memphis, Tennessee.«

Kat und Honey schauten neugierig zu Paige. Paige fand es ratsamer, eine unkomplizierte Antwort zu geben, und sagte: »Aus Boston.«

»Ich bin aus Minneapolis«, erklärte Kate und dachte sich: Das kommt der Wahrheit nahe genug.

»Scheint so, als wären wir alle drei weit weg von zu Hause. Wo wohnt ihr hier?«

»In einem Hotel, in dem es von Flöhen wimmelt«, erwiderte Kat. »Ich hab' noch keine Zeit gehabt, mir eine feste Unterkunft zu suchen.«

»Ich auch nicht«, sagte Honey.

Paige begann plötzlich zu strahlen. »Ich habe mir heut' morgen ein paar Wohnungen angesehen, und darunter war eine, die war phantastisch, nur könnte ich sie mir nie leisten. Sie hätte aber drei Schlafzimmer.«

Die drei wechselten einen Blick.

»Wenn wir sie uns teilen würden.«, meinte Kat.

Die Wohnung lag im Bezirk Marina, an der Filbert Street, und für die drei jungen Frauen geradezu ideal: 3 Schlfz./2 Bd., neue Tpp-che., Wschk., Gge., aller Komft. Die Möbel stammten aus einer frühen Sears & Roebuck-Generation, aber alles war sauber und ordentlich.

Nach der gemeinsamen Besichtigung meinte Honey: »Ich finde sie wundervoll.«

»Ich auch!« stimmte Kat zu.

Sie wandten sich mit einem fragenden Blick an Paige.

»Dann nehmen wir sie!«

Am Nachmittag zogen sie ein. Der Hausmeister half ihnen beim Hinauftragen des Gepäcks.

»Am Krankenhaus arbeit'n Se also«, meinte er. »Seid wohl Krankenschwestern, was?«

»Ärztinnen«, korrigierte ihn Kat.

Er musterte sie mit ungläubiger Miene. »Ärztinnen? Ehrlich? Richtige Dokters?«

»Jawohl, richtige Ärztinnen.«

Er stieß hervor: »Also, ehrlich, wenn ich ärztliche Behandlung braucht' - dann werd' ich mich sicher nich' von 'ner Frau untersuchen lassen.«

»Wir werden es uns merken.«

»Wo ist der Fernseher?« wollte Kat wissen. »Ich kann nirgends einen sehen.«

»Wenn Se 'n Fernseher woll'n, müssen Se sich selber einen kaufen. Viel Spaß mit der Wohnung, meine Damen - ähem, Dokters.« Er gluckste.

Ihre Blicke folgten ihm, als er hinausging.

Kat ahmte seinen Tonfall nach. »Seid wohl Krankenschwestern, wie?« Sie schnaubte verächtlich. »So ein Chauvi! Na schön. Dann wollen wir uns mal unsere Schlafzimmer aussuchen.«

»Mir ist jedes recht«, erklärte Honey mit weicher Stimme.

Sie schauten sich die drei Schlafzimmer noch einmal gründlich an. Der Elternschlafraum war von allen der größte.

»Warum nimmst du ihn nicht, Paige?« meinte Kat. »Du hast die Wohnung schließlich gefunden.«

Paige nickte. »In Ordnung.«

Sie trennten sich und begaben sich zum Auspacken in die eigenen Zimmer. Paige nahm liebevoll einen Rahmen mit dem Foto eines Mannes Anfang Dreißig aus der Tasche - ein attraktiver Mann mit schwarzrandiger Brille, die ihm ein gelehrtes Aussehen verlieh. Sie stellte das Foto neben ein Bündel Briefe auf den Nachttisch.

Kat und Honey kamen zu ihr herein. »Wie wär's, wenn wir zum Abendessen ausgingen?«

»Einverstanden«, erwiderte Paige.

Kat bemerkte das Foto.

»Wer ist denn das?«

Paige lächelte. »Der Mann, den ich heiraten werde. Er ist Arzt und arbeitet für die WHO, die Weltgesundheitsorganisation. Alfred Turner heißt er und arbeitet momentan noch in Afrika. Er wird sich aber in San Francisco niederlassen, damit wir zusammen sind.«

»Hast du ein Glück«, meinte Honey nachdenklich. »Er sieht nett aus.«

Paige musterte Honey. »Und du - hast du einen festen Freund?«

»Nein. Ich habe leider bei den Männern nicht viel Glück.«

»Vielleicht wird sich das am Embarcadero ändern«, meinte Kat aufmunternd.

Sie aßen gar nicht weit weg von ihrer Wohnung im Restaurant Ta-rantino und erzählten sich von ihrem Leben, allerdings mit merklicher Zurückhaltung. Sie kannten sich ja noch nicht, waren Fremde, die sich vorsichtig und behutsam abtasteten.

Honey sprach kaum. Sie hat etwas merkwürdig Scheues an sich, überlegte Paige. Sie wirkt verletzbar. Wahrscheinlich hat ihr ein Mann in Memphis das Herz gebrochen.

Paige musterte Kat. Selbstsicher. Toller Stil. Ihre Art zu sprechen gefällt mir. Man merkt ihr an, daß sie aus guter Familie kommt.

Kat ihrerseits beobachtete Paige. Eine reiche Frau, die sich im Leben bestimmt noch nie etwas hart erarbeiten mußte. Sie hat alles allein dank ihres Aussehens geschafft.

Honey behielt die beiden anderen im Blick. Sie sind so zuversichtlich, sind sich ihrer selbst so sicher. Die werden's hier leicht haben.

Und irrten sich - alle drei.

Als sie zur Wohnung zurückkehrten, war Paige viel zu aufgeregt, um einschlafen zu können. Sie lag wach auf dem Bett und dachte an die Zukunft. Von draußen drang das Blechgeschepper eines Unfalls durchs Fenster, dann Schreie, die sich in Paiges Bewußtsein in eine Erinnerung an brüllende, johlende afrikanische Eingeborene verwandelten. Es fielen Schüsse. Sie war zurückversetzt in eine andere Zeit, in ein kleines Urwalddorf in Ostafrika, saß inmitten eines mörderischen Stammeskrieges fest.

Paige war entsetzt. »Sie werden uns umbringen!«

Der Vater nahm sie in seine Arme. »Sie werden uns nichts tun, mein Schatz. Wir sind doch nur hier, um ihnen zu helfen. Sie wissen genau, daß wir ihre Freunde sind.«

Da stürmte, ohne Vorankündigung, der Häuptling einer der kämpfenden Stämme in die Hütte.

Honey lag grübelnd in ihrem Bett. Von Memphis, Tennessee, bis hierher - das war ein langer Weg, Betty Lou, und es gibt kein Zurück. Ihr klang noch die Stimme des Sheriffs im Ohr: Aus Achtung vor der Familie werden wir den Tod des Reverend als Selbstmord aus unbekannten Gründen registrieren. Ihnen kann ich nur empfehlen, daß Sie Ihre verdammten Sachen packen und sich hier nie wieder blicken lassen...<

Kat schaute aus dem Fenster ihres Schlafzimmers. Sie horchte auf die Geräusche der Stadt, hörte die Regentropfen flüstern. >Du hast's geschafft... du hast's geschaffte Ich hab' allen bewiesen, daß sie unrecht hatten. Doktor willst du werden? Arztin? Eine Schwarze und Arztin?< Und dann die ablehnenden Antworten der medizinischen Fakultäten. >Wir danken Ihnen für Ihre Bewerbung und bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß alle Studienplätze an unserer Hochschule bereits vergeben sind.<

Dürfen wir uns in Anbetracht Ihrer Herkunft gestatten, daraufhinzuweisen, daß Sie sich an einer kleineren Universität möglicherweise wohler fühlen würden?<

Sie hatte hervorragende Noten, aber von den fünfundzwanzig Fakultäten, die sie angeschrieben hatte, kam nur eine einzige Zusage. Der dortige Dekan hatte ihr versichert: »Es ist in der heutigen Zeit sehr erfreulich, einen Menschen kennenzulernen, der aus einer normalen, ordentlichen Umgebung kommt.«

Wenn er die furchtbare Wahrheit gewußt hätte.

2. Kapitel

Als die neuen Assistenzärzte sich am nächsten Morgen um halb sechs zum Dienst meldeten, wurden sie von Mitgliedern des Krankenhauspersonals erwartet, die sie zu ihren unterschiedlichen Aufgaben geleiten sollten. Trotz der frühen Stunde herrschte überall Chaos.

Während der ganzen Nacht waren Patienten gekommen. In Ambulanzen, mit Polizeiwagen und zu Fuß waren sie eingetroffen, die >Angeschwemmten<, wie das Personal sie nannte, das >Treibgut<, das in die Räume der Notaufnahme strömte, gebrochen, blutend, Opfer von Schießereien und Messerstechereien und Autounfällen, im Fleisch und seelisch Verletzte, Obdachlose und Unerwünschte, die aus den dunklen Großstadtkanälen herangespült wurden.

Man hatte das Gefühl, als stehe man mitten in einem organisierten Chaos: hektisches Hin und Her, grelle Schreie, ein Dutzend unerwarteter Krisen, die alle gleichzeitig gelöst werden wollten.

Die neuen Assistenten scharten sich in einer Gruppe zusammen, stimmten sich langsam auf die neue Umgebung ein und horchten gespannt auf die geheimnisvollen Laute und Geräusche ringsum.

Paige, Kat und Honey standen wartend im Flur, als ein Oberassistenzarzt auf sie zukam. »Wer von Ihnen ist Dr. Taft?«

Honey blickte hoch und sagte: »Das bin ich.«

Der Arzt reichte ihr mit einem freundlichen Lächeln die Hand. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Ich bin gebeten worden, Sie ausfindig zu machen. Laut unserem Chefarzt haben Sie die besten Examensnoten, die man in diesem Krankenhaus je zu Gesicht bekommen hat. Wir schätzen uns glücklich, Sie bei uns zu haben.«

Honey lächelte ganz verlegen zurück. »Danke.«

Kat und Paige wirkten sichtlich überrascht. Für so brillant hätte ich Honey wirklich nicht gehalten, dachte Paige.

»Sie wollen Internistin werden, Dr. Taft?«

»Ja.«

Der Assistent wandte sich Kat zu. »Dr. Hunter?«

»Hier.«

»Sie interessieren sich für die Neurochirurgie.«

»So ist es.«

Er sah auf eine Liste. »Sie werden Dr. Hutto zugewiesen.«

Der Oberassistenzarzt blickte zu Paige hinüber. »Dr. Taylor?«

»Ja.«

»Sie möchten in die Herzchirurgie.« »Korrekt.«

»Gut. Wir werden Sie und Dr. Hunter der chirurgischen Visite zuteilen. Sie dürfen sich im Büro der Oberschwester melden. Bei Margaret Spencer. Hier im Flut weiter hinten.«

»Vielen Dank.«

Paige musterte die beiden Kolleginnen und atmete einmal tief durch. »Auf geht's! Ich wünsch' uns allen viel Glück!«

Die Oberschwester Margaret Spencer glich eher einem Schlachtschiff denn einem weiblichen Wesen. Sie war vierschrötig, hatte eine strenge Miene und eine schroffe Art. Sie war im hinteren Bereich der Station beschäftigt, als Paige eintrat.

»Entschuldigen Sie ...«

Die Oberschwester hob den Kopf. »Ja?«

»Ich soll mich bei Ihnen melden. Ich bin Dr. Taylor.«

Die Oberschwester blickte auf eine Liste. »Einen Moment bitte.« Sie verschwand durch eine Tür und kam eine Minute später mit OP-Gewand und einem weißen Kittel zurück.

»Danke.«

»Ach ja. Hier - das auch noch.« Sie griff unter den Tisch und reichte Paige ein Metallschild mit der Aufschrift >Dr. med. Paige Taylor<. »Ihr Namensschild, Doktor.«

Paige nahm es entgegen und betrachtete es lange Zeit. Dr. med. Paige Taylor. Ihr war, als wäre ihr soeben die Medal of Honor verliehen worden. Dieser Titel faßte all die langen Jahre harter Arbeit zusammen. Dr. med. Paige Taylor.

Schwester Spencer beobachtete sie ungeduldig. »Alles in Ordnung?«

»Mir geht's gut«, antwortete Paige fröhlich. »Danke, mir geht's wirklich gut. Wo soll ich mich.«

»Der Ärzteumkleideraum liegt weiter unten am Flur links. Sie werden Visite machen. Da werden Sie sich umziehen wollen.«

»Danke.«

Paige ging den Flur hinunter. Das Ausmaß der Aktivitäten um sie herum verschlug ihr die Sprache. Im Flur drängten sich Ärzte, Schwestern, Techniker und Patienten, die hastig auf ihre Ziele zustrebten. Das aufdringliche Geplapper der Lautsprecheranlage machte den Lärm nur noch schlimmer.

»Dr. Keenan... OP-Saal 3 ... Dr. Keenan... OP-Saal 3.«

»Dr. Talbot. Notfallraum 1. Dringend. Dr. Talbot. Notfallraum 1. Dringend.«

»Dr. Engel. Zimmer 212 . Dr. Engel. Zimmer 212.«

Paige erreichte eine Tür mit dem Schild UMKLEIDERAUM FÜR ÄRZTE, öffnete und sah sich einem Dutzend Herren in unterschiedlichen Stadien der Entkleidung gegenüber. Zwei völlig nackte Männer drehten sich um, als die Tür aufging, und starrten Paige völlig entgeistert an.

»Oh! Ich bitte. Verzeihung«, murmelte Paige und schloß die Tür rasch wieder von außen. Da stand sie nun und wußte nicht, was tun. Wenige Schritte weiter bemerkte sie eine Tür mit der Aufschrift UMKLEIDERAUM FÜR KRANKENSCHWESTERN, ging schnurstracks darauf zu und trat ein. Drinnen zogen mehrere Frauen die Schwesterntracht an.

Eine hob den Kopf. »Tag! Sie sind wohl eine von den Neuen?«

»Nein«, sagte Paige mit zusammengepreßten Lippen. »Eigentlich nicht.« Sie machte die Tür wieder hinter sich zu und kehrte zum Umkleideraum der Ärzte zurück. Sie blieb vor der Tür einen Augenblick lang stehen, dann holte sie einmal tief Luft und trat ein. Die Gespräche brachen abrupt ab.

»Tut mir leid, Schätzchen«, meinte einer herablassend. »Aber dieses Zimmer ist Ärzten vorbehalten.«

»Ich bin Ärztin«, stellte Paige fest.

Sie tauschten Blicke. »Ach so? Nun, dann . äh . willkommen.«

»Danke.« Sie zögerte kurz, schritt zu einem leeren Spind und legte ihre Krankenhaussachen hinein. Sie hielt den neugierigen Blicken der Kollegen stand und begann, ganz langsam, ihre Bluse aufzuknöpfen.

Die männlichen Kollegen machten einen ziemlich verlorenen Eindruck. Bis einer meinte: »Vielleicht sollten wir. äh . der jungen Dame ein wenig Privatsphäre gönnen, meine Herren.«

Der jungen Dame! »Danke sehr«, sagte Paige und rührte sich nicht, bis die Kollegen sich angezogen und den Raum verlassen hatten. Muß ich das etwa jeden Tag durchmachen? fragte sie sich.

Die Visiten verliefen nach einem festgelegten Ritus. An der Spitze ging immer der behandelnde Arzt, gefolgt vom Oberassistenzarzt, dem sich die restlichen Assistenten und ein bis zwei Medizinstudenten anschlossen. Der behandelnde Arzt, dem Paige zugewiesen wurde, war Dr. William Radnor, auf den sie mit fünf weiteren Assistenten im Flur wartete.

Der Gruppe gehörte auch ein junger chinesischer Arzt an. Er streckte Paige die Hand entgegen. »Tom Chang«, stellte er sich vor. »Ich hoffe, daß hier alle genauso nervös sind wie ich.«

Paige fand ihn sofort sympathisch.

Ein Mann mit strahlendblauen Augen trat auf die Gruppe zu. »Guten Morgen«, sagte er mit einer weichen, angenehmen Stimme. »Ich bin Dr. Radnor.« Die Assistenzärzte stellten sich ihm einer nach dem anderen vor.

»Heute ist Ihr erster Tag hier im Krankenhaus, es ist Ihre erste Visite. Bitte geben Sie genau acht auf alles, was Sie hören und sehen. Es ist allerdings wichtig, daß Sie dabei einen entspannten Eindruck machen.«

Paige notierte innerlich: Genau achtgeben, aber einen entspannten Eindruck machen.

»Wenn ein Patient merkt, daß Sie angespannt sind, dann verkrampft er sich auch, weil er daraus nämlich wahrscheinlich den Schluß zieht, daß er an einer Krankheit sterben muß, die Sie ihm verschweigen.«

Patienten nicht nervös machen.

»Denken Sie von jetzt an stets daran, daß Sie für das Leben anderer Menschen verantwortlich sind.«

Von jetzt an verantwortlich für das Leben anderer Menschen. O mein Gott!

Je länger Dr. Radnor sprach, desto nervöser wurde Paige; als er endete, war ihr Selbstvertrauen total dahin. Ich bin noch nicht soweit! überlegte sie. Ich bin mir gar nicht voll darüber im klaren, was ich da tue. Wer hat denn gesagt, daß ich Arztin sein könnte? Was ist, wenn ich nun jemanden umbringe?

Aber Dr. Radnor war noch nicht fertig. »Ich erwarte von Ihnen über jeden Ihrer Patienten einen ausführlichen Bericht - Laborwerte, Blutbild, Elektrolyten, einfach alles. Ist das klar?«

Murmeln rundum: »Jawohl, Doktor.«

»Hier liegen immer dreißig bis vierzig Patienten, die operiert werden müssen. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sie in jeder Hinsicht richtig betreut werden. Wir beginnen jetzt mit der Morgenvisite. Am Nachmittag machen wir die gleiche Runde noch einmal.«

An der Universität war ihr alles so leicht vorgekommen. Paige dachte an die vierjährige Studienzeit zurück. Unter den insgesamt hundertfünfzig Medizinstudenten hatten sich nur fünfzehn Studentinnen befunden. Sie würde den ersten Tag im Anatomieseminar nie vergessen. Die Studenten waren in einen großen, weißgefliesten Raum marschiert, wo zwanzig Tische standen. Jeder Tisch war mit einem gelben Tuch bedeckt. Auf jeden Tisch kamen fünf Studen-ten.

Der Professor hatte erklärt: »In Ordnung. Ziehen Sie die Laken zurück.« Und dann war Paige plötzlich ihrer ersten Leiche gegenübergestanden. Sie hatte befürchtet, ohnmächtig zu werden oder sich übergeben zu müssen, war jedoch seltsam gefaßt gewesen. Die Leiche war konserviert - was sie irgendwie weniger menschlich erscheinen ließ.

Die Studenten hatten sich im Anatomielabor anfangs still und respektvoll aufgeführt. Doch binnen einer Woche - es kam Paige unglaublich vor - aßen sie während des Sezierens ihre Butterbrote und machten grobe Witze - es war eine Art Selbstschutz, ein Akt, mit dem sie die eigene Sterblichkeit leugneten. Man gab den Leichen Namen und behandelte sie wie alte Freunde. Paige hatte große Mühe gehabt, sich so ungezwungen zu geben wie die anderen Studenten. Sie betrachtete die Leiche, die sie sezierte, überlegte: Das hier ist ein Mensch mit einem Heim und einer Familie gewesen. Er ging Tag für Tag ins Büro, einmal im Jahr ist er mit Frau und Kindern in die Ferien gefahren. Er hat sich wahrscheinlich für Sport begeistert, ist gern ins Kino und ins Theater gegangen, hat gelacht und geweint und seine Kinder heranwachsen gesehen und Freud und Leid mit ihnen geteilt und große, wunderbare Träume geträumt. Hoffentlich haben sich alle erfüllt... Ein Gefühl bittersüßer Traurigkeit hatte sie erfüllt, weil er tot war, sie aber lebte.

Mit der Zeit war das Sezieren auch für Paige Routinesache geworden. Den Brustkasten öffnen, Rippen, Lunge, Herzbeutel untersuchen, Venen, Arterien und Nerven.

Die ersten zwei Jahre an der medizinischen Fakultät gingen großteils damit drauf. Lange Listen von Körperteilen und Organen auswendig lernen - etwas, das von den Studenten ironisch Orgelspielen genannt wurde. Zuerst die Hirnnerven: Nervus olfactorius, opticus, ocu-lomotorius, trochlearis, trigeminus, abducens, facialis, vestibulocochlearis, glossopharyngeus, vagus, accessorius und Nervus hypoglossus.

Die letzten zwei Studienjahre mit Kursen über innere Medizin, Chirurgie, Kinderheilkunde und Geburtshilfe waren interessanter gewesen; außerdem hatte man am örtlichen Krankenhaus mitarbeiten dürfen.

Ich kann mich erinnern, als wir., dachte Paige.

»Dr. Taylor.« Sie sah den forschenden Blick des Oberassistenzarztes auf sich ruhen.

Paige schreckte auf und kam zu sich. Die übrige Gruppe war bereits vorausgegangen.

»Ich komm' ja schon«, sagte sie hastig.

Zuerst gingen sie in ein großes, rechteckiges Krankenzimmer mit Betten an der linken und rechten Wand und einem kleinen Tischchen an jedem Bett. Paige hatte erwartet, daß die Betten durch Vorhänge abgetrennt wären; aber es gab hier keinerlei Privatsphäre.

Der erste Patient war ein älterer Mann mit fahler Haut. Er lag in tiefem Schlaf; sein Atem ging schwer. Dr. Radnor trat ans Fußende des Bettes, las das Krankenblatt und berührte den Patienten ganz leicht an der Schulter. »Mr. Potter?«

Der Patient öffnete die Augen. »Hach?«

»Guten Morgen. Ich bin Dr. Radnor. Ich komme nur schauen, wie es Ihnen geht. Hatten Sie eine angenehme Nacht?«

»Es ging so.«

»Haben Sie Schmerzen?«

»Doch. In der Brust. Es tut weh.«

»Lassen Sie mich mal nachsehen.«

Nach der Untersuchung erklärte er: »Sie machen Fortschritte. Ich werde der Schwester Bescheid geben, daß sie Ihnen etwas gegen die Schmerzen bringt.«

»Danke, Doktor.«

»Wir kommen am Nachmittag noch einmal vorbei.«

Sie gingen weiter, bis sie außer Hörweite waren. Dr. Radnor wandte sich an die jungen Assistenten. »Geben Sie sich Mühe, die Fragen immer so zu formulieren, daß die Antwort ja oder nein lautet, damit der Patient sich nicht überanstrengt. Und machen Sie ihm Mut. Ich möchte Sie jetzt bitten, seine Karte gründlich zu studieren und sich Notizen zu machen. Wir werden am Nachmittag wiederkommen und sehen, wie es ihm geht. Führen Sie über jeden Patienten fortlaufend Protokoll, über seine Beschwerden, die gegenwärtige Krankheit, Krankheiten in der Vergangenheit, familiäre Umstände und soziale Verhältnisse. Raucht er, trinkt er und so weiter? Bei der nächsten Visite erwarte ich von Ihnen einen Bericht über die Fortschritte eines jeden Patienten.«

Sie traten ans Bett des nächsten Patienten, eines Mannes in den Vierzigern.

»Guten Morgen, Mr. Rawlings.«

»Guten Morgen, Doktor.«

»Fühlen Sie sich heute morgen besser?«

»Nicht besonders. Ich war in der letzten Nacht oft auf. Der Bauch tut mir weh.«

Dr. Radnor wandte sich an den Oberassistenzarzt. »Was hat die Proktoskopie gezeigt?«

»Keinerlei Anzeichen für irgendein Problem.«

»Geben Sie ihm ein Bariumklistier. Stat.«

Der Oberassistenzarzt machte sich eine Notiz.

Der Assistent neben Paige flüsterte ihr zu: »Bestimmt wissen Sie, was >stat< bedeutet - >Im Schnelltempo an die Arbeit, Trottel.<«

Dr. Rodner hatte ihn gehört.

»>Stat< kommt aus dem Lateinischen, von >statim<, das heißt sofort.«

Paige sollte diesen Ausdruck noch oft zu hören bekommen.

Im nächsten Bett lag eine ältere Frau, die eine Bypass-Operation hinter sich hatte.

»Guten Morgen, Mrs. Turkel.« »Wie lang werden Sie mich hier festhalten?«

»Nicht sehr lang. Die Operation war erfolgreich. Sie werden bald nach Hause kommen.«

Und weiter ging's zum nächsten Patienten.

Die Routine wiederholte sich immer wieder, und der Morgen ging rasch vorbei. Die Visite umfaßte dreißig Patienten. Die Assistenzärzte machten sich nach jedem Patienten hektisch Notizen und hofften inständigst, daß sie das eigene Gekritzel später würden entziffern können.

Eine Patientin war für Paige ein Rätsel. Die Frau schien völlig gesund.

Als die Gruppe weiterging, fragte Paige: »Was fehlt ihr, Doktor?«

Dr. Radnor seufzte. »Der fehlt gar nichts. Sie ist einfach nur gern krank. Das ist - leider ist das keine Seltenheit - ihr Hobby. Im vergangenen Jahr habe ich diese Patientin sechsmal hier aufgenommen.«

Sie kamen zum letzten Patienten, einer alten Frau, die an ein Atemgerät angeschlossen war.

»Sie hat einen schweren Herzanfall gehabt«, erklärte Dr. Radnor den jungen Assistenten. »Sie liegt bereits seit sechs Wochen im Koma. Ihre Lebenszeichen werden schwächer. Wir können nichts mehr für sie tun. Wir werden heute nachmittag den Stöpsel herausziehen.«

Dr. Radnor erläuterte mit leiser Stimme: »Die Entscheidung ist heute morgen vom Ethikkomitee des Krankenhauses getroffen worden. Sie ist siebenundachtzig Jahre alt und gehirntot. Es wäre grausam, sie noch länger am Leben zu erhalten, und für ihre Familie würde es den finanziellen Ruin bedeuten. Ich sehe Sie zur Nachmittagsvisite wieder.«

Sie folgten ihm mit den Blicken. Paige drehte sich noch einmal nach der Patientin um. Sie lebt und wird in wenigen Stunden tot sein. >Wir werden heute nachmittag den Stöpsel herausziehen.<

Aber das ist doch Mord! dachte Paige.

3. Kapitel

Im Anschluß an die Nachmittagsvisite trafen sich die frischgebackenen Assistenzärzte in der oberen kleinen Lounge - ein Aufenthaltsraum mit acht Tischen, einem vorsintflutlichen Schwarzweißfernseher und zwei Automaten, die fade Sandwiches und ziemlich bitteren Kaffee ausgaben.

Die Gespräche waren an allen Tischen gleich.

»Schauen Sie mir bitte mal in den Hals«, sagte einer. »Hab' ich einen geröteten Hals?«

»Ich glaub', ich hab' Fieber. Ich fühle mich entsetzlich.«

»Ich habe einen geschwollenen Bauch. Er tut weh. Ich habe bestimmt eine Blinddarmentzündung.«

»Ich hab' furchtbare Schmerzen in der Brustgegend. Hoffentlich kriege ich keinen Herzinfarkt!«

Kat ließ sich zusammen mit Paige und Honey an einem Tisch nieder. »Wie ist's gelaufen?« wollte sie wissen.

»Ganz gut, denk' ich«, antwortete Honey.

Die beiden schauten Paige an. »Ich war verkrampft, doch ich war entspannt. Ich war nervös, aber ich habe die Fassung bewahrt.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Mein Gott, ist der Tag lang! Ich werde froh sein, wenn ich das Krankenhaus hinter mir habe - wir könnten uns doch einen schönen Abend machen.«

»Ich mach' mit«, sagte Kat. »Warum gehen wir nicht essen und anschließend ins Kino?«

»Prima Idee.«

Ein Krankenpfleger näherte sich. »Dr. Taylor?«

Paige hob den Kopf. »Ja, das bin ich.«

»Dr. Wallace möchte Sie gern in seinem Büro sprechen.«

Der Krankenhausdirektor! Was habe ich bloß verbrochen? überlegte Paige.

Der Pfleger wurde ungeduldig. »Dr. Taylor.«

»Ich komm' schon.« Sie holte tief Luft und stand auf. »Bis später.«

»Hier entlang, Doktor.«

Paige folgte dem Pfleger zum Lift und fuhr mit ihm in den fünften Stock, wo sich das Büro von Dr. Wallace befand.

Benjamin Wallace saß am Schreibtisch und sah von seinen Papieren auf, als Paige eintrat. »Dr. Taylor - einen guten Tag.«

Er räusperte sich. »Also! Ihr erster Tag im Krankenhaus - und Sie haben gleich Eindruck gemacht!«

Paige blickte ihn verwundert an. »Ich. das verstehe ich nicht.«

»Wie ich hörte, hat es da heute morgen ein kleines Problem im Ärzteumkleideraum gegeben.«

»Ach so.« Darum handelt es sich also!

Wallace musterte sie mit einem Lächeln. »Ich werde für Sie und die beiden anderen Mädchen dann wohl ein eigenes Zimmer einrichten müssen.«

»Wir.« Wir sind keine Mädchen, wollte Paige sagen und sagte statt dessen nur: »Dafür wären wir Ihnen sehr dankbar.«

»Wenn Sie sich nicht im gleichen Raum wie die Krankenschwestern umziehen wollen, könnten Sie vorläufig.«

»Ich bin keine Krankenschwester«, erwiderte Paige bestimmt. »Ich bin Ärztin.«

»Selbstverständlich, selbstverständlich. Also, wir werden uns etwas einfallen lassen, Doktor.«

»Vielen Dank.«

Er überreichte Paige ein Blatt Papier. »Da haben Sie Ihren Stundenplan. Sie werden während der nächsten vierundzwanzig Stunden im Dienst sein. Ab achtzehn Uhr.« Er schaute auf die Armbanduhr. »Das heißt, in dreißig Minuten geht's los.«

Paige starrte ihn ungläubig an. Der Tag hatte für sie um halb sechs Uhr morgens begonnen. »Vierundzwanzig Stunden?«

»Nun, sechsunddreißig, um genau zu sein. Weil Sie nämlich am Morgen wieder mit der Visite anfangen werden.« Sechsunddreißig Stunden! Ob ich das überhaupt durchhalte?

Paige hielt nach Kat und Honey Ausschau.

»Abendessen und Kino kann ich heute vergessen«, erklärte sie. »Ich bin während der nächsten sechsunddreißig Stunden im Dienst.«

Kat nickte. »Wir haben die schlechte Nachricht gerade selber erfahren. Mich trifft's morgen. Honey kommt Mittwoch an die Reihe.«

»Es wird schon nicht so schlimm werden.« Paige gab sich fröhlich. »Soweit ich weiß, gibt's ja ein Bereitschaftszimmer, wo man zwischendurch schlafen kann. Ich werd's genießen.« Da irrte sie sich gewaltig.

Ein Pfleger begleitete Paige einen langen Korridor entlang.

»Dr. Wallace hat mich für einen 36-Stunden-Dienst eingeteilt«, sagte Paige. »Müssen alle Assistenzärzte so lange arbeiten?« »Nur in den ersten drei Jahren«, versicherte der Pfleger.

Großartig!

»Aber Sie werden ja massig Zeit zum Ausruhen haben, Doktor.« »Wirklich?«

»In diesem Zimmer hier - dem Bereitschaftsraum.« Er machte die Tür auf. Paige trat ein. Der Raum glich der Mönchszelle eines mit Armut geschlagenen Klosters. Bis auf das Feldbett mit einer dicken Matratze, ein zersprungenes Waschbecken und einen Nachttisch mit Telefon war es leer. »Hier können Sie zwischen den Aufrufen schlafen.«

»Danke.«

Die Aufrufe setzten ein, als Paige in der Cafeteria gerade etwas zu Abend essen wollte.

»Dr. Taylor. Notfallraum 3 . Dr. Taylor. Notfallraum 3.«

»Wir haben hier einen Patienten mit einer gebrochenen Rippe.«

»Mr. Henegan klagt über Schmerzen in der Brust.«

»Der Patient auf Zimmer 3 hat Kopfweh. Ist es in Ordnung, ihm Paracetamol zu geben.«

Um Mitternacht - Paige hatte endlich einschlafen können - wurde sie erneut durch das Telefon geweckt.

»Melden Sie sich auf Notfallraum 1« - es war eine Messerstichwunde. Als Paige sie endlich verarztet hatte, war es halb zwei Uhr morgens. Das nächste Mal wurde sie um Viertel nach zwei aufgeweckt.

»Dr. Taylor. Notfallraum 2. Stat.«

»Okay«, sagte Paige wie erschlagen. Sie kam nur mit größter Anstrengung aus dem Bett und machte sich auf den Weg zum Notfallraum. Ein Patient war mit einem gebrochenen Bein eingeliefert worden. Er schrie vor Schmerz.

»Machen Sie eine Röntgenaufnahme«, befahl Paige. »Und geben Sie ihm Demerol, fünfzig Milligramm.« Sie legte ihre Hand auf den Arm des Patienten. »Es wird alles gut. Versuchen Sie, sich ein wenig zu entspannen.«

Über den Lautsprecher meldete sich eine metallische, körperlose Stimme. »Dr. Taylor. Station 3. Stat.«

Paige warf einen bangen Blick auf den stöhnenden Patienten. Durfte sie ihn allein lassen?

»Komme«, murmelte sie. Sie eilte zur Tür hinaus und über den Flur zu Station 3. Dort hatte sich ein Patient erbrochen und drohte zu ersticken.

»Er kann nicht atmen«, erklärte die Krankenschwester.

»Absaugen«, befahl Paige und schaute zu, wie der Patient wieder zu atmen begann, als sie erneut gerufen wurde. »Dr. Taylor. Station 4. Station 4.« Paige begann kopfschüttelnd in Richtung Station 4 zu laufen, zu einem brüllenden Patienten mit Darmkrämpfen. Paige untersuchte ihn rasch. »Könnte sich um eine Darmstörung handeln. Untersuchen Sie mit Ultraschall«, ordnete Paige an.

Als es ihr endlich gelang, zum Patienten mit dem gebrochenen Bein zurückzukehren, hatte das Schmerzmittel bei ihm zu wirken begonnen. Sie ließ ihn in den OP-Saal bringen und richtete das Bein, hatte diese Prozedur aber noch nicht abgeschlossen, als sie wieder ihren Namen hörte. »Dr. Taylor. Melden in Notfallraum 2. Stat.«

»Das Magengeschwür auf Station 4 hat Schmerzen .«

In einem Krankenzimmer, wo es einen Herzanfall gegeben hatte, horchte Paige ganz nervös das Herz des Patienten ab, als sie erneut aufgerufen wurde. »Dr. Taylor. Notfallraum 2. Stat. Dr. Taylor in den Notfallraum 2. Stat.«

Ich darf nicht in Panik geraten, dachte Paige. Ich muß die Ruhe bewahren. Sie geriet trotzdem in Panik. Wer war nun wichtiger - der Patient, den sie soeben untersuchte, oder der nächste Patient? »Warten Sie hier auf mich«, sagte sie. Es klang absolut idiotisch. »Ich bin gleich wieder da.«

Auf dem Weg zu Notfallraum 2 kam ihr Name schon wieder über Lautsprecher. »Dr. Taylor. Notfallraum 1. Dr. Taylor. Notfallraum 1. Stat.«

O mein Gott! dachte Paige nur. Ihr war, als ob sie sich inmitten eines entsetzlichen Alptraums befände.

In den verbleibenden Nachtstunden wurde Paige geweckt, um einen Fall von Lebensmittelvergiftung, einen gebrochenen Arm, einen Leistenbruch und eine gebrochene Rippe zu behandeln. Als sie endlich in ihren Bereitschaftsraum zurücktaumelte, war sie dermaßen erschöpft, daß sie sich kaum mehr bewegen konnte. Sie kroch auf ihr kleines Bett und döste gerade ein, als das Telefon zu läuten begann.

Sie streckte mit geschlossenen Augen den Arm aus. »Haaa... lo.«

»Dr. Taylor, wir warten auf Sie!«

»Waaas?« Sie blieb liegen und versuchte sich zu erinnern, wo sie überhaupt war.

»Ihre Visite fängt sofort an, Doktor.«

»Meine Visite?« Das muß wohl ein übler Scherz sein, dachte Paige. Das ist unmenschlich. Das können sie von niemandem verlangen. Aber man wartete auf sie!

Zehn Minuten später war Paige - noch halb im Schlaf - wieder auf Visite. Sie torkelte gegen Dr. Radnor. »Entschuldigung«, murmelte sie. »Aber ich habe die ganze Nacht überhaupt keinen Schlaf bekommen .«

Er klopfte ihr mitfühlend auf die Schulter. »Sie werden sich daran gewöhnen.«

Als Paige ihren Dienst schließlich beendete, schlief sie vierzehn Stunden durch.

Für einige Assistenzärzte waren der immense Druck und die mörderisch langen Dienstzeiten zu viel. Sie verschwanden einfach aus dem Krankenhaus. Das wird mir nicht passieren, sagte sich Paige.

Der Druck war erbarmungslos. Nach Ende einer Schicht von sechsunddreißig aufreibenden Stunden war Paige dermaßen erledigt, daß sie gar nicht mehr wußte, wo sie sich befand. Sie taumelte vor den Lift und blieb einfach stehen. Ihr Verstand war wie gelähmt.

Tom Chang kam auf sie zu. »Alles in Ordnung?« erkundigte er sich.

»Prima«, murmelte Paige.

Er grinste. »Sie sehen aus wie das nackte Elend.«

»Danke! Warum tut man uns das nur an?« wollte Paige wissen.

Chang zuckte mit den Schultern. »Der Theorie zufolge hält uns das in Kontakt mit den Patienten. Wenn wir nach Hause gingen und sie hier allein ließen, wüßten wir nämlich nicht, was aus ihnen wird, während wir fort sind.«

Paige nickte. »Das ergibt einen Sinn.« Es ergab überhaupt keinen Sinn. »Wie sollen wir sie denn betreuen, wenn wir im Stehen einschlafen?«

Chang zuckte erneut mit den Schultern. »Ich habe die Regeln nicht gemacht. Aber so geht's in Krankenhäusern immer zu.« Er warf Paige einen prüfenden Blick zu. »Schaffen Sie es allein nach Hause?«

Paige fing den Blick auf und erklärte hochnäsig: »Natürlich.«

»Passen Sie auf sich auf.« Chang entschwand im Flur.

Paige wartete auf den Lift. Als er endlich kam, war sie eingeschlafen.

Zwei Tage danach frühstückte Paige gemeinsam mit Kat.

»Willst du ein schreckliches Geständnis hören?« fragte Paige. »Wenn man mich morgens um vier weckt, weil irgendwer ein Aspirin braucht, und ich dann halbwach über den Flur taumele und an all den Zimmern vorbeikomme, wo die Patienten unter der Bettdecke liegen und richtig schön tief schlafen, dann würde ich manchmal am liebsten gegen die Türen hämmern und laut herausschrei-en: >Alle aufwachen!<.«

Kat streckte die Hand aus. »Willkommen im Klub!«

Die Patienten gab's in allen Formen, Größen, Altersgruppen und Farben. Sie waren verängstigt, tapfer, lieb, arrogant, schwierig oder rücksichtsvoll. Sie waren Menschen - Menschen, die Schmerzen litten.

Die meisten Ärzte waren pflichtbewußte Menschen. Es gab gute und schlechte Ärzte - nicht anders als in anderen Berufen auch. Sie waren jung und alt, unbeholfen und geschickt, angenehm und gräß-lich. Und es gab unter ihnen auch einige wenige, die, zum einen oder anderen Zeitpunkt, sexuelle Annäherungsversuche machten, manchmal auf subtile Art, manchmal derb und grob.

»Fühlen Sie sich nachts nie einsam? Mir geht es so. Da habe ich mich gefragt.«

»Diese langen Dienststunden bringen einen um, nicht wahr? Wissen Sie, was mir Kraft gibt? Richtiger, anständiger Sex. Warum machen wir beide nicht.«

»Meine Frau ist für ein paar Tage verreist. Ich habe da in der Nähe von Carmel eine Blockhütte. Wir könnten doch am Wochenende.«

Und dann die Patienten.

»Sie sind meine Ärztin, ja? Wissen Sie, was mich kurieren würde.«

»Kommen Sie näher ans Bett, Baby. Ich möchte nur mal fühlen, ob die da echt sind .«

Paige biß die Zähne zusammen und ignorierte das alles. Wenn Alfred und ich einmal verheiratet sind, wird das sowieso aufhören. Der Gedanke an Alfred stimmte sie jedesmal froh. Bald würde er aus Afrika zurückkehren. Bald.

Paige und Kat unterhielten sich eines Morgens beim Frühstück über die sexuellen Belästigungen, denen sie beide ausgesetzt waren.

»Die meisten Ärzte benehmen sich wie perfekte Gentlemen, es gibt da aber ein paar, die offenbar der Auffassung sind, wir wären so etwas wie eine persönliche Sondervergütung, auf die sie ein Anrecht hätten, und daß wir nur dazu da wären, um ihnen zu Diensten zu sein«, berichtete Kat. »Ich glaube, es vergeht keine Woche, in der nicht mindestens ein Arzt kommt und mich anmachen will. >Warum kommen Sie nicht auf einen Drink zu mir in die Wohnung? Ich hab' ein paar phantastische CDs.< Oder ich assistiere bei einer Operation, und der Chirurg streift mit seinem Arm über meinen Busen. Neulich hat ein Ekel zu mir gesagt: >Sie sollten eins wissen. Wenn ich ein Hühnchen bestelle, schmeckt mir das dunkle Fleisch immer am besten.<«

Paige stieß einen Seufzer aus. »Die meinen echt, daß sie uns schmeicheln, wenn sie uns wie Sexobjekte behandeln. Mir wär' es lieber, sie würden uns als Kolleginnen ernst nehmen.«

»Viele sähen am liebsten, wenn wir gar nicht da wären. Entweder sie wollen uns ficken, oder sie wollen nichts mit uns zu tun haben. Ich finde das wirklich unfair. Wir Frauen gelten als minderwertig, bis wir bewiesen haben, was wir können - Männer gelten als höherstehend, bis sie bewiesen haben, daß sie Arschlöcher sind.«

»Die alten Seilschaften«, sagte Paige. »Wenn wir nicht so wenige wären, dann könnten wir genauso zusammenhalten.«

Von Arthur Kane hatte Paige schon gehört. Über Kane wurde im Krankenhaus andauernd gemunkelt. Er hatte einen Spitznamen: Dr. 007 - licensed to kill. Für Kane gab es bei allen Problemen immer nur eine Lösung - operieren. Er führte im Embarcadero mehr Operationen als jeder andere Arzt durch. Er hatte auch die höchste Todesrate.

Er war ein kleingewachsener Mann mit Glatze und krummer Nase, nikotinverfärbten Zähnen und einem riesigen Fettbauch. Und so unglaublich es schien - er hielt sich tatsächlich für einen Herzensbrecher. Neue Krankenschwestern und Assistenzärztinnen bezeichnete er gern als >Frischfleisch<.

Paige Taylor war für ihn Frischfleisch. Er bemerkte sie im oberen Aufenthaltsraum und nahm ungefragt an ihrem Tisch Platz. »Ich habe ein Auge auf Sie geworfen.«

Paige hob beunruhigt den Kopf. »Wie bitte?«

»Ich bin Dr. Kane - Arthur für meine Freunde.« In seiner Stimme lag ein lüsterner Ton.

Paige konnte sich nicht vorstellen, daß er überhaupt Freunde hatte.

»Und wie kommen Sie hier zurecht?«

Auf die Frage war Paige nicht vorbereitet. »Ich. Ganz gut, denke ich.«

Er lehnte sich vor. »Dies hier ist ein großes Krankenhaus. Da geht man leicht unter. Sie verstehen, was ich meine?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte Paige mißtrauisch.

»Sie sind viel zu hübsch, um einfach nur ein weiteres Gesicht in der Menge zu sein. Wenn Sie hier vorankommen wollen, brauchen Sie jemanden, der Ihnen hilft. Jemanden, der sich hier auskennt.«

Das Gespräch wurde von Minute zu Minute unangenehmer.

»Und Sie würden mir gern helfen.«

»Genau.« Er bleckte seine gelben Raucherzähne. »Warum unterhalten wir uns darüber nicht beim Abendessen?«

»Da gibt es nichts, worüber wir uns unterhalten könnten«, erklärte Paige. »Ich bin nicht interessiert.«

Arthur Kane beobachtete, wie Paige sich erhob und davonging; auf seinem Gesicht zeigte sich ein giftiger Ausdruck.

In der Chirurgie wechselten die Assistenzärzte während ihres ersten Jahres im Zweimonatsturnus zwischen den einzelnen Unterabteilungen.

Paige fiel auf, daß die meisten Chirurgen während der Operation gern Musik hörten. Und aus irgendeinem Grund schienen Operationen alle hungrig zu machen. Man sprach bei Operationen unentwegt vom Essen. Da war etwa ein Chirurg gerade voll und ganz damit beschäftigt, eine brandige Gallenblase zu entfernen, und erklärte dann plötzlich: »Ich habe gestern abend bei Bardellis gegessen - die beste italienische Küche in ganz San Francisco.«

»Haben Sie schon mal die Krabbenkuchen im Cyprus Club gekostet.«

»Wenn Sie gern gutes Rindfleisch essen, sollten Sie mal das House of Prime Rib an der Van Ness probieren.«

Und währenddessen wischte eine OP-Schwester Blut und Eingeweide des Patienten auf.

Wie bei Kafka, dachte Paige. Dem Kafka hätte es hier bestimmt gefallen.

Es war drei Uhr morgens, Paige schlief, da wurde sie im Bereitschaftsraum durch das Läuten des Telefons geweckt.

Eine heisere Stimme: »Dr. Taylor - Zimmer 419 - ein Infarktpatient. Beeilen Sie sich!«

Paige saß auf dem Bettrand, kämpfte gegen den Schlaf an und kam nur mit Mühe auf die Beine. Beeilen Sie sich! Sie trat auf den Flur, nahm sich nicht die Zeit, auf den Lift zu warten, lief zur Treppe, nahm die Stufen im Eiltempo, raste im vierten Stock Zimmer 419 entgegen, daß ihr das Herz bis zum Halse klopfte, riß die Tür auf und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Zimmer 419 war ein Lagerraum.

Kat Hunter war mit Dr. Richard Hutton auf Visite. Dr. Hutton war ein brüsker, flinker Mann in den Vierzigern, der bei keinem Patienten länger als zwei Minuten verweilte, das Krankenblatt am Fußende des Bettes überflog, um dann wie ein Maschinengewehr Anweisungen an die Assistenzärzte hervorzurattern.

»Überprüfen Sie das Hämoglobin der Patientin, setzen Sie die Operation für morgen an ...«

»Behalten Sie seine Temperatur im Auge.«

»Sorgen Sie für vier Einheiten passendes Blut.«

»Entfernen Sie die Fäden hier.«

»Lassen Sie die Brust röntgen.«

Die Assistenzärzte hatten Mühe mitzukommen.

Sie näherten sich einem Patienten, der sich seit einer Woche im Krankenhaus befand und wegen hohen Fiebers eine Serie von Tests hinter sich hatte - ohne Ergebnis.

Als die Ärzte wieder auf den Flur traten, fragte Kat: »Was ist mit ihm los?«

»Ein Fall von D.W.N.G.«, antwortete ein Assistent. »>Das weiß nur Gott<. Wir haben alles versucht - Röntgenaufnahmen, Computertomogramme, Kernspintomogramme, Spinalpunktion, Biopsie der Leber. Trotzdem - keine Ahnung, was mit dem los ist.«

Sie betraten ein Krankenzimmer, in dem ein junger Patient schlief. Sein Kopf war nach der Operation bandagiert worden. Er wachte erschrocken auf, als Dr. Hutton die Kopfbandagen zu lösen begann. »Was. Was geht da vor?«

»Setzen Sie sich auf«, befahl Dr. Hutton kurz angebunden. Der junge Mann zitterte am ganzen Körper.

So will ich meine Patienten nie behandeln, schwor sich Kat.

Der nächste Patient war ein Mann in den Siebzigern, der völlig gesund wirkte und beim Eintritt von Dr. Hutton losbrüllte: »Hände weg! Ich werde Sie verklagen, Sie dreckiger Mistkerl!«

»Aber, aber, Mr. Sparolini.«

»Kommen Sie mir nicht mit >Mr. Sparolini

>Eunuchenbock< - das ist ein Oxymoron, überlegte Kat.

»Aber Mr. Sparolini! Sie waren mit der Vasektomie einverstanden und.«

»Das war die Idee meiner Frau. Die verdammte Ziege! Die soll was erleben, wenn ich wieder zu Hause bin!«

Er wollte gar nicht mehr aufhören zu schimpfen.

»Was hat der eigentlich für ein Problem?« erkundigte sich ein Assistent.

»Daß er ein geiler, alter Bock ist, der seiner jungen Frau sechs Kinder gemacht hat - sie will einfach nicht noch mehr bekommen.«

Nächster Patient war ein kleines Mädchen. Dr. Hutton schaute sich ihre Karte an. »Wir werden dir eine Spritze geben«, sagte er schroff.

Eine Schwester füllte eine Spritze und näherte sich dem Kind.

»Nein!« schrie das Mädchen. »Du wirst mir weh tun!«

»Das tut nicht weh, Kleines«, beruhigte sie die Schwester.

In Kats Bewußtsein klangen diese Worte noch lange nach.

Das tut nicht weh, Kleines. Es war die Stimme ihres Stiefvaters, die ihr in der unheimlichen Dunkelheit diese Worte zugeflüstert hatte.

»Das tut nicht weh. Mach deine Beine breit. Komm schon, du kleines Miststück!« Und er hatte ihr die Beine auseinandergezwungen und sein pralles Glied mit Gewalt in sie hineingepreßt und ihr seine Hand über den Mund gelegt, damit sie nicht schrie vor Schmerzen. Dreizehn Jahre alt war sie damals gewesen; nach dieser ersten Nacht waren seine Besuche zur schrecklichen Gewohnheit geworden. »Hast du ein Glück, daß du einen Mann wie mich ge-funden hast, der dir's Ficken beibringt«, hatte er immer wieder gesagt. »Weißt du, was eine Pussie ist? Deine kleine Pussie, Kat? Ich will sie haben!« Und dann hatte er sich auf sie geworfen und hatte sie gepackt, da konnte sie schreien und betteln, soviel sie wollte, da half nichts, er hörte nicht auf.

Ihren leiblichen Vater hatte Kat nie gesehen. Ihre Mutter war eine Putzfrau, die in der Nähe der kleinen Wohnung in Gary, Indiana, nachts in einem Bürogebäude arbeitete. Kats Stiefvater war ein Riesenkerl, der bei einem Unfall im Stahlwerk verletzt worden war und meist daheim saß und sich vollaufen ließ. Wenn die Mutter nachts zur Arbeit gegangen war, kam er in Kats Zimmer. »Wenn du deiner Mutter oder deinem Bruder was erzählst, bring' ich dich um«, hatte er Kat gedroht, und Kat hatte sich gesagt, immer wieder: Ich muß es ertragen, damit er Mike nichts antut. Sie liebte ihren fünf Jahre jüngeren Bruder abgöttisch, bemutterte ihn, beschützte ihn und kämpfte für ihn. Er war der einzige Lichtblick in ihrem Leben.

Aber sosehr Kat sich auch vor den Drohungen ihres Stiefvaters fürchtete - eines Tages hielt sie es nicht mehr aus. Sie mußte ihrer Mutter einfach sagen, was da vorging; sie war ganz sicher, daß ihre Mutter dem allen ein Ende bereiten und sie beschützen würde.

»Mama, wenn du nachts weg bist, kommt dein Mann zu mir ins Bett und bedrängt mich.«

Die Mutter hatte sie kurz angesehen und ihr eine böse Ohrfeige gegeben.

»Untersteh dich, solche Lügen zu erfinden, du kleine Schlampe!«

Kat hatte nie wieder darüber gesprochen. Daß sie danach noch zu Hause geblieben war, hatte nur einen einzigen Grund - Mike. Ohne mich wäre er verloren, hatte Kat gedacht. An dem Tag, als sie erfuhr, daß sie schwanger war, war Kat dann doch davongelaufen, zu einer Tante nach Minneapolis.

Das hatte ihr Leben von Grund auf verändert.

»Du mußt mir gar nicht erzählen, was geschehen ist«, hatte Tante Sophie gesagt. »Aber von jetzt an läufst du nicht mehr weg. Du kennst doch das Lied aus der Sesamstraße - >Es ist nicht leicht, so grün zu sein

»Und wie mach' ich das?«

»Indem du weißt, daß es auf dich ankommt und daß du wichtig bist. Zuerst einmal stellst du dir genau vor, was du einmal sein willst, Kind - was du gern sein möchtest. Und dann wirst du daran arbeiten, damit du das auch wirklich wirst.«

Dieses Baby will ich nicht, hatte Kat beschlossen. Ich will es abtreiben lassen.

Die Abtreibung wurde in aller Stille arrangiert, an einem Wochenende, und von einer Hebamme durchgeführt, mit der Kats Tante befreundet war. Kat war hinterher völlig verstört und schwor: Ich werde mich nie mehr von einem Mann anfassen lassen. Niemals!

Minneapolis war für Kat ein Märchenland. Es gab dort kaum ein Haus, das weit entfernt von den Seen und Bächen und Flüssen war; außerdem lagen über achttausend Ar schön gestalteter Landschaftsparks innerhalb der Stadtgrenzen. Kat ging auf den Stadtseen segeln und machte kleinere Schiffsreisen auf dem Mississippi.

Sie besuchte zusammen mit Tante Sophie den Zoo und sonntags den Valleyfair-Vergnügungspark. Auf der Cedar Creek Farm fuhr sie auf dem Heuwagen mit. Auf den Shakespeare-Festspielen schaute sie Rittern in Wappenrüstung bei Turnieren zu.

Tante Sophie musterte sie nachdenklich und dachte: Das Mädchen hat überhaupt keine richtige Kindheit gehabt.

Kat begann, ihr Leben zu genießen, und doch, Tante Sophie konnte es spüren, gab es in ihrer kleinen Nichte einen Bereich, an den sie niemanden heranließ. Sie hatte eine Barriere zwischen sich und der Welt errichtet, um nicht wieder verletzt zu werden.

In der Schule schloß sie Freundschaften. Aber nie mit Jungen. Ihre Freundinnen gingen aus. Kat hielt sich abseits und war zu stolz, den Grund zu nennen. Zu ihrer Tante, die sie sehr liebgewonnen hatte, schaute sie voller Bewunderung auf.

An der Schule hatte Kat vorher kaum Interesse gezeigt, auch nicht an Büchern - das hatte sich jedoch total geändert, dank Tante Sophie, deren Wohnung voller Bücher war und die Kat mit ihrer Begeisterung ansteckte.

»Die Bücher bergen in sich wunderbare Welten«, machte sie dem jungen Mädchen klar. »Wenn du sie liest, wirst du verstehen, woher du kommst und wohin du gehst. Wenn mein Gefühl mich nicht trügt, wirst du eines Tages einmal berühmt werden, Baby. Aber zuerst mußt du eine gute Bildung bekommen. Wir leben hier in Amerika. Hier kannst du alles werden, was du werden möchtest. Du magst schwarz und arm sein - aber das sind einige unserer weiblichen Kongreßabgeordneten ebenfalls gewesen - und so mancher Filmstar, so manche Wissenschaftlerin und Spitzensportlerin auch. Eines Tages werden wir einen schwarzen Präsidenten haben. Man kann alles werden, man muß nur wollen. Es liegt nur an dir selbst.«

So hatte alles angefangen.

Kat wurde Klassenbeste. Sie war eine begierige Leserin. In der Schulbibliothek nahm sie eines Tages zufällig den Roman Arrowsmith von Sinclair Lewis aus dem Regal und war fasziniert von der Geschichte des engagierten Arztes. Sie las Promises to Keep von Agnes Cooper, und Woman Surgeon von Dr. Else Roe - die Lektüre eröffnete ihr eine neue Welt. Sie entdeckte, daß es in dieser Welt Menschen gibt, die ihr Leben der Aufgabe widmen, anderen zu helfen, Leben zu retten. Und als Kat eines Tages von der Schule heimkam, erklärte sie Tante Sophie: »Ich werde Ärztin. Eine berühmte Ärztin.«

4. Kapitel

Am Montagmorgen fehlten bei drei von Paiges Patienten die Krankenblätter. Die Schuld dafür wurde Paige gegeben. Am Mittwoch wurde Paige im Bereitschaftsraum um vier Uhr morgens geweckt und griff schläfrig nach dem Telefon. »Hier Dr. Taylor.« Schweigen. »Hallo, hallo!«

Sie konnte am andern Ende der Leitung ein Schnaufen hören. Dann ein Klicken. Aufgelegt. Paige lag den Rest der Nacht über wach.

Am Morgen meinte Paige zu Kat: »Entweder leide ich an Verfolgungswahn, oder da ist jemand, der mich haßt.« Sie erzählte von ihrem Erlebnis.

»Es kann vorkommen, daß Patienten einen Groll gegen ihre Ärzte entwickeln«, meinte Kat. »Fällt dir irgend jemand ein, der.« Paige seufzte. »Dutzende.«

»Du brauchst dir bestimmt keine Sorgen zu machen.« Paige hätte ihr nur allzugern geglaubt.

Im Spätsommer traf das Zaubertelegramm ein. Es wartete auf Paige, als sie abends spät in die Wohnung zurückkehrte. Es lautete: >An-komme San Francisco Sonntag mittag. Kann Wiedersehen kaum erwarten. In Liebe, Alfred.<

Da war er also endlich unterwegs zu ihr! Paige las das Telegramm, las es immer und immer wieder und wurde von Mal zu Mal aufgeregter. Alfred! Sein Name beschwor in ihr ein wild durcheinanderwirbelndes Kaleidoskop von Erinnerungen herauf.

Paige war zusammen mit Alfred aufgewachsen. Ihre Väter gehörten zu einem Ärzteteam der Weltgesundheitsorganisation, das Länder in der dritten Welt bereiste und exotische Viren und Epidemien bekämpfte. Paige und ihre Mutter begleiteten den Vater, der das Team führte.

Paige und Alfred hatten eine traumhafte Kindheit. In Indien lernte Paige Hindi. Mit zwei Jahren wußte sie, daß der Name für die Bambushütte, in der sie wohnten, auf Hindi basha lautete. Ihr Vater war gorasahib, ein weißer Mann, und sie selber nani, eine kleine Schwester. Die Leute sprachen ihren Vater mit abadhan, Führer, an, oder mit baba, Vater.

Wenn die Eltern fort waren, trank Paige bhanga, ein berauschendes Getränk, das mit Haschischblättern zubereitet wurde, und aß chapati mit ghi.

Und dann ging's auf nach Afrika! Zu neuen Abenteuern!

Paige und Alfred gewöhnten sich daran, in Flüssen mit Krokodilen und Flußpferden zu baden. Ihre Lieblingstiere waren Zebras, Geparden und Schlangen. Sie wuchsen in fensterlosen runden Hütten auf, die aus lehmverschmiertem Flechtwerk bestanden und festgetretene Lehmböden und kegelförmige Strohdächer hatten. Paige schwor sich: Ich werde einmal in einem richtigen Haus wohnen, einem schönen großen Haus mit grünem Rasen und einem weißen Lattenzaun.

Für die Ärzte und Krankenschwestern war das Leben schwierig und mühsam. Für die beiden Kinder dagegen war es im Lande der Löwen, Giraffen und Elefanten ein immerwährendes Abenteuer. Sie besuchten primitive Schulen aus Schlackenstein, und wenn es in ihrer Umgebung keine Schule gab, wurden sie von Hauslehrern unterrichtet. Paige war ein aufgewecktes Kind, ihr Verstand nahm wie ein Schwamm alles auf. Alfred bewunderte Paige.

»Ich werde dich einmal heiraten, Paige«, sagte er, als sie zwölf und er vierzehn Jahre alt war.

»Ich dich auch, Alfred!«

Sie waren zwei ernste Kinder und beschlossen, das ganze Leben gemeinsam zu verbringen.

Die Ärzte der Weltgesundheitsorganisation waren selbstlose Männer und Frauen, die ganz in ihrer Arbeit aufgingen. Sie arbeiten häufig unter unmöglichen Umständen. In Afrika hatten sie Konkurrenz in den wogesha - den eingeborenen Medizinmännern, deren primitive Heilmittel vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden; sie zeitigten oft genug tödliche Folgen. Die herkömmliche Arznei der Massai bei Fleischwunden war olkilorite - eine Mixtur aus Rinderblut, rohem Fleisch und Essenzen aus einer geheimnisvollen Wurzel.

Die Medizin der Kikuyu gegen Pocken bestand darin, daß Kinder die Krankheit mit Stöcken austrieben.

»Damit müßt ihr aufhören«, erklärte ihnen Dr. Taylor. »Das hilft überhaupt nicht.«

»Besser, als uns von dir scharfe Nadeln in die Haut stechen zu lassen«, lautete die Antwort.

Die Praxen bestanden aus Tischen, die man im Schatten der Bäume aufstellte. Die Ärzte behandelten täglich Hunderte von Patienten, es gab stets lange Schlangen wartender Menschen - Aussätzige, Eingeborene mit Tuberkulose, Keuchhusten, Pocken, Ruhr.

Paige und Alfred waren unzertrennlich. Als sie älter wurden, fuhren sie zusammen zum Markt in ein Dorf, das einige Meilen ent-fernt lag. Und sie sprachen von ihren Plänen für die Zukunft.

Für Paige war die Medizin von klein auf Teil ihres Lebens. Sie lernte, für Patienten zu sorgen, ihnen Spritzen zu geben und Medikamente auszuhändigen; oft ahnte sie im voraus, wie sie ihrem Vater zur Hand gehen könnte.

Paige liebte ihren Vater. Curt Taylor war der fürsorglichste, selbstloseste Mensch, den sie sich vorstellen konnte. Er empfand echte Zuneigung für seine Mitmenschen, er sah seine Lebensaufgabe darin, denen zu helfen, die ihn brauchten, und dies weckte die gleiche leidenschaftliche Anteilnahme in Paige. Trotz seiner langen Arbeitsstunden fand er für seine Tochter Zeit. Mit ihm machten sogar die Unannehmlichkeiten des primitiven Lebens Spaß.

Paiges Beziehung zur Mutter stand auf einem ganz anderen Blatt. Die Mutter war eine reiche, verwöhnte Schönheit. Sie war kühl und hochnäsig - das hielt Paige auf Distanz. Die Ehe mit einem Arzt, der in entlegenen, exotischen Gegenden arbeiten wollte, war ihr romantisch erschienen; aber die harte Realität hatte sie verbittert. Sie war kein warmherziger, liebevoller Mensch. Paige hatte den Eindruck, daß sie immer nur jammerte und klagte.

»Warum sind wir bloß in dieses gottverlassene Nest gekommen, Curt?«

»Hier leben die Menschen ja wie Tiere. Wir werden uns noch eine von ihren schrecklichen Krankheiten einfangen.«

»Warum kannst du nicht in den USA arbeiten und Geld verdienen wie andere Ärzte auch?«

So ging es den ganzen Tag.

Je mehr die Mutter am Vater herummäkelte, um so inniger bewunderte ihn Paige.

Als Paige fünfzehn Jahre alt war, brannte die Mutter mit einem reichen brasilianischen Plantagenbesitzer durch.

»Sie kommt nie mehr zurück, nicht wahr?« fragte Paige.

»Nein, Liebling. Tut mir leid.«

»Ich bin ja so froh!« Das hatte sie gar nicht sagen wollen, aber es hatte sie verletzt, daß ihre Mutter sich so wenig um sie und ihren Vater kümmerte und sie mit dem Vater sitzengelassen hatte.

Diese Erfahrung brachte sie Alfred Turner noch näher. Sie spielten zusammen, sie gingen gemeinsam auf Expeditionen, sie teilten ihre Träume.

»Ich will auch Arzt werden, wenn ich groß bin«, hatte Alfred ihr anvertraut. »Wir werden heiraten und zusammenarbeiten.«

»Und werden eine Menge Kinder haben.«

»Klar. Wenn du willst.«

Am Abend vor Paiges sechzehntem Geburtstag gewann die lebenslange Vertrautheit der beiden plötzlich eine neue Dimension. Sie wohnten in einem kleinen Dorf in Ostafrika, und die Ärzte waren wegen einer Epidemie fortgerufen worden; im Lager zurückgeblieben waren nur Alfred, Paige und ein Koch.

Sie hatten zu Abend gegessen und waren dann schlafen gegangen, doch mitten in der Nacht war Paige in ihrem Zelt wach geworden von dem fernen Donnern flüchtender Tierherden. Und während sie wach dalag und die Minuten verstrichen und das Geräusch des wilden Ansturms immer näher kam, wurde ihr langsam angst, und ihr Atem ging immer schneller - es war völlig ungewiß, wann ihr Vater und die anderen zurückkehren würden.

Sie stand auf. Alfreds Zelt lag nur wenige Schritte entfernt. In ihrer Angst hob Paige die Zeltklappe und lief hinein zu Alfred.

Er schlief.

»Alfred!«

Er war sofort wach und richtete sich auf. »Paige? Etwas nicht in Ordnung?«

»Ich hab' Angst. Darf ich ein Weilchen zu dir ins Bett kommen?«

»Sicher.«

Die beiden lagen wach und horchten auf die Tiere, die in wilder Panik über die Steppe jagten.

Nach einer Weile begannen die Laute zu verebben.

Alfred wurde sich des warmen Körpers bewußt, der sich an ihn schmiegte.

»Paige - ich glaube, es wäre besser, wenn du jetzt wieder in dein eigenes Zelt zurückgehen würdest.«

Paige konnte die männliche Erregung spüren, die sich fest und steif gegen sie drückte.

Die körperlichen Bedürfnisse, die sich in beiden seit langem aufgestaut hatten, brachen durch.

»Alfred.«

»Ja?« Seine Stimme klang rauh.

»Wir werden doch heiraten, ja?«

»Ja.«

»Dann ist es doch in Ordnung.«

Und die Laute und Geräusche des Dschungels ringsum versanken, und sie begannen eine Welt zu erforschen und zu entdecken, die außer ihnen noch niemand besessen hatte. Sie waren die ersten Liebenden auf der Welt, sie genossen das herrliche Wunder der Liebe.

Im Morgengrauen kroch Paige in ihr Zelt zurück und dachte glücklich: Jetzt bin ich eine Frau.

Curt Taylor schlug Paige von Zeit zu Zeit vor, sie solle in die Vereinigten Staaten zurückreisen und in dem schönen Haus in Deer-field im Norden von Chicago bei seinem Bruder wohnen.

»Aber warum?« hatte Paige dann gefragt.

»Damit du zu einer richtigen jungen Dame heranwachsen kannst.«

»Ich bin aber doch eine richtige junge Dame.«

»Richtige junge Damen spielen nicht mit wilden Affen und versuchen nicht, auf kleinen Zebras zu reiten.«

Ihre Antwort war immer die gleiche. »Ich werde dich nicht verlassen.«

Als Paige siebzehn Jahre alt war, reiste das WHO-Team in ein Dschungeldorf in Südafrika, um eine Typhusepidemie zu bekämpfen. Noch gefährlicher wurde die Sache dadurch, daß kurz nach Ankunft der Ärzte zwischen zwei Stämmen der Region ein Krieg ausbrach. Curt Taylor erhielt den Rat, die Gegend zu verlassen.

»Aber das kann ich doch nicht tun! Um Gottes willen! Ich habe hier Patienten, die sterben müßten, wenn ich sie allein ließe.«

Vier Tage danach wurde das Dorf angegriffen. Paige kauerte zusammen mit ihrem Vater in der kleinen Hütte, hörte das Brüllen und die Gewehrschüsse draußen.

Paige war entsetzt. »Sie werden uns töten!«

Der Vater hatte sie in den Arm genommen. »Sie werden uns nichts tun, Liebling. Wir sind doch da, um ihnen zu helfen. Sie wissen, daß wir ihre Freunde sind.«

Und er hatte recht behalten.

Der Häuptling eines der beiden Stämme war mit seinen Kriegern in die Hütte geplatzt. »Fürchtet euch nicht. Wir werden euch beschützen.« Und das hatten sie auch getan.

Die Kämpfe und Schießereien ließen schließlich nach, doch an jenem Morgen hatte Curt Taylor eine Entscheidung getroffen.

Er schickte seinem Bruder ein Telegramm. Schicke Paige mit nächstem Flugzeug. Einzelheiten später. Bitte hol sie am Flughafen ab.

Als Paige davon hörte, bekam sie einen Wutanfall. Sie schluchzte verzweifelt, als man sie zu dem staubigen kleinen Flughafen brachte. Dort wartete schon eine Piper Cub, um sie zu einer Stadt zu bringen, von wo aus sie nach Johannesburg weiterfliegen konnte.

Paige weinte. »Du schickst mich bloß weg, weil du mich loswerden willst!«

Der Vater hielt sie eng umschlungen. »Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt, Schatz. Du wirst mir in jedem Augenblick fehlen. Aber ich werde bald in die USA zurückkehren, dann sind wir wieder beisammen.«

»Versprichst du's mir?«

»Ich verspreche es dir.«

Alfred war zum Abschied mitgekommen.

»Mach dir keine Sorgen«, hatte Alfred gesagt. »Ich werde kommen und dich holen, sobald ich kann. Wirst du auf mich warten?«

Das war, nach all den Jahren, die sie sich schon kannten, eine reichlich alberne Frage gewesen.

»Natürlich werde ich auf dich warten.«

Als Paige drei Tage später im O'Hare Airport in Chicago eintraf, wurde sie von ihrem Onkel Richard abgeholt, dem sie noch nie begegnet war. Sie wußte lediglich, daß er ein äußerst wohlhabender Geschäftsmann war, der vor einigen Jahren seine Frau verloren hatte. »Er ist der Erfolgreiche in unserer Familie«, hatte Paiges Vater immer gesagt.

Die ersten Worte ihres Onkels raubten ihr die Sprache. »Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Paige, aber ich habe soeben die Nachricht erhalten, daß dein Vater bei einem Eingeborenenaufstand ums Leben gekommen ist.«

In diesem Augenblick war für sie die ganze Welt zusammengebrochen. Der Schmerz war so stark, daß sie ihn nicht zu ertragen können glaubte. Mein Onkel soll mich nicht weinen sehen, schwor sich Paige. Das werde ich nicht zulassen. Ich hätte Vater nie verlassen dürfen. Ich kehre nach Afrika zurück.

Auf der Fahrt vom Flughafen starrte Paige aus dem Fenster auf den starken Verkehr. »Ich hasse Chicago.« »Aber warum, Paige?« »Weil's ein Dschungel ist.«

Richard wollte Paige nicht zur Beerdigung des Vaters nach Afrika zurückfliegen lassen, und das versetzte sie in Rage.

Er versuchte es mit Vernunft. »Paige - dein Vater ist bereits begraben worden. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum du dorthin zurückfliegen solltest.« Einen Grund gab es aber doch: Dort war Alfred.

Der Onkel wollte wenige Tage nach ihrer Ankunft mit ihr über die Zukunft diskutieren.

»Da gibt es nichts zu diskutieren«, teilte ihm Paige mit. »Ich werde Ärztin.«

Als Paige im Alter von einundzwanzig Jahren das College hinter sich hatte, bewarb sie sich bei zehn medizinischen Fakultäten und wurde von allen zehn angenommen. Sie entschied sich für eine Hochschule in Boston.

Es dauerte zwei Tage, bis sie Alfred endlich telefonisch in Zaire erreichte, wo er als Teilzeitkraft in einem WHO-Team mitarbeitete.

Als Paige ihm die Nachricht mitteilte, sagte er: »Aber das ist ja wunderbar, Liebling. Ich bin bald mit dem Medizinstudium fertig. Ich bleibe noch eine Zeitlang bei der Weltgesundheitsorganisation, aber in ein paar Jahren können wir dann zusammen praktizieren.« Zusammen. Das Zauberwort.

»Paige, ich muß dich unbedingt wiedersehen. Wenn ich ein paar Tage freibekäme - könntest du mich in Hawaii treffen?« Da gab es gar kein Zögern. »Ja.«

Und sie hatten es geschafft, alle beide, und hinterher konnte Paige sich nur ausmalen, wie schwierig die lange Reise für Alfred gewesen sein mußte - er hatte es mit keinem einzigen Wort erwähnt.

Sie verbrachten drei unglaublich schöne Tage in einem kleinen Hotel in Hawaii, Sunny Cove hieß es, und es war ganz so, als wären sie nie getrennt gewesen. Paige hätte Alfred am liebsten gebeten, sie nach Boston zu begleiten, wußte jedoch, wie egoistisch das wäre. Seine Arbeit in Afrika war doch viel wichtiger.

Als sie sich an ihrem letzten gemeinsamen Tag ankleideten, fragte Paige: »Wohin werden sie dich senden, Alfred?«

»Nach Gambia. Vielleicht auch nach Bangladesh.«

Um Leben zu retten, um Menschen zu helfen, die ihn verzweifelt brauchen. Sie drückte ihn an sich und schloß die Augen. Sie hätte ihn am liebsten nicht mehr fortgehen lassen.

Und als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, versprach er: »Ich werde dich nie verlassen.«

Paige nahm ihr Medizinstudium auf. Sie korrespondierte regelmäßig mit Alfred. Und ganz gleich, in welchem Teil der Welt Alfred sich gerade befinden mochte - es gelang ihm immer, sie an ihrem Geburtstag und zu Weihnachten anzurufen.

»Paige?«

»Liebling! Wo bist du?«

»Im Senegal. Ich hab' mir ausgerechnet, daß ich nur etwa achttausendachthundert Meilen vom Sunny Cove entfernt bin.«

Es dauerte einen Moment, bis bei ihr der Groschen fiel.

»Soll das heißen ...?«

»Könntest du mich zu Silvester in Hawaii treffen?«

»O ja! Ja!«

Alfred reiste fast um die halbe Welt, um bei ihr zu sein, und diesmal war der Zauber sogar noch viel stärker. Die Zeit stand für die

beiden still.

»Im nächsten Jahr werde ich bei der WHO ein eigenes Team leiten«, sagte Alfred. »Ich möchte gern, daß wir heiraten, sobald du mit deinem Medizinstudium fertig bist.«

Sie hatten sich in der Zwischenzeit noch einmal wiedersehen können; und wenn sie sich nicht sehen konnten, dann überbrückten sie Raum und Zeit mit Briefen.

In all diesen Jahren hatte er wie sein eigener Vater und wie Paiges Vater als Arzt in Ländern der dritten Welt gearbeitet und den gleichen wunderbaren Dienst getan, den schon ihre beiden Väter geleistet hatten. Und nun kam er endlich heim - heim zu ihr.

Es war schon das fünfte Mal, daß Paige Alfreds Telegramm las, und sie dachte nur: Er kommt nach San Francisco!

Kat und Honey waren in ihren Zimmern und schliefen schon, doch Paige schüttelte sie wach. »Alfred kommt! Er kommt! Am Sonntag wird er da sein!«

»Wunderbar«, murmelte Kat. »Warum weckst du mich dann nicht erst am Sonntag auf? Ich bin gerade erst zu Bett gegangen.«

Honey zeigte sich aufgeschlossener. Sie setzte sich im Bett auf und rief spontan: »Das ist ja großartig! Ich bin so gespannt, ihn kennenzulernen. Wie lang ist es jetzt her, daß ihr euch gesehen habt?«

»Zwei Jahre«, erwiderte Paige, »wir sind aber ständig in Kontakt geblieben.«

»Du hast Glück, Mädchen«, sagte Kat. »Also, wenn wir sowieso schon alle wach sind, mach' ich uns einen Kaffee.«

Die drei ließen sich am Küchentisch nieder.

»Wie wär's, wenn wir für Alfred ein Fest geben würden?« schlug Honey vor. »Nach dem Motto >Herzlich willkommen, Bräutigam

»Prima Idee«, meinte Kat.

»Wir lassen eine richtige Feier steigen - mit Kuchen und Ballons - mit allem Drum und Dran.«

»Wir werden ihn hier in der Wohnung zu einem festlichen Abendessen einladen«, erklärte Honey.

Kat schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wie's schmeckt, wenn du kochst. Wir lassen uns das Essen kommen.«

Bis zum Sonntag waren es nur noch vier Tage. Sie sprachen dauernd von Alfred und der Begrüßung, die sie ihm bei seiner Ankunft bereiten wollten; denn wie durch ein Wunder hatten sie alle drei am Sonntag keinen Dienst. Am Samstag fand Paige sogar Zeit, einen Beautysalon aufzusuchen. Sie ging einkaufen und gab ein Heidengeld für ein neues Kleid aus.

»Wie seh' ich aus? Meint ihr, daß ihm das Kleid gefällt?«

»Sensationell siehst du aus!« versicherte ihr Honey. »Hoffentlich hat er dich auch verdient.«

Paige lächelte bescheiden. »Hoffentlich hab' ich ihn verdient. Ihr werdet ihn gern haben. Er ist fantastisch!«

Am Sonntag der Sonntage deckten die drei Frauen im Eßzimmer den Tisch für das köstliche Mittagessen und den Champagner, die sie bei einem Restaurant bestellt hatten, und standen dann ganz nervös herum.

Punkt zwei Uhr klingelte es, und Paige rannte los, um zu öffnen

- und da stand er, Alfred, wirkte ein wenig erschöpft und er schien ihr noch ein bißchen hagerer. Und neben ihm stand eine Brünette - sie mußte in den Dreißigern sein. »Paige!« rief Alfred aus.

Paige warf ihm die Arme um den Hals. Dann drehte sie sich um, wandte sich an Honey und Kat und sagte voller Stolz: »Das ist Alfred Turner. Alfred, das sind meine Mitbewohnerinnen Honey Taft und Kat Hunter.«

»Sehr erfreut«, sagte Alfred. Er schaute zu der Frau an seiner Sei-te. »Und das ist Karen Turner. Meine Frau.«

Die drei Frauen waren auf einmal wie erstarrt.

»Deine Frau?« sagte Paige ganz langsam.

»Ja.« Er runzelte die Stirn. »Hast du ... Hast du denn meinen Brief nicht bekommen?«

»Einen Brief?«

»Doch. Ich hab' ihn vor ein paar Wochen abgeschickt.«

»Nein.«

»Oh. Ich. es tut mir schrecklich leid. Ich habe alles erklärt in meinem. aber natürlich, wenn du ihn nicht bekommen hast.« Seine Stimme wurde unhörbar. ».tut mir wirklich furchtbar leid, Paige. Wir beide sind so lange getrennt gewesen, daß ich. und dann habe ich Karen kennengelernt. du weißt doch, wie das ist.«

»Ich weiß, wie das ist«, wiederholte Paige ganz benommen. Sie wandte sich Karen zu und rang sich ein Lächeln ab. »Ich. ich hoffe, Sie werden mit Alfred glücklich sein.«

»Danke.«

Das Schweigen wurde drückend.

»Ich denke, wir sollten jetzt besser gehen, Liebling«, sagte Karen.

»Ja. Das wäre wohl wirklich besser«, sagte Kat.

Alfred strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Es tut mir aufrichtig leid, Paige. Ich. also. dann auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Alfred.«

Die drei Frauen schauten dem frischvermählten Paar nach.

»So ein Schwein!« schimpfte Kat. »Wie konnte er nur so etwas tun!«

Paiges Augen füllten sich mit Tränen. »Ich. aber er wollte mich doch nicht. Ich meine. Er muß ja in seinem Brief alles erklärt haben.«

Honey legte Paige den Arm um den Hals. »Es müßte ein Gesetz geben, daß alle Männer kastriert werden.«

»Darauf stoße ich an«, sagte Kat.

»Entschuldigt mich bitte«, sagte Paige, verschwand in ihrem Zimmer und schloß hinter sich zu. Sie kam den ganzen Tag nicht mehr aus dem Zimmer heraus.

5. Kapitel

Von Kat und Honey bekam Paige während der folgenden Monate nicht viel zu sehen. Sie trafen sich bei einem raschen Frühstück in der Cafeteria oder begegneten sich gelegentlich auf den Fluren, kommunizierten jedoch hauptsächlich mittels Zetteln, die sie in der Wohnung hinterließen.

»Essen ist im Kühlschrank.«

»Mikrowellenherd ist kaputt.«

»Tut mir leid, hatte keine Zeit mehr zum Aufräumen.«

»Wie wär's, wenn wir Samstag abend zu dritt essen gingen?«

Die unmöglich langen Dienststunden waren weiterhin eine Tortur, die alle Assistenzärzte bis an die Grenzen ihres Durchstehvermögens belastete.

Paige war dieser Druck nur recht. Auf diese Weise blieb ihr keine Zeit, um an Alfred und die herrliche Zukunft zu denken, die sie gemeinsam geplant hatten. Es gelang ihr aber trotzdem nicht, ihn aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen. Was er ihr angetan hatte, erfüllte sie mit einem tiefen Schmerz, der nicht mehr weichen wollte. Sie quälte sich mit sinnlosen Überlegungen wie »Was wäre gewesen, wenn.«

Wenn ich bei Alfred in Afrika geblieben wäre?

Wenn er mit mir zusammen nach Chicago gekommen wäre?

Wenn er Karen nicht begegnet wäre?

Was wäre gewesen, wenn...?

Als Paige an einem Freitag im Umkleideraum des Krankenhauses ihr OP-Gewand anziehen wollte, bemerkte sie das Wort >Miststück< - jemand hatte es mit schwarzem Filzstift auf den Kittel geschrieben. Als Paige am Tag darauf ihr Notizbuch suchte, war es verschwunden. Sie hatte sämtliche Aufzeichnungen verloren! Vielleicht habe ich es ja nur verlegt, redete Paige sich ein. Davon konnte sie jedoch nicht einmal sich selbst überzeugen.

Es kam soweit, daß die Welt außerhalb des Krankenhauses nicht mehr für sie existierte. Paige registrierte zwar noch, daß der Irak Kuwait ausplünderte; das wurde jedoch völlig überschattet von den Bedürfnissen eines fünfzehnjährigen Patienten, der an Leukämie starb. Am Tag der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland war Paige vollauf damit beschäftigt, das Leben einer Diabetikerin zu retten. In England trat Margaret Thatcher ab; viel wichtiger war aber, daß der Patient auf Zimmer 214 endlich wieder laufen konnte.

Erträglich wurde es nur dank der Ärzte, mit denen Paige zusammenarbeitete. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, hatten sie sich ganz der Aufgabe verschrieben, Mitmenschen zu heilen, von Schmerzen zu befreien und Leben zu retten. Paige erlebte die Wunder mit, die sie Tag für Tag bewerkstelligten; es erfüllte sie mit Stolz dazuzugehören.

Den größten Streß verursachte die Arbeit auf der Notfallstation. Dort wimmelte es immer von Patienten, die unter allen nur erdenklichen Arten von Traumata litten.

Die langen Dienststunden im Krankenhaus und der enorme Druck waren eine große Belastung für die Ärzte und Kranken-schwestern. Es gab unter den Ärzten eine außergewöhnlich hohe Scheidungsrate, und Affären waren an der Tagesordnung.

Zu den Ärzten, denen das Krankenhaus Probleme verursachte, gehörte auch Tom Chang, der Paige davon bei einer Tasse Kaffee berichtete.

»Ich selber halte die langen Stunden schon aus«, gestand Chang, »aber meine Frau nicht. Sie beschwert sich, daß sie mich kaum mehr sieht und daß ich für unsere kleine Tochter ein Fremder geworden bin. Sie hat recht. Ich weiß nur nicht, was ich dagegen tun soll.«

»Hat Ihre Frau Sie schon einmal im Krankenhaus besucht?« wollte Paige wissen.

»Nein.«

»Warum laden Sie sie nicht einmal zum Mittagessen ein, Tom? Damit sie sieht, was Sie hier machen und wie wichtig Ihre Arbeit hier ist.«

Changs Miene hellte sich auf. »Das ist eine gute Idee. Danke, Paige. Genau das werde ich tun. Und ich hätte gern, daß Sie meine Frau kennenlernen. Leisten Sie uns beim Mittagessen Gesellschaft?«

»Liebend gern.«

Sye Chang war, wie sich herausstellte, eine reizende junge Frau von klassischer, zeitloser Schönheit. Chang führte sie durch das Krankenhaus, anschließend aßen die beiden gemeinsam mit Paige in der Cafeteria. Sye war, wie Paige erfuhr, in Hongkong geboren und aufgewachsen.

»Und wie gefällt Ihnen San Francisco?« erkundigte sich Paige.

Kurzes Schweigen. »San Francisco ist eine interessante Stadt«, antwortete Sye höflich, »aber ich habe das Gefühl, hier fremd zu sein. Sie ist zu groß, zu laut.«

»Aber soweit ich weiß, ist es in Hongkong doch auch laut und hektisch.«

»Ich komme aus einem kleinen Dorf eine Stunde von Hongkong entfernt. Dort gibt es keinen Lärm, keine Automobile; und dort kennen sich alle.« Sie sah ihren Mann an. »Tom und ich und unsere kleine Tochter sind dort sehr glücklich gewesen. Es ist wunderschön auf der Insel Llama. Dort gibt es weiße Strände, und ganz in der Nähe ein kleines Fischerdorf - Sak Kwu Wan. Dort ist alles so friedlich.«

Ihre Stimme klang sehnsüchtig. »Dort waren mein Mann und ich viel zusammen, so wie es sich für eine Familie gehört. Hier sehe ich ihn nie.«

Paige sagte: »Mrs. Chang, ich weiß, daß es für Sie momentan sehr schwer ist, aber in ein paar Jahren wird Tom eine eigene Praxis eröffnen können, dann werden die Arbeitszeiten viel angenehmer.«

Tom Chang nahm die Hand seiner Frau. »Siehst du?« sagte er. »Es wird schon alles gut werden, Sye. Du mußt nur etwas Geduld haben.«

»Ich verstehe«, sagte sie. Überzeugt klang sie nicht.

Während sie noch sprachen, kam ein Mann in die Cafeteria. Da er an der Tür stehenblieb, konnte Paige seinen Kopf nur von hinten sehen. Ihr Herz begann zu rasen. Er drehte sich um. Es war ein Wildfremder.

Chang beobachtete Paige. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, log Paige. Ich muß ihn vergessen. Es ist aus. Und doch, die Erinnerungen an all die wundervollen Jahre, an den gemeinsamen Spaß, die Aufregungen, die Liebe, die sie füreinander empfunden hatten. Wie kann ich das alles denn vergessen? Ob ich wohl einen der Arzte am Krankenhaus überreden könnte, bei mir eine Lobotomie durchzuführen?

Im Korridor lief Paige Honey über den Weg. Honey war ganz außer Atem. Sie wirkte besorgt.

»Alles okay?« fragte Paige.

Honey lächelte nervös. »Doch. Alles okay.« Und eilte weiter.

Honey war einem behandelnden Arzt namens Charles Isler zugewiesen worden, der im ganzen Krankenhaus als Frauenheld bekannt war.

Er hatte bereits am ersten Tag, gleich auf Honeys erster Visite, die Bemerkung fallenlassen: »Ich habe mich sehr auf unsere Zusammenarbeit gefreut, Dr. Taft. Dr. Wallace hat mir von Ihren hervorragenden Examensnoten an der Universität berichtet. Wie ich höre, wollen Sie in der inneren Medizin arbeiten.«

»Ja.«

»Gut. Na, da werden Sie uns hier ja noch drei Jahre erhalten bleiben.«

Der erste Patient war ein mexikanischer Junge. Dr. Isler übersah die übrigen Assistenzärzte und wandte sich an Honey. »Das dürfte für Sie ein interessanter Fall sein, Dr. Taft. Der Patient hat alle klassischen Anzeichen und Symptome: Inappetenz, Gewichtsverlust, Obstipation, Müdigkeit, Anämie, schwarzblaue Verfärbung des Zahnfleisches, periphere Nervenlähmung. Welche Diagnose würden Sie stellen?« Er schenkte ihr ein erwartungsvolles Lächeln.

Honey sah ihn kurz an. »Nun ja, da könnte es sich um eine Reihe von Dingen handeln, nicht wahr?«

Dr. Isler musterte sie ein wenig verwirrt. »Es handelt sich um einen eindeutigen Fall von.«

Einer der Assistenten schob ein: »Bleivergiftung.«

»Korrekt«, bestätigte Dr. Isler.

Honey lächelte. »Natürlich. Bleivergiftung.«

Dr. Isler wandte sich erneut an Honey. »Wie würden Sie sie behandeln?«

Honey meinte ausweichend: »Nun ja, da gibt es verschiedene Behandlungsmethoden, nicht wahr?«

Schon meldete sich ein anderer Assistent zu Wort. »Falls der

Patient dem Gift längere Zeit ausgesetzt war, sollte er als potentieller Fall von Enzephalopathie behandelt werden.«

Dr. Isler nickte.

»Richtig. Genau das werden wir auch tun. Wir korrigieren die Dehydration und elektrolytischen Störungen und geben Chelatbild-ner.«

Er schaute Honey an. Sie nickte zustimmend.

Der nächste Patient war ein Mann in den Achtzigern mit geröteten Augen und verklebten Augenlidern.

»Wir werden uns gleich um Ihre Augen kümmern«, versprach Dr. Isler. »Wie fühlen Sie sich heute?«

»Oh, für einen alten Mann gar nicht so schlecht.«

Dr. Isler zog die Bettdecke weg, um die geschwollenen Knie und Knöchel des Patienten zu zeigen. Die Fußsohlen zeigten Verletzungen.

Dr. Isler wandte sich an die Assistenten. »Die Schwellung ist durch Arthritis verursacht worden.« Er sah Honey an. »In Verbindung mit den Verletzungen und der Bindehautentzündung ist Ihnen die Diagnose sicherlich klar.«

Honey sagte ganz langsam: »Nun ja, das könnte. wissen Sie.«

»Es handelt sich hier um die Reiter-Krankheit«, warf ein Assistent ein. »Ausgelöst durch gramnegative Bakterien oder Chlamydien. Zu Anfang besteht oft hohes Fieber.«

Dr. Isler nickte. »Sehr richtig.« Er schaute Honey an. »Wie ist die Prognose?«

»Die Prognose?«

Der gleiche Assistent fuhr fort: »Man könnte mit Antiphlogistika behandeln.«

»Sehr gut«, sagte Dr. Isler.

Sie machten bei einem Dutzend weiterer Patienten Visite; anschließ-end bat Honey Dr. Isler: »Könnte ich Sie wohl kurz allein sprechen, Dr. Isler?«

»Ja. Kommen Sie zu mir ins Büro.«

Als sie in seinem Zimmer Platz genommen hatten, bemerkte Honey: »Ich weiß, daß Sie von mir enttäuscht sind.«

»Ich muß zugeben, daß ich ein wenig überrascht war, als Sie .«

Honey unterbrach ihn. »Ich weiß, Dr. Isler. Ich hab' letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Um die Wahrheit zu sagen - ich war so aufgeregt, daß ich mit Ihnen zusammenarbeiten darf., ich habe einfach nicht einschlafen können.«

Er warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Oh. Verstehe. Ich habe gleich gewußt, daß es einen Grund geben müßte. Ich meine, bei Ihren fantastischen Examensnoten. Wie sind Sie zu Ihrem Ent-schluß gekommen, Ärztin zu werden?«

Honey senkte kurz den Kopf, um dann mit leiser Stimme zu erklären: »Ich hatte einen jüngeren Bruder, der bei einem Unfall verletzt wurde. Die Ärzte haben getan, was sie konnten, um ihn zu retten, aber. ich habe sein Sterben miterlebt. Es hat lange gedauert. Ich kam mir so ohnmächtig vor. Damals habe ich beschlossen, daß ich mein Leben damit verbringen will, andern Menschen zu helfen, wieder gesund zu werden.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sie ist ja so verletzlich, dachte Isler. »Ich bin froh, daß wir diese kleine Unterhaltung führen konnten.«

Honey schaute ihn an und überlegte: Er hat mir wirklich geglaubt.

6. Kapitel

Auf der anderen Seite der Stadt warteten Reporter und Fernsehteams auf Lou Dinetto, der, als er das Gerichtsgebäude verließ, allen mit einem breiten Lächeln zuwinkte - ein Herrscher begrüßte sein Volk. Er wurde von zwei Leibwächtern begleitet - einem hochgewachsenen, schlanken Mann, bekannt unter dem Namen >Der Schatten<, und einem untersetzten Mann, der >Rhino<, kurz für Rhinozeros, genannt wurde. Wie immer war Lou Dinetto elegant und teuer gekleidet, in einen grauen Seidenanzug mit weißem Hemd, blauer Krawatte und Schuhen aus Krokoleder. Damit er rank und schlank wirkte, mußten seine Anzüge von Meisterhand geschneidert werden - er war klein und stämmig und hatte Säbelbeine. Für die Presse hatte er stets ein Lächeln und ein witziges Wort parat; er wurde immer gern zitiert. Dinetto war dreimal vor Gericht gebracht worden, wegen Anklagen, die von Brandstiftung und organisierter Erpressung bis hin zu Mord reichten; und jedesmal war er freigesprochen worden.

Als er das Gericht verließ, rief ihm ein Reporter laut zu: »Wußten Sie, daß Sie freigesprochen werden würden, Mr. Dinetto?«

Dinetto lachte. »Natürlich hab' ich's gewußt. Ich bin ein harmloser Geschäftsmann. Die Regierung hat nur leider nichts Wichtigeres zu tun, als mich zu verfolgen. Einer der Gründe, warum die Steuern so hoch sind.«

Eine Fernsehkamera schwenkte auf ihn zu. Lou Dinetto blieb stehen, um in die Kamera zu lächeln.

»Mr. Dinetto, können Sie uns erklären, warum zwei Zeugen, die in dem Mordprozeß gegen Sie aussagen sollten, nicht erschienen sind?«

»Aber gewiß kann ich das erklären«, sagte Dinetto. »Es sind ehrbare Bürger, die natürlich keinen Meineid leisten wollten.«

»Der Staat behauptet, Sie seien der Anführer der Westküstenmafia, und Sie hätten es arrangiert, daß.«

»Ich arrangiere überhaupt nichts. außer, wo die Gäste in meinem Restaurant sitzen. Ich sorge immer nur dafür, daß es alle bequem haben.« Er grinste den Reportern zu, die sich um ihn drängten. »Übrigens - ich lade Sie alle heute abend zu Abendessen und Drinks im Restaurant ein - kostenlos.«

Er bewegte sich auf den Straßenrand zu, wo eine schwarze Limousine auf ihn wartete.

»Mr. Dinetto.«

»Mr. Dinetto.«

»Mr. Dinetto .«

»Ich seh' euch heut abend bei mir im Restaurant, boys andgirls. Ihr wißt ja, wo es sich befindet.«

Und schon saß Lou Dinetto in seinem Wagen, lächelte und winkte, und Rhino schloß die Tür der Limousine und nahm vorn Platz. Der Schatten setzte sich hinters Steuer.

»Das war großartig, Boß!« sagte Rhino. »Sie verstehn's echt, mit den Typen umzugehn.«

»Wohin?« fragte der Schatten.

»Nach Hause. Ein heißes Bad und ein gutes Steak würden mir jetzt guttun.«

Der Wagen setzte sich in Bewegung.

»Diese Frage vorhin, wegen der beiden Zeugen, die gefällt mir gar nicht«, sagte Dino. »Seid ihr sicher, daß man sie nie.«

»Da müßten sie schon Aussagen unter Wasser machen können, Boß.«

Dinetto nickte. »Gut.«

Der Wagen glitt über die Fillmore Street. Dinetto sagte gerade: »Habt ihr den Ausdruck im Gesicht vom District Attorney be-merkt, als der Richter.«

Und plötzlich war wie aus dem Nichts ein kleiner Hund direkt vor die Limousine gelaufen. Der Schatten warf das Steuer herum und trat auf die Bremse, um ihn nicht zu erwischen, und der Wagen schoß über die Bordkante und krachte gegen einen Laternenpfosten. Rhino flog mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe.

»Was ist mit dir los, verdammt!« kreischte Dinetto. »Versuchst du mich etwa umzubringen?«

Der Schatten kam ins Zittern. »Tut mir leid, Boß. Ein Hund ist vors Auto gelaufen .«

»Und du hast gemeint, sein Leben sei wichtiger als meins? Du blödes Arschloch!«

Rhino stöhnte leise vor sich hin. Er drehte sich um, und Dinet-to bemerkte die tiefe, heftig blutende Stirnwunde.

»Herrje verdammt!« kreischte Dinetto. »Sieh nur, was du angerichtet hast!«

»Mir geht's gut«, murmelte Rhino.

»Du spinnst wohl!« Dinetto drehte sich um zum Schatten. »Bring ihn ins Krankenhaus!«

Der Schatten lenkte die Limousine vorsichtig vom Gehsteig herunter.

»Das Embarcadero ist nur ein paar Straßen entfernt. Wir bringen ihn dort auf die Unfallstation.«

»Okay, Boß.«

Dinetto ließ sich in seinem Sitz zurücksinken. »Ein Hund!« sagte er angewidert. »Großer Gott!«

Als Dinetto, der Schatten und Rhino auf der Unfallstation erschienen, hatte Kat Dienst. Rhino blutete stark.

Dinetto rief zu Kat herüber: »He, Sie da!«

Kat hob den Blick. »Reden Sie mit mir?«

»Mit wem denn sonst? Dieser Mann blutet. Bringen Sie ihn sofort in Ordnung.«

»Da sind aber ein halbes Dutzend anderer vor ihm dran«, erklärte Kat ruhig. »Er wird warten müssen, bis er an die Reihe kommt.«

»Er wird überhaupt nicht warten«, erklärte Dinetto ihr. »Sie werden sich jetzt sofort um ihn kümmern.«

Kat kam zu Rhino herüber und untersuchte ihn. Sie nahm ein Stück Watte und drückte es gegen die Wunde. »Halten Sie das, bis ich zurückkomme.«

»Ich hab' gesagt, daß Sie sich sofort um ihn kümmern sollen«, fuhr Dinetto sie an.

Kat klärte ihn auf. »Wir befinden uns hier auf der Unfallstation eines Krankenhauses. Ich bin hier die verantwortliche Ärztin. Also - entweder halten Sie jetzt den Mund oder machen Sie, daß Sie wegkommen.«

Der Schatten wies sie zurecht. »Lady, Sie scheinen nicht zu wissen, mit wem Sie da reden. Sie sollten besser tun, was er Ihnen sagt. Das ist Mr. Lou Dinetto.«

»Nachdem wir uns bekannt gemacht haben«, meinte Dinetto ungeduldig, »kümmern Sie sich jetzt um meinen Mann.«

»Sie scheinen wohl schwerhörig zu sein«, sagte Kat. »Ich sage es Ihnen noch mal. Mund halten oder abhauen. Ich habe zu arbeiten.«

Rhino sagte: »So können Sie nicht mit.«

Dinetto fuhr ihn an. »Maul halten!« Er wandte sich wieder an Kat; sein Tonfall hatte sich verändert. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich baldmöglichst um ihn kümmern könnten.«

»Ich werde mein Bestes tun.« Kat ließ Rhino auf einem Bett Platz nehmen. »Legen Sie sich hin. Ich bin in ein paar Minuten wieder da.« Sie warf Dinetto einen Blick zu. »In der Ecke drüben finden Sie ein paar Stühle.«

Dinetto und der Schatten folgten Kat mit den Blicken, als sie zum anderen Ende der Station ging, um sich der wartenden Patienten anzunehmen.

»Großer Gott«, sagte der Schatten, »die hat wirklich keine Ahnung, wer Sie sind.«

»Ich glaub', das würde auch nichts ändern. Die Frau hat Mumm.«

Als Kat Rhino eine Viertelstunde später untersucht hatte, meinte sie: »Sie hatten Glück. Keine Gehirnerschütterung. Aber eine böse Wunde.«

Dinetto schaute Kat beim Vernähen der Stirnwunde zu.

»Das sollte gut heilen«, meinte sie hinterher. »Kommen Sie in fünf Tagen wieder, dann ziehe ich Ihnen die Fäden heraus.«

Dinetto kam herüber und betrachtete Rhinos Stirn. »Verdammt saubere Arbeit, die Sie da geleistet haben.«

»Danke«, sagte Kat. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.«

»Moment mal«, sagte Dino zum Schatten. »Gib ihr einen C-Schein.«

Der Schatten zog einen Hundertdollarschein aus der Tasche. »Da.«

»Die Kasse befindet sich draußen im Flur.«

»Der Schein ist nicht fürs Krankenhaus. Der ist für Sie.«

»Nein danke.«

Dinetto war sprachlos, als Kat ihn stehenließ und sich einem anderen Patienten zuwandte.

»Vielleicht war's zu wenig«, meinte der Schatten.

Dinetto schüttelte den Kopf. »Das ist ein unabhängiges Frauenzimmer. Gefällt mir.« Er schwieg einen Moment. »Doc Evans geht in Pension, oder?«

»Yeah.«

»Okay. Ich will alles über diese Ärztin wissen.«

»Wozu?«

»Damit ich was in der Hand habe. Ich glaube, wir könnten sie gut gebrauchen.«

7. Kapitel

Krankenhäuser werden von den Schwestern regiert. Margaret Spencer, die Oberschwester, arbeitete seit zwanzig Jahren im Embarcadero County Hospital und wußte, wo die Leichen, alle Leichen - und zwar im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - begraben lagen. Schwester Spencer hielt das Krankenhaus in Schwung; Ärzte, die das nicht beachteten, hatten es schwer. Sie wußte ganz genau, welche Ärzte Drogen nahmen oder dem Alkohol verfallen waren; welche Ärzte untüchtig waren; welche Ärzte Unterstützung verdienten. Sie hatte alle Lernschwestern, ausgebildeten Krankenschwestern und OP-Schwestern unter ihrer Kontrolle. Es war Margaret Spencer, die bestimmte, welche Schwester welcher Abteilung zugewiesen wurde. Und da es sowohl unersetzliche als auch völlig inkompetente Schwestern gab, zahlte es sich für die Ärzte aus, mit ihr auf gutem Fuß zu stehen. Es lag in ihrer Macht, eine unfähige OP-Schwester zu einer komplizierten Nierenoperation zu schicken. Wenn sie den Arzt mochte, dann teilte sie ihm die kompetenteste Schwester für eine einfache Mandeloperation zu. Zu den vielen Vorurteilen Margaret Spencers gehörte auch ein Widerwillen gegen Ärztinnen und Schwarze.

Kat Hunter war eine schwarze Ärztin.

Kat machte eine schwere Zeit durch. Nicht, daß sie es offen in Worten oder Taten gespürt hätte, und doch war etwas gegen sie am Werk, ein Vorurteil, das sich auf eine Art und Weise äußerte, die so raffiniert war, daß sie nie den Finger darauf legen konnte. Die Schwestern, die sie anforderte, waren nicht verfügbar, die Schwestern, die man ihr zuteilte, waren nahezu unbrauchbar. Kat wurde häufig zur Untersuchung männlicher Klinikpatienten mit Geschlechtskrankheiten losgeschickt. Die ersten Fälle nahm sie als Routine hin; als sie es jedoch an einem Tage gleich mit einem halben Dutzend solcher Fälle zu tun bekam, wurde sie mißtrauisch.

Während einer Mittagspause fragte sie Paige: »Hast du schon viele Männer mit Geschlechtskrankheiten untersucht?«

Paige mußte einen Augenblick lang nachdenken. »Einen, in der vergangenen Woche. Einen Krankenpfleger.«

Ich werde etwas unternehmen müssen, dachte Kat.

Schwester Spencer hatte geplant, Dr. Hunter dadurch loszuwerden, daß sie ihr das Leben so schwermachte, bis ihr am Ende nichts übrig bliebe, als zu kündigen. Dabei hatte sie allerdings sowohl Kats Entschlossenheit als auch ihre Fähigkeiten außer acht gelassen. Schritt für Schritt gewann Kat ihre Mitarbeiter für sich; sie hatte eine natürliche Begabung, die Kollegen wie Patienten beeindruckte. Der eigentliche Durchbruch kam jedoch im Zusammenhang mit einem Vorfall, der im ganzen Krankenhaus als >der Trick mit dem Schweineblut< berühmt wurde.

Auf einer Morgenvisite, bei der Kat einem Oberassistenten namens Dundas assistierte, stand man am Bett eines bewußtlosen Patienten.

»Mr. Levy hatte einen Autounfall«, informierte Dundas die jüngeren Assistenten. »Er hat viel Blut verloren und braucht deswegen sofort eine Bluttransfusion. Das Krankenhaus hat momentan aber nicht genug Blut zur Verfügung, und der Mann hat Familie, nur weigern sich die Angehörigen, ihm Blut zu spenden. Es ist zum Wahnsinnigwerden.«

»Wo sind die Angehörigen?« fragte Kat.

»Im Wartezimmer«, erwiderte Dr. Dundas.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mit den Verwandten rede?« fragte Kat.

»Bringt nichts. Ich habe bereits mit ihnen gesprochen. Sie haben ihre Entscheidung gefällt.«

Nach Beendigung der Visite begab Kat sich ins Besucherzimmer, wo sie die Ehefrau mit den erwachsenen Söhnen und Töchtern antraf. Die Söhne trugen beide eine Jarmulke, und unter ihren Jacken schaute der rituelle Tallit hervor.

»Mrs. Levy?« fragte Kat mit Blick auf die Frau, die sich sofort erhob.

»Wie geht's meinem Mann? Wird der Doktor ihn operieren?«

»Ja«, entgegnete Kat.

»Also, da dürfen Sie uns aber nicht bitten, unser Blut zu spenden. Heutzutage, mit Aids und all diesen Sachen, ist das viel zu gefährlich.«

»Mrs. Levy«, sagte Kat eindringlich, »durch Blutspenden können Sie kein Aids bekommen. Das ist einfach unmög...«

»Machen Sie mir doch nichts weis! Ich lese Zeitung. Ich weiß genau Bescheid.«

Kat musterte die Frau kurz. »Davon bin ich überzeugt. Das ist auch ganz in Ordnung, Mrs. Levy. Im Krankenhaus sind die Blutvorräte momentan knapp, das stimmt tatsächlich, aber wir haben das Problem gelöst.«

»Gut.«

»Wir werden Ihrem Mann Schweineblut übertragen.«

Mutter und Sohn schauten Kat entsetzt an.

»Was?«

»Schweineblut«, wiederholte Kat flott. »Es wird ihm wahrscheinlich nicht schaden.« Sie ging zur Tür.

»Warten Sie!« rief Mrs. Levy. Kat blieb stehen.

»Ja?«

»Ich, äh ... lassen Sie uns nur eine Minute Zeit zum Nachdenken, ja?«

»Aber gewiß.«

Eine Viertelstunde später suchte Kat Dr. Dundas auf.

»Wegen der Familie von Mr. Levy brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Die Angehörigen sind bereit, Blut zu spenden.«

Die Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Krankenhaus. Ärzte und Schwestern, die Kat bisher nicht beachtet hatten, suchten plötzlich das Gespräch mit ihr.

Wenige Tage später betrat Kat das Privatkrankenzimmer von Tom Leonard, einem Patienten mit Magengeschwüren. Er war gerade dabei, sich ein riesiges Mittagessen einzuverleiben, das er von einem nahegelegenen Delikatessengeschäft hatte kommen lassen.

Kat trat zu ihm ans Bett. »Was machen Sie da?«

Er hob den Blick. Er grinste sie an. »Ich gönne mir zur Abwechslung mal was Anständiges zum Essen. Wollen Sie mir Gesellschaft leisten? Es ist genug da.«

Kat läutete nach der Schwester.

»Ja, Doktor?«

»Hier, bitte entfernen Sie das. Mr. Leonard hat strenge Diät verordnet bekommen. Haben Sie sein Krankenblatt etwa nicht gelesen?«

»Ja, aber er hat darauf bestanden ...«

»Entfernen Sie das bitte.«

»He! Moment mal!« Leonard erhob lauten Protest. »Der Krankenhausfraß ist absolut ungenießbar!« »Wenn Sie Ihr Geschwür loswerden wollen, werden Sie den >Kran-kenhausfraß< essen.« Kat fixierte die Schwester. »Tragen Sie das Zeug hinaus.«

Eine halbe Stunde später wurde Kat zum Verwaltungsdirektor bestellt.

»Sie möchten mich sprechen, Dr. Wallace?«

»Ja. Setzen Sie sich. Sie haben einen Patienten namens Tom Leonard, nicht wahr?«

»Korrekt. Und ich habe ihn heute dabei erwischt, wie er zu Mittag ein pikantes Pastramisandwich mit Gewürzgurken und Kartoffelsalat aß, also ein scharfes Essen, und.«

»Und Sie haben es ihm weggenommen.«

»Selbstverständlich.«

Wallace lehnte sich auf seinem Stuhl vor. »Frau Doktor, Sie sind sich wohl der Tatsache nicht bewußt gewesen, daß Tom Leonard dem Aufsichtsrat unseres Krankenhauses angehört. Da wollen wir doch bestimmt alles tun, damit er sich bei uns wohl fühlt. Sie verstehen, worauf ich hinauswill?«

Kat schaute ihn ungerührt an und erklärte stur: »Nein, Sir.«

Er blinzelte. »Wie bitte?«

»Ich habe den Eindruck, daß wir nur auf eine einzige Weise dafür sorgen können, daß Tom Leonard sich wohl fühlt - indem wir nämlich alles tun, damit er gesund wird. Wenn er sich den Magen aufreißt, wird er bestimmt nicht gesund.«

Benjamin Wallace zwang sich zu einem Lächeln. »Warum lassen wir ihn das nicht selber entscheiden?«

Kat stand auf. »Weil ich seine Ärztin bin. Gibt es sonst noch etwas?«

»Ich. ähem . nein. Das ist alles.«

Kat verließ das Büro.

Benjamin Wallace blieb sprachlos zurück. Frauen! Arztinnen!

Kat hatte Nachtdienst, als sie einen Anruf erhielt. »Dr. Hunter, ich glaube, es wäre besser, wenn Sie auf Zimmer 320 kämen.«

»Bin schon unterwegs.«

Der Patient auf Zimmer 320 war eine Mrs. Molloy, eine Krebskranke in den Achtzigern mit geringen Überlebenschancen. Als Kat sich der Tür näherte, vernahm sie von drinnen lautes Gezeter und trat rasch ein.

Mrs. Molloy lag im Bett. Sie hatte zwar starke Sedativa bekommen, war aber bei Bewußtsein. Außer ihr befanden sich im Zimmer noch ihr Sohn und ihre zwei Töchter.

Der Sohn erklärte gerade: »Und ich sage euch, daß das Erbe gedrittelt wird!«

»Nein!« widersprach eine der beiden Töchter. »Laurie und ich, wir sind's gewesen, die Mama gepflegt haben. Wer hat denn wohl für sie gekocht und sich um sie gekümmert? Laurie und ich, nur wir beide! Also, da haben wir auch ein Recht auf ihr Geld und.«

»Ich bin genausogut ihr Fleisch und Blut wie ihr!« brüllte der Mann aufgebracht.

Mrs. Molloy lag hilflos in ihrem Bett und mußte sich alles mitanhören.

Kat war außer sich vor Wut. »Entschuldigung«, sagte sie.

Eine der beiden Töchter warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Kommen Sie später wieder, Schwester. Wir sind beschäftigt.«

Kat gab keinen Pardon. »Mrs. Molloy ist meine Patientin. Ich gebe Ihnen zehn Sekunden, um das Zimmer zu verlassen. Sie können im Besucherraum warten. Und jetzt raus mit Ihnen - oder ich rufe die Sicherheitsbeamten und lasse Sie hinauswerfen.«

Der Sohn öffnete schon den Mund, aber als er Kats Blick auffing, zog er es doch vor zu schweigen. Er drehte sich zu seinen Schwestern um und zuckte mit den Achseln. »Wir können uns ja draußen weiter unterhalten.«

Kat behielt die drei im Auge, bis sie durch die Tür verschwunden waren, wandte sich Mrs. Molloy zu und streichelte ihr den Kopf.

»Sie haben es nicht so gemeint«, sagte sie leise, setzte sich ans Bett, hielt die Hand der alten Frau und wartete, bis sie eingeschlafen war.

Wir müssen alle einmal sterben, dachte Kat. Was Dylan Thomas dazu gesagt hat, kannst du vergessen. In Wirklichkeit kommt es darauf an, ruhig in jene gute Nacht zu gehen.

Kat war gerade dabei, einen Patienten zu behandeln, als ein Pfleger ins Krankenzimmer trat. »Ein dringender Anruf für Sie im Schwesternzimmer, Doktor.«

Kat zog die Stirn unmutig in Falten. »Danke.« Sie wandte sich an den Patienten, dessen Körper völlig eingegipst war, die Beine lagen in einem Streckapparat.

Kat nahm das Gespräch vor dem Schwesternzimmer an. »Hallo?«

»Hi, Schwesterchen.«

»Mike!« Sie war froh, von ihm zu hören, doch die Freude schlug rasch in Besorgnis um. »Mike, ich hab' dich gebeten, mich nie im Krankenhaus anzurufen. Du hast die Nummer meiner Wohnung, falls.«

»He, tut mir leid. Aber die Sache kann nicht warten. Ich hab' da ein kleines Problem.«

Da wußte Kat schon, was kommen würde.

»Ich hab' mir etwas Geld von einem Kerl geborgt, um in ein Geschäft zu investieren .«

Kat machte sich gar nicht erst die Mühe zu fragen, um was für eine Sache es sich da gehandelt habe. »Und das Geschäft ist in die Binsen gegangen.«

»Yeah. Und jetzt will er sein Geld zurück.«

»Wieviel, Mike?«

»Also, wenn du mir fünftausend schicken könntest.«

»Was sagst du da?«

Die Stationsschwester beobachtete Kat neugierig.

Fünftausend Dollar! Kat senkte die Stimme. »Soviel habe ich nicht. Ich. ich kann dir die Hälfte gleich schicken und den Rest in ein paar Wochen. Ist das in Ordnung?«

»Glaub' schon. Ich hasse es, dich zu belästigen, Schwesterchen, aber du weißt ja, wie es ist.«

Kat wußte genau, wie es war: Ihr zweiundzwanzigjähriger Bruder war andauernd in zwielichtige Geschäfte verwickelt. Er gehörte irgendwelchen Banden an, die weiß Gott was trieben; aber Kat fühlte sich für ihn verantwortlich. Wenn ich nicht von zu Hause weggerannt wäre und ihn verlassen hätte... »Halt dich aus dem Ärger heraus, Mike. Ich hab' dich lieb.«

»Ich hab' dich auch lieb, Kat.«

Ich werde ihm das Geld irgendwie beschaffen müssen, dachte Kat. Mike ist alles, was ich auf der Welt habe.

Dr. Isler hatte sich darauf gefreut, wieder mit Honey Taft zusammenzuarbeiten. Ihre schlechte Leistung auf der ersten Visite hatte er ihr längst verziehen; im Grunde fühlte er sich sogar geschmeichelt, weil sie ja aus Respekt vor ihm nervös geworden war. Aber bei den nächsten Visiten versteckte sie sich hinter den anderen Assistenzärzten und meldete sich nie zu Wort, um auf eine Frage zu antworten.

Eine halbe Stunde nach Abschluß einer Visite saß Dr. Isler bei Benjamin Wallace im Büro.

»Wo liegt das Problem?« fragte Wallace.

»Dr. Taft.«

Wallace betrachtete ihn aufrichtig überrascht. »Dr. Taft? Sie hat die besten Referenzen, die ich in meinem ganzen Leben zu sehen bekommen habe.«

»Genau das ist es ja, was mich so verunsichert«, meinte Dr. Isler. »Ich habe von einigen anderen Assistenten gehört, daß sie falsche

Diagnosen stellt und gravierende Fehler macht. Ich hätte gern ge-wußt, was zum Teufel da eigentlich los ist.«

»Das verstehe ich nicht. Sie hat an einer guten Universität studiert.«

»Vielleicht sollten Sie einmal bei dem Dekan der Fakultät nachfragen«, schlug Dr. Isler vor.

»Das ist Jim Pearson. Ein ausgezeichneter Mann. Ich werde ihn anrufen.«

Wenige Minuten später hatte Wallace Jim Pearson in der Leitung. Die beiden machten ein bißchen Konversation. Dann erklärte Wal-lace: »Ich rufe wegen Betty Lou Taft an.«

Nach kurzem Schweigen: »Ja?«

»Es gibt hier mit ihr offensichtlich ein paar Probleme, Jim. Und wir haben sie aufgrund Ihrer hervorragenden Empfehlungen aufgenommen.«

»Richtig.«

»Ich habe Ihr Empfehlungsschreiben zufällig gerade vor mir liegen. Sie erklären, daß Sie nicht viele Studenten kennengelernt haben, die so brillant sind wie Dr. Taft.«

»Korrekt.«

»Und daß Sie dem Arztberuf alle Ehre machen wird.«

»Ja.«

»Hat es bei Ihnen nie Bedenken gegeben, was.«

»Nicht die geringsten«, erklärte Dr. Pearson mit fester Stimme. »Überhaupt keine. Wahrscheinlich ist sie nur ein bißchen nervös. Sie ist hochsensibel. Aber wenn Sie ihr eine Chance geben, wird sie sich bestimmt bewähren. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Nun, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich in diesem Punkt beruhigen können. Wir werden ihr ganz bestimmt eine Chance geben. Nochmals vielen Dank.«

»Gern geschehen.« Er legte auf.

Jim Pearson blieb noch eine Weile am Schreibtisch sitzen und verachtete sich selbst.

Aber zuallererst muß ich an meine Frau und an meine Kinder denken.

8. Kapitel

Honey Taft hatte das Pech, in eine Familie hineingeboren zu werden, in der nur Supererfolge zählten. Ihr blendend aussehender Vater war Gründer und Vorsitzender einer großen Computerfirma in Memphis, Tennessee; ihre Mutter eine Wissenschaftlerin, die sich in der Genetik einen Namen gemacht hatte; und ihre beiden älteren Schwestern waren keinen Deut weniger attraktiv, intelligent und ehrgeizig als die Eltern. Die Tafts gehörten in Memphis zur Prominenz.

Honey war eine Nachzüglerin. Sie war auf die Welt gekommen, ungebeten und unerwünscht, als ihre Schwestern bereits sechs Jahre alt waren. »Honey war unser kleines Mißgeschick«, erzählte die Mutter unbekümmert vor Freundinnen. »Ich hätte ja gern eine Abtreibung machen lassen, aber Fred war dagegen. Heute tut es ihm leid.«

Da, wo Honeys Schwestern überwältigend waren, erwies Honey sich als eher schlicht. Wo sie brillant waren, blieb Honey durchschnittlich. Die Schwestern hatten mit neun Monaten angefangen zu sprechen; als Honey ihr erstes Wort hervorbrachte, war sie fast zwei Jahre alt.

»Wir nennen sie >Dummchen<«, meinte der Vater lachend. »In unserer Familie ist Honey das häßliche Entlein. Ich glaube allerdings nicht, daß aus ihr je ein Schwan werden wird.«

Nicht, daß Honey häßlich gewesen wäre; sie war aber auch nicht gerade hübsch. Sie sah normal und gewöhnlich aus mit ihrem dünnen, spitzen Gesicht, dem mausblonden Haar und ihrer keineswegs beneidenswerten Figur. Es gab jedoch etwas, das für Honey sprach: Sie hatte ein ungewöhnlich liebes, sonniges Gemüt - eine Eigenschaft, die bei den Tafts allerdings nicht in besonders hohem Kurs stand.

Soweit sie zurückdenken konnte, hatte Honey nichts mehr am Herzen gelegen, als ihren Eltern und Schwestern Freude zu bereiten und von ihnen geliebt zu werden. Leider war jede Liebesmühe vergebens. Beide Eltern gingen ganz in ihrer Karriere auf, und die Schwestern waren vollauf damit beschäftigt, Schönheitswettbewerbe zu gewinnen und Stipendien zu ergattern. Und Honeys übertriebene Schüchternheit - die Familie hatte ihr, bewußt oder unbewußt, ein tiefsitzendes Minderwertigkeitsgefühl eingeflößt - machte die Sache nicht eben besser.

Auf der Highschool galt Honey als Mauerblümchen. Schulbälle und Feste besuchte sie allein, ohne Begleitung, und lächelte tapfer, weil sie nicht zeigen wollte, wie miserabel sie sich fühlte - sie wollte doch den anderen die Freude nicht verderben. Sie erlebte, wie ihre Schwestern daheim von den beliebtesten Jungen der Schule abgeholt wurden, während sie auf ihr Zimmer schlich, um sich einsam und allein mit den Hausaufgaben abzuplagen.

Und sich Mühe gab, nicht zu weinen.

An Wochenenden und während der Sommerferien verdiente sich Honey zusätzlich Taschengeld mit Babysitten. Sie kümmerte sich gern um Kinder, und die Kinder beteten sie an.

Wenn Honey nicht arbeitete, zog sie auf eigene Faust los und entdeckte Memphis für sich. Sie besuchte Graceland, wo Elvis Presley gewohnt hatte, spazierte über Beale Street, wo der Blues seinen Ursprung gehabt hatte, wanderte durch das Pink Palace Museum mit seinem brüllenden, stampfenden Dinosaurier, besichtigte das

Aquarium ...

Und war immer allein.

Sie ahnte nicht einmal im Traum, daß ihr Leben bald eine dramatische Wende nehmen sollte.

Sie wußte, daß viele Mädchen aus ihrer Klasse Liebesgeschichten hatten. Davon redeten sie in der Schule ja die ganze Zeit.

»Bist du schon einmal mit Ricky im Bett gewesen? Er ist der beste.«

»Joe versteht wirklich was von Orgasmus.«

»Gestern abend war ich mit Tony aus. Ich bin total erschöpft. So tierisch wie der .! Ich seh' ihn heut abend wieder.«

Honey stand daneben, hörte die Gespräche mit und verspürte im Bewußtsein, daß sie selber so etwas nie erleben würde, bittersüße Neidgefühle. Wer würde mich schon wollen? fragte sich Honey.

An einem Freitagabend gab es einen Schulball. Honey hatte nicht die Absicht hinzugehen. Ihr Vater sprach sie darauf an: »Weißt du, ich mache mir langsam Sorgen. Ich habe von deinen Schwestern erfahren, daß du ein Mauerblümchen bist und nicht zum Schulball willst, weil du keinen Begleiter finden kannst.«

Honey errötete. »Das ist nicht wahr«, wehrte sie sich. »Ich habe einen Freund, natürlich geh' ich hin.« Bitte gib, lieber Gott, daß er nicht fragt, wer mein Freund ist, betete Honey.

Und er fragte sie dann tatsächlich nicht.

Und so saß Honey auf dem Schulball wie gewöhnlich in ihrer Ecke und mußte zuschauen, wie die andern tanzten und den Abend genossen.

Da geschah das Wunder.

Roger Merton, Kapitän der Fußballmannschaft und der begehrteste Junge der ganzen Schule, bekam auf der Tanzfläche Streit mit seiner Freundin. Er war angetrunken.

»Du nutzloses, egoistisches Schwein!« schimpfte sie.

»Und du bist ein doofes Miststück!«

»Dann geh' dich doch selber ficken.«

»Ich muß mich aber nicht selber ficken, Sally. Ich kann ein anderes Mädchen ficken - wen ich will.«

»Dann mach doch!« Und sie stürmte von der Tanzfläche.

Es war gar nicht zu vermeiden, daß Honey alles mithörte.

Roger bemerkte ihren Blick. »Warum starrst du mich so an?« Er bekam die Worte nicht mehr ganz klar heraus.

»Nur so«, sagte Honey.

»Der werd' ich's zeigen! Glaubst du vielleicht, daß ich's der nicht zeigen werde?«

»Ich . Nein.«

»Da hast du verdammt recht. Komm, trink'n wa'n Schlückchen.«

Honey zögerte. Roger war sichtlich betrunken. »Also, ich .«

»Großartig. Ich hab' 'ne Flasche bei mir im Auto.«

Und schon nahm er Honey am Arm und steuerte sie aus dem Saal hinaus, und sie ging mit ihm mit, weil sie keine Szene machen und ihn nicht öffentlich blamieren wollte.

Als sie im Freien ankamen, versuchte sich Honey ihm zu entziehen. »Roger, ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich.«

»Biste vielleicht 'n. Feigling?«

»Nein, ich.«

»Also gut. Komm schon.«

Er führte sie zu seinem Wagen und öffnete die Tür. Honey blieb einen Augenblick lang unschlüssig stehen.

»Steig ein.«

»Ich kann aber nur ganz kurz bleiben«, sagte Honey.

Sie stieg ein, weil sie Roger nicht verärgern wollte. Er setzte sich neben sie.

»Der blöden Kuh werden wir beide es aber zeigen, oder?« Er hielt ihr eine Flasche Bourbon hin. »Hier!«

Honey hatte in ihrem Leben erst ein einziges Mal ein Glas Alkohol getrunken - und scheußlich gefunden. Weil sie Roger aber nicht beleidigen wollte, trank sie widerstrebend einen kleinen Schluck.

»Bist in Ordnung«, sagte Roger. »Bist neu an der Schule, wie?«

Honey war mit ihm in drei Fächern in der gleichen Klasse.

»Nein«, sagte Honey. »Ich.«

Er beugte sich über sie und begann, mit ihren Brüsten zu spielen.

Honey bekam einen Schreck und rückte von ihm ab.

»He! Komm schon. Willst mir keine Freude machen?« sagte er.

Und das war das Zauberwort - Honey wollte doch allen nur Freude machen, und wenn man mit dieser Sache jemandem eine Freude machen könnte.

So hatte Honey denn auf dem unbequemen Rücksitz in Rogers Auto ihr erstes sexuelles Erlebnis, und es öffnete ihr die Tür zu einer völlig neuen Welt. Der Geschlechtsverkehr selbst machte ihr nicht besonders viel Spaß; das war aber nicht wichtig. Für Honey war nur wichtig, daß es Roger Spaß machte. Und Honey war ehrlich überrascht, welch großen Spaß es ihm machte. Es schien ihn geradezu in Ekstase zu versetzen. Sie hatte noch nie erlebt, daß einem Menschen etwas so viel Spaß machte. So macht man also einen Mann glücklich, dachte Honey.

Es war eine Offenbarung.

Es gelang Honey einfach nicht mehr, das Wunder dieser Erfahrung aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Sie konnte nicht schlafen, erinnerte sich an Rogers männliche Härte - wie er in sie eingedrungen war und immer und immer schneller gestoßen hatte, und an sein

Stöhnen: »O ja, ja, ja . Mein Gott, du bist fantastisch, Sally.«

Honey nahm ihm nicht einmal das übel. Sie hatte dem Kapitän der Fußballmannschaft gefallen! Dem begehrtesten Jungen an der ganzen Schule hatte sie eine Freude gemacht. Und dabei hab' ich eigentlich gar nicht mal gewußt, was ich da tue, überlegte Honey. Wenn ich nun aber richtig lernen würde, wie man einem Mann gefällt...

Und auf diese Weise kam Honey zu ihrer zweiten Offenbarung.

Am nächsten Morgen suchte Honey den Pleasure Chest auf, einen Pornobuchladen an der Poplar Street, kaufte sich ein halbes Dutzend Bücher über Erotik, schmuggelte sie ins Elternhaus und studierte sie in der Abgeschlossenheit ihres Zimmers. Was sie da las, versetzte sie in atemloses Erstaunen.

Sie verschlang die Seiten des Perfumed Garden und des Kamasutra, die Tibetanischen Liebeskünste, die Alchimie der Ekstase und beschaffte sich weitere Bücher. Sie las die Worte von Gedun Chopel und die geheimnisvollen Berichte des Kanchinatha. Sie betrachtete die aufregenden Fotos der siebenunddreißig Stellungen des Liebesspiels und lernte die Bedeutung von Halbmond und Kreis, Lotosblüte und Wolkenstücken und den Weg der schäumenden Erregung.

Honey wurde Expertin - für die acht Arten oralen Sex und die Wege der sechzehn Freuden und die Ekstase der Murmelkette. Sie wußte, wie sie einen Mann, um seine Lust zu steigern, karuna lehren könnte. Jedenfalls theoretisch.

Honey spürte, daß die Zeit gekommen war, die Theorie in die Praxis umzusetzen.

Das Kamasutra enthielt einige Kapitel über Aphrodisiaka, die die sexuelle Erregung des Mannes steigerten; da Honey jedoch nicht wußte, wo sie sich Hedysarum gangetiatm, die kshirika-Pflanze oder Xanthochymus pictorius beschaffen könnte, dachte sie sich dafür Ersatz aus.

Als Honey in der folgenden Woche Roger Merton im Unterricht begegnete, trat sie auf ihn zu und erklärte: »Das hat richtig Spaß gemacht letzte Woche. Können wir's noch mal machen?«

Er brauchte einen Moment, um sich an Honey zu erinnern. »Oh. Klar. Warum nicht? Meine Eltern sind heut abend aus. Warum kommst du nicht um acht Uhr zu mir?«

Als Honey an diesem Abend um acht vor dem Haus der Mertons stand, hatte sie ein kleines Glas Ahornsirup bei sich.

»Wofür soll 'n das gut sein?« fragte Roger.

»Ich werd's dir gleich zeigen«, antwortete Honey.

Und sie zeigte es ihm.

Am nächsten Morgen erzählte Roger allen Schulfreunden von Honey.

»Die ist einfach unglaublich«, sagte er. »Ihr würdet es nie glauben, was dieses Mädchen mit 'm bißchen warmen Sirup fertigbringt!«

Am Nachmittag wollten sich gleich fünf oder sechs Jungen mit Honey verabreden. Von da an ging sie Abend für Abend aus. Die Jungen waren überglücklich; das wiederum machte Honey überglücklich.

Honeys Eltern waren über die plötzliche Beliebtheit ihrer Tochter entzückt.

»Unser Mädchen hat eine Weile gebraucht, bis sie aufblühte«, erklärte der Vater voller Stolz. »Nun ist aus ihr doch noch eine echte Taft geworden!«

In Mathematik hatte Honey immer nur schlechte Noten nach Hause gebracht, und ihr war klar, daß sie in der letzten Prüfungsarbeit versagt hatte. Ihr Mathematiklehrer, Mr. Janson, war Junggeselle und wohnte ganz in der Nähe der Schule. Honey stattete ihm eines Abends einen Besuch ab. Er machte ein erstauntes Gesicht, als er die Haustür öffnete.

»Honey! Was machst du denn hier?«

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Honey. »Mein Vater bringt mich um, wenn ich Ihren Kurs nicht schaffe. Ich hab' ein paar Mathematikaufgaben mitgebracht - würde es Ihnen etwas ausmachen, sie mit mir durchzugehen?«

Er zögerte einen Augenblick. »Das ist etwas ungewöhnlich, aber. Nun gut.«

Mr. Janson mochte Honey gern. Sie war anders als die übrigen Mädchen der Klasse, die rauh und gleichgültig waren, während Honey mitfühlend und empfindsam war und immer gefällig sein wollte. Er hätte sich nur gewünscht, daß sie ein bißchen mehr Verständnis für Mathematik aufbringen würde.

Mr. Janson saß auf der Couch neben Honey und begann, ihr die Rätsel und Geheimnisse der Logarithmen zu erläutern.

An Logarithmen hatte Honey kein Interesse. Während Mr. Jan-son sprach, rückte sie immer näher an ihn heran. Sie begann, ihm auf den Hals und in die Ohren zu atmen, und bevor Mr. Janson merkte, wie ihm geschah, war der Reißverschluß seiner Hose auch schon offen.

Er sah Honey erstaunt an. »Aber was machst du da?«

»Ich habe Sie schon gewollt, als ich Sie zum erstenmal sah«, erklärte Honey. Sie öffnete ihre Handtasche und holte einen kleinen Becher Schlagsahne heraus.

»Und was ist das?«

»Ich werd's Ihnen zeigen.«

Honey bekam in Mathematik eine Eins.

Daß Honey unheimlich beliebt wurde, lag keineswegs nur an den Accessoires, die sie verwendete; es hatte auch mit dem Wissen zu tun, daß sie sich aus den vielen alten Büchern über Erotik angelesen hatte. Sie entzückte ihre Partner mit Techniken, die ihnen nicht einmal im Traum eingefallen wären, Techniken, die Jahrtausende alt und längst vergessen waren. Dank Honey gewann das Wort >Eksta-se< eine neue Bedeutung.

Honeys Noten besserten sich radikal. Auf einmal war sie in der Highschool noch viel beliebter als ihre Schwestern vor ihr. Honey bekam Einladungen zum Abendessen im Restaurant Private Eye und im Bombay Bicycle Club; sie wurde in die Ice Capades im Einkaufszentrum von Memphis ausgeführt. Die Jungen gingen mit ihr in Cedar Cliff Ski fahren und nahmen sie zum Fallschirmspringen zum Landis Airport mit.

Auf dem College konnte Honey die gleichen gesellschaftlichen Erfolge verbuchen wie auf der Highschool. Eines Tages meinte der Vater beim Abendessen: »Du wirst jetzt bald dein Examen machen. Es wird Zeit, an deine Zukunft zu denken. Weißt du eigentlich schon, was du mit deinem Leben anfangen willst?«

Darauf hatte Honey prompt eine Antwort parat. »Ich möchte Krankenschwester werden.«

Der Vater lief rot im Gesicht an. »Du meinst wohl - Ärztin.«

»Nein, Vater. Ich.«

»Du bist eine Taft. Wenn du in die Medizin willst, wirst du Ärztin. Hast du verstanden?«

»Ja, Vater.«

Honey hatte es ehrlich gemeint - sie hatte wirklich Krankenschwester werden wollen. Sie kümmerte sich leidenschaftlich gern um Menschen; liebte es, ihnen zu helfen, sie zu pflegen. Die Vorstellung, Ärztin zu werden, die Verantwortung für das Leben anderer Menschen übernehmen zu müssen, jagte ihr einen heillosen Schrecken ein. Ihr war aber auch klar, daß sie ihren Vater nicht enttäuschen durfte. »Du bist eine Taft.«

Ihr Abschlußzeugnis war nicht gut genug, um ihr einen Studien-platz für Medizin zu verschaffen; der Einfluß des Vaters war aber mehr als ausreichend. Er war ein maßgebliches Mitglied des Förderkreises einer medizinischen Hochschule in Knoxville, Tennessee, mit deren Dekan er sich zu einem Gespräch verabredete.

»Sie bitten mich da wirklich um einen großen Gefallen«, erklärte Pearson. »Ich will Ihnen sagen, was ich machen werde. Ich werde Honey zunächst zur Probe aufnehmen. Sollten wir allerdings nach sechs Monaten den Eindruck gewonnen haben, daß ihr für das Studium die Voraussetzungen fehlen, werden wir sie ziehen lassen müssen.«

»Einverstanden. Sie werden eine Überraschung erleben.«

Damit behielt er recht.

Taft hatte es so eingerichtet, daß seine Tochter in Knoxville bei seinem Vetter, dem Reverend Douglas Lipton, wohnen konnte.

Douglas Lipton war der Pfarrer der Baptistengemeinde, ein Mann in den Sechzigern, verheiratet mit einer zehn Jahre älteren Frau. Der Pfarrer war von Honeys Anwesenheit im Haus sehr angetan.

»Sie ist wie ein frischer Wind«, sagte er zu seiner Frau.

Nie zuvor war Douglas Lipton jemandem begegnet, der so eifrig darauf bedacht war, seinen Mitmenschen alles recht zu machen.

Im Medizinstudium schlug Honey sich einigermaßen gut, war aber irgendwie nicht ganz bei der Sache - sie studierte ja auch schließlich nur ihrem Vater zu Gefallen.

Die Professoren fanden Honey sympathisch und wünschten ihr aus ganzem Herzen Erfolg, weil sie ein natürliches und aufrichtig freundliches Wesen hatte.

Die größten Schwächen zeigte sie - Ironie des Schicksals - in Anatomie, so daß der Anatomieprofessor sie nach dem zweiten Stu-dienmonat zu sich bestellte. »Sosehr ich es bedaure, aber ich werde Sie durchfallen lassen müssen«, erklärte er sichtlich betroffen.

Ich darf aber nicht durchfallen, dachte Honey. Das kann ich meinem Vater nicht antun, und überlegte: Was hätte wohl Boccaccio in solch einer Situation empfohlen?

Honey rückte dem Professor ein wenig näher. »Ich bin Ihretwegen zum Studium an diese Hochschule gekommen. Ich hatte ja schon so viel von Ihnen gehört.« Sie rückte immer näher. »Ich möchte so werden wie Sie.« Noch dichter. »Ärztin sein - das bedeutet mir alles.« Ganz dicht. »Bitte helfen Sie mir.«

Als Honey das Büro eine Stunde später wieder verließ, waren ihr die Antworten auf alle Fragen der anstehenden Prüfung bekannt.

Bis Studienende hatte Honey eine ganze Reihe von Professoren verführt. Honey hatte etwas Hilfloses an sich, dem keiner zu widerstehen vermochte. Dabei standen alle unter dem Eindruck, daß sie die Verführer und Honey die Verführte war, und alle hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie glaubten, Honeys Naivität und Unschuld ausgenutzt zu haben.

Der letzte unter den Professoren, der Honey zum Opfer fiel, war Dr. Jim Pearson. Er hatte viel von ihr gehört; die Geschichten, die ihm zu Ohren kamen, machten ihn ziemlich neugierig - Gerüchte über außergewöhnliche sexuelle Praktiken waren in Umlauf. Eines Tages ließ er Honey zu sich rufen, um ihre Noten zu besprechen. Sie brachte eine kleine Schachtel Puderzucker mit, und als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte, war Dr. Pearson ihr ebenso verfallen wie die anderen auch. Sie gab ihm das Gefühl, daß er ein König war und sie seine ergebene Sklavin.

Er versuchte, nicht an seine Frau und seine Kinder zu denken.

Für den Reverend Douglas Lipton empfand Honey echte Zuneigung; sie litt darunter, daß er mit einer kalten, frigiden Frau verheiratet war, die ihn immer nur kritisierte. Der Pfarrer tat Honey leid. Das hat er nicht verdient, dachte Honey. Er braucht Trost.

Als Mrs. Lipton eines Tages zu ihrer Schwester verreist war, kam Honey mitten in der Nacht ins Schlafzimmer des Pfarrers - nackt. »Douglas .«

Er machte große Augen. »Honey? Ist dir nicht gut?«

»Nein«, sagte sie. »Kann ich mit dir reden?«

»Natürlich.« Er streckte die Hand nach der Lampe aus.

»Bitte kein Licht machen.« Sie kroch zu ihm ins Bett.

»Was ist denn? Fühlst du dich nicht wohl?«

»Ich mach' mir Sorgen.«

»Worüber?«

»Über dich. Du hast es verdient, geliebt zu werden. Ich möchte dich liebhaben.«

Er war plötzlich hellwach. »O mein Gott!« sagte er. »Du bist ja noch ein Kind. Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Ich meine es aber ernst. Deine Frau schenkt dir überhaupt keine Liebe.«

»Honey, das ist völlig ausgeschlossen! Du gehst jetzt bitte sofort wieder auf dein Zimmer und.«

Er spürte ihren nackten Körper, der sich an ihn schmiegte. »Ho-ney, wir dürfen nicht. Ich bin.«

Da lagen ihre Lippen bereits auf seinen Lippen, war ihr Körper über ihm. Er wurde mitgerissen. Sie blieb die ganze Nacht bei ihm im Bett.

Um sechs Uhr morgens wurde die Schlafzimmertür geöffnet, und Mrs. Lipton marschierte herein. Als sie die beiden im Bett bemerkte, drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ wortlos das Zimmer.

Zwei Stunden später beging der Reverend Douglas Lipton in sei-ner Garage Selbstmord.

Honey war völlig verstört, als sie es in den Nachrichten hörte. Sie konnte es nicht fassen.

Der Sheriff führte nach der Untersuchung des Tatorts eine Unterredung mit Mrs. Lipton. Anschließend machte er sich auf die Suche nach Honey. »Aus Achtung vor der Familie werden wir den Tod des Reverend als >Selbstmord aus unbekannten Gründen« registrieren. Ihnen kann ich nur empfehlen, daß Sie Ihre verdammten Sachen packen und sich hier nie wieder blicken lassen.«

Deshalb war Honey nach San Francisco gekommen, ins Embarcadero County Hospital.

Mit wärmsten Empfehlungen von Dr. Jim Pearson.

9. Kapitel

Für Paige hatte die Zeit jede Bedeutung verloren, gab es keinen Anfang und kein Ende mehr. Die Tage und Nächte gingen nahtlos ineinander über. Das Krankenhaus war ihr ein und alles, war ihr Leben geworden, die Welt draußen ein fremder, ferner Planet.

Weihnachten kam und ging vorüber. Ein neues Jahr begann. In der Welt außerhalb des Krankenhauses hatten US-Truppen Kuwait von den Irakern befreit.

Von Alfred kein Wort. Er wird bestimmt entdecken, daß er einen Fehler gemacht hat, dachte Paige. Er wird zu mir zurückkommen.

Die verrückten morgendlichen Anrufe hatten so plötzlich aufgehört, wie sie angefangen hatten. Paige war erleichtert, als keine neu-en mysteriösen, bedrohlichen Dinge mehr geschahen. Im nachhinein kam ihr das Ganze vor wie ein böser Traum - aber die Anrufe waren kein Traum gewesen.

Es ging weiterhin hektisch zu. Nie war genug Zeit, um die Patienten persönlich kennenzulernen. Sie waren bloß Gallenblasen und Leberrisse, Oberschenkelbrüche und Rückenverletzungen.

Das Krankenhaus war wie ein Urwald voller mechanischer Dämonen - Beatmungsgeräte, Monitore für die Herzfrequenz, Geräte für Computertomographie, Röntgenapparate. Und jedes Gerät hatte sein eigenes Geräusch, es gab Pfeifen, Summen, Surren und dazu das unaufhörliche Geplapper der Lautsprecheranlage. Das alles vermengte sich zu einer lauten, wahnsinnigen Kakophonie.

Das zweite Jahr als Assistenzarzt war eine Übergangsphase. Die Assistenten rückten auf, bekamen schwierigere Aufgaben und beobachteten die nächste Gruppe von Neuankömmlingen, denen sie ein leichtes Gefühl von Verachtung und Arroganz entgegenbrachten.

»Die armen Teufel«, meinte Kat zu Paige. »Haben ja keine Ahnung, auf was sie sich da eingelassen haben.«

»Werden sie früh genug herausfinden.«

Paige und Honey machten sich wegen Kat Sorgen. Sie nahm ständig ab und wirkte deprimiert. Schaute während eines Gesprächs plötzlich ins Leere und war nicht mehr ansprechbar. Bekam von Zeit zu Zeit einen geheimnisvollen Anruf, der ihre Depression je-desmal verschlimmerte.

Paige und Honey versuchten, mit ihr darüber zu sprechen.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Paige. »Du weißt, daß wir dich mögen und dir gern helfen würden, falls du ein Problem hast.« »Danke. Ich weiß es zu schätzen, aber ihr könnt nichts für mich tun. Es ist ein finanzielles Problem.«

Honey musterte sie erstaunt. »Aber wozu brauchst du denn Geld? Wir gehen doch nie aus. Wir haben nicht mal Zeit, uns etwas zu kaufen. Wir.«

»Es geht nicht um mich. Es betrifft meinen Bruder.« Ihren Bruder hatte Kat bisher nie erwähnt.

»Ich hab' gar nicht gewußt, daß du einen Bruder hast«, warf Paige ein.

»Lebt er in San Francisco?« wollte Honey wissen.

Kat zögerte. »Nein. Er lebt in unserer alten Gegend. In Detroit. Ihr werdet ihn aber bestimmt eines Tages kennenlernen.«

»Sehr gern. Und was macht er beruflich?«

»Er ist so was wie ein Unternehmer«, entgegnete Kat ausweichend. »Im Moment hat er eine Pechsträhne. Aber Mike wird die Kurve schon wieder kriegen. Hat er noch immer.« O Gott, hoffentlich hab' ich recht, dachte Kat.

Harry Bowman war als Assistenzarzt vom städtischen Krankenhaus versetzt worden, ein gutmütiger, lebenslustiger Typ, der keine Anstrengung scheute, allen gegenüber nett zu sein. Eines schönen Tages sagte Bowman zu Paige: »Ich gebe morgen abend ein kleines Fest. Wenn Sie und Dr. Hunter und Dr. Taft nichts vorhaben, könnten Sie doch kommen. Es wird sicher lustig werden.«

»In Ordnung«, sagte Paige. »Was sollen wir mitbringen?«

Bowman lachte. »Nichts.«

»Bestimmt?« fragte Paige. »Eine Flasche Wein vielleicht? Oder.«

»Lassen Sie nur! Wir feiern übrigens in meiner kleinen Wohnung.«

Bowmans kleine Wohnung entpuppte sich als Penthouse mit zehn Zimmern und antiken Möbeln.

Den drei Frauen verschlug es beim Eintreten die Sprache.

»Mein Gott!« sagte Kat. »Wo haben Sie denn das alles her?«

»Ich war so klug, mir einen cleveren Mann als Vater auszusuchen«, sagte Bowman, »und der hat mir sein ganzes Geld hinterlassen.«

»Und da arbeiten Sie?« fragte Kat verwundert.

Bowman lächelte. »Ich bin gern Arzt.«

Das Buffet bestand aus Beluga-Malossol-Kaviar, pate de campagne, schottischem Räucherlachs, Austern, erlesenen Krabben, köstlichen Salaten mit einer Schalotten-Vinaigrette und Cristal-Champagner. Bowman hatte nicht zuviel versprochen. Es wurde tatsächlich ein lustiger Abend.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken«, erklärte Paige zum Abschied.

»Haben Sie Sonntag frei?« fragte er.

»Ja.«

»Mir gehört ein kleines Motorboot. Ich werd' Sie ein bißchen ausfahren.«

»Hört sich großartig an.«

Morgens um vier wurde Kat im Bereitschaftsraum aus dem Tiefschlaf gerissen. »Dr. Hunter, Notfallraum 3 . Dr. Hunter, Notfallraum 3.«

Kat drängte ihre Erschöpfung zurück, stand auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und fuhr mit dem Lift zur Notaufnahme nach unten.

An der Tür wurde sie von einem Pfleger empfangen. »Er liegt auf dem Rollbett dort, in der Ecke. Er hat starke Schmerzen.«

Kat ging zu ihm. »Ich bin Dr. Hunter«, stellte sie sich mit verschlafener Stimme vor.

Er stöhnte. »O Gott, Doc. Tun Sie was. Der Rücken. Ich halt's nicht mehr aus.«

Kat unterdrückte ein Gähnen. »Wie lange haben Sie schon Schmerzen?«

»Etwa zwei Wochen.«

Kat sah ihn verwundert an. »Seit zwei Wochen? Warum sind Sie dann nicht früher gekommen?«

Er versuchte sich zu bewegen und verzog das Gesicht. »Um die Wahrheit zu sagen - ich hasse Krankenhäuser.«

»Warum kommen Sie dann jetzt zu uns?«

Seine Miene hellte sich auf. »Weil ein wichtiges Golfturnier ansteht, und wenn Sie mir nicht den Rücken in Ordnung bringen, werd' ich's schwer haben.«

Kat holte tief Luft. »Ein Golfturnier.«

»Yeah.«

Sie konnte kaum an sich halten. »Ich will Ihnen was sagen. Gehen Sie nach Hause. Nehmen Sie zwei Aspirin, und wenn Sie sich am Morgen nicht besser fühlen, rufen Sie mich wieder an.« Sprach es, drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer. Dem Mann wäre fast das Kinn aus dem Gesicht gefallen.

Harry Bowmans sogenanntes >kleines Motorboot< entpuppte sich als schnittige Jacht von mindestens fünfzehn Meter Länge.

»Willkommen an Bord!« rief er Paige, Kat und Honey zur Begrüßung im Hafen zu.

Honey machte aus ihrer Bewunderung für das Schiff gar kein Hehl.

»Es ist wunderschön!« sagte auch Paige.

Sie kreuzten drei Stunden lang in der Bucht und genossen den warmen, sonnigen Tag. Es war seit Wochen überhaupt das erste Mal, daß die drei sich entspannten.

Während sie vor Angel Island vor Anker lagen und einen köstli-chen Lunch zu sich nahmen, meinte Kat: »Das nenn' ich Leben. Wir sollten gar nicht wieder an Land gehen.«

»Gute Idee«, meinte Honey.

Es war, alles in allem, ein geradezu himmlischer Tag.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut mir das getan hat«, sagte Paige bei der Rückkehr zum Hafen.

»Das Vergnügen war ganz meinerseits.« Bowman tätschelte ihr leicht den Arm. »Werden wir wiederholen. Ihr drei seid mir stets willkommen.«

Was für ein toller Mann! dachte Paige.

Die Arbeit auf der Entbindungsstation sagte Honey zu. Sie war Teil eines zeitlosen, freudespendenden Rituals, und die Abteilung war voll neuen Lebens und neuer Hoffnung.

Die Mütter, die zum erstenmal ein Kind zur Welt brachten, waren erwartungsvoll und besorgt. Die Veteraninnen konnten es gar nicht abwarten, bis sie es hinter sich hatten.

Eine Hochschwangere sagte unmittelbar vor der Niederkunft zu Honey: »Gott sei Dank! Jetzt werde ich endlich wieder meine Zehen sehen können!«

Wenn Paige Tagebuch geführt hätte, wäre der fünfzehnte August als ein besonderer Glückstag vermerkt worden. Es war der Tag, an dem Jimmy Ford in ihr Leben trat.

Jimmy war Krankenpfleger und hatte das freundlichste Lächeln und das sonnigste Gemüt, das man sich überhaupt wünschen konnte. Er war klein, sehr schlank, sah wie siebzehn aus, war jedoch fünfundzwanzig Jahre alt und bewegte sich wie ein heiterer Tornado durchs Krankenhaus. Es gab nichts, was ihm zuviel Mühe gemacht hätte.

Er war Laufbote für alle. Ihm fehlte jeglicher Sinn für Standesunterschiede. Er behandelte alle gleich - Ärzte und Krankenschwestern wie Hausmeister.

Jimmy erzählte gern Witze.

»Habt ihr den schon gehört vom Patienten, der ganz in Gips war? Der Kerl im Bett neben ihm hat ihn gefragt, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente. Hat der im Gips geantwortet: >Ich war Fensterputzer beim Empire State Building.« Fragt der andere: >Wann haben Sie aufgehört?< - >Auf halber Höhe.<«

Und dann begann Jimmy zu grinsen und eilte fort, um jemandem auszuhelfen.

Für Paige hatte er nur Bewunderung übrig. »Eines Tages werde ich auch Arzt. Ich möchte so werden wie Sie.«

Er machte ihr kleine Geschenke - Süßigkeiten, Spielzeug -, und mit jedem Geschenk kam ein Witz.

»In Houston hielt ein Mann einen Fußgänger an und fragte: >Wie komme ich am schnellsten zum Krankenhaus?< - >Sagen Sie etwas Schlechtes über Texas.<«

Die Witze waren abscheulich, doch aus Jimmys Mund klangen sie lustig.

Er traf morgens zur gleichen Zeit wie Paige auf dem Krankenhausparkplatz ein und raste auf seinem Motorrad heran.

»Der Patient will wissen: >Ist die Operation gefährlich?< Der Chirurg antwortet: >Nein. Für zweihundert Dollar gibt's keine gefährliche Operation.««

Und weg war er.

Wann immer Paige, Kat und Honey am gleichen Tag dienstfrei hatten, gingen sie in San Francisco auf Entdeckungstour. Sie besichtigten Dutch Mill und den japanischen Teegarten, schauten zum Fisherman's Wharf und fuhren Cable Car. Sie besuchten das Cur-ran Theater und aßen im Maharani an der Post Street zu Abend, wo nur indische Kellner bedienten, die Paige zur großen Überraschung von Kat und Honey auf hindi ansprach.

»Hum Hindustani baht bahut ocho bolta hi.« Von dem Augenblick an lag ihnen das ganze Restaurant zu Füßen.

»Wo hast du bloß gelernt, Indisch zu sprechen?« fragte Honey.

»Hindi«, verbesserte Paige. Sie zögerte. »Wir ... ich habe eine Zeitlang in Indien gelebt.« Es war alles noch so lebendig. In Agra hatte sie zusammen mit Alfred staunend vor dem Taj-Mahal gestanden. Das Gebäude hat Shah Jahan für seine Frau errichtet. Die Bauzeit hat zwanzig Jahre gedauert, Alfred.<

>lch werde dir auch ein Taj-Mahal bauen. Es ist mir völlig gleich, wie lange es dauert!<

Das ist Karen Turner. Meine Frau.<

Sie hörte, wie jemand ihren Namen sagte, und hob den Kopf.

»Paige.«

Sie sah den besorgten Ausdruck auf Kats Gesicht. »Ist dir nicht gut?«

»Alles in Ordnung.«

Die unmöglich lange Arbeitszeit hielt an. Wieder ein Silvester, das kam und ging; das zweite Assistenzjahr glitt hinüber ins dritte. Das Krankenhaus blieb weiterhin von der Außenwelt unberührt. Die Kriege und Hungersnöte und Katastrophen in fernen Ländern ver-blaßten im Vergleich mit den Krisen um Leben und Tod, mit denen sie täglich vierundzwanzig Stunden lang konfrontiert wurden.

Wenn Kat und Paige sich auf den Krankenhausfluren über den Weg liefen, verzog Kat oft das Gesicht und fragte: »Macht's Spaß?«

»Wann hast du das letzte Mal geschlafen?« gab Paige zurück.

Kat seufzte. »Wer kann sich daran noch erinnern?«

Sie taumelten durch die langen Tage und Nächte, versuchten, sich dem unaufhörlichen, anstrengenden Druck gewachsen zu zeigen, schnappten sich, wenn sie gerade mal Zeit hatten, zum Essen ein Sandwich und tranken kalten Kaffee aus Pappbechern.

Die sexuellen Belästigungen schienen ein fester Bestandteil von Kats Leben geworden zu sein. Dauernd bekam sie Anzüglichkeiten zu hören, nicht nur von den Ärzten, sondern auch von den Patienten, die versuchten, sie ins Bett zu kriegen, und sie gab ihnen die gleiche Antwort wie den Ärzten. Es gibt auf der Welt keinen Mann, von dem ich mich anfassen lassen würde. Und davon war sie wirklich fest überzeugt.

Mitten im morgendlichen Trubel auf der Station kam erneut ein Anruf von Mike.

»Hi, Schwesterchen.«

Und Kat wußte sofort, was kommen würde. Sie hatte ihm das ganze Geld geschickt, das sie entbehren konnte, und wußte doch tief im Innersten, daß sie ihm schicken konnte, soviel sie wollte -es würde nie reichen.

»Ich will dich wirklich nicht belästigen, Kat. Ehrlich nicht. Aber ich sitze da in einem kleinen Schlamassel.« Er klang bedrückt.

»Mike . ist was nicht in Ordnung?«

»Doch. Nichts Ernstes. Es ist nur so, daß ich jemand Geld schulde, und er braucht es sofort zurück, und da hab' ich mir gedacht.«

»Ich will sehen, was ich machen kann«, sagte Kat müde.

»Danke. Ich weiß ja, daß ich immer auf dich zählen kann. Kann ich doch, nicht wahr, Schwesterchen? Ich hab' dich lieb.«

»Ich dich auch.«

Eines Tages sagte Kat zu Paige und Honey: »Wißt ihr, was wir alle drei jetzt brauchten?«

»Einen Monat Schlaf.«

»Ferien. Wir sollten auf Urlaub sein, auf den Champs Elysees bummeln gehen und uns dort die teuren Schaufenster ansehen.«

»In Ordnung. Und das alles nur erster Klasse!« Paige kicherte. »Wir werden die Tage durchschlafen und uns nachts vergnügen.«

Honey lachte. »Gut klingt das.«

»In ein paar Monaten kommen die ersten Ferien auf uns zu«, bemerkte Paige. »Warum schmieden wir keine Pläne? Wir könnten zusammen irgendwohin verreisen.«

»Eine großartige Idee!« meinte Kat begeistert. »Am Samstag werden wir bei einem Reisebüro vorbeischauen.«

Während der folgenden drei Tage wurden sie richtig aufgeregt vom Pläneschmieden.

»Ich würde wahnsinnig gern einmal London kennenlernen. Vielleicht laufen wir dort ja der Queen über den Weg.«

»Und ich möchte nach Paris. Soll ja für romantische Liebe die Stadt überhaupt sein.«

>Wir könnten unsere Flitterwochen in Venedig verbringen, Paige<, hatte Alfred gesagt. >Was würdest du davon halten?< >O ja!<

Sie überlegte, ob Alfred mit Karen wohl Flitterwochen in Venedig gemacht hatte.

Am Samstagmorgen machten sie auf dem Weg zum Krankenhaus halt beim Reisebüro Corniche in der Powell Street.

Die Frau hinter dem Schalter war nett und zuvorkommend. »Welche Art von Reise würde Sie denn interessieren?«

»Wir würden gern nach Europa reisen - London, Paris, Venedig.«

»Schön. Wir haben da einige günstige Pauschalreisen im Angebot.« »Nein, nein, nein.« Paige grinste Honey an. »Erster Klasse bitte!«

»Richtig. Flugtickets erster Klasse«, warf Kat ein.

»Und nur erstklassige Hotels«, ergänzte Honey.

»Nun, da kann ich Ihnen das Ritz in London, das Crillon in Paris und in Venedig das Cipriani empfehlen, und.«

»Dürfen wir uns ein paar Prospekte mitnehmen? Die können wir dann gründlich studieren, bevor wir uns entscheiden.«

»Kein Problem«, sagte die Dame des Reisebüros.

Paige betrachtete einen Prospekt. »Man kann über Sie auch eine Jacht chartern?«

»Ja.«

»Gut. Wir möchten eventuell eine Jacht chartern.«

»Ausgezeichnet.« Die Verkäuferin stellte Paige eine Handvoll Prospekte zusammen. »Wenn Sie soweit sind, sagen Sie mir einfach Bescheid. Ich werde dann gern für Sie buchen.«

»Sie hören von uns«, versprach Honey.

Als sie wieder draußen waren, lachte Kat laut auf. »Wenn man träumt, dann am besten gleich ganz groß, nicht wahr?«

»Sei unbesorgt«, versicherte Paige. »Irgendwann werden wir uns das alles bestimmt anschauen können.«

10. Kapitel

Seymour Wilson, Chefarzt am Embarcadero County Hospital, war ein vielgeplagter Mensch mit einem unmöglichen Job. Es gab zu viele Patienten, zu wenig Ärzte und nicht genug Schwestern; außerdem hatten die Tage nicht genügend Stunden. Er kam sich vor wie der Kapitän eines sinkenden Schiffes, der überall zugleich sein mußte und sich - absolut vergeblich - abmühte, die Lecks zu stopfen.

Dr. Wilsons unmittelbare Sorge galt im Augenblick Honey Taft, die von manchen anscheinend sehr geschätzt wurde, während andererseits verläßliche Ärzte und Schwestern meldeten, daß Dr. Taft völlig unfähig sei.

Wilson suchte schließlich Ben Wallace auf. »Ich möchte eine unserer Ärztinnen loswerden«, erklärte er. »Die Ärzte, die mit ihr zusammen Visite machen, berichten, daß sie inkompetent ist.«

Wallace dachte sofort an Honey - die Kollegin mit den außergewöhnlich guten Examensnoten und der wärmsten Empfehlung. »Das ist mir unbegreiflich«, sagte er. »Irgend etwas kann da nicht stimmen.« Er dachte kurz nach. »Ich sag' dir, was wir tun werden, Seymour. Wer von deinem Personal ist der gemeinste Typ?«

»Ted Allison.«

»Gut. Morgen früh schickst du Honey Taft mit Dr. Allison auf Visite. Laß dir von ihm eine schriftliche Stellungnahme geben. Wenn er sie für inkompetent erklärt, werde ich sie entlassen.«

»Einverstanden«, sagte Dr. Wilson. »Danke, Ben.«

Beim Mittagessen teilte Honey Paige mit, daß sie Dr. Allison für

die Visite am nächsten Morgen zugeteilt worden sei.

»Den kenn' ich«, sagte Paige, »der hat einen lausigen Ruf.«

»Hab' ich auch schon gehört«, meinte Honey nachdenklich.

Zur gleichen Zeit, in einem anderen Teil des Krankenhauses, sprach Seymour Wilson mit Ted Allison. Allison war ein hartgesottener alter Kämpe mit fünfundzwanzig Dienstjahren. Er hatte als Marinearzt gedient und war noch immer stolz darauf, Leute auf Trab halten zu können.

»Ich möchte Sie bitten«, sagte Seymour Wilson, »Dr. Taft gut im Auge zu behalten. Wenn sie's nicht packt, ist sie draußen. Verstanden?«

»Verstanden.«

So etwas machte ihm Spaß. Unfähige Ärzte konnte er genausowenig leiden wie Seymour Wilson. Außerdem war er fest davon überzeugt, daß Frauen, die unbedingt in die Medizin gehen wollten, Krankenschwester werden sollten; was für Florence Nightingale gut genug gewesen war, müßte doch auch für alle anderen reichen.

Als sich am folgenden Morgen um sechs Uhr die Assistenzärzte auf den Krankenhausgängen zur Visite einfanden, lernte Honey Taft in der Gruppe von Dr. Allison den Oberassistenzarzt Tom Benson und fünf weitere Assistenzärzte kennen.

Allison dachte beim Anblick von Honey: Okay, Schwester, dann zeig uns mal, was du kannst. Er wandte sich an die Gruppe. »Auf geht's.«

Der erste Patient war ein junges Mädchen, das unter schweren Decken im Bett lag und schlief.

»Gut«, sagte Dr. Allison. »Bitte alle die Krankengeschichte der Patientin anschauen!«

Die Assistenzärzte begannen, die Unterlagen zu studieren. Dr. Allison sprach Honey an. »Diese Patientin leidet unter Glieder-, Kopf- und Kreuzschmerzen, sie hat Fieber, Husten und Lungenent-zündung. Wie lautet Ihre Diagnose, Dr. Taft?«

Honey blieb stirnrunzelnd stumm.

»Nun?«

»Nun«, sagte Honey nachdenklich. »Meiner Meinung nach hat sie wahrscheinlich Psittakose - die Papageienkrankheit.«

Dr. Allison musterte sie mit einem Ausdruck ehrlichen Erstaunens. »Wie. kommen Sie darauf?«

»Ihre Symptome sind typische Symptome von Psittakose, und ich habe außerdem bemerkt, daß sie als Teilzeitkraft in einem Tiergeschäft arbeitet. Psittakose wird von infizierten Papageien auf Menschen übertragen.«

Allison nickte bedächtig. »Das ist. das ist sehr gut. Und Sie kennen die Therapie?«

»Ja. Zehn Tage lang Tetrycyclin, strikte Bettruhe und viel trinken.«

Dr. Allison wandte sich an die ganze Gruppe. »Haben Sie das gehört? Dr. Taft hat vollkommen recht.«

Sie begaben sich zum nächsten Patienten.

»Bei der Betrachtung der Krankengeschichte«, bemerkte Dr. Alli-son, »werden Sie feststellen, daß der Patient an einem Mesotheliom, Bluterguß und Erschöpfung leidet. Wie ist die Diagnose?«

Ein Assistent meinte hoffnungsvoll: »Das klingt nach einer Form von Lungenentzündung.«

Ein zweiter Assistent meldete sich zu Wort. »Es könnte Krebs sein.«

Dr. Allison wandte sich an Honey. »Und wie lautet Ihre Diagnose, Doktor?«

Honey setzte eine nachdenkliche Miene auf. »So aus dem Stand, da würde ich meinen, daß es sich um faserige Pneumokoniose handelt, und zwar um eine Asbestvergiftung. Sein Krankenblatt hält fest, daß er in einer Teppichfabrik arbeitet.«

Ted Allison konnte seine Bewunderung nicht verhehlen. »Ausge-zeichnet! Ausgezeichnet! Wissen Sie zufällig auch, wie man das behandeln muß?«

»Leider ist bis heute keine spezifische Heilmethode bekannt.«

Es kam noch eindrucksvoller. In den anschließenden zwei Stunden diagnostizierte Honey einen seltenen Fall von Reiters-Krankheit, die Knochenentzündung Osteitis deformans und Malaria.

Dr. Allison schüttelte Honey nach Ende der Visite demonstrativ die Hand. »Ich bin nicht leicht zu beeindrucken, Doktor, aber ich möchte Ihnen versichern, daß Sie eine große Zukunft vor sich haben!«

Honey wurde ganz rot. »Ich danke Ihnen, Dr. Allison.«

»Und das werde ich auch Ben Wallace mitteilen«, sagte er noch im Weggehen.

Tom Benson, Allisons Oberassistenzarzt, sah Honey an und lächelte. »Wir sehen uns in einer halben Stunde, Schätzchen.«

Paige tat, was sie nur konnte, um Dr. Arthur Kane - 007 - aus dem Wege zu gehen, doch Kane nutzte jede Gelegenheit, um Paige bei Operationen als Assistentin anzufordern, und wurde mit jedem Mal beleidigender.

»Was soll das heißen - Sie wollen nicht mit mir ausgehen? Da muß es Ihnen wohl jemand anders besorgen.«

Und: »Ich bin vielleicht kleingewachsen, Süße, aber bestimmt nicht überall. Sie wissen, was ich meine?«

Es kam soweit, daß sie sich zu fürchten begann, wenn sie wieder einmal mit ihm zusammenarbeiten mußte. Außerdem fiel Paige zunehmend auf, daß Kane völlig unnötige Operationen durchführte und Körperorgane entfernte, die völlig gesund waren.

Als Paige eines Tages mit Kane zum OP-Saal unterwegs war, fragte Paige: »Was operieren wir heute, Doktor?«

»Seine Brieftasche!« Kane bemerkte den Ausdruck auf Paiges Ge-sicht. »War ja nur ein Scherz, Schätzchen.«

»In einer Metzgerei sollte der Kerl arbeiten!« schimpfte Paige später in Gegenwart Kats. »Er hat kein Recht, Menschen zu operieren.«

Nach einer besonders ungeschickten Leberoperation wandte sich Kane mit einem Kopfschütteln an Paige. »Pech. Ich bin nicht sicher, ob er durchkommen wird.«

Paige wußte nicht mehr, wie sie mit ihrer Wut fertig werden sollte - sie beschloß, mit Tom Chang zu sprechen. Es war alles, was sie tun konnte.

»Irgend jemand sollte wegen Dr. Kane Meldung erstatten«, meinte Paige. »Er ermordet seine Patienten.«

»Nehmen Sie's nicht so schwer.«

»Das ist unmöglich! Es ist doch nicht richtig, daß sie so einen Mann in den Operationssaal lassen. Er müßte vor ein Ehrengericht gestellt werden.«

»Und was würde das bringen? Dann müßten Sie andere Ärzte finden, die gegen ihn aussagen, und dazu wäre niemand bereit. Das Krankenhaus ist eine Gemeinschaft, die eng zusammenhält, damit müssen wir alle leben, Paige. Es ist praktisch unmöglich, einen Arzt dazu zu bewegen, gegen einen Kollegen auszusagen. Jeder von uns ist verwundbar, deswegen sind wir alle aufeinander angewiesen. Beruhigen Sie sich. Kommen Sie, gehen wir aus. Ich lade Sie zum Mittagessen ein.«

Paige seufzte. »In Ordnung, aber es ist ein lausiges System.«

Während des Essens erkundigte sich Paige: »Und wie kommen Sie mit Ihrer Frau zurecht?«

Er antwortete nicht gleich. »Ich. Wir haben Probleme. Die Arbeit ruiniert meine Ehe. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Es wird bestimmt eine Lösung geben.«

Chang reagierte heftig. »Hoffentlich!«

Paige schaute ihn prüfend an.

»Wenn sie mich verläßt, bring' ich mich um.«

Am folgenden Morgen war Arthur Kane für eine Nierenoperation eingeteilt. Der Chef der chirurgischen Abteilung teilte Paige mit: »Dr. Kane hat Sie als Assistenz für den OP-Saal angefordert.«

Paige hatte plötzlich einen ganz trockenen Mund. Der Gedanke an seine Nähe war ihr verhaßt.

»Könnten Sie nicht vielleicht jemand anderen .«, fragte Paige.

»Er wartet schon auf Sie, Doktor.«

Als Paige sich umgezogen hatte, war die Operation bereits im Gange.

»Gehen Sie mir zur Hand, Liebling«, sagte Kane zu Paige.

Der Bauch des Patienten war mit einer Jodlösung bestrichen; im rechten oberen Quadranten des Bauches, unmittelbar unter dem Brustkorb, war ein Einschnitt gemacht worden. So weit, so gut, dachte Paige.

»Das Skalpell!«

Die OP-Schwester reichte Dr. Kane ein Skalpell.

Er schaute auf. »Schalten Sie Musik ein.«

Gleich darauf begann eine CD zu spielen.

Dr. Kane schnitt weiter. »Bitte ein bißchen was Schwungvolles.« Kane warf Paige einen Blick zu. »Den Kauterisator anstellen, mein Herz.«

Mein Herz. Paige biß sich auf die Lippen, nahm das elektrische Ätzgerät und brannte die Arterien aus, um die Blutmenge im Bauch zu reduzieren. Die Operation verlief gut.

Gott sei Dank, dachte Paige.

»Den Schwamm.«

Die OP-Schwester reichte Kane einen Schwamm.

»Gut. Absaugen.« Er schnitt, bis die Niere freilag. »Da hätten wir den kleinen Teufel«, erklärte Dr. Kane. »Stärker absaugen.« Er hob die Niere mit der Zange heraus. »Gut. Dann wollen wir ihn mal wieder zunähen.«

Diesmal war tatsächlich alles gutgegangen, doch irgend etwas ließ

Paige keine Ruhe. Sie sah sich die Niere genauer an. Die Niere wirkte gesund. Paige runzelte die Stirn, überlegte.

Während Dr. Kane den Patienten wieder zunähte, eilte Paige zum Röntgenbild vor dem Leuchtkasten, betrachtete es einen Moment lang und stöhnte leise auf: »O mein Gott!«

Das Röntgenbild war seitenverkehrt aufgehängt worden. Dr. Kane hatte die falsche Niere entfernt.

Dreißig Minuten später befand Paige sich im Büro von Ben Wal-lace.

»Er hat die gesunde Niere herausgenommen und die kranke im Körper gelassen!« Ihre Stimme bebte. »Der Mann gehört hinter Gitter!«

»Paige«, tönte Benjamin Wallace besänftigend, »ich gebe Ihnen recht, jawohl, der Vorfall ist bedauerlich. Aber Kane hat es bestimmt nicht mit Absicht getan. Es war ein Irrtum, und.«

»Ein Irrtum? Der Patient muß ab jetzt ständig und für immer mit der Dialyse leben! Jemand muß dafür zur Rechenschaft gezogen werden!«

»Glauben Sie mir - wir werden die Sache von einer Kommission von Kollegen untersuchen lassen.«

Was das hieß, wußte Paige nur zu genau: Eine Gruppe von Ärzten würde den Vorfall begutachten - streng vertraulich. Das Ergebnis würde der Öffentlichkeit und dem Patienten vorenthalten werden.

»Herr Dr. Wallace.«

»Sie gehören unserem Team an, Paige. Sie müssen sich solidarisch verhalten.«

»Er hat an diesem Krankenhaus nichts zu suchen. An keinem Krankenhaus!«

»Sie müssen die Sache in einem größeren Rahmen betrachten.

Wenn wir ihn entlassen, würde die Presse über uns herfallen - es würde dem Ansehen des Krankenhauses schaden. Wir müßten wahrscheinlich mit einer ganzen Reihe von Prozessen wegen ärztlicher Kunstfehler rechnen.«

»Und was ist mit den Patienten?«

»Wir werden Dr. Kane im Auge behalten.« Er beugte sich vor. »Und ich möchte Ihnen einen guten Rat geben. Wenn Sie eine Privatpraxis eröffnen wollen, sind Sie auf das Wohlwollen der anderen Ärzte angewiesen - damit Patienten an Sie überwiesen werden. Ohne das werden Sie nichts erreichen - und falls Sie in den Ruf einer Einzelgängerin geraten, die ihre Kollegen verpfeift, wird Ihnen niemand Patienten überweisen. Das kann ich Ihnen garantieren.«

Paige stand auf. »Sie werden also nichts unternehmen?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt - wir werden ein Kollegengutachten erstellen lassen.«

»Und damit hat sich's?«

»Damit hat sich's.«

»Es ist unfair!« sagte Paige mittags beim Essen zu Honey und Kat.

Kat schüttelte den Kopf. »Hat auch niemand behauptet, daß es im Leben fair zugehen muß.«

Paige sah sich in dem sterilen, weißgefliesten Raum um. »Diese ganze Umgebung macht mich krank. Hier sind doch alle krank.«

»Sonst wären sie ja auch nicht hier«, meinte Kat.

»Warum veranstalten wir kein Fest?« schlug Honey vor.

»Ein Fest? Wovon redest du eigentlich?«

Honeys Stimme verriet plötzlich helle Begeisterung. »Wir könnten uns Essen und ein paar Getränke kommen lassen und feiern! Ich meine, ein bißchen Stimmung könnte uns allen nur guttun.«

Paige dachte einen Augenblick nach. »Wißt ihr«, sagte sie dann, »das ist gar keine schlechte Idee!«

»Abgemacht. Ich werde alles organisieren«, versprach Honey. »Morgen mittag nach Ende der Visiten!«

Im Flur kam Kane auf Paige zu. Seine Stimme war eisig. »Sie sind ein unartiges Mädchen. Irgendwer sollte Ihnen beibringen, das Maul zu halten!« Und marschierte davon.

Paige schaute ihm nach. Sie konnte es nicht fassen. Wallace hat ihm mitgeteilt, was ich gesagt habe. Das hätte er nicht tun dürfen. >Falls Sie in den Ruf einer Einzelgängerin geraten, die ihre Kollegen verpfeift...< Ob ich es noch einmal tun würde? Paige grübelte. Verflixt! Und ob!

Die Nachricht von der bevorstehenden Party verbreitete sich in Windeseile. Es gab keinen Assistenzarzt, der sich nicht beteiligte. Von Ernie's Restaurant wurde ein üppiges Buffet geordert, bei einem nahe gelegenen Laden Alkohol bestellt. Das Fest war auf fünf Uhr im Ärzteraum angesetzt. Und was für ein Fest: Es gab Meeresfrüchteplatten mit Hummer und Shrimps, verschiedene pates, schwedische Fleischbällchen, warme Pasta, Obst und Dessert. Als Paige zusammen mit Honey und Kat um Viertel nach fünf in den Aufenthaltsraum kam, drängten sich dort bereits die erwartungsvollen Assistenten, Krankenhausärzte und Schwestern, taten sich an den Speisen gütlich und waren bester Laune. »Das war eine blendende Idee!« sagte Paige zu Honey. Honey quittierte es mit einem strahlenden »Danke schön«. Über den Lautsprecher kam eine Durchsage. »Dr. Finley und Dr. Ketler auf die Notfallstation. Stat.« Und die beiden Ärzte, die sich gerade über die Shrimps hermachen wollten, wechselten seufzend einen Blick und eilten davon.

Tom Chang kam auf Paige zu. »So etwas sollten wir jede Woche machen.«

»Genau. Es ist.«

Der Lautsprecher meldete sich erneut. »Dr. Chang. Station 7. Dr. Chang. Station 7.«

Und eine Minute später: »Dr. Smythe. Notfallraum 2. Dr. Smythe zum Notfallraum 2.«

Der Lautsprecher hörte gar nicht mehr auf. Binnen dreißig Minuten waren fast alle Ärzte und Schwestern zu irgendeinem Notfall gerufen worden. Honey hörte, wie ihr eigener Name über Lautsprecher kam. Dann Paige. Zuletzt auch Kat.

»Ich kann's nicht fassen«, meinte Kat. »Alle reden von ihrem Schutzengel. Also, ich habe allmählich den Eindruck, daß wir drei hier unter dem Zauber eines Schutzteufels stehen.«

Die Worte sollten sich als prophetisch erweisen.

Als Paige am darauffolgenden Morgen nach Dienstende zu ihrem Auto ging, waren zwei Reifen zerstochen. Sie starrte sie ungläubig an. >Irgendwer sollte Ihnen beibringen, das Maul zu halten!<

In der Wohnung warnte sie Kat und Honey. »Nehmt euch vor Arthur Kane in acht. Er ist verrückt.«

11. Kapitel

Kat wurde durch das Läuten des Telefons geweckt. Sie griff blind, ohne die Augen aufzumachen, nach dem Hörer und hielt ihn ans Ohr. »H'lo?«

»Kat? Hier ist Mike.«

Ihr Herz begann zu klopfen, und sie setzte sich im Bett auf.

»Mike, geht's dir gut?«

»Wie noch nie, Schwesterchen. Dank dir und deinem Freund.«

»Welchem Freund?«

»Mr. Dinetto.«

»Wer?« Kat versuchte, sich zu sammeln. Sie war todmüde.

Kat hatte keine Ahnung, von wem er da redete. »Mike.«

»Du erinnerst dich an die Typen, denen ich Geld geschuldet habe? Mr. Dinetto hat sie mir vom Hals geschafft. Er ist ein richtiger Gentleman. Und er hält große Stücke auf dich, Kat.«

Kat hatte den Vorfall mit Dinetto total vergessen; jetzt fiel ihr alles blitzschnell wieder ein. Lady, Sie wissen nicht, mit wem Sie da reden. Sie sollten lieber tun, was der Mann sagt. Dies ist Mr. Dinetto.<

Mike redete weiter. »Ich schick' dir Geld, Kat. Dein Freund hat mir einen Job besorgt. Und er zahlt echt gut.«

Dein Freund!< Kat wurde ganz nervös. »Mike, jetzt hör mir gut zu. Sei bitte vorsichtig.«

Sie hörte ihn lachen.

»Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Hab' ich dir nicht versprochen, daß alles prima ausgehen würde? Also, ich hab' doch recht gehabt.«

»Nimm dich in acht, Mike. Laß dich .«

Er hatte bereits aufgelegt.

Kat konnte nicht mehr einschlafen. Dinetto! Wie hat er bloß herausgefunden, daß Mike mein Bruder ist - und warum hilft er ihm?

Als Kat am Abend darauf das Krankenhaus verließ, wartete am Straßenrand eine schwarze Limousine auf sie, daneben der Schatten und Rhino. Als sie vorbeigehen wollte, sprach Rhino sie an. »Steigen Sie ein, Doktor. Mr. Dinetto möchte mit Ihnen sprechen.«

Sie musterte den Mann kurz. Schon Rhino hatte etwas Bedrohliches an sich, aber der Schatten jagte Kat wirklich Angst ein. Seine Ruhe und Stille hatte etwas Tödliches. Normalerweise wäre Kat nie eingestiegen - aber da war Mikes rätselhafter Anruf gewesen; sie

machte sich seinetwegen Sorgen.

Sie wurde zu einer kleinen Wohnung am Rande der Stadt gebracht, wo Dinetto schon auf sie wartete.

»Danke, daß Sie gekommen sind, Dr. Hunter«, sagte Dinetto. »Ich weiß es zu schätzen. Einer meiner Freunde hat einen kleinen Unfall gehabt. Ich möchte Sie bitten, ihn zu untersuchen.«

»Was haben Sie mit Mike vor?« wollte Kat wissen.

»Nichts«, erwiderte Dinetto mit Unschuldsmiene. »Ich hab' gehört, daß er Schwierigkeiten hat, und hab' dafür gesorgt, daß sie aus der Welt geschafft werden.«

»Wie. wie sind Sie auf ihn aufmerksam geworden? Ich meine, wie haben Sie erfahren, daß er mein Bruder ist und.«

Dinetto lächelte. »In meinem Geschäft sind wir alle Freunde. Wir helfen uns gegenseitig. Mike hat es mit ein paar bösen Leuten zu tun bekommen, da hab' ich ihm ausgeholfen. Sie sollten mir dafür dankbar sein.«

»Bin ich auch«, sagte Kat. »Bin ich wirklich.«

»Gut! Sie kennen doch den Spruch - >Eine Hand wäscht die an-dere

Kat schüttelte den Kopf. »Mit illegalen Sachen will ich nichts zu tun haben.«

»Illegale Sachen?« sagte Dinetto. Er schien beleidigt. »Um so etwas würde ich Sie doch nie bitten. Dieser Freund von mir hat einen kleinen Unfall gehabt, aber er kann Krankenhäuser nicht ausstehen. Würden Sie ihn untersuchen?«

Worauf lasse ich mich da bloß ein? überlegte Kat. »Nun gut.«

»Er befindet sich im Schlafzimmer.«

Dinettos Freund war übel zugerichtet worden. Er lag bewußtlos auf dem Bett.

»Was ist passiert?« fragte Kat.

Dinetto hielt ihrem forschenden Blick stand. »Er ist eine Treppe heruntergefallen.«

»Er sollte in einem Krankenhaus liegen.«

»Ich hab' Ihnen doch gesagt, daß er Krankenhäuser nicht mag. Ich kann Ihnen hier alles beschaffen, was Sie brauchen. Bisher hat sich ein anderer Arzt um meine Freunde gekümmert - der hatte jedoch einen kleinen Unfall.«

Die Worte jagten Kat eine Gänsehaut über den Rücken. Sie wäre am liebsten aus der Wohnung gerannt und nach Hause gelaufen. Sie wollte Dinettos Stimme nie wieder hören, doch im Leben war nun einmal nichts umsonst. Quid pro quo. Kat streifte den Mantel ab und machte sich an die Arbeit.

12. Kapitel

2u Beginn ihres vierten Jahres im Krankenhaus hatte Paige bei Hunderten von Operationen assistiert, so daß ihr sämtliche Handgriffe in Fleisch und Blut übergegangen waren. Sie war mit den chirurgischen Abläufen bei Gallenblase, Milz, Leber, Blinddarm und - am alleraufregendsten - Herz vertraut. Aber Paige war frustriert, weil sie selbst noch immer keine Operationen durchführen durfte. Was ist aus dem Leitwort geworden: Zuschauen, selber machen, andere lehren

Die Antwort auf diese Frage kam, als sie bald darauf zum Chef der chirurgischen Abteilung bestellt wurde.

»Paige«, teilte ihr George Englund mit, »für morgen um sieben Uhr dreißig ist im OP-Saal 3 eine Leistenbruchoperation angesetzt.«

Sie notierte. »In Ordnung. Wer operiert?«

»Sie.«

»In Ordnung. Ich.« Plötzlich wurde ihr bewußt, was diese Worte bedeuteten. »Ich operiere?«

»Ja. Gibt's da ein Problem?«

Paige strahlte, daß es im ganzen Zimmer hell wurde. »Nein, Sir! Ich. Danke!«

»Sie sind inzwischen soweit. Ich finde, der Patient hat Glück, daß Sie ihn operieren. Er heißt Walter Herzog. Liegt auf Zimmer 314.«

»Herzog. Zimmer 314. In Ordnung.«

Und schon war Paige auf und davon.

So aufgeregt war Paige noch nie gewesen. Ich werde meine erste Operation durchführen! Ich werde das Leben eines Menschen in der Hand haben. Und was ist, wenn ich dafür noch nicht bereit bin? Was, wenn ich einen Fehler mache? Es kann doch immer etwas schiefgehen. Das ist Murphys Gesetz. Als Paige schließlich am Ende ihrer Überlegungen angelangt war, befand sie sich in einem Panikzustand.

Sie begab sich in die Cafeteria, um einen schwarzen, starken Kaffee zu trinken. Es wird schon alles gutgehen, sagte sie sich. Immerhin hab' ich bei Dutzenden von Leistenbruchoperationen assistiert. Ist gar nichts dabei. Er hat Glück, daß ich operiere. Als sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, war sie innerlich gefaßt genug, um ihrem ersten Patienten gegenüberzutreten.

Walter Herzog war ein Mann in den Sechzigern, schlank, glatzköpfig und äußerst nervös. Als Paige mit einem Blumenstrauß eintrat, lag er im Bett und hielt sich die Lenden.

»Schwester. Ich möchte mit einem Arzt sprechen.« Paige trat zu ihm ans Bett und reichte ihm die Blumen. »Ich bin Ihre Ärztin. Ich werde Sie operieren.«

Er betrachtete erst die Blumen, dann sie. »Sie sind was?«

»Seien Sie ganz unbesorgt«, tröstete ihn Paige. »Sie befinden sich in guten Händen.« Sie nahm das Krankenblatt am Fußende des Betts und studierte es eingehend.

»Was steht da?« fragte der Mann unruhig. Warum hat sie mir Blumen geschenkt?

»Daß Sie bald wieder wohlauf sein werden.«

Er schluckte. »Und die Operation werden Sie durchführen?«

»Ja.«

»Sie wirken so schrecklich. schrecklich jung.«

Paige tätschelte ihm beruhigend den Arm. »Ich habe noch keinen Patienten verloren.« Sie schaute sich im Zimmer um. »Sie haben alles, was Sie brauchen? Kann ich Ihnen etwas zu lesen bringen? Ein Buch oder eine Zeitschrift? Süßigkeiten?«

Er hörte ihr mit wachsender Unruhe zu. »Nein, ich bin ganz okay.« Warum war sie bloß so nett zu ihm? Gab es etwas, das sie ihm verschwieg?

»Also gut, dann auf Wiedersehen bis morgen früh«, sagte Paige fröhlich. Sie schrieb etwas auf einen Zettel, den sie ihm dann reichte. »Da, meine Privatnummer. Falls Sie mich in der Nacht brauchen, rufen Sie an. Das Telefon ist bei mir immer in Reichweite.«

Sie ließ ihn als nervöses Wrack zurück.

Wenige Minuten später entdeckte Jimmy Paige im Aufenthaltsraum. Er näherte sich mit einem breiten Grinsen. »Herzlichen Glückwunsch! Wie ich höre, übernehmen Sie im OP.«

Die Nachricht verbreitet sich ja wie ein Buschfeuer, dachte Paige. »Ja.«

»Wer es auch sein mag - hat der ein Glück!« rief Jimmy. »Falls mir mal etwas passieren sollte - ich würd' mich nur von Ihnen operieren lassen.«

»Danke, Jimmy.«

Und natürlich gab Jimmy einen Witz zum besten.

»Kennen Sie den schon von dem Mann, der plötzlich so komische Schmerzen in den Knöcheln hatte? Er war zu geizig, um einen Arzt aufzusuchen, und als ihm sein Freund erzählte, daß er unter den gleichen Schmerzen litt, da hat er zu ihm gesagt: >Du solltest sofort zum Arzt gehen. Und mir hinterher genau erzählen, was er sagt.< Am nächsten Tag erfährt er, daß sein Freund tot ist. Er rast ins Krankenhaus und läßt sich für fünftausend Dollar untersuchen. Man findet nichts. Er ruft die Witwe seines Freundes an und fragt: >Hat Chester große Schmerzen gelitten, als er starb?< - >Nein<, sagte sie. >Er hat den Lkw nicht mal gesehn, der ihn überfuhr.««

Paige war viel zu aufgeregt, um essen zu können. Sie verbrachte den ganzen Abend damit, an Tischbeinen und Lampenständern chirurgische Knoten zu üben. Ich werde heute nacht tief und fest schlafen, dachte sie, damit ich morgen früh auch ganz munter bin.

Dann lag sie aber die ganze Nacht wach und ging im Geiste die Operation durch, immer wieder von vorn.

Es gab drei Arten von Leistenbruch; reponible Hernie, bei der es möglich ist, den Bruchsack wieder in den Unterleib zurückzuschieben; irreponible Hernie, bei der die Substanz wegen einer Verwachsung nicht in den Unterleib zurückgeführt werden kann; und die dritte, die gefährlichste Art, nämlich die eingeklemmte Hernie, bei der der Blutstrom durch die Leisten abgeschnitten wird, was zu einer Verletzung der Gedärme führt. Walter Herzog hatte einen rück-führbaren Bruch.

Paige fuhr ihren Wagen um sechs Uhr morgens auf den Krankenhausparkplatz und wunderte sich über den roten Ferrari neben ihrem Platz - so ein Auto konnte doch nur einem Reichen gehören.

Um sieben Uhr half Paige Walter Herzog den Pyjama gegen ein blaues Krankenhaushemd zu vertauschen. Die Schwester hatte ihm bereits ein Sedativum gegeben, damit er sich vor der Operation auf dem Rollbett entspannte, das ihn zum OP-Saal bringen würde.

»Es ist die erste Operation in meinem Leben«, erklärte Walter Herzog.

In meinem auch, dachte Paige.

Das Rollbett kam und holte Walter Herzog in den OP-Saal. Paige ging unterwegs neben ihm her. Ihr Herz schlug so laut, daß sie Angst bekam, er könnte es hören.

Der OP 3 zählte zu den größeren Operationssälen und war geräumig, um einen Herzmonitor, eine Herz-Lungen-Maschine und ein ganzes Arsenal von technischem Zubehör unterzubringen. Außer Paige waren ein weiterer Arzt, ein Anästhesist, zwei Assistenzärzte und drei OP-Schwestern anwesend.

Das Personal konnte es kaum erwarten, Paige bei ihrer ersten Operation zu beobachten.

Paige schritt zum Operationstisch. Walter Herzogs Unterleib war rasiert und mit einer antiseptischen Lösung eingerieben worden. Sterile Tücher deckten die unmittelbare Umgebung ab.

Herzog öffnete die Augen und fragte Paige schläfrig: »Sie bringen mich auch bestimmt nicht um?«

Paige lächelte. »Wie könnte ich denn? Da würde ich ja meine bisher makellose Karriere beflecken!«

Sie schaute zum Narkosearzt herüber, der dem Patienten die Epi-duralanästhesie verabreichen würde. Paige atmete einmal tief durch und nickte.

Die Operation begann.

»Skalpell!«

Paige wollte eben den ersten Schnitt durch die Haut führen, als die Schwester eine Bemerkung machte.

»Bitte?«

»Soll ich Musik einschalten, Doktor?«

Es war das erste Mal, daß ihr diese Frage gestellt wurde. Sie lächelte. »Gut. Hören wir uns Jimmy Buffet an.«

In dem Augenblick, als Paige den ersten Schnitt tat, fiel jegliche Nervosität von ihr ab. Es war, als ob sie das alles schon ihr Leben lang getan hätte. Mit großem Geschick fuhr sie durch die oberen Fett- und Muskelschichten bis hinunter zur Leiste und nahm währenddessen die vertraute Litanei wahr, die durch den Raum hallte.

»Schwamm.«

»Kauterisator.«

»Hier.«

»Scheint, daß wir gerade rechtzeitig.«

»Klammer.«

»Absaugen bitte.«

Paige war voll auf das konzentriert, was sie tat. Den Bruchsack lokalisieren . freilegen . den Inhalt in die Bauchhöhle zurückverlegen . die Basis des Sackes abbinden . das übrige abtrennen . den Leistenring. vernähen.

Die Operation war genau eine Stunde und zwanzig Minuten nach dem ersten Einschnitt beendet.

Paige hätte sich ausgelaugt fühlen sollen; statt dessen spürte sie eine ungeheure Beschwingtheit.

Als Walter Herzog wieder zugenäht war, wandte sich die OP-Schwester an Paige. »Dr. Taylor.«

Paige hob den Kopf. »Ja?«

Die Schwester grinste. »Das war wundervoll, Doktor.«

Es war ein Sonntag, und die drei hatten dienstfrei.

»Was sollen wir uns für heute vornehmen?« fragte Kat.

Paige hatte eine Idee. »Es ist ein so herrlicher Tag, warum fahren wir da nicht hinaus zum Tree Park? Wir könnten zum Mittag ein Picknick mitnehmen und im Freien essen.«

»Hört sich fantastisch an«, meinte Honey.

»Dann ist es beschlossen«, stimmte Kat zu.

Und in eben diesem Moment läutete das Telefon. Sie starrten es mit feindseligen Blicken an.

»Gott im Himmel!« schimpfte Kat. »Und ich hatte gedacht, Abraham Lincoln hätte uns aus der Sklaverei befreit. Lassen wir es klingeln! Wir haben heut unseren freien Tag.«

»Für uns gibt es keine freien Tage«, rief Paige ihnen ins Gedächtnis.

Kat trat ans Telefon und nahm ab. »Hier Dr. Hunter.« Sie horchte und gab an Paige weiter. »Für dich, Dr. Taylor.«

»Na schön«, sagte Paige resigniert und nahm den Hörer. »Hier Dr. Taylor. Hallo, Tom. Was?.... Nein, ich wollte gerade ausgehen . Verstehe. In Ordnung. In einer Viertelstunde bin ich da.« Sie legte auf. Wieder nichts mit dem Picknick, dachte sie.

»Etwas Schlimmes?« fragte Honey.

»Ja. Wir sind dabei, einen Patienten zu verlieren. Ich tue, was ich kann, damit ich zum Abendessen zurück bin.«

Als Paige beim Krankenhaus ankam und ihren Wagen auf dem Parkplatz für Ärzte abstellte, stand der funkelnagelneue rote Ferrari schon wieder neben ihrem Platz. Ich frag' mich, wie viele Operationen nötig waren, um den zu bezahlen, dachte Paige.

Als Paige zwanzig Minuten später das Wartezimmer betrat, saß dort ein Mann im dunklen Anzug und schaute aus dem Fenster.

»Mr. Newton?«

Er erhob sich. »Ja.«

»Ich bin Dr. Taylor. Ich habe mir gerade Ihren kleinen Sohn angesehen. Er ist mit Bauchschmerzen eingeliefert worden.«

»Jawohl. Ich werde ihn wieder nach Hause bringen.«

»Bedaure, nein. Peter hat einen Milzriß. Er braucht jetzt sofort eine Blutübertragung und muß danach gleich operiert werden. Sonst wird er sterben.«

Mr. Newton schüttelte den Kopf. »Wir sind Zeugen Jehovas. Der Herr wird nicht zulassen, daß er stirbt, und ich werde nicht zulassen, daß er mit dem Blut eines anderen Menschen befleckt wird. Es war meine Frau, die ihn hergebracht hat. Dafür wird sie Rechenschaft ablegen müssen.«

»Mr. Newton, ich glaube, Sie verstehen nicht, in welch ernster Lage Ihr Sohn sich befindet. Falls wir nicht unverzüglich operieren, wird Ihr Sohn sterben.«

Der Mann sah sie nur lächelnd an. »Sie kennen nicht die Wege des Herrn.«

Paige wurde böse. »Ich mag nicht viel von den Wegen Gottes verstehen, ich weiß aber eine Menge über Milzrisse.« Sie zog ein Stück Papier hervor. »Peter ist minderjährig, deshalb müssen Sie Ihre Einwilligung geben und hier unterzeichnen.« Sie streckte es ihm hin.

»Und wenn ich es nicht unterschreibe?«

»Nun. dann können wir auch nicht operieren.«

Er nickte. »Halten Sie sich wirklich für mächtiger als Gott?«

Paige fixierte ihn. »Sie wollen nicht unterschreiben, nicht wahr?«

»Nein. Meinem Sohn wird eine größere Macht helfen, als Sie es sind. Sie werden schon sehen.«

Als Paige auf die Station zurückkehrte, war der sechsjährige Peter inzwischen bewußtlos.

»Er wird nicht durchkommen«, sagte Chang. »Er hat zuviel Blut verloren. Was wollen Sie jetzt machen?«

Paige faßte einen Entschluß. »Bringen Sie ihn in den OP-Saal 1. Stat.«

Chang sah sie erstaunt an. »Sein Vater hat es sich anders überlegt?«

Paige nickte. »Ja. Er hat seine Meinung geändert. Packen wir's

an.«

»Gut gemacht! Ich hab' eine ganze Stunde lang auf ihn eingeredet und ihn nicht dazu bringen können. Er hat behauptet, daß Gott sich seines Jungen annimmt.«

»Gott hat sich des Kindes angenommen«, versicherte Paige.

Zwei Stunden und zwei Liter Blut später war die Operation erfolgreich abgeschlossen. Sämtliche Lebenszeichen des Jungen waren kräftig.

Paige streichelte ihm die Stirn. »Er wird's schaffen.« Da kam ein Pfleger in den Operationssaal gerannt. »Dr. Taylor? Dr. Wallace will Sie auf der Stelle sprechen.«

Benjamin Wallace war dermaßen verärgert, daß ihm die Stimme versagte. »Wie konnten Sie es wagen? Wie konnten Sie nur etwas so Ungeheuerliches tun? Sie haben dem Jungen Blut übertragen und ihn ohne die Zustimmung seiner Eltern operiert? Sie haben sämtliche Gesetze gebrochen!«

»Ich habe dem Jungen das Leben gerettet.«

Wallace holte tief Luft. »Sie hätten sich vorher eine gerichtliche Verfügung besorgen müssen.«

»Dazu war keine Zeit«, erklärte Paige. »Noch zehn Minuten und der Junge wäre tot gewesen. Gott war nämlich gerade anderweitig beschäftigt.«

Wallace schritt ruhelos im Zimmer auf und ab. »Und was machen wir nun?«

»Uns eine gerichtliche Verfügung besorgen.«

»Wozu? Sie haben ja bereits operiert.«

»Ich werde die gerichtliche Verfügung um ein paar Tage zurückdatieren. Das wird doch niemand bemerken.«

Wallace kam ins Schwitzen. »Herrgott noch mal!« Er wischte sich die Stirn ab. »Das könnte mich meine Stellung kosten.«

Paige musterte ihn lange Zeit. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging zur Tür. »Paige.?«

Sie blieb stehen. »Ja?«

»So etwas werden Sie nie wieder tun, nicht wahr?« »Nur wenn ich unbedingt muß«, versicherte ihm Paige.

13. Kapitel

it Medikamentendiebstahl haben alle Krankenhäuser ihre Probleme. Laut Gesetz muß für jedes Narkotikum, das der Apotheke entnommen wird, eine Unterschrift geleistet werden; doch ganz gleich, wie streng die Sicherheitsmaßnahmen auch sein mögen, Drogensüchtige finden fast immer einen Weg, sie zu umgehen.

Das Embarcadero County Hospital hatte damit allerdings ein großes Problem - so groß, daß Margaret Spencer deswegen Ben Wallace aufsuchte.

»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, Doktor. Bei uns verschwindet laufend Fentanyl.«

Fentanyl ist ein stark suchterregendes Anästhetikum.

»Um welche Mengen geht es denn?«

»Um beträchtliche Mengen. Wenn es sich nur gelegentlich um ein paar Flaschen handeln würde, könnte man dafür möglicherweise eine harmlose Erklärung finden. Inzwischen verschwinden aber regelmäßig größere Mengen, in jeder Woche mehr als ein Dutzend Flaschen.«

»Haben Sie eine Vermutung, wer da eventuell dahinterstecken könnte?«

»Nein, Sir. Ich habe mit der Sicherheitsabteilung gesprochen. Dort weiß man auch nicht weiter.«

»Wer hat Zugang zu der Apotheke?«

»Da liegt ja das Problem. Die meisten Anästhesisten haben ziemlich ungehindert Zugang. Und die meisten Schwestern und Chirurgen auch.«

Wallace war nachdenklich geworden. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich davon in Kenntnis gesetzt haben. Ich werde mich darum kümmern.«

Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen, dachte Wallace verärgert. Ihm stand eine Sitzung des Krankenhausaufsichtsrates bevor; es gab bereits mehr als genug Probleme, die unbedingt angepackt werden mußten. Die Statistiken waren Wallace bekannt: In den Vereinigten Staaten wurden über zehn Prozent aller Ärzte früher oder später mindestens zeitweilig alkohol- oder drogenabhängig. Drogen stellten für Ärzte eine besondere Versuchung dar, weil sie ihnen so leicht zugänglich waren. Einem Arzt war es ein leichtes, einen Arzneischrank zu öffnen, das gewünschte Mittel herauszunehmen und es sich mittels Aderpresse und Spritze zu injizieren. Ein Süchtiger könnte alle zwei Stunden eine neue Dosis benötigen.

Und das jetzt, an seinem Krankenhaus! Da mußte etwas geschehen, sofort - noch vor der Aufsichtsratssitzung. Die Sache würde meinem Ansehen schaden.

Ben Wallace dachte angestrengt darüber nach, wem er bei der Suche nach dem Schuldigen vertrauen könnte. Er kam zu dem Schluß, daß weder Dr. Taylor noch Dr. Hunter irgend etwas mit den Diebstählen zu tun haben könnten, und rang sich nach reiflichem Überlegen dazu durch, die beiden um ihre Mithilfe zu bitten.

Er ließ sie zu sich rufen. »Ich muß Sie um einen Gefallen bitten«, sagte er und klärte sie über das Problem mit dem gestohlenen Fen-tanyl auf. »Ich möchte Sie bitten, die Augen offenzuhalten. Falls irgendein Arzt, mit dem Sie zusammenarbeiten, im Verlauf einer Operation den OP-Saal verlassen oder sonstige suchtverdächtigen Anzeichen erkennen lassen sollte, bitte ich Sie, es mir persönlich mitzuteilen. Halten Sie Ausschau nach Persönlichkeitsveränderungen - Depressionen, Stimmungsumschwünge - oder nach Saumseligkeit und Unzuverlässigkeit. Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese Angelegenheit streng vertraulich behandeln würden.«

»Das Embarcadero ist ein riesiges Krankenhaus«, meinte Kat hinterher auf dem Flur, »da werden wir einen Sherlock Holmes brauchen.«

»Werden wir nicht«, erwiderte Paige tief betroffen. »Ich kenne den Täter.«

Zu den Ärzten, die Paige ganz besonders schätzte, gehörte auch Mitch Campbell - ein liebenswerter, ergrauter Mann in den Fünfzigern, stets gutgelaunt und einer der besten Chirurgen am Krankenhaus. Paige hatte in jüngster Zeit bemerkt, daß er bei Operationen stets ein paar Minuten zu spät kam und ein merkliches Zittern entwickelt hatte. Er wählte, wann immer möglich, Paige als Assistentin, und überließ ihr auch gewöhnlich einen Großteil des operativen Eingriffs. Wenn bei ihm, etwa nach der ersten Hälfte einer Operation, das Händezittern einsetzte, reichte er Paige das Skalpell.

»Ich fühle mich nicht wohl«, murmelte er dann. »Würden Sie bitte übernehmen?«

Paige hatte sich schon besorgt gefragt, was wohl mit ihm los war. Nun wußte sie plötzlich Bescheid. Aber wie sollte sie vorgehen? Eins war klar: Wenn sie Wallace informierte, würde Dr. Campbell gefeuert werden oder, noch schlimmer, mit seiner Laufbahn am Ende sein. Andererseits würde sie, falls sie nichts unternähme, das Leben von Patienten gefährden. Vielleicht sollte ich mit ihm reden, dachte Paige, und ihm zu verstehen geben, daß ich seine Schwierigkeiten bemerkt habe, und ihn drängen, sich in Behandlung zu begeben. Sie beriet sich mit Kat.

»Das ist ein Problem«, meinte Kat. »Er ist ein feiner Kerl und ein guter Arzt. Wenn du Alarm schlägst, ist er erledigt. Tust du's nicht, mußt du aber bedenken, wieviel Schaden er Patienten zufügen könnte. Was meinst du - wie wird er reagieren, wenn du ihn zur Rede stellst?«

»Er wird's wahrscheinlich bestreiten, Kat. Das ist doch immer die übliche Taktik.«

»Yeah. Was für eine unangenehme Aufgabe!«

Hoffentlich irre ich mich, betete Paige kurz vor Beginn der Operation, die am folgenden Tag für Dr. Campbell und sie angesetzt war. Bitte, lieber Gott, mach, daß er sich nicht verspätet. Und gib, daß er während der Operation nicht den OP-Saal verläßt.

Campbell traf mit viertelstündiger Verspätung ein und bat sie mitten in der Operation: »Sie übernehmen, Paige. Ja? Ich bin gleich wieder da.«

Ich werde mit ihm reden müssen, beschloß Paige. Ich kann seine Karriere nicht ruinieren.

Als Paige und Honey am Morgen danach auf den Ärzteparkplatz gefahren waren und gerade aus dem Wagen steigen wollten, kam neben ihnen der rote Ferrari an - Harry Bowman.

»Ist das aber ein schönes Auto!« sagte Honey. »Was kostet so eins?«

»Wenn Sie sich danach erkundigen müssen«, lachte Bowman, »können Sie ihn sich bestimmt nicht leisten.«

Paige hörte nicht hin. Ihr stach der Ferrari ins Auge, und plötzlich kam ihr auch Bowmans Penthouse in den Sinn, sie mußte an seine üppigen Feste und an sein schnittiges Schiff denken. >Ich war so klug, mir einen cleveren Mann als Vater auszusuchen. Und der hat mir sein ganzes Geld hinterlassend Und trotzdem arbeitete Bowman ausgerechnet an einem Bezirkskrankenhaus. Wieso eigentlich?

Es vergingen keine zehn Minuten, bis Paige im Personalbüro auftauchte und die zuständige Sekretärin ansprach.

»Bitte, tun Sie mir einen Gefallen, Linda? Ganz im Vertrauen -Harry Bowman hat mich eingeladen, er will mit mir ausgehen, und ich hab' das dumpfe Gefühl, daß er verheiratet sein könnte. Dürfte ich nur mal rasch einen Blick in seine Akte werfen?«

»Aber klar. Diese geilen Böcke! Können nie genug kriegen, oder? Da haben Sie völlig recht. Natürlich dürfen Sie einen Blick hineinwerfen.« Sie lief zu einem Schrank, fand sofort, was sie suchte, und brachte einen Stoß Papiere zu Paige herüber.

Paige überflog sie blitzschnell. Aus dem Bewerbungsschreiben ging hervor, daß Dr. Harry Bowman an einer unbedeutenden Universität im Mittleren Westen studiert und sein ganzes Medizinstudium durch Nebenjobs finanziert hatte. Er war Facharzt für Anästhesie.

Sein Vater war Friseur.

Den meisten Ärzten im Embarcadero County Hospital war Honey Taft ein Rätsel. Während der Morgenvisiten machte sie einen ziemlich unsicheren Eindruck. Bei den Visiten am Nachmittag schien sie ein völlig anderer Mensch zu sein. Sie wußte über jeden einzelnen Patienten erstaunlich gut Bescheid und lieferte ebenso rasche wie präzise Diagnosen.

Es kam deswegen zwischen zwei Oberassistenzärzten zu einer Diskussion.

»Ich will verdammt sein, wenn ich das kapiere«, erklärte der eine. »An den Morgen häufen sich die Beschwerden über Dr. Taft. Sie macht fortwährend Fehler. Sie kennen doch den Witz über die Krankenschwester, die alles falsch macht? Also - ein Arzt beklagt sich über eine Krankenschwester. Er hatte sie angewiesen, dem Patienten auf Zimmer 4 drei Tabletten zu bringen, statt dessen hat sie aber dem Patienten auf Zimmer 3 vier Tabletten gegeben. Und während er von ihr spricht, sieht er sie mit einem Topf heißen Wasser in der Hand auf dem Flur einem nackten Patienten hinterherjagen. Sagt der Arzt: >Sieh dir das an! Ich hab' ihr gesagt, daß sie ihm sein heißes Geschwür aufstechen soll!<«

Der Kollege lachte.

»Also - das ist ein Witz, der genau auf Dr. Taft paßt. Aber an den Nachmittagen ist sie dann absolut brillant. Ihre Diagnosen sind korrekt, ihre Berichte sind hervorragend, und sie denkt messerscharf. Sie muß irgendeine Wunderpille einnehmen, die nur mittags wirkt.« Er kratzte sich am Kopf. »Das verstehe, wer will - ich komme da nicht mit.«

Dr. Nathan Ritter war ein Pedant - ein Mensch, der sich im Leben wie in der Arbeit stets an die Regeln hielt. Zwar fehlte ihm das Fünkchen Brillanz; aber tüchtig und gewissenhaft war er, und diese zwei Eigenschaften erwartete er auch von seinen Mitarbeitern.

Honey hatte das Pech, ausgerechnet seinem Team zugeordnet worden zu sein.

Die Visite begann in einem Krankensaal mit zwölf Patienten, von denen einer gerade sein Frühstück beendete. Ritter warf einen Blick auf das Krankenblatt am Bettende. »Dr. Taft, laut dieser Karte ist er Ihr Patient.«

Honey nickte. »Ja.«

»Er bekommt an diesem Morgen eine Bronchoskopie.«

Honey nickte. »Das ist korrekt.«

»Und da erlauben Sie ihm, etwas zu essen?!« fuhr Dr. Ritter sie an. »Vor einer Bronchoskopie?.«

»Aber der arme Kerl«, sagte Honey, »hat doch nichts zu essen bekommen, seit.«

Nathan Ritter wandte sich an seinen Assistenten. »Verschieben Sie die Bronchoskopie.« Er wollte zu Honey noch etwas sagen, beherrschte sich aber im letzten Moment. »Weiter.«

Der nächste Patient war ein Puertoricaner mit einem bösen Husten.

»Wessen Patient ist das?« fragte Dr. Ritter nach seiner Untersuchung.

»Meiner«, sagte Honey.

Er legte die Stirn in Falten. »Die Entzündung müßte doch eigentlich längst rückläufig sein.« Er studierte das Krankenblatt. »Sie geben ihm viermal täglich fünfzig Milligramm Ampicillin?«

»Das ist richtig.«

»Das ist nicht richtig. Das ist falsch! Er müßte viermal täglich fünfhundert Milligramm bekommen. Sie haben eine Null vergessen.«

»Es tut mir leid, ich.«

»Kein Wunder, daß bei dem Patienten keine Besserung eintritt! Ich will das sofort korrigiert wissen!«

»Jawohl, Doktor.«

Als man bei Honeys nächstem Patienten ankam, stellte Dr. Ritter gereizt fest: »Er ist für eine Darmspiegelung vorgemerkt. Wo ist der Röntgenbericht?«

»Der Röntgenbericht? Oh. Tut mir leid, ich habe ganz vergessen, einen Bericht anzufordern.«

Ritter bedachte Honey mit einem langen, forschenden Blick.

Von da an ging es an diesem Morgen für sie vollends bergab.

Der Patient, den sie anschließend besuchten, war den Tränen nahe. »Ich habe solche Schmerzen! Was habe ich denn für eine Krankheit?«

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Honey.

Dr. Ritter warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Dr. Taft, kann ich Sie kurz einmal draußen sprechen?«

»Sie dürfen einem Patienten gegenüber niemals zugeben - nie und nimmer -, daß Sie etwas nicht wissen. Er schaut zu Ihnen auf, von Ihnen erwartet er Hilfe! Wenn Sie keine Antwort wissen, erfinden Sie eine. Verstehen Sie mich?«

»Aber das scheint mir nicht richtig.«

»Ob Ihnen das richtig scheint oder nicht, ist völlig uninteressant. Tun Sie, was Ihnen gesagt wird!«

Sie untersuchten einen Leistenbruch, eine Hepatitispatientin, einen Patienten mit der Alzheimerschen Krankheit und noch zwei Dutzend andere Fälle. Unmittelbar nach der Visite suchte Dr. Ritter Benjamin Wallace auf.

»Es gibt ein Problem«, sagte Ritter.

»Und das wäre, Nathan?«

»Eine von unseren Assistenzärztinnen. Honey Taft.«

Schon wieder! »Was ist denn mit ihr?«

»Sie ist eine Katastrophe.«

»Sie hatte aber doch so ein hervorragendes Empfehlungsschreiben.«

»Ben, es wäre besser, du schickst sie in die Wüste, bevor sie das Krankenhaus ernsthaft in Schwierigkeiten bringt - ich meine, bevor sie ein oder zwei Patienten umbringt.«

Wallace dachte einen Moment nach und traf seine Entscheidung. »Gut. Ich werde ihr kündigen.«

Paige, die den ganzen Morgen über in der Chirurgie alle Hände voll zu tun hatte, nutzte den ersten freien Augenblick, um Dr. Wal-lace von ihren Zweifeln Harry Bowman betreffend zu berichten.

»Bowman? Sind Sie sicher? Ich meine. Ich habe an ihm keinerlei Anzeichen von Sucht bemerkt.«

»Er braucht das Fentanyl nicht für sich«, erläuterte Paige. »Er verkauft es. Er hat das Gehalt einer Assistenzarztes und lebt wie ein Millionär.«

Ben Wallace nickte. »Na schön. Ich werde die Sache überprüfen. Vielen Dank, Paige.«

Wallace bestellte Bruce Anderson zu sich. »Wir haben den Medikamentendieb möglicherweise identifiziert«, teilte er dem Sicherheitschef mit. »Ich muß Sie bitten, Dr. Harry Bowman im Auge zu behalten.«

»Bowman?« Anderson gab sich Mühe, sein Erstaunen zu verbergen. Dr. Bowman schenkte dem Wachpersonal andauernd kubanische Zigarren und andere Kleinigkeiten. Er war bei ihnen äußerst beliebt. »Falls er unsere Apotheke betritt, durchsuchen Sie ihn, sobald er wieder herauskommt.«

»Jawohl, Sir.«

Harry Bowman steuerte auf die Krankenhausapotheke zu. Er hatte Rezepte auszufüllen. Eine Menge von Rezepten. Das Ganze hatte ganz zufällig begonnen - sozusagen als glückliche Fügung. Er hatte in einem kleinen Krankenhaus in Arnes, Iowa, gearbeitet und sich mit dem Gehalt eines Assistenzarztes durchgeschlagen, was sehr mühsam gewesen war. Ihm stand nämlich, trotz seiner spärlich gefüllten Brieftasche, der Sinn nach höheren Dingen. Dann hatte plötzlich das Schicksal auf ihn herabgelächelt.

Eines Morgens hatte ihn ein Patient angerufen, der soeben aus dem Krankenhaus entlassen worden war.

»Herr Doktor, ich leide unter furchtbaren Schmerzen. Sie müssen mir etwas dagegen geben.«

»Wollen Sie vorbeikommen?«

»Ich möchte lieber nicht aus dem Haus. Könnten Sie es mir nicht bringen?«

Bowman dachte darüber nach. »In Ordnung. Ich schau' nach Dienstschluß bei Ihnen vorbei.«

Er hatte dem Patienten ein Fläschchen Fentanyl gebracht.

Der Patient hatte es ihm fast aus der Hand gerissen. »Das ist ja fantastisch!« Er zog eine Handvoll Banknoten aus der Tasche. »Hier - und vielen Dank!«

Bowman hatte ihn verdutzt angeschaut. »Sie haben mir dafür doch nichts zu zahlen.«

»Sie machen wohl Witze! Dieses Zeug ist das reinste Gold. Ich hab' einen Haufen Freunde, die Ihnen ein Vermögen zahlen würden, wenn Sie es ihnen besorgen.«

Und damit hatte es angefangen. Innerhalb von zwei Monaten verdiente Harry Bowman mehr Geld, als er je für möglich gehalten hätte. Leider bekam der Direktor des Krankenhauses dann aber Wind von der Sache. Um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, riet er Bowman, keinen Ärger zu machen und freiwillig zu kündigen - dann würde von alldem nichts in seinen Papieren erscheinen.

Bin ich froh, daß ich darauf eingegangen bin, dachte Bowman. In San Francisco gibt es für mich einen viel größeren Markt.

Er hatte die Krankenhausapotheke erreicht, bemerkte in der Nähe Bruce Anderson und nickte ihm freundlich zu. »Hi, Bruce.«

»Guten Tag, Dr. Bowman.«

Als Bowman die Apotheke fünf Minuten später wieder verließ, sprach Anderson ihn an: »Ich bitte um Entschuldigung, aber ich muß Sie leider durchsuchen.«

Harry Bowman musterte ihn durchdringend. »Mich durchsuchen? Was reden Sie da, Bruce?«

»Tut mir leid, Doktor. Wir haben Anweisung, alle Benutzer der

Apotheke zu durchsuchen«, log Anderson.

Bowman war empört. »Das ist eine bodenlose Unverschämtheit. Ich lasse mich nicht durchsuchen. Niemals!«

»Dann muß ich Sie auffordern, mich zum Büro von Dr. Wallace zu begleiten.«

»Wunderbar! Er wird toben, wenn er diese Geschichte erfährt!«

Bowman stürmte in Wallaces Büro. »Was geht hier vor, Ben? Verdammt, dieser Kerl hat mich durchsuchen wollen!«

»Und haben Sie sich geweigert, sich durchsuchen zu lassen?«

»Absolut.«

»Gut.« Wallace griff nach dem Telefonhörer. »Wenn es Ihnen lieber ist, werde ich diese Angelegenheit der Polizei von San Francisco überlassen.«

Bowman geriet in Panik. »Moment mal! Dafür gibt's doch gar keinen Grund.« Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Ach so! Ich weiß schon, worum es geht!« Er griff in seine Tasche und holte eine Flasche Fentanyl heraus. »Das Zeug habe ich mir für eine Operation geholt und .«

»Leeren Sie Ihre Taschen«, befahl Wallace leise.

Auf Bowmans Gesicht zeigte sich ein Ausdruck schierer Verzweiflung. »Es gibt keinerlei Anlaß .«

»Leeren Sie die Taschen!«

Zwei Stunden später hatte das Rauschgiftdezernat von San Francisco ein unterzeichnetes Geständnis und eine Liste mit den Namen der Leute in der Hand, denen Bowman Drogen verkauft hatte.

Als Paige die Nachricht erfuhr, suchte sie Mitch Campbell auf. Er saß untätig in einem Büro. Als Paige eintrat, lagen seine Hände auf der Schreibtischplatte. Sie konnte das Zittern erkennen.

Campbell versteckte seine Hände mit einer raschen Bewegung auf dem Schoß. »Tag, Paige. Wie geht's Ihnen?«

»Gut, Mitch. Ich möchte mit Ihnen reden.«

»Nehmen Sie Platz.«

Sie ließ sich ihm gegenüber nieder. »Wie lange haben Sie die Par-kinsonsche Krankheit schon?«

Sein Gesicht wurde noch einen Ton blasser. »Wie bitte?«

»Darum geht's doch, nicht wahr? Sie versuchen dauernd, es zu vertuschen.«

Das Schweigen wurde geradezu drückend. »Ich. ich. ja. Aber ich. Ich kann nicht aufhören, Arzt zu sein. Ich. ich kann einfach nicht. Es ist mein Leben.«

Paige beugte sich vor und sagte mit ernster Stimme: »Das bedeutet doch nicht, daß Sie kein Arzt mehr sein können, Sie sollten nur nicht länger operieren.«

Er wirkte auf einmal furchtbar alt. »Ich weiß. Ich wollte letztes Jahr mit dem Operieren aufhören.« Er lächelte traurig. »Aber jetzt werde ich's tatsächlich tun müssen, nicht wahr? Sie werden es Dr. Wallace melden.«

»Nein«, widersprach Paige leise und freundlich, aber bestimmt. »Sie werden es Dr. Wallace mitteilen.«

Paige aß zu Mittag in der Cafeteria. Tom Chang setzte sich zu ihr.

»Ich hab's schon gehört«, sagte er. »Bowman! Unglaublich. Gut gemacht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte schon den Falschen verdächtigt.«

Chang saß schweigend da.

»Stimmt etwas nicht, Tom?«

»Was wollen Sie von mir hören? Das übliche >Alles in Ordnung« - oder die Wahrheit?«

»Wir sind doch Freunde. Ich möchte die Wahrheit hören.«

»Meine Ehe ist am Ende.« Ihm standen plötzlich die Tränen in den Augen. »Sye hat mich verlassen. Sie ist in die Heimat zurückgekehrt.«

»Das tut mir ja so leid.«

»Es ist nicht ihre Schuld. Das war doch zwischen uns keine Ehe mehr. Sie fand, daß ich mit dem Krankenhaus verheiratet sei. Und damit hat sie recht. Ich verbringe hier wirklich meine ganze Zeit. Ich heile wildfremde Menschen, statt mit denen zusammenzusein, die ich liebe.«

»Sie wird bestimmt wiederkommen. Es wird alles wieder gut«, sagte Paige beruhigend.

»Nein. Diesmal nicht.«

»Haben Sie schon einmal daran gedacht, eine Eheberatung aufzusuchen, oder.«

»Sie weigert sich.«

»Es tut mir leid, Tom. Wenn ich Ihnen auf irgendeine Weise helfen kann.« Sie hörte ihren Namen über Lautsprecher.

»Dr. Taylor, Zimmer 410.«

Paige überkam ein starkes Gefühl der Unruhe. »Ich muß fort«, sagte sie. Zimmer 410. Das war Sam Bernsteins Zimmer. Er war einer ihrer Lieblingspatienten, ein sanfter Mensch in den Siebzigern, der mit einem nicht mehr operierbaren Magenkrebs eingeliefert worden war und im Gegensatz zu den meisten Patienten nie klagte. Paige bewunderte ihn wegen seiner Tapferkeit und seiner Würde. Er hatte eine Frau und zwei erwachsene Söhne, die ihn regelmäßig besuchten. Paige hatte auch sie liebgewonnen.

Er war an lebenserhaltende Geräte angeschlossen worden, mit dem Vermerk NW - Nicht wiederbeleben - für den Fall, daß sein Herz aussetzte.

Eine Schwester stand an seinem Bett. Als Paige eintrat, hob sie den Kopf. »Er ist von uns gegangen, Doktor. Ich habe die Geräte nicht in Gang gesetzt, weil.« Ihre Stimme wurde zu einem undeutlichen Murmeln.

»Sie haben recht getan«, sagte Paige langsam. »Ich danke Ihnen.«

»Gibt es irgend etwas, das ich.«

»Nein. Ich werde alles Nötige veranlassen.« Paige blieb neben dem Bett stehen und schaute auf die Leiche eines Menschen herab, der voller Leben und Lachen gewesen war, der für eine Familie gesorgt und immer für seine Freunde dagewesen war, eines Menschen, der sein Leben lang hart gearbeitet hatte, für den Unterhalt derer, die er liebte. Und jetzt.

Sie zog die Schublade heraus, wo er seine Habseligkeiten aufbewahrte. Eine ganz gewöhnliche Taschenuhr, ein Schlüsselbund, fünfzehn Dollar in bar, ein Gebiß und ein Brief an seine Frau. War das alles, was vom Leben eines solchen Mannes übrig blieb?

Paige vermochte ihre Niedergeschlagenheit nicht abzuschütteln. »Er war ein so lieber Mensch. Warum.«

»Du darfst dich mit deinen Patienten nicht identifizieren, Paige«, mahnte Kat. »Es würde dich innerlich zerreißen.«

»Ich weiß ja, daß du recht hast, Kat. Es ist nur so ... es ging alles so schnell. Heute morgen haben wir noch miteinander gesprochen. Und morgen wird er bereits begraben.«

»Du denkst doch nicht etwa daran, zu seiner Beerdigung zu gehen?«

»Nein.«

Das Begräbnis fand im Friedhof Hills of Eternity statt.

Nach dem religiösen Brauch der Juden muß ein Toter so rasch wie möglich begraben werden; gewöhnlich bereits am Tag nach seinem Tod.

Sam Bernsteins Leiche war in die Tachrichin - die Sterbekleider -und in einen Tallit gehüllt. Die Angehörigen standen am Grab. Der

Rabbi richtete ein Trostwort an die Trauernden auf hebräisch.

Als der Mann, der neben Paige stand, den verwirrten Ausdruck in ihrem Gesicht bemerkte, übersetzte er die Worte für sie: »>Möge der Allmächtige euch trösten mit denen, die um Zion und Jerusalem trauern!««

Zum Erstaunen von Paige begannen die Familienmitglieder an ihrer Kleidung zu reißen, während sie rezitierten. »Ki atar ata weel atar taschuw.« »Was.«

»Sie tun es, um ihre Ehrfurcht zu bekunden«, flüsterte der Mann Paige zu. »Denn du bist Erde, und zur Erde kehrst du zurück.«

Kat begegnete am folgenden Morgen zufällig Honey auf dem Flur. Honey wirkte nervös. »Irgendwas nicht in Ordnung?« fragte Kat. »Dr. Wallace hat mich zu sich bestellt. Ich muß um zwei Uhr bei ihm sein.« »Kennst du den Grund?«

»Ich glaub', ich hab' gestern die Visite vermasselt. Dr. Ritter ist ein Monster.«

»Manchmal schon«, sagte Kat. »Aber es wird schon alles gutgehen.«

»Hoffentlich. Ich hab' irgendwie ein schlechtes Gefühl.«

Sie trat pünktlich um zwei ins Büro von Benjamin Wallace. In der Tasche hatte sie ein Gläschen Honig. Die Sekretärin war in der Mittagspause. Die Tür zum Zimmer von Dr. Wallace war offen. »Nur herein, Dr. Taft«, rief er. Honey betrat den Raum. »Machen Sie bitte die Tür hinter sich zu.«

Honey schloß die Tür.

»Setzen Sie sich.«

Honey setzte sich ihm gegenüber. Sie zitterte am ganzen Körper.

Benjamin Wallace schaute zu ihr herüber und dachte: Das ist ja, als ob ich ein Junges mit Füßen träte. Aber was getan werden muß, muß getan werden. »Ich habe Ihnen leider eine unerfreuliche Mitteilung zu machen«, erklärte er.

Als Honey Kat eine Stunde später im Solarium begegnete, ließ sie sich mit einem erleichterten Lächeln in den Stuhl neben ihr sinken.

»Bist du bei Dr. Wallace gewesen?« fragte Kat.

»Ach so, ja. Wir haben uns lange unterhalten. Hast du gewußt, daß seine Frau ihn im vergangenen September verlassen hat? Fünfzehn Jahre ist er mit ihr verheiratet gewesen. Aus seiner ersten Ehe hat er zwei erwachsene Kinder, die er aber so gut wie nie sieht. Der Arme ist schrecklich einsam.«

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