Zweites Buch

14. Kapitel

Und wieder ging ein Jahr zu Ende, und Paige, Kat und Honey feierten den Rutsch ins Jahr 1994 im Embarcadero County Hospital und hatten den Eindruck, daß sich, bis auf die Namen ihrer Patienten, in ihrem Leben überhaupt nichts veränderte.

Auf dem Weg über den Parkplatz mußte Paige plötzlich an Harry Bowman und seinen roten Ferrari denken. Wie viele Menschenleben sind durch das Gift, das Harry Bowman verkauft hat, wohl zerstört worden? überlegte sie. Drogen waren eine große Verführung. Und wirkten am Ende tödlich.

Jimmy Ford brachte Paige einen kleinen Blumenstrauß. »Aber wofür, Jimmy?«

Er wurde rot. »Einfach so. Haben Sie schon gewußt, daß ich heiraten werde?«

»Nein! Das ist ja wunderbar! Und wer ist die Glückliche?« »Betsy heißt sie. Arbeitet in einem Kleidergeschäft. Und wir wünschen uns ein halbes Dutzend Kinder. Das erste Mädchen werden wir Paige nennen. Sie haben hoffentlich nichts dagegen.« »Ich was dagegen haben? Ich fühle mich sehr geehrt.« Er wurde auf einmal ganz verlegen. »Kennen Sie den schon? Von dem Arzt, der einem Patienten nach der Untersuchung noch zwei

Wochen zu leben gibt? >Ich kann aber die Rechnung nicht sofort bezahlen«, sagt der Mann. >Okay<, sagt der Doktor, >dann geb' ich Ihnen noch zwei Wochen mehr.<« Und schon war Jimmy wieder verschwunden.

Wegen Tom Chang machte sich Paige große Sorgen. Er litt unter entsetzlichen Stimmungsschwankungen, die von irrer Euphorie bis zu tiefer Depression reichten.

Während eines morgendlichen Gesprächs erklärte ihr Tom in einem Ton glücklicher Überzeugung: »Ist Ihnen eigentlich schon be-wußt geworden, daß die meisten Menschen, die hier im Krankenhaus liegen, ohne uns sterben würden? Es liegt in unserer Macht, ihre Körper zu heilen und die Menschen wieder gesund zu machen.«

Und dann am folgenden Morgen völlig verzweifelt: »Wir machen uns bloß etwas vor, Paige. Ohne uns würden die Patienten viel schneller wieder gesund. Wir sind die reinsten Heuchler, wenn wir so tun, als ob wir auf alles eine Antwort wüßten. Wissen wir nämlich nicht.«

Paige sah ihn scharf an. »Haben Sie etwas von Sye gehört?«

»Ich habe gestern mit ihr gesprochen. Sie wird nicht nach Amerika zurückkommen. Sie will die Scheidung einreichen.«

Paige legte ihm die Hand auf den Arm. »Das tut mir leid, Tom.«

Er hob die Schultern. »Warum? Macht mir nichts aus. Nicht mehr. Ich werd' schon eine andere finden.« Er grinste. »Und wieder ein Kind haben. Warten Sie's ab!«

Das Gespräch hatte plötzlich etwas seltsam Unwirkliches bekommen.

»Tom macht mir angst«, gestand sie Kat an diesem Abend. »Hast du in letzter Zeit mit ihm gesprochen?«

»Doch.« »Ist er dir ganz normal vorgekommen?«

»Ich kenne überhaupt keinen Mann, der mir normal vorkommt«, entgegnete Kat.

Das konnte Paige auch nicht beruhigen. »Warum laden wir ihn nicht morgen zum Abendessen ein?«

»Einverstanden.«

Als Paige am nächsten Morgen ihren Dienst antrat, wurde sie mit der Nachricht begrüßt, ein Hausmeister habe Tom Changs Leiche in einem Lagerraum im Keller entdeckt. Er hatte eine Überdosis Schlaftabletten genommen.

Paige reagierte beinah hysterisch. »Ich hätte ihn retten können!« Sie weinte. »Er hat die ganze Zeit um Hilfe geschrien, und ich habe es nicht gehört.«

»Du hättest ihn ganz bestimmt nicht retten können, Paige«, widersprach Kat mit fester Stimme. »Seine Probleme hatten nichts mit dir zu tun, du hättest ihm nicht helfen können. Er hat nicht ohne seine Frau und sein Kind leben wollen. Das ist alles.«

Paige wischte sich die Tränen aus den Augen. »Zum Teufel mit diesem Krankenhaus!« rief sie. »Wenn der Druck und diese unmenschlichen Dienststunden nicht gewesen wären, wäre ihm seine Frau nie davongelaufen.«

»Sie ist ihm aber davongelaufen«, meinte Kat leise. »Und daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern.«

An einer chinesischen Beerdigung hatte Paige noch nie teilgenommen. Es war ein unglaubliches Schauspiel. Frühmorgens versammelte sich vor dem Leichenhaus in der Green Street in Chinatown eine größere Menschenmenge, die sich zu einem Trauerzug mit einer großen Blaskapelle formierte. An der Spitze des Zuges trugen Trauernde die riesige Vergrößerung eines Fotos von Tom Chang.

Der Zug begann, sich zur lauten Musik der Kapelle in Bewegung zu setzen und sich, mit dem Leichenwagen am Schluß, durch die Straßen von San Francisco zu winden, die meisten Trauergäste zu Fuß, nur Ältere in Autos.

Paige kam es so vor, als ob der Trauerzug ganz beliebig und willkürlich durch die Stadt zöge. Sie war ratlos. »Wohin geht der Zug?« fragte sie einen Chinesen.

Er machte eine leichte Verbeugung und erklärte: »Es ist bei uns Sitte, den Entschlafenen an einigen der Orte vorbeizuführen, die in seinem Leben Bedeutung hatten - Restaurants, wo er gern aß, Geschäfte, in denen er einkaufte, Plätze, die er häufig besuchte.«

»Ich verstehe.«

Letzte Station war das Embarcadero County Hospital.

Der Trauergast wandte sich an Paige, um ihr zu erklären: »In diesem Gebäude hat Tom Chang gearbeitet. Hier hat er sein Glück gefunden.«

Irrtum, dachte Paige. Hier hat er sein Glück verloren.

Während eines Morgenspaziersgangs auf der Market Street sah Paige plötzlich Alfred Turner. Sie bekam Herzklopfen. Sie hatte ihn noch immer nicht aus ihrem Bewußtsein verdrängen können. Er überquerte die Straße, als die Ampel eben umschaltete. Als Paige die Straßenecke erreichte, zeigte die Ampel bereits Rot. Sie mißachtete das Signal, lief auf die Straße, ohne das Hupen und das empörte Rufen der Autofahrer überhaupt zu hören.

Paige erreichte die andere Straßenseite und begann dem Mann nachzurennen. Sie zupfte ihn am Ärmel. »Alfred.«

Der Mann drehte sich um. »Wie bitte?«

Es war ein völlig Fremder.

In ihrem vierten Assistenzjahr führten Paige und Kat natürlich lau-fend selbst Operationen durch.

Kat arbeitete in der Neurochirurgie. Ihr Staunen über die Wunderwelt im menschlichen Gehirn, mit seinen Hundertmilliarden von hochkomplexen Digitalcomputern namens Neuronen, ließ nie nach. Es war eine aufregende Arbeit.

Für die meisten Kollegen, mit denen sie zusammenarbeitete -brillante, geschickte Chirurgen -, empfand Kat Hochachtung. Es gab allerdings einige wenige, die ihr das Leben schwermachten, die dauernd mit ihr ausgehen wollten und nur noch lästiger wurden, je öfter Kat sich weigerte, darauf einzugehen.

»Da kommt der alte Eisenhans«, hörte sie einmal einen Arzt murmeln.

Sie assistierte bei einer Gehirnoperation, die Dr. Kibler durchführte. In die Hirnrinde war ein winziger Einschnitt gemacht worden. Dr. Kibler schob die Gummikanüle in die linksseitige Hirnkammer - die Höhle im Zentrum der linken Gehirnhälfte -, während Kat den Einschnitt mit einem kleinen Wundhaken offenhielt und sich voll auf das Geschehen vor ihr konzentrierte.

Dr. Kibler warf ihr, während er seine Arbeit fortsetzte, einen flüchtigen Blick zu und sagte: »Haben Sie den schon gehört vom Säufer, der in eine Bar torkelt und ruft: >Einen Drink! Schnell!< ->Unmöglich<, sagt der Barmann, >Sie sind ja schon betrunken.<«

Der Bohrer schnitt tiefer und tiefer.

»Wenn Sie mir jetzt keinen Drink geben, bring' ich mich um.<«

Durch die Kanüle floß Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit aus der Höhle.

»>Ich sag' Ihnen, was ich tun werde<, erklärt der Barmann. >Ich habe drei Wünsche. Wenn Sie mir die erfüllen, kriegen Sie von mir einen Drink.<«

Während Dr. Kibler erzählte, wurden fünfzehn Milliliter Luft in die Höhle injiziert und Röntgenaufnahmen von vorn, hinten und der Seite gemacht.

»>Sehen Sie den Fußballspieler drüben in der Ecke? Ich schafFs einfach nicht, ihn an die Luft zu setzen. Bitte schmeißen Sie ihn raus. Und dann hab' ich in meinem Büro ein Krokodil mit 'nem kaputten Zahn, aber das stellt sich so bös an, daß kein Tierarzt es behandeln will. Und zu guter Letzt gibt's da im Gesundheitsamt eine Ärztin, die will meine Bar dichtmachen lassen. Gehen Sie die ficken, dann kriegen Sie Ihre Flasche.<«

Eine OP-Schwester schaltete den Sauger ein, um die Blutmenge im Operationsbereich zu reduzieren.

»Der Säufer setzt den Fußballspieler vor die Tür, geht zum Krokodil ins Büro und kommt eine Viertelstunde später mit zerrissener Kleidung ganz blutverschmiert wieder heraus und fragt: >Und wo finde ich die Ärztin mit dem Zahnweh?<«

Dr. Kibler brüllte vor Lachen. »Haben Sie den Witz kapiert? Er hat statt der Ärztin das Krokodil gefickt. Wahrscheinlich das schönere Erlebnis.«

Kat hätte ihm am liebsten eine geknallt.

Sie verschwand nach der Operation im Bereitschaftsraum, um ihren Ärger und Zorn zu überwinden. Ich werde mich von diesen Mistkerlen nicht unterkriegen lassen. Mich schaffen die nie.

Paige ging hin und wieder mit einem Kollegen aus, wollte aber mit keinem eine feste Beziehung eingehen. Alfred Turner hatte sie im Innersten getroffen, und sie war fest entschlossen, sich das kein zweites Mal antun zu lassen.

Paige verbrachte ihre Tage und Nächte meist im Krankenhaus. Sie hatte einen brutalen, total erschöpfenden Dienstplan. Aber sie war in der allgemeinen Chirurgie tätig, und die Arbeit machte ihr Spaß.

Eines Tages ließ George Englund, der Chef der Chirurgie, sie zu sich rufen.

»In diesem Jahr beginnt für Sie die Spezialisierung. Herzchirur-gie.«

Sie nickte. »Richtig.«

»Also, da habe ich etwas Besonderes für Sie. Haben Sie schon einmal von Dr. Barker gehört?«

Paige schaute ihn erstaunt an. »Dr. Lawrence Barker?«

»Genau der.«

»Selbstverständlich.«

Von Lawrence Barker hatten alle gehört. Er gehörte zu den berühmtesten Herzchirurgen der Welt.

»Nun denn, er ist in der vergangenen Woche aus Saudi-Arabien zurückgekehrt, wo er den König operiert hat. Und Dr. Barker hat sich aufgrund unserer langen Freundschaft bereit erklärt, uns drei Tage in der Woche zur Verfügung zu stehen. Umsonst. Nur um der Sache willen.«

»Aber das ist ja fantastisch!« rief Paige.

»Ich teile Sie seinem Team zu.«

Paige war völlig sprachlos. »Ich. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«

»Eine großartige Chance für Sie - Sie können eine Menge von ihm lernen.«

»Bestimmt! Danke sehr, George. Ich weiß es wirklich zu schätzen.«

»Morgen früh um sechs fängt es an - mit den Visiten.«

»Ich freu' mich darauf.«

Das war eine echte Untertreibung - es war schon immer ihr Traum gewesen, mit jemandem wie Dr. Lawrence Barker zusammenarbeiten zu dürfen. Was sag' ich da - mit jemandem wie Dr. Lawrence Bar-ker!< dachte Paige. Es gibt nur einen Dr. Lawrence Barker.

Sie hatte nie ein Foto von ihm gesehen. Sie hatte jedoch eine genaue Vorstellung von ihm - groß, eindrucksvoll, mit silbergrauem

Haar und schlanken, feinfühligen Händen; ein warmherziger, ein freundlicher Mensch. Ich werde mit ihm eng zusammenarbeiten, überlegte Paige, ich werde mich für ihn absolut unentbehrlich machen. Ob er wohl verheiratet ist?

In dieser Nacht hatte Paige von Dr. Barker einen erotischen Traum: Sie führten gemeinsam eine Operation durch und waren beide nackt, und während der Operation sagte Dr. Barker auf einmal zu ihr: »Ich will dich«, und eine OP-Schwester nahm den Patienten vom Operationstisch, und Dr. Barker hob Paige hoch und legte sie auf den Tisch und liebte sie.

Mitten im Traum wachte sie auf. Sie wäre fast aus dem Bett gefallen.

Am folgenden Morgen wartete Paige mit dem Oberassistenzarzt Joel Philips und fünf Kollegen im Flur des zweiten Stockes, als ein kleiner, sauertöpfisch dreinblickender Mann auf sie zueilte, den Oberkörper schräg nach vorne gelehnt, als ob er gegen eine steife Brise ankämpfen müßte.

»Zum Teufel, stehen Sie nicht untätig rum!« knurrte er. »An die Arbeit!«

Paige war so schockiert, daß sie eine Weile brauchte, um sich zu fangen, und dann mußte sie rennen, um die Gruppe einzuholen. »Sie haben sich täglich um dreißig bis fünfunddreißig Patienten zu kümmern«, raunzte Dr. Barker im Flur weiter unten. »Machen Sie sich über jeden ausführliche Notizen. Ist das klar?«

Allgemeines Gemurmel: »Ja, Sir.«

Als Dr. Barker dann im ersten Krankenzimmer ans Bett des Patienten trat, war sein barsches, abweisendes Wesen auf einen Schlag wie weggeblasen. Er streichelte dem Patienten freundlich über die Schulter. »Guten Morgen. Ich bin Dr. Barker.«

»Guten Morgen, Doktor.« »Und wie fühlen Sie sich heute morgen?«

»Die Brust tut mir weh.«

Dr. Barker las aufmerksam das Krankenblatt am Fußende des Bettes und wandte sich an Dr. Philips. »Was zeigen die Röntgenaufnahmen?«

»Keine Veränderung. Die Heilung verläuft gut.«

»Wir machen ein zweites Brustbild.«

Dr. Philips notierte es.

Dr. Barker tätschelte dem Mann den Arm. »Es sieht gut aus. In einer Woche werden wir Sie soweit haben, daß Sie wieder nach Hause können.« Er drehte sich zu den Assistenzärzten um. »Weiter. Wir haben noch eine Menge Patienten vor uns.«

Mein Gott! dachte Paige. Und da reden die Leute über Dr. Jekyll und Mr. Hyde!

Die nächste Patientin, eine fettsüchtige Frau, hatte einen Herzschrittmacher bekommen. »Guten Morgen, Mrs. Shelby«, grüßte Dr. Barker, nachdem er ihr Krankenblatt studiert hatte, in einem beruhigenden Ton. »Ich bin Dr. Barker.«

»Wie lange werden Sie mich hier festhalten?«

»Also, Sie sind so charmant, daß ich Sie ja am liebsten für immer hierbehalten möchte - nur bin ich leider verheiratet.«

Mrs. Shelby kicherte. »Ihre Frau hat wirklich Glück!«

Barker sah sich das Krankenblatt ein zweites Mal gründlich an. »Ich denke, daß Sie bald heim können.«

»Wunderbar!«

»Ich werde heute nachmittag noch einmal vorbeischauen.«

Und schon herrschte Lawrence Barker die Assistenten wieder an. »Weiter.«

Sie liefen folgsam hinter ihm her, in ein Privatkrankenzimmer, wo der Patient, ein guatemaltekischer Junge, von besorgten Verwandten umringt war.

»Guten Morgen«, grüßte ihn Dr. Barker fröhlich, während er be-reits die Krankengeschichte des Jungen las. »Wie fühlst du dich heute morgen?«

»Ich fühl' mich wohl, Herr Doktor.«

An die Assistenten: »Irgendwelche Veränderungen bei den Elektrolyten?«

»Nein, Doktor.«

»Das ist eine gute Nachricht.« Er klopfte dem Jungen ermutigend auf die Schulter. »Du bleibst mir schön brav im Bett, Juan.«

»Wird mein Sohn wieder gesund?« erkundigte sich die Mutter bang.

Dr. Barker strahlte. »Wir werden alles für ihn tun, was in unserer Macht steht.«

»Danke, Herr Doktor.«

Dr. Barker trat auf den Flur, die andern folgten ihm. Er blieb stehen. »Der Patient hat eine Herzmuskelentzündung, Fieber, Kopfschmerzen und ein lokal begrenztes Ödem. Kann mir einer von euch Genies die häufigste Ursache für diese Symptome sagen?«

Schweigen.

»Ich glaube«, Paige meldete sich nach sichtlichem Zögern zu Wort, »das ist angeboren. Erblich.«

Dr. Barker warf ihr einen aufmunternden Blick zu.

Paige, hocherfreut, fuhr fort: »Die Krankheit überspringt. Augenblick.« Sie suchte in ihrem Gedächtnis. »Sie überspringt eine Generation und wird mit den Genen der Mutter übertragen.« Sie brach ab. Sie war richtig stolz auf sich.

Dr. Barker durchbohrte sie mit einem Blick. »Bockmist! Es handelt sich um die sogenannte Chagas-Krankheit. Sie trifft Menschen aus Lateinamerika.« Er musterte Paige ablehnend. »Mein Gott! Wer hat Ihnen erlaubt, sich Arzt zu nennen?«

Paige lief knallrot an.

Während der restlichen Visite war Paige wie benommen; sie gewann so den Eindruck, als ob Dr. Barker sie den ganzen Morgen

über nur zu demütigen versuchte. Er richtete seine Fragen immer nur an sie, hakte nach, bohrte und gab nie ein Zeichen von Anerkennung, wenn sie recht hatte; sagte sie jedoch einmal etwas Falsches, brüllte er sie an. Einmal fuhr er sie mit Stentorstimme an: »Ich würde nicht mal meinen Hund von Ihnen operieren lassen!«

Als schließlich alles vorbei war, teilte der Oberassistenzarzt mit: »Die nächste Visite beginnt um zwei Uhr. Bringen Sie Ihre Notizbücher mit, machen Sie zu jedem Patienten Aufzeichnungen. Und lassen Sie kein Detail weg.«

Er schenkte Paige einen mitleidigen Blick, setzte an, um etwas zu sagen, drehte sich dann jedoch sofort um und folgte Dr. Barker.

Diesen Fiesling will ich nie mehr sehen! schoß es Paige durch den Kopf.

Paige hatte Nachtdienst. Sie rannte von einer Krise zur nächsten und mühte sich verzweifelt, die Flut von Katastrophen einzudämmen, die in die Räume der Notfallstation hereingeschwemmt wurde.

Als sie endlich zum Schlafen kam, war es ein Uhr nachts. Sie hörte weder das Gellen der Sirene noch die Ambulanz, die vor den Eingang der Unfallaufnahme brauste. Zwei Sanitäter rissen die Tür auf, hoben den bewußtlosen Patienten von der Bahre auf ein Rollbett und schoben ihn im Eilschritt in den Notfallraum 1.

Das Personal der Unfallaufnahme war bereits über Funk verständigt worden. Eine Schwester lief an der Seite des Patienten mit; eine zweite wartete schon oben an der Rampe. Sechzig Sekunden später wurde der Patient vom Rollbett auf den Untersuchungstisch gehoben.

Der Patient, ein junger Mann, war so blutüberströmt, daß sein Gesicht kaum zu erkennen war.

Eine Schwester machte sich an die Arbeit: Sie schnitt ihm mit einer großen Schere die zerrissenen Kleider vom Leib.

»Bei dem scheint alles gebrochen.«

»Er blutet wie ein abgestochenes Schwein.«

»Ich kann seinen Puls nicht spüren.«

»Wer hat Bereitschaftsdienst?«

»Dr. Taylor.«

»Ruft sie. Wenn sie sich beeilt, ist er vielleicht noch am Leben, wenn sie kommt.«

Paige wurde vom Läuten des Telefons geweckt.

»H'lo.«

»Ein Unfallopfer in Notfallraum 1, Doktor. Ich glaube, er kommt nicht durch.«

Paige richtete sich im Bett auf. »Okay. Bin gleich da.«

Sie schaute auf ihre Uhr. Es war halb zwei. Sie taumelte vom Feldbett und stürzte zum Lift.

Eine Minute später betrat sie den Notfallraum 1, wo der blutverschmierte Patient in der Mitte des Raums auf dem Untersuchungstisch lag.

»Ursache?« fragte Paige.

»Motorradunfall. Von einem Bus angefahren. Trug keinen Helm.«

Paige trat auf die bewußtlose Gestalt zu, und sie wußte es irgendwie schon, noch bevor sie sein Gesicht sah.

Sie war plötzlich hellwach. »Legt ihm drei IV-Leitungen!« befahl Paige. »Versorgt ihn mit Sauerstoff. Ich brauche Blutkonserven, stat. Rufen Sie im Archiv an und erfragen Sie seine Blutgruppe.«

Die Schwester hob erstaunt den Kopf. »Sie kennen ihn?«

»Ja.« Sie mußte sich zwingen, es auszusprechen: »Er heißt Jimmy Ford.«

Paige ließ ihre Finger über seine Schädeldecke gleiten. »Hier ist ein schweres Ödem. Ich brauch' eine Ultraschalluntersuchung des Kopfes. Und eine Röntgenaufnahme. Wir tun alles, was wir nur können. Ich will, daß er am Leben bleibt.«

»Jawohl, Doktor.«

Und Paige sorgte während der nächsten zwei Stunden dafür, daß bei Jimmy Ford nichts unversucht blieb. Die Röntgenaufnahmen zeigten einen Schädelbasisbruch, eine Gehirnquetschung, einen Oberarmknochenbruch und zahlreiche Platzwunden. Das alles mußte warten, bis sein Allgemeinzustand stabilisiert worden war.

Um halb vier kam Paige zu der Erkenntnis, daß sie vorerst weiter nichts für ihn tun konnte. Er atmete regelmäßiger; der Puls hatte sich gebessert. Sie schaute auf die bewußtlose Gestalt herab. >Wir wünschen uns ein halbes Dutzend Kinder. Das erste Mädchen werden wir Paige nennen. Sie haben hoffentlich nichts dagegen.<

»Keine Angst, Doktor«, sagte eine der Schwestern. »Wir werden gut für ihn sorgen.«

Irgendwie schaffte Paige es dann bis zum Bereitschaftsraum. Sie war total erschöpft und konnte doch nicht schlafen; der Gedanke an Jimmy Ford ließ sie innerlich nicht zur Ruhe kommen.

Das Telefon läutete von neuem. Sie hatte kaum mehr die Kraft, den Hörer abzuheben. »H'lo.«

»Doktor, Sie sollten besser in den dritten Stock kommen. Stat. Ich glaube, eine von Dr. Barkers Patientinnen hat einen Herzanfall.«

»Schon unterwegs«, sagte Paige. Eine von Dr. Barkers Patientinnen. Paige holte tief Luft, kletterte ganz benommen aus dem Bett, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht und eilte in den dritten Stock.

Vor einem Privatzimmer wurde sie von einer Schwester erwartet. »Es ist Mrs. Hearns. Sieht ganz so aus, als ob sie wieder einen Anfall hat.«

Paige trat ins Zimmer.

Mrs. Hearns war in den Fünfzigern. Das Gesicht zeigte noch Spu-ren früherer Schönheit; der Körper war jedoch fett und aufgeschwemmt. Sie griff sich stöhnend an die Brust. »Ich sterbe«, jammerte sie. »Ich sterbe. Ich krieg' keine Luft.«

»Sie werden bald wieder wohlauf sein«, versicherte ihr Paige. Zur Schwester gewandt: »Haben Sie ein EKG gemacht?«

»Sie läßt mich nicht an sich heran. Behauptet, sie wäre zu nervös.«

»Wir müssen aber ein EKG machen«, beschwor Paige Mrs. Hearns.

»Nein! Ich will nicht sterben! Bitte, lassen Sie mich nicht sterben.«

»Rufen Sie bei Dr. Barker an«, wies Paige die Schwester an. »Bitten Sie ihn, sofort zu kommen.«

Die Schwester eilte davon.

Paige horchte Mrs. Hearns' Brust mit einem Stethoskop ab. Der Herzschlag schien normal - Paige konnte es sich aber in diesem Fall nicht leisten, ein Risiko einzugehen.

»Dr. Barker wird in wenigen Minuten da sein«, erklärte sie Mrs. Hearns. »Versuchen Sie, sich zu entspannen.«

»Ich hab' mich noch nie so elend gefühlt. So ein Druck auf der Brust. Bitte, lassen Sie mich jetzt nicht allein.«

»Ich bleibe bei Ihnen«, versprach Paige.

Während sie auf Dr. Barker wartete, telefonierte Paige kurz mit der Intensivstation: Der Zustand von Jimmy Ford war unverändert, er lag noch immer im Koma.

Eine halbe Stunde später traf Dr. Barker ein. Dem Aussehen nach mußte er sich in großer Eile angezogen haben. »Was geht hier vor?« wollte er wissen.

Paige antwortete: »Ich glaube, Mrs. Hearns hat wieder einen Herzanfall.«

Dr. Barker begab sich ans Krankenbett. »Haben Sie ein EKG gemacht?«

»Hat sie uns nicht machen lassen.« »Puls?«

»Normal. Kein Fieber.«

Dr. Barker legte Mrs. Hearns das Stethoskop an den Rücken. »Tief atmen.« Sie tat, was er sagte. »Noch einmal.«

Mrs. Hearns gab einen lauten Rülpser von sich. »Verzeihung.« Sie lächelte. »Ach, nun geht's mir schon besser.«

Er musterte sie kurz. »Was haben Sie zu Abend gegessen, Mrs. Hearns?« »Einen Hamburger.«

»Nur einen Hamburger? Mehr nicht? Einen?« »Zwei.«

»Sonst noch etwas?«

»Nun ja, wissen Sie. Zwiebeln und Pommes frites.«

»Und zu trinken?«

»Einen Schokoladenmilchshake.«

Dr. Barker blickte auf die Patientin herab. »Ihr Herz ist in Ordnung. Was uns Sorgen machen muß, ist Ihr Appetit.« Er drehte sich um. »Sie haben es hier mit einem Fall von Sodbrennen zu tun. Ich würde Sie gern draußen sprechen.«

Sie waren kaum auf dem Flur, da brüllte er los. »Was haben Sie im Medizinstudium eigentlich gelernt? Können Sie nicht einmal zwischen Sodbrennen und einem Herzanfall unterscheiden?« »Ich habe gedacht.«

»Das Problem ist, daß Sie nicht gedacht haben. Wenn Sie mich noch einmal mitten in der Nacht wegen Sodbrennen wecken, sind Sie dran. Haben Sie mich verstanden?«

Paige stand stocksteif mit verbissener Miene da und gab keinen Ton von sich.

»Geben Sie ihr ein Antazidum, Doktor«, ordnete Barker in sarkasti-schem Ton an, »und Sie werden sehen: Mrs. Hearns ist im Handumdrehen kuriert. Ich seh' Sie um Sechs zur Visite.«

Er stürmte davon. Paige schaute ihm nach.

Als Paige zum Feldbett im Bereitschaftsraum taumelte, dachte sie: Diesen Lawrence Barker bring' ich um. Ganz, ganz langsam. Er liegt mit einem Dutzend Schläuchen im Körper im Krankenhaus und wird mich anflehen, daß ich seinem Elend ein Ende mache, aber ich werde es nicht tun. Ich werde ihn leiden lassen. Und dann, wenn er sich etwas besser fühlt... dann bring' ich ihn um!

15. Kapitel

Paige befand sich auf Morgenvisite mit dem >Biest<, wie sie Dr.

Barker insgeheim nannte. Sie hatte ihm bei drei Herzoperationen assistiert und konnte trotz ihrer persönlichen Verbitterung nicht umhin, ihn wegen seiner geradezu unglaublichen Fähigkeiten zu bewundern. Sie erlebte ehrfürchtig mit, wie er einen Patienten aufschnitt, das alte Herz gekonnt durch ein Spenderherz ersetzte und ihn wieder zunähte. Die Operation hatte keine fünf Stunden gedauert.

Binnen weniger Wochen, überlegte Paige, wird dieser Patient wieder in der Lage sein, ein normales Leben zu führen. Kein Wunder, daß Chirurgen sich wie Götter vorkommen. Sie bringen die Toten wieder zum Leben.

Paige erlebte es immer wieder mit, wie ein Herz aufhörte zu schlagen und zu einem trägen Stück Fleisch wurde, und dann geschah das Wunder, und ein lebloses Organ begann, von neuem zu pulsieren und Blut durch einen Körper zu schicken, der im Sterben gele-gen hatte.

Als eines Morgens ein Patient zu einer perkutanen Angioplastie im OP-Saal auf dem Tisch lag und Paige Dr. Barker wieder assistieren sollte, bellte er sie unmittelbar vor Operationsbeginn plötzlich an: »Machen Sie's!«

Paige hob den Kopf. »Wie bitte?«

»Es ist ein einfacher Vorgang. Glauben Sie, daß Sie damit zurechtkommen?« Es klang fast verächtlich.

»Ja«, erwiderte Paige mit zusammengepreßten Lippen.

»Na schön, dann an die Arbeit!«

Er war nicht zum Aushalten.

Barker sah zu, als Paige fachgerecht einen Schlauch in die Arterie des Patienten einführte und ihn bis zum Herzen hochschob. Alles verlief reibungslos, aber Dr. Barker stand bloß da und gab keinen Ton von sich.

Zum Teufel mit ihm, dachte Paige. Ich kann machen, was ich will - er wird doch nie mit mir zufrieden sein.

Paige injizierte durch das Röhrchen einen strahlenundurchlässigen Farbstoff. Sie beobachteten am Bildschirm, wie der Farbstoff in die Koronararterien floß. Auf einem fluoreszierenden Bildschirm wurden Grad und Ort der Verengung in den Arterien sichtbar; eine automatische Filmkamera hielt die Röntgenstrahlen für eine permanente Aufzeichnung fest.

Der Oberassistenzarzt nickte Paige beifällig zu. »Saubere Arbeit.«

»Danke.« Paige drehte sich zu Dr. Barker um.

»Zu verdammt langsam«, knurrte er.

Und marschierte davon.

Paige war dankbar für jeden Tag, an dem Dr. Barker nicht ins Krankenhaus kam, sondern in seiner Privatpraxis blieb. »Ein Tag ohne Barker ist wie eine Ferienwoche auf dem Land«, gestand sie Kat.

»Du haßt ihn wirklich, nicht wahr?«

»Er ist ein brillanter Arzt, aber ein Scheusal. Wenn Dr. Barker so weitermacht und alle anbellt, wird ihn noch der Schlag treffen.«

»Du solltest mal ein paar von den Herzchen kennenlernen, die ich aushalten muß.« Kat lachte verächtlich. »Die betrachten sich tatsächlich als Gottesgeschenk für jede Muschi. Wenn's doch bloß keine Männer auf der Welt gäbe!«

Paige musterte sie verstohlen, sagte aber nichts.

Paige und Kat gingen sich nach Jimmy Ford erkundigen. Er lag immer noch im Koma. Die beiden wußten nicht mehr, was für ihn noch getan werden könnte.

Kat seufzte. »Verdammt. Warum muß es ausgerechnet die netten Kerls treffen?«

»Wenn ich das wüßte!«

»Glaubst du, daß er durchkommt?«

Paige zögerte. »Wir haben getan, was wir konnten. Ihm kann jetzt nur noch Gott helfen.«

»Komisch - und ich hatte gemeint, daß wir hier die Götter wären.«

Am folgenden Tag war Paige für die Nachmittagsvisite verantwortlich. Auf dem Flur hielt der Oberassistenzarzt Kaplan sie an. »Heute ist Ihr Glückstag.« Er feixte. »Sie dürfen auf Ihrer Visite einen neuen, jungen Mediziner einweisen.«

»Wirklich?«

»Jawohl, den I. N.«

»Den I. N.?«

»Den idiotischen Neffen. Die Frau von Dr. Wallace hat einen Neffen, der unbedingt Arzt werden will. Zwei Universitäten haben ihn rausgeworfen. Der bleibt keinem von uns erspart. Heute sind Sie an der Reihe.«

Paige stöhnte auf. »Für so was habe ich wirklich keine Zeit. Ich stecke sowieso schon bis zum Hals.«

»Sie haben keine Wahl. Nun seien Sie ein liebes Mädchen, dann wird Dr. Wallace Ihnen auch bestimmt Zusatzpunkte für gutes Pfadfinderverhalten geben.« Kaplan ging weiter.

Seufzend machte Paige sich wieder auf den Weg zu den frischgebackenen jungen Assistenzärzten, die bereits auf sie warteten. Wo bleibt der I. N. ? Sie schaute auf die Uhr. Eine Minute noch, dann kann er sich zur Hölle scheren! Und da sah sie ihn auch schon kommen -ein hochgeschossener, ausgesprochen schlanker Mann.

Er war ganz außer Atem, als er Paige erreichte und stieß hervor: »Ich bitte um Verzeihung. Dr. Wallace hat mich gebeten.«

»Sie kommen zu spät«, erklärte Paige spitz.

»Ich weiß. Tut mir leid. Ich bin aufgehalten worden.«

»Macht nichts. Wie heißen Sie?«

»Jason. Jason Curtis.«

»Und wo ist Ihr weißer Kittel?«

»Mein weißer Kittel?«

»Hat Ihnen etwa niemand gesagt, daß Sie zur Visite einen weißen Kittel tragen müssen?«

Er wirkte ratlos. »Nein. Ich fürchte, Sie.«

Paige bemerkte gereizt: »Gehen Sie zum Dienstzimmer der Oberschwester und lassen Sie sich dort einen weißen Kittel geben. Aber Sie haben ja auch kein Notizbuch!«

»Nein.«

Idiotisch ist überhaupt kein Ausdruck. »Sie werden uns dann auf Station 1 finden.«

»Sind Sie sicher? Ich.«

»Tun Sie, was ich Ihnen sage!« Und damit ließ Paige Jason Curtis stehen, der ihr erstaunt nachblickte, als sie sich mit der übrigen

Gruppe in Bewegung setzte.

Sie untersuchten bereits den dritten Patienten, als sich Jason Cur-tis, jetzt im weißen Kittel, ihnen wieder anschloß. Paige erläuterte: ».Tumore am Herzen können, was nur selten vorkommt, primär sein, oder aber, und das ist häufiger zu beobachten, sekundär.«

Sie sprach Jason Curtis an. »Können Sie die drei Arten von Tumor nennen?«

Er war perplex. »Ich fürchte, ich. Kann ich nicht.«

Natürlich nicht. »Epikardial. Myokardial. Endokardial.«

Er lächelte Paige sonnig an: »Das ist ja richtig interessant!«

Herrgott noch mal! dachte Paige. Dr. Wallace hin, Dr. Wallace her, diesen Curtis werde ich mir aber ganz schnell vom Hals schaffen müssen.

Sie gingen weiter zum nächsten Patienten, nach dessen Untersuchung Paige die Gruppe auf dem Flur außer Hörweite brachte. »Wir haben es hier mit einem Fall von starker Schilddrüsenüberfunktion, Fieber und Herzjagen zu tun. Die Symptome sind nach einer Operation aufgetreten.« Sie fixierte Jason Curtis. »Wie würden Sie den Patienten behandeln?«

Er blieb einen Augenblick regungslos stehen und dachte nach. »Mit Fingerspitzengefühl?« meinte er dann.

Paige vermochte nur mit größter Anstrengung, die Fassung zu wahren. »Sie sind doch nicht seine Mutter! Sie sind sein Arzt! Er braucht eine kontinuierliche intravenöse Flüssigkeitszufuhr gegen die Dehydration, dazu intravenöse Gaben von Jod, Schilddrüsenhormonen sowie Sedativa gegen Krämpfe.«

Jason nickte. »Das klingt irgendwie plausibel.«

Es wurde auch danach nicht besser. Nach Beendigung der Visite nahm Paige ihn beiseite. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich ganz offen zu Ihnen spreche?«

»Nein. Ganz und gar nicht«, erwiderte er höflich. »Ich wäre Ihnen sogar dankbar.«

»Suchen Sie sich einen anderen Beruf aus.«

Er wurde nachdenklich. »Sie meinen, ich sei für so etwas ungeeignet?«

»Offen gesagt - ja. Diese Arbeit macht Ihnen doch auch keinen Spaß, oder?«

»Eigentlich nicht.«

»Warum haben Sie's dann aber getan?«

»Um die Wahrheit zu sagen - ich bin dazu gedrängt worden.«

»Also, dann sagen Sie Dr. Wallace, daß er da einen Fehler begeht. Ich meine, Sie sollten mit Ihrem Leben etwas anderes anfangen.«

»Ich bin Ihnen für diesen Rat aufrichtig dankbar«, entgegnete Jason Curtis mit ernster Miene, »und würde mich darüber mit Ihnen gern ausführlicher unterhalten. Falls Sie heute abend noch nichts vorhaben.«

»Da gibt es weiter nichts zu bereden«, erwiderte Paige brüsk. »Erzählen Sie Ihrem Onkel.«

In genau diesem Moment tauchte Dr. Wallace auf der Bildfläche auf. »Jason!« rief er. »Ich habe überall nach dir gesucht.« Er wandte sich an Paige. »Sie haben sich also bereits kennengelernt, wie ich sehe.«

»Ja, wir haben uns kennengelernt«, bemerkte Paige grimmig.

»Gut. Jason ist der Architekt, der für die Planung des neuen Krankenhausflügels verantwortlich ist.«

Paige blieb regungslos stehen. »Er ist. was?«

»Aber ja. Hat er's Ihnen denn nicht gesagt?«

Sie spürte, wie sie errötete. Hat Ihnen etwa niemand gesagt, daß Sie zur Visite einen weißen Kittel tragen müssen?< - >Um die Wahrheit zu sagen - ich bin dazu gedrängt worden.<

Von mir nämlich!

Paige wäre am liebsten im Boden versunken. Er hatte sie zum Narren gehalten. Sie wandte sich an Jason. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, wer Sie sind?«

Er betrachtete sie amüsiert. »Na ja, dazu haben Sie mir doch gar keine Gelegenheit gegeben.«

»Wozu hat sie dir keine Gelegenheit gegeben?« fragte Dr. Wallace.

»Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.«, sagte Paige knapp.

»Wie ist das mit dem Essen heute abend?«

»Zum Essen hab' ich keine Zeit. Ich bin zu beschäftigt.« Paige war auf und davon.

Jason schaute ihr voller Bewunderung nach. »Was für eine Frau!«

»Nicht wahr? Warum gehen wir jetzt nicht in mein Büro, um die Pläne zu diskutieren?«

»Prima.« Aber in Gedanken war er bei Paige.

Es war Juli geworden, und damit auch wieder Zeit für das alljährliche Ritual, mit dem das Eintreffen neuer Hochschulabsolventen in allen amerikanischen Krankenhäusern begangen wurde.

Die Krankenschwestern hatten ihrer Ankunft erwartungsvoll entgegengeblickt, in der Hoffnung, unter ihnen den idealen Liebhaber oder Ehemann zu finden. Im Embarcadero County Hospital richteten sich die Augen des weiblichen Personals in diesem Jahr auf Dr. Ken Mallory.

Warum Ken Mallory von einer exklusiven Privatklinik in Washington, D.C. zum Embarcadero in San Francisco wechselte, das wußte niemand. Er war Assistenzarzt im fünften Jahr; ein Chirurg. Einem Gerücht zufolge hatte er Washington wegen einer Affäre mit der Frau eines Kongreßabgeordneten verlassen müssen. Ein anderes Gerücht besagte, eine Krankenschwester habe seinetwegen Selbstmord begangen, und man hatte ihn deshalb aufgefordert zu kündigen. Nur eins wußten die Schwestern im Embarcadero mit Sicherheit - daß Ken Mallory ohne jeden Zweifel der attraktivste Mann war, der ihnen je untergekommen war. Er war groß und athletisch gebaut und hatte lockiges blondes Haar und ein Gesicht, das eine Bereicherung für jede Kinoleinwand gewesen wäre.

Mallory fügte sich in die Krankenhausroutine ein, als ob er schon immer dazugehört hätte. Er war ein Charmeur; die Schwestern kämpften fast vom ersten Augenblick an um seine Gunst. Nacht für Nacht beobachteten Kollegen gespannt, wie Mallory mit wieder einer anderen Schwester in einen unbenutzten Bereitschaftsraum verschwand. Sein Ruf als scharfer Bock wurde im Krankenhaus zu einer wahren Legende.

Es war daher vollkommen natürlich, daß auch Paige, Kat und Honey sich über ihn unterhielten.

»Wie findest du's, daß sich ihm alle Schwestern an den Hals werfen?« Kat lachte. »Sie kämpfen ja förmlich darum, wer das Häschen der Woche sein darf.«

»Ihr müßt doch zugeben, daß er ausgesprochen verführerisch wirkt«, meinte Honey.

Kat schüttelte den Kopf. »Finde ich gar nicht.«

Eine Handvoll Assistenten hielt sich im Umkleideraum für Ärzte auf, als Mallory hereinmarschierte.

»Über Sie haben wir gerade gesprochen«, sagte einer. »Sie müßten eigentlich sehr erschöpft sein.«

Mallory grinste. »Die Nacht war nicht übel.« Er hatte die Nacht mit zwei Krankenschwestern verbracht.

Grundy flachste: »Im Vergleich mit Ihnen wirken wir wie Eunuchen. Gibt's denn in diesem Krankenhaus keine Frau, die Sie nicht ins Bett kriegen?«

Mallory lachte. »Scheint mir fraglich.«

Grundy dachte nach. »Wetten, daß ich eine weiß?«

»Wirklich? Wen denn?«

»Eine Oberassistenzärztin. Sie heißt Kat Hunter.«

Mallory nickte. »Die schwarze Puppe. Ist mir schon aufgefallen -sehr reizend. Aber wie kommen Sie auf die Idee, daß ich sie nicht rumkriegen könnte?«

»Weil wir alle miteinander bei ihr abgeblitzt sind. Ich glaube, sie hat was gegen Männer.«

»Vielleicht liegt's ja auch nur daran, daß ihr der Richtige noch nicht begegnet ist.«

Grundy schüttelte den Kopf. »Nein. Bei der hätten Sie keine Chance.«

Das war eine glatte Herausforderung. »Da liegen Sie bestimmt falsch.«

Ein Kollege griff den Ball auf. »Sie würden eine Wette darauf eingehen?«

Mallory schmunzelte. »Klar. Warum denn nicht?«

»In Ordnung.«

Mallory war plötzlich von allen umringt. »Ich wette fünfhundert Dollar, daß Sie sie nicht ins Bett kriegen.«

»Angenommen.«

»Ich wette dreihundert.«

Ein anderer meldete sich. »Laßt mich mitmachen. Ich wette sechshundert.«

Am Ende hatte der Einsatz fünftausend Dollar erreicht.

»Wieviel Zeit habe ich?« wollte Mallory wissen.

Grundy überlegte. »Sagen wir dreißig Tage. Ist das fair?«

»Mehr als fair. So lang werd' ich sicher nicht brauchen.«

»Aber wir verlangen einen klaren Beweis«, warnte Grundy. »Sie muß dann auch zugeben, daß sie mit Ihnen geschlafen hat.«

»Kein Problem.« Mallory schaute siegesbewußt in die Runde. »Ihr Spanner!«

Es war keine Viertelstunde vergangen, als Grundy in der Cafeteria auftauchte und sich nach Kat, Paige und Honey umsah, die dort frühstückten. Er kam zu ihrem Tisch herüber. »Darf ich den Damen - Entschuldigung: den Doctores - einen Augenblick Gesellschaft leisten?«

Paige hob den Kopf. »Selbstverständlich.«

Grundy nahm Platz, sah Kat an und meinte entschuldigend: »Ich finde es gräßlich, Ihnen gegenüber davon sprechen zu müssen, aber ich habe eine furchtbare Wut im Bauch und fände es unfair, wenn Sie's nicht wüßten.«

Kat war leicht perplex: »Was denn?«

Grundy seufzte. »Es betrifft diesen neuen Oberassistenzarzt, der gerade bei uns angefangen hat - Ken Mallory.«

»Ja. Was ist mit ihm?«

»Also, ich.«, begann Grundy. »Mensch, ist das peinlich. Er hat gegen ein paar Kollegen fünftausend Dollar gewettet, daß er Sie innerhalb der nächsten dreißig Tage ins Bett kriegt.«

Kat machte ein grimmiges Gesicht. »So. Hat er das?!«

Grundy tat scheinheilig. »Ich kann's Ihnen wirklich nicht verübeln, wenn Sie das wütend macht. Mir ist fast schlecht geworden, als ich's vorhin hörte. Also gut, ich hab' Sie nur warnen wollen. Er wird Sie zum Ausgehen einladen, und ich finde es richtig, daß Sie wissen, mit welcher Absicht er Sie einlädt.«

»Danke«, sagte Kat. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet.«

»Es war das Mindeste, was ich tun konnte.«

Sie folgten Grundy mit ihren Blicken, als er die Cafeteria verließ.

Im Flur draußen warteten die Kollegen auf ihn.

»Wie ist's gelaufen?« wollten sie wissen.

Grundy lachte. »Glänzend. Die ist fuchsteufelswild. Bei der hat dieser Scheißangeber null Chance.«

Drinnen, am Tisch in der Cafeteria, erklärte im gleichen Augenblick Honey: »Ich finde das einfach furchtbar.«

Kat nickte. »Bei dem Kerl wäre eine Schwanzotomie angezeigt. Bevor ich mit dem Scheißkerl ausgehe, laufen die Teufel in der Hölle Schlittschuh.«

Paige dachte nach. »Weißt du was, Kat?« sagte sie dann. »Vielleicht solltest du mit ihm ausgehen.«

Kat war baff. »Wie bitte?«

Paiges Augen blitzten. »Was spricht eigentlich dagegen? Helfen wir ihm doch bei dem Jux - nur, daß wir uns den Jux machen, auf seine Kosten.«

Kat lehnte sich vor. »Weiter!«

»Er hat dreißig Tage Zeit, ja? Also, wenn er mit dir ausgeht, wirst du warmherzig und liebevoll und zärtlich sein. Ich meine, du wirst ganz verrückt sein nach ihm. Tust alles, um ihn anzumachen, bis er richtig schön durchdreht. Nur eins wirst du natürlich nicht tun -du gehst mit ihm nicht ins Bett. Dem werden wir eine Fünftausenddollarlektion erteilen.«

Kat kam wieder ihr Stiefvater in den Sinn. Hier bot sich eine Gelegenheit zur Rache. »Gefällt mir gut«, sagte Kat.

»Soll das heißen, daß du's machen wirst?« fragte Honey.

»Genau das.«

Was Kat nicht wußte, als sie diese Worte aussprach - sie hatte damit ihr eigenes Todesurteil unterzeichnet.

16. Kapitel

Jason Curtis kam vom Gedanken an Paige Taylor nicht mehr los. Er rief bei Ben Wallaces Sekretärin an. »Hallo, hier Jason Curtis. Ich brauche die Privatnummer von Dr. Paige Taylor.«

»Aber gewiß, Mr. Curtis. Einen Moment bitte.« Und dann nannte sie ihm die Nummer. Honey nahm ab. »Hier Dr. Taft.« »Hier Jason Curtis. Ist Dr. Taylor daheim?« »Nein, sie ist nicht da. Sie hat im Krankenhaus Bereitschaftsdienst.« »Schade.«

Die Enttäuschung war seiner Stimme anzuhören. »Wenn es dringend ist«, meinte Honey, »könnte ich.« »Nein, nein.«

»Sie könnten eine Nachricht hinterlassen, damit sie zurückruft.« »Sagen Sie ihr, daß ich angerufen habe.« Jason nannte seine Telefonnummer. »Ich werd's ihr ausrichten.« »Danke.«

»Jason hat angerufen«, berichtete Honey, als Paige heimkam. »Scheint intelligent zu sein. Hier, seine Nummer.« »Wirf sie ins Feuer.«

»Willst du ihn denn nicht zurückrufen?« »Nie im Leben.«

»Du kommst noch immer nicht von Alfred los, ja?« »Den kannst du vergessen.«

Mehr war aus Paige nicht herauszubekommen.

Jason wartete zwei Tage, dann rief er wieder an. Diesmal nahm Paige ab. »Hier Dr. Taylor.« »Hallo!« sagte Jason. »Hier Dr. Curtis.« »Doktor.?«

»Vielleicht erinnern Sie sich an mich«, erklärte Jason leichthin. »Ich habe Sie neulich auf der Visite begleitet und Sie zum Abendessen eingeladen, aber Sie.«

»Ich hab' Ihnen erklärt, daß ich beschäftigt sei. Bin ich immer noch. Auf Wiedersehen, Mr. Curtis.« »Wer war das?« wollte Honey wissen. »Ach, niemand.«

Als die Assistenzärzte am darauffolgenden Tag morgens um sechs unter Paiges Führung die Visite beginnen wollten, erschien Jason Curtis - im weißen Kittel.

»Hoffentlich komme ich nicht zu spät«, rief er gut gelaunt. »Ich habe mir erst noch einen weißen Kittel besorgen müssen. Ich weiß doch, wie ungehalten Sie sind, wenn ich keinen trage.«

Paige wurde wütend. »Kommen Sie mit!« Sie führte Jason in den menschenleeren Umkleideraum. »Was haben Sie hier zu suchen?«

»Um die Wahrheit zu sagen - ich mache mir Sorgen wegen einiger Patienten, die wir neulich untersucht haben«, antwortete er mit todernster Miene. »Ich wollte schauen, ob es ihnen besser geht.« Der Kerl ist unmöglich.

»Warum sind Sie nicht unterwegs, um etwas aufzubauen?« Jason sah sie an und sagte leise: »Das versuche ich doch gerade.« Er zog eine Handvoll Karten aus der Tasche. »Hören Sie, ich kann ja nicht wissen, wofür Sie sich interessieren, und habe deshalb - zur

Auswahl - Karten besorgt fürs Match der Giants, für Theater, Oper und Konzert. Entscheiden Sie, wohin wir heute abend gehen. Ich kann die Karten übrigens nicht zurückgeben.«

Der Kerl ist echt eine Zumutung. »Werfen Sie das Geld immer so zum Fenster hinaus?«

»Nur, wenn ich verliebt bin«, erwiderte Jason.

»Moment mal.!«

Er hielt ihr die Karten hin. »Wählen Sie!«

Paige streckte die Hand aus und nahm alle. »Danke schön«, erklärte sie süß. »Ich werde die Karten an meine ambulanten Patienten weitergeben - wann kommen die sonst ins Theater oder in die Oper?«

»Wunderbar!« Er strahlte. »Hoffentlich wird's ihnen Freude machen. Essen Sie mit mir zu Abend?«

»Nein.«

»Aber essen müssen Sie doch sowieso. Wollen Sie sich's nicht überlegen?«

Paige beschlich wegen der Karten ein leises Schuldgefühl. »Ich würde Ihnen wohl kaum eine angenehme Gesellschaft sein. Ich hatte letzte Nacht Bereitschaftsdienst und.«

»Es muß ja nicht schrecklich spät werden. Großes Pfadfinderehrenwort!«

Sie seufzte. »Also gut, aber.«

»Großartig! Wo soll ich Sie abholen?«

»Ich bin um sieben hier fertig.«

»Dann hol' ich Sie hier um sieben Uhr ab.« Er gähnte. »Und jetzt geh' ich heim und leg' mich wieder ins Bett. Was für eine barbarische Zeit, um auf den Beinen zu sein! Was veranlaßt Sie nur dazu?«

Paige schaute ihm nach; ein leises Lächeln konnte sie nicht unterdrücken.

Als Jason Paige abends um sieben Uhr im Krankenhaus abholen wollte, teilte ihm die aufsichtführende Krankenschwester mit: »Dr. Taylor werden Sie vermutlich im Bereitschaftsraum antreffen.«

»Danke.« Jason begab sich über den Flur zum Bereitschaftsraum. Die Tür war zu. Er klopfte. Er bekam keine Antwort. Er klopfte noch einmal - wieder rührte sich nichts. Er öffnete die Tür und spähte hinein. Paige lag auf dem Feldbett in tiefem Schlaf.

Jason trat neben das Bett und blieb in die Betrachtung von Paige versunken. Ich werde dich heiraten, Lady, sagte er im stillen und schlich sich auf Zehenspitzen wieder hinaus und machte die Tür sachte hinter sich zu.

Jason befand sich am nächsten Morgen in einer Konferenz, als die Sekretärin ihm einen Blumenstrauß hereinbrachte, mit einer Begleitkarte und dem Text: »Tut mir leid. RIP.« Da mußte Jason laut lachen. Er rief Paige im Krankenhaus an. »Hier meldet sich Ihre Verabredung.«

»Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung wegen gestern abend«, sagte Paige. »Die Sache ist mir äußerst peinlich.«

»Dazu besteht gar keine Ursache. Aber ich muß Sie etwas fragen.«

»Ja?«

»Was hat RIP nun zu bedeuten - Requiescat in pace oder Rip van Winkle?«

Da mußte Paige lachen. »Sie haben die Wahl.«

»Dann entscheide ich mich für ein gemeinsames Essen heute abend. Könnten wir's noch einmal versuchen?«

Sie reagierte zurückhaltend. Ich möchte mich nicht binden. Du kommst noch immer nicht von Alfred los, ja?

»Hallo. Sind Sie noch da?«

»Ja.« Ein Abend kann doch nicht schaden, dachte Paige. »Ja, wir können heute abend zusammen essen gehen.«

»Großartig.«

Als Paige sich an diesem Abend zum Ausgehen fertigmachte, bemerkte Kat: »Das sieht ganz nach einer wichtigen Verabredung aus. Wen triffst du denn?« »Er ist ein Arztitekt«, antwortete Paige. »Er ist was?«

Paige erzählte ihr die Geschichte.

»Scheint ein lustiger Typ zu sein. Bist du an ihm interessiert?« »Eigentlich nicht.«

Es wurde ein angenehmer Abend. Jason erwies sich als unproblematisch. Sie sprachen über alles und nichts. Die Zeit verging wie im Fluge.

»Erzählen Sie mir etwas von sich«, bat Jason. »Wo sind Sie aufgewachsen?« »Sie würden mir doch nicht glauben.« »Ich werde Ihnen bestimmt glauben.«

»Na schön. Also - im Kongo, in Indien, Burma, Nigeria, Kenia.« »Das glaub' ich Ihnen nicht.«

»Es stimmt aber trotzdem. Mein Vater hat als Doktor bei der WHO gearbeitet.«

»Doktor Who? Ich gebe auf. Sie wollen mich nur auf den Arm nehmen.«

»Für die WHO - die Weltgesundheitsorganisation. Er war Arzt. Ich habe meine Kindheit bei ihm verbracht. Wir sind in vielen Ländern der dritten Welt gewesen.« »Das war bestimmt nicht leicht für Sie.«

»Aufregend ist es gewesen. Mir ist eigentlich nur eins schwergefallen - daß ich nirgendwo lang genug bleiben konnte, um Freunde

zu gewinnen.« Aber wir beide brauchen doch keine Freunde, Paige. Wir haben einander,... Dies ist meine Frau, Karen.< Sie schüttelte die Erinnerung ab. »Ich habe eine Menge fremde Sprachen und exotische Bräuche gelernt.«

»Zum Beispiel?«

»Also, ich habe zum Beispiel.« Sie dachte einen Augenblick lang nach. »In Indien glauben die Menschen an ein Leben nach dem Tod und daran, daß das nächste Leben dadurch bestimmt wird, wie man sich im gegenwärtigen Dasein verhält. Ist man ein böser Mensch gewesen, kommt man als Tier wieder zur Welt. Ich kann mich noch erinnern, daß wir in einem Dorf einen Hund hatten und ich mir die ganze Zeit überlegte, wer der Hund wohl in seinem früheren Leben gewesen war und was er wohl Böses getan haben mochte.«

»Wahrscheinlich hat er den falschen Baum angebellt.«

Paige lächelte versonnen. »Und dann hat's da die gherao gegeben.«

»Die gherao?«

»Das ist eine sehr schwere Form von Bestrafung, bei der ein Mensch von einer Menschenmenge umzingelt wird.« Paige schwieg.

»Und dann?«

»Das ist alles.«

»Das ist alles?«

»Die Leute sprechen nicht mit ihm, und sie tun ihm auch nichts. Er kann sich nur nicht frei bewegen. Er kann auch nicht fort. Er sitzt in der Falle, so lange, bis er bereit ist nachzugeben. Das kann viele, viele Stunden dauern. Er sitzt in dem Kreis fest. Aber die Leute in der Menge wechseln sich ab, in Schichten. Ich habe einmal miterlebt, wie ein Mann versuchte, aus der gherao auszubrechen. Er ist zu Tode geprügelt worden.«

Bei der Erinnerung lief Paige ein Schauder über den Rücken -Menschen, die sonst immer nur freundlich gewesen waren, hatten sich auf einmal in einen wilden, tobenden Mob verwandelt. Alfred hatte gerufen: »Los, weg«, sie am Arm gefaßt und in eine stille Seitengasse geführt.

»Das ist ja furchtbar«, meinte Jason.

»Mein Vater ist gleich am nächsten Tag mit uns weitergereist.«

»Ich hätte Ihren Vater gern kennengelernt.«

»Er war ein ausgezeichneter Arzt und hätte an der Park Avenue bestimmt großen Erfolg gehabt, aber Geld hat ihn nie interessiert. Er war nur daran interessiert, Menschen zu helfen.« Wie Alfred auch, dachte sie.

»Was ist aus ihm geworden?«

»Er ist bei einem Stammeskrieg ums Leben gekommen.«

»Das tut mir leid.«

»Er hat mit leidenschaftlicher Hingabe an seiner Arbeit gehangen. Anfangs haben die Eingeborenen ihm Widerstand entgegengebracht. Sie waren äußerst abergläubisch. In entlegenen indischen Dörfern beispielsweise lassen sich alle Bewohner vom Dorfastrologen ein jantak, ein Horoskop, stellen, nach dem sie ihr Leben ausrichten.« Sie lächelte. »Ich hab' mir immer gern die Zukunft voraussagen lassen.«

»Und hat Ihnen der Astrologe damals auch gesagt, daß Sie einen gutaussehenden jungen Architekten heiraten würden?«

Paige musterte ihn streng. »Nein.« Sie bemerkte auf einmal, daß das Gespräch ein bißchen zu persönlich geworden war. »Als Architekt wird Sie folgendes interessieren: Ich bin in Hütten aufgewachsen, die aus lehmverschmiertem Flechtwerk gebaut wurden, Hütten mit festgetretenen Lehmfußböden und Strohdächern, wo Mäuse und Fledermäuse nisteten. Ich habe in fensterlosen tikuls mit Grasdach gelebt. Es war damals mein Traum, in einem komfortablen, zweistöckigen Haus mit Veranda zu wohnen, umgeben von grünem Rasen und einem weißen Lattenzaun und.« Paige brach ab. »Verzeihung. Das alles hab' ich eigentlich gar nicht sagen wollen. Aber Sie haben danach gefragt.« »Ich bin froh, daß ich die Frage gestellt habe«, erwiderte Jason.

Paige sah auf die Armbanduhr. »Ich habe gar nicht bemerkt, daß es so spät geworden ist.«

»Könnten wir den Abend wiederholen?«

Ich will ihn aber nicht an der Nase herumführen, dachte Paige. Aus der Sache kann nichts werden. Ihr fiel ein, was Kat ihr gesagt hatte. Du klammerst dich an ein Gespenst. Du mußt loslassen. Sie schaute Jason kurz an. »Ja«, sagte sie.

Am nächsten Morgen läutete es in aller Frühe. Paige öffnete. Es war ein Kurier.

»Ich habe etwas abzugeben für Dr. Taylor.«

»Das bin ich.«

Der Kurier konnte sein Staunen nicht verbergen. »Sie sind Ärztin?«

»Doch«, erwiderte Paige geduldig. »Ich bin Ärztin. Haben Sie was dagegen?«

Er zuckte die Schultern. »Nein, Lady. Überhaupt nicht. Würden Sie bitte hier unterschreiben?«

Das Paket war verblüffend schwer - merkwürdig, dachte Paige. Sie trug es auf den Wohnzimmertisch und machte es auf. Es war das Miniaturmodell eines wunderschönen weißen, zweigeschossigen Hauses mit Veranda und grünem Rasen im Vorgarten und einem weißen Lattenzaun. Sie dachte: Es muß ihn die ganze Nacht gekostet haben, das zu modellieren. Dem Haus lag ein Kärtchen bei mit den Worten:

Mein Haus () Unser Haus () Zutreffendes bitte ankreuzen.

Sie ließ sich am Tisch nieder, um das Haus zu betrachten - sie betrachtete es eine lange, lange Zeit. Das Haus war genau richtig. Aber es war der falsche Mann.

Was ist eigentlich mit mir los? fragte sich Paige. Er ist klug, er ist anziehend, er ist charmant. Sie wußte jedoch genau, was der springende Punkt war. Er war eben nicht Alfred.

Das Telefon läutete. Es war Jason. »Haben Sie Ihr Haus bekommen?« erkundigte er sich.

»Es ist wundervoll!« sagte Paige. »Das war sehr lieb von Ihnen.«

»Ich würde gern das große, echte Haus bauen. Haben Sie das Kärtchen ausgefüllt?«

»Nein.«

»Ich kann warten, ich bin ein geduldiger Mensch. Haben Sie heute abend frei?«

»Ja, aber ich muß Sie warnen. Ich habe den ganzen Tag über zu operieren, da werde ich am Abend ziemlich erschöpft sein.«

»Es muß ja nicht spät werden. Übrigens - wir werden bei meinen Eltern essen.«

Paige zögerte. »Ach ja?«

»Ich habe meinen Eltern von Ihnen erzählt.«

»Na schön«, meinte Paige. Aber ihr ging alles viel zu schnell. Es machte sie richtig nervös.

Beim Auflegen überlegte sie: Eigentlich hätte ich nicht zusagen dürfen. Ich werde hundemüde sein. Ich werde doch nur schlafen wollen und zu nichts zu gebrauchen sein. Sie war versucht, Jason anzurufen und die Verabredung rückgängig zu machen. Dafür ist es jetzt zu spät. Ich werde dann eben früh heimgehen.

»Du wirkst total übermüdet«, bemerkte Kat, als Paige sich am Abend zum Ausgehen anzog.

»Bin ich auch.«

»Warum gehst du dann aus? Du solltest dich hinlegen und schlafen. Oder kannst du inzwischen auf Schlaf verzichten?«

»Nein. Und heute abend ganz bestimmt nicht.«

»Schon wieder Jason?«

»Ja. Ich werde seine Eltern kennenlernen.«

»Olala.« Kat schüttelte den Kopf.

»Damit hat das nichts zu tun«, sagte Paige. Es hat damit wirklich nichts zu tun.

Jasons Eltern wohnten in einem reizenden alten Haus in den Pacific Heights. Der Vater war ein durch und durch aristokratisch wirkender Herr in den Siebzigern, die Mutter eine warmherzige, offene, unkomplizierte Frau. Paige fühlte sich bei ihnen sofort wie zu Hause.

»Jason hat uns ja so viel von Ihnen erzählt«, sagte Mrs. Curtis. »Aber er hat uns verschwiegen, wie schön Sie sind.«

»Danke für das Kompliment.«

Sie begaben sich in die Bibliothek. Sie war voller Gebäudemodelle, die von Jason und seinem Vater entworfen worden waren.

»Wenn man zusammenrechnet, was Jason, sein Urgroßvater und ich alles geplant haben, darf man getrost behaupten, daß wir für einen recht großen Teil der Gestaltung San Franciscos verantwortlich sind«, sagte Jasons Vater. »Mein Sohn ist ein Genie.«

»Genau das versuche ich Paige dauernd klarzumachen«, sagte Jason.

Paige lachte. »Ich glaube es gern.« Die Augen wurden ihr schwer, sie hatte Mühe, gegen den Schlaf anzukämpfen.

Jason beobachtete sie mit besorgter Anteilnahme. »Wir sollten mit dem Essen beginnen.«

Sie begaben sich in das große Eßzimmer mit Eichenpaneelen, reizvollen Antiquitäten und Porträts an den Wänden. Ein Haus-mädchen trug auf.

»Das Bild dort oben«, erklärte Mr. Curtis, »ist Jasons Urgroßvater. Kein einziger seiner Bauten hat das Erdbeben von 1906 überstanden. Wirklich ein Jammer. Sie waren von unschätzbarem Wert. Nach dem Essen werde ich Ihnen einige Fotos zeigen, falls Sie.«

Paiges Kopf war auf den Tisch gesunken. Sie schlief.

»Ich bin nur froh, daß ich keine Suppe serviert habe«, meinte Jasons Mutter.

Ken Mallory hatte ein Problem. Die Geschichte von seiner Wette hatte sich im Krankenhaus herumgesprochen, und der Einsatz war inzwischen auf zehntausend Dollar gestiegen. Mallory hatte sich darauf eingelassen, im sicheren Gefühl, bei Kat die besten Chancen zu haben. Aber, falls er doch verlieren sollte, säße er bös in der Tinte - die Summe überstieg seine finanziellen Mittel bei weitem.

Wenn ich's nicht schaffe, sitze ich im Schlamassel, dachte er. Aber ich werde es bestimmt schaffen. Es wird Zeit, daß der Meister sich an die Arbeit macht.

Kat aß gerade mit Paige und Honey zu Mittag, als Mallory sich ihrem Tisch näherte.

»Darf ich den Ärztinnen Gesellschaft leisten?«

Nicht etwa Damen, auch nicht Mädchen, nein, Arztinnen. Der einfühlsame Typ, dachte Kat zynisch und sagte: »Natürlich. Nehmen Sie doch Platz.«

Paige und Honey wechselten einen Blick.

»Herrje, ich muß mich sputen«, sagte Paige.

»Ich mich auch«, rief Honey. »Also bis später.«

Mallory schaute Paige und Honey nach.

»Arbeitsreicher Morgen gewesen?« fragte Mallory in einem Ton, als ob es ihn wirklich interessieren würde.

»Ist das nicht jeder Morgen?« gab Kat mit einem freundlichen, einladenden Lächeln zurück.

Mallory hatte sein strategisches Vorgehen sorgfältig geplant. Ich

werde ihr zu verstehen geben, daß sie mich menschlich interessiert - nicht bloß als Frau. Sie hassen es, wenn man ihnen das Gefühl gibt, ein pures Sexobjekt für einen zu sein. Du mußt mit ihr über medizinische Dinge diskutieren. Ich werd's langsam angehen lassen, ohne Krampf. Ich hab' ja einen ganzen Monat Zeit, um sie aufs Kreuz zu legen.

»Haben Sie das von der Autopsie an Mrs. Turnbull gehört?« fing Mallory an. »Die Frau hatte eine Colaflasche im Magen! Können Sie sich vorstellen, wie.«

Kat beugte sich über den Tisch. »Haben Sie Samstag abend was vor, Ken?«

Die Frage traf Mallory gänzlich unvorbereitet. »Was?«

»Ich hatte mir gedacht, daß Sie mich vielleicht zum Essen einladen könnten.«

Beinahe wäre er errötet. Mein Gott! dachte er. Haben die Kerls einen Quatsch über sie erzählt! Diese Frau ist doch keine Lesbe! Die Kerls haben ihr das bloß angehängt, weil sie kein Glück bei ihr hatten. Also, ich komm' an sie heran. Mann, sie fordert mich ja gerade auf! Er versuchte sich zu erinnern, mit wem er für Samstag abend verabredet war. Mit Sally, der kleinen Schwester im OP. Die kann warten.

»Ich hab' nichts Wichtiges vor«, erwiderte Mallory. »Ich würde Sie nur zu gern zum Essen einladen.«

Kat legte ihre Hand auf die seine. »Großartig!« sagte sie. »Ich freu' mich riesig.«

Er grinste sie an. »Ich mich auch.« Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich mich freue. Zehntausend Dollar!

Kat erstattete Paige und Honey noch am gleichen Nachmittag Bericht.

»Dem ist fast der Mund offengeblieben!« Kat lachte. »Das Gesicht hättet ihr sehen sollen - wie der Kater, der den Wellensittich verschluckt hat - so sah er aus.«

»Vergiß nicht«, warnte Paige, »du bist der Kater. Der Wellensittich ist er.«

»Und wo geht ihr Samstag abend essen?« fragte Honey.

»Irgendwelche Vorschläge?«

»In der Tat«, antwortete Paige. »Ich hab' schon einen Plan für den Abend gemacht.«

Kat und Mallory aßen am Samstag abend bei Emilio, einem Restaurant an der Bucht. Sie hatte sich für ihn extra schick gemacht und trug ein weißes, schulterfreies Baumwollkleid.

»Umwerfend sehen Sie aus«, kommentierte Mallory, wobei er darauf achtete, genau den richtigen Ton zu treffen. Aufmerksam, aber nicht drängend. Bloß nicht mit der Tür ins Haus fallen. Mallory hatte beschlossen, ganz auf liebenswürdig charmant zu machen, das war jedoch gar nicht nötig. Wie er bald feststellen konnte, tat Kat ihrerseits alles, um ihn zu becircen.

Beim Aperitif ließ sie die Bemerkung fallen: »Ich höre von allen Seiten, was Sie für ein guter Arzt sind, Ken.«

»Nun ja«, entgegnete Mallory bescheiden, »ich habe eine gute Ausbildung genossen, und mir liegt natürlich viel an meinen Patienten. Sie sind mir sehr wichtig.« Er sagte das in einem Ton, der Aufrichtigkeit ausstrahlte.

Kat legte ihm die Hand auf den Arm. »Davon bin ich überzeugt. Wo kommen Sie her? Ich möchte alles über Sie wissen. Über den echten Ken Mallory.«

Himmelnocheins! dachte Mallory. Genau die gleiche Taktik, die ich mir für sie überlegt hatte. Er konnte es kaum fassen, wie spielend leicht ihm hier alles zufiel. Aber da gab es keinen Zweifel; was Frauen anging, da war er Fachmann. Sein Radar kannte all ihre Signale; sie konnten mit einem Blick ja sagen, durch ein gewisses Lächeln oder auch durch den Tonfall der Stimme. Kats Signale waren absolut klar und unmißverständlich.

Sie rückte näher. Ihre Stimme wurde rauchig. »Ich will alles über Sie wissen.«

Er redete während des Essens nur von sich selbst; wenn er das Thema wechseln und das Gespräch auf Kat lenken wollte, sagte sie jedesmal: »Nein, nein, ich will mehr hören. Ihr Leben ist ja so faszinierend!«

Sie ist absolut verrückt nach mir, folgerte Mallory und bedauerte plötzlich, nicht noch mehr Wetten angenommen zu haben. Vielleicht schaff ich's sogar schon heut nacht, dachte er und war sich dessen dann auf einmal ganz sicher, als Kat ihn beim Kaffee fragte: »Möchten Sie noch auf einen letzten Drink zu mir in die Wohnung kommen?«

Volltreffer! Mallory tätschelte ihren Arm. »Nichts lieber als das.« Die Kerls müssen ja alle blöd gewesen sein, überlegte er. So ein geiles Weib hab' ich überhaupt noch nie erlebt. Er hatte den Eindruck, daß sie ihn im nächsten Augenblick vergewaltigen würde.

Eine halbe Stunde später betraten sie Kats Wohnung.

»Sehr schön.« Mallory schaute sich um. »Wirklich schön. Und Sie wohnen hier ganz für sich allein?«

»Nein. Ich teile die Wohnung mit den Kolleginnen Taylor und Taft.«

»Ach so.« Ein Ton des Bedauerns war nicht zu überhören.

Kat schenkte ihm ein verführerisches Lächeln. »Die beiden werden heute aber erst sehr spät nach Hause kommen.«

Mallorys Gesicht hellte sich wieder auf. »Prima.«

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Unbedingt.« Er folgte Kat mit den Blicken. Kat ging zur kleinen Bar und mixte zwei Cocktails. Hat die einen Busen! dachte Mallory. Sieht überhaupt hübsch aus. Und ich krieg' obendrein noch zehntausend

Dollar, wenn ich sie flachlege. Er lachte laut auf.

Kat drehte sich um. »Was ist denn so lustig?«

»Nichts. Ich mußte nur dran denken, was ich für ein Glück habe, hier mit Ihnen allein zu sein.«

»Das Glück ist ganz meinerseits«, erklärte sie freundlich und reichte ihm seinen Drink.

Mallory hob das Glas. »Auf.«

Aber Kat war schneller. »Auf uns!« sagte sie rasch.

Er nickte ihr zu. »Darauf stoße ich mit an!«

Er wollte sagen: »Wie wär's mit ein bißchen Musik« und öffnete schon den Mund, als Kat fragte: »Möchten Sie vielleicht ein wenig Musik hören?«

»Sie können ja Gedanken lesen.«

Kat legte eine alte Cole-Porter-Platte auf, schaute verstohlen auf die Armbanduhr, wandte sich Mallory zu und fragte: »Tanzen Sie gern?«

Mallory kam näher. »Das hängt ganz davon ab, mit wem ich tanze. Mit Ihnen würd' ich bestimmt gern tanzen.«

Kat begab sich in seine Arme. Sie begannen, sich zu der träumerisch langsamen Musik zu bewegen. Kat schmiegte sich an ihn, ganz eng, er spürte ihren Körper, er spürte die Erregung, die seinen eigenen Körper erfaßte, er drückte sie fester an sich, er sah das Lächeln, das sich über ihr Gesicht breitete.

Das ist der Zeitpunkt zum Abschuß.

»Du bist richtig lieb, weißt du«, raunte Mallory heiser. »Ich hab' dich vom ersten Augenblick an begehrt.«

Kat sah ihm in die Augen. »Mir ist's mit dir genauso ergangen, Ken.« Seine Lippen suchten ihre Lippen. Er küßte sie lang und leidenschaftlich.

»Komm ins Schlafzimmer!« Mallory wurde auf einmal drängend.

»Oh, ja!«

Er nahm sie beim Arm. Sie führte ihn zum Schlafzimmer. Und genau in diesem Moment öffnete sich die Wohnungstür. Paige und Honey waren zurück.

»Hallo!« rief Paige fröhlich und trat ein. Da bemerkte sie plötzlich Ken Mallory. Sie blieb erstaunt stehen. »Dr. Mallory! Sie habe ich hier nicht erwartet.«

»Also, ich ... ich .«

»Wir waren zusammen aus, essen«, erklärte Kat.

In Mallory stieg eine kalte Wut empor. Er hatte Mühe, sie zu unterdrücken. »Ich sollte jetzt wohl besser gehen.« Er sprach mit Kat. »Es ist spät geworden, und ich habe einen anstrengenden Tag vor mir.«

»Oh. Das tut mir aber leid, daß du schon gehen mußt«, sagte Kat mit einem Blick, der ihm alles versprach.

»Wie wär's mit morgen abend?« schlug Mallory vor.

»Ich würde gerne.«

»Großartig!«

».aber morgen kann ich nicht.«

»Oh. Na gut und Freitag?«

Kat machte ein finsteres Gesicht. »Oje. Freitag geht leider auch nicht.«

Mallory wirkte schon fast verzweifelt. »Samstag?«

Kat strahlte. »Samstag würde mir passen.«

Er nickte erleichtert. »Gut. Dann also Samstag.«

Er wandte sich kurz an Paige und Honey. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Kat begleitete Mallory zur Haustür. »Träume süß«, flüsterte sie zärtlich. »Ich träum' ganz bestimmt von dir.«

Mallory drückte ihr die Hand. »Ich bin immer dafür, Träume wahrzumachen. Der Samstag wird uns für heute abend entschädigen.«

»Ich kann's gar nicht erwarten.«

In dieser Nacht lag Kat lange wach und dachte an Mallory. Sie haßte den Kerl. Und doch, zu ihrer eigenen Überraschung, hatte ihr der Abend mit ihm gefallen, und sie war überzeugt, daß er auch Mallory gefallen hatte, selbst wenn es für ihn nur ein Spiel war. Und sie dachte: Wenn's doch bloß echt wäre und nicht nur ein Spiel. Wie gefährlich dieses Spiel war, konnte sie nicht ahnen.

17. Kapitel

Vielleicht ist es das Wetter, dachte Paige müde. Draußen war es kalt und trüb; der graue, peitschende Regen drückte auf die Stimmung. Für sie hatte der Tag früh um sechs angefangen und pausenlos Probleme gebracht. Es schien im Krankenhaus nur mehr nörglerische Patienten zu geben, die sich alle zur gleichen Zeit beschwerten. Die Schwestern waren mißmutig und achtlos, nahmen den falschen Patienten Blut ab, verschlampten Röntgenbilder, die dringend benötigt wurden, und schnauzten die Patienten an. Um dem allem die Krone aufzusetzen, herrschte wegen einer Grippeepidemie auch noch Personalmangel. So ein Tag war das.

Einen einzigen Lichtblick hatte es gegeben - den Anruf von Jason Curtis.

»Hallo, hallo«, rief er munter. »Hab' nur gedacht, ich melde mich mal, um zu fragen, wie's unseren Patienten denn so geht.«

»Sie überleben.«

»Irgendeine Chance, daß wir zusammen zu Mittag essen könnten?«

Da mußte Paige lachen. »Mittagessen - was ist das? Mit ein biß-chen Glück schaff ich's gerade noch, daß ich mir nachmittags um vier ein vertrocknetes Sandwich schnappe. Momentan ist es hier ziemlich hektisch.«

»Schon gut. Ich will Sie ja nicht von der Arbeit abhalten. Darf ich trotzdem wieder anrufen?«

»Okay.« Hat ja nichts zu bedeuten.

»Adieu.«

Paige arbeitete ohne Unterbrechung durch, bis Mitternacht, und war dann, als sie endlich abgelöst wurde, fast zu erschöpft, um nach Hause zu gehen. Sie überlegte kurz, ob sie vielleicht auf dem Feldbett im Bereitschaftsraum übernachten sollte, doch der Gedanke an das warme, gemütliche Bett daheim war schließlich zu verlockend.

»Mein Gott!« sagte Dr. Peterson, der ihr entgegenkam. »Wer hat denn Sie aus der Höhle geschleift?«

Paige lächelte müde. »Sehe ich so furchtbar aus?«

»Noch viel schlimmer.« Peterson grinste. »Sie gehen heim?«

Paige nickte.

»Sie haben's gut. Mein Dienst fängt erst an.«

Der Fahrstuhl traf ein. Paige war im Flur bereits halb eingeschlafen.

»Paige!« rief Peterson leise.

Sie schüttelte sich, um wach zu werden. »Ja?«

»Können Sie überhaupt noch fahren?«

»Klar«, murmelte Paige. »Und wenn ich zu Hause bin, werde ich die nächsten vierundzwanzig Stunden durchschlafen.«

Sie ging auf den Parkplatz und stieg ins Auto. Sie war so müde, daß sie völlig ausgelaugt dasaß und nicht einmal in der Lage war, den Zündschlüssel umzudrehen. Ich darf jetzt nicht einschlafen. Ich will zu Hause schlafen.

Sie fuhr vom Parkplatz herunter und Richtung Wohnung, ohne zu merken, wie regelwidrig und leichtsinnig sie fuhr, bis ein anderer Fahrer sie anbrüllte: »He, mach, daß du von der Straße runterkommst, du besoffene Schlampe!«

Sie zwang sich zur Konzentration. Ich darf nicht einschlafen... Ich darf nicht einschlafen. Sie stellte das Radio an und drehte auf volle Lautstärke. Vor dem Wohnblock blieb sie dann eine Weile im Wagen sitzen, bis sie genügend Kraft aufbrachte, um nach oben zu gehen.

Kat und Honey schliefen tief und fest. Paige sah auf die Uhr neben dem Bett. Ein Uhr morgens. Sie taumelte ins eigene Schlafzimmer und wollte sich noch entkleiden, aber dazu reichte die Kraft nicht mehr. Sie fiel angezogen aufs Bett und schlief sofort ein.

Es war das schrille Läuten eines Telefons, das von einem fernen Planeten herüberzudringen schien, das sie weckte. Paige kämpfte gegen den Lärm an, wollte weiterschlafen, aber das Schrillen arbeitete sich wie ein Bohrer in ihr Gehirn. Sie war völlig fertig, als sie sich im Bett aufsetzte und nach dem Hörer griff. »H'lo?«

»Dr. Taylor?«

»Am Apparat.« Ihre Stimme klang heiser und rauh.

»Dr. Barker braucht Sie als Assistenz im OP 4. Stat.«

Paige räusperte sich. »Da muß ein Irrtum vorliegen«, sagte sie ganz langsam. »Ich komme gerade vom Dienst.«

»OP 4. Dr. Barker erwartet Sie.« Und schon war die Leitung tot.

Paige saß benommen auf dem Bettrand. Ihr Bewußtsein war schlafumwölkt. Sie schaute zur Uhr auf dem Nachttisch. Viertel nach vier. Warum forderte Dr. Barker sie eigentlich mitten in der Nacht an? Auf die Frage konnte es nur eine einzige Antwort geben. Einem ihrer Patienten mußte etwas zugestoßen sein.

Paige torkelte ins Badezimmer. Sie klatschte sich Wasser ins Gesicht. Sie warf einen Blick in den Spiegel und dachte: O mein Gott! Ich seh' ja aus wie meine Mutter. Nein. So gräßlich hat meine Mutter nie

ausgesehn.

Zehn Minuten später war Paige wieder zum Krankenhaus unterwegs. Als sie mit dem Lift in den vierten Stock fuhr, war sie immer noch nicht richtig wach. Sie lief zum Umkleideraum, zog sich um, wusch sich für die Operation und betrat den OP-Saal.

Dort befanden sich außer Dr. Barker drei Schwestern und ein Assistent.

Dr. Barker sah Paige eintreten und bellte: »Herrje, Sie haben ja einen Krankenhauskittel an. Sind Sie nie darüber aufgeklärt worden, daß Sie im Operationssaal ein OP-Gewand tragen müssen?«

Paige, wie vom Blitz getroffen, blieb stehen. Sie war auf einmal hellwach. Ihre Augen funkelten. »Jetzt hören Sie mir mal zu«, legte sie empört los. »Erstens habe ich überhaupt keinen Dienst. Zweitens bin ich überhaupt nur Ihnen zu Gefallen gekommen. Ich werde nicht.«

»Keine Widerrede!« unterbrach Dr. Barker sie scharf. »Kommen Sie! Halten Sie mir den Wundhaken!«

Paige trat an den Operationstisch und blickte nach unten. Der Mann dort war gar nicht ihr Patient. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Barker hatte keinen Grund, mich zu holen. Er macht das alles nur, um mich aus diesem Krankenhaus wegzuekeln. Aber, verflixt noch mal, ich lasse mich nicht rausekeln. Sie warf ihm einen giftigen Blick zu, nahm den Wundhaken und machte sich an die Arbeit.

Es handelte sich um eine Bypass-Operation - die Überbrückung eines kranken Abschnitts der Koronararterie durch Einpflanzung eines Venenstücks. Der Einschnitt zum Brustbein, das mit einer elektrischen Säge geteilt worden war, war bereits vollzogen. Der Herzbeutel und die Hauptblutgefäße waren freigelegt.

Paige führte den Wundhaken ein und zwang die Ränder auseinander. Sie beobachtete, wie Dr. Barker äußerst geschickt den Herzbeutel öffnete und das Herz freilegte.

Er deutete auf die Koronararterien. »Da liegt das Problem«, erläu-terte er. »Wir werden jetzt die Transplantation vornehmen.«

Er hatte einem Bein bereits einen längeren Venenstreifen entnommen, von dem er nun das eine Ende in die Hauptarterie einnähte, die aus dem Herzen führte. Das andere Ende befestigte er an einer der Koronararterien hinter der schadhaften Zone. Die verstopfte Stelle war umgangen worden, das Blut floß ungehindert durch das eingepflanzte Venenstück.

Es war eine Meisterleistung, der Paige da beiwohnte. Wenn er doch nur nicht so ein Mistkerl wäre!

Die Operation nahm drei Stunden in Anspruch. Am Ende war Paige nur mehr halbwach. Als der Einschnitt wieder verschlossen worden war, wandte Dr. Barker sich mit Worten des Dankes an die Mitarbeiter. Paige würdigte er dabei keines Blickes.

Sie schwankte wortlos aus dem OP-Saal und begab sich direkt zum Büro von Dr. Benjamin Wallace.

Wallace war gerade erst eingetroffen. »Sie wirken erschöpft«, stellte er fest. »Sie sollten sich ein wenig Ruhe gönnen.«

Paige atmete einmal tief durch, um nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren, bevor sie hervorstieß: »Ich möchte zu einem anderen Chirurgenteam versetzt werden.«

Wallace betrachtete sie. »Sie sind Dr. Barker zugeteilt, nicht wahr?«

»Korrekt.«

»Wo liegt das Problem?«

»Das sollten Sie ihn fragen. Er kann mich nicht leiden. Er wird froh sein, wenn er mich loswird. Ich bin zur Zusammenarbeit mit jedem andern Kollegen bereit - mit jedem.«

»Ich werde mit ihm reden«, versprach Wallace.

»Danke.«

Paige drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Büro. Sie sollten mich wirklich aus seiner Nähe entfernen. Wenn ich ihn noch einmal sehe, bring' ich ihn um.

Paige fuhr nach Hause. Sie schlief zwölf Stunden lang durch und wachte auf mit dem Gefühl, daß etwas Wunderbares geschehen war. Dann fiel es ihr wieder ein. Ich muß das Biest nicht mehr sehen! Auf der Fahrt zum Krankenhaus pfiff sie fröhlich vor sich hin.

Auf dem Flur kam ihr ein Pfleger entgegen. »Dr. Taylor.«

»Ja?«

»Dr. Wallace möchte Sie gern in seinem Büro sprechen.«

»Danke«, sagte Paige und überlegte, wer ihr neuer Chefarzt wohl sein könnte, dachte: Er kann jedenfalls nur angenehmer als Dr. Barker sein, und trat bei Benjamin Wallace ein.

»Nun, Paige, heute sehen Sie schon viel besser aus.«

»Danke. Ich fühle mich auch viel besser.« Und das entsprach voll und ganz der Wahrheit. Sie spürte ein Gefühl unendlicher Erleichterung.

»Ich habe mit Dr. Barker gesprochen.«

Paige lächelte ihm freundlich zu. »Vielen Dank. Ich weiß es zu schätzen.«

»Er will Sie nicht gehen lassen.«

Ihr Lächeln erlosch. Was!?

»Er hat mir kategorisch erklärt: >Sie ist meinem Team zugewiesen worden, und jetzt bleibt sie da.<«

Paige wollte es nicht glauben. »Aber warum?« Doch sie wußte den Grund. Dieses sadistische Biest brauchte eine Frau, ein >Prügelmäd-chen<, jemanden, den er demütigen könnte. »Das akzeptiere ich nicht.«

»Tut mir leid, aber Sie haben keine andere Wahl«, stellte Dr. Wal-lace betrübt fest. »Außer Sie wollen das Krankenhaus verlassen. Wollen Sie es überdenken?«

Darüber mußte Paige jedoch gar nicht erst nachdenken. »Nein.« Aus dem Krankenhaus würde sie sich von Dr. Barker nicht drängen lassen - den Gefallen wollte sie ihm wirklich nicht tun! »Nein«, wiederholte sie. »Ich bleibe hier.«

»Gut. Dann wäre das Problem ja gelöst.«

Ganz und gar nicht! Und Paige schwor sich: Ich werde eine Möglichkeit finden, um ihm das heimzuzahlen.

Im Ärzteumkleideraum machte Ken Mallory sich eben für die Visite fertig, als Dr. Grundy mit drei Kollegen eintrat.

»Da ist unser Mann ja!« rief Grundy. »Wie kommen Sie voran, Ken?«

»Gut«, erwiderte Mallory.

Grundy wandte sich an die Kollegen. »Er macht aber nicht den Eindruck, als ob er gerade vernascht worden wäre, oder?« Und wieder an Mallory gewandt: »Ich hoffe, Sie haben das Geld bereitgelegt. Ich will mir nämlich ein kleines Auto kaufen.«

»Und ich mir eine neue Garderobe«, warf ein anderer ein.

Mallory schüttelte mitleidsvoll den Kopf. »Darauf würde ich an Ihrer Stelle nicht bauen, ihr Anfänger. Ihr solltet euch darauf einstellen, daß ihr mir zahlen müßt.«

Grundy musterte ihn argwöhnisch. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Wenn die Frau eine Lesbe ist, bin ich ein Eunuch. Sie ist das geilste Stück, das mir je untergekommen ist. Ich habe sie neulich abend fast bremsen müssen!«

Die Männer tauschten besorgte Blicke.

»Aber ins Bett haben Sie sie nicht gekriegt?«

»Das lag wirklich nur daran, meine Freunde, daß wir auf dem Weg ins Schlafzimmer gestört worden sind. Ich bin für Samstag abend wieder mit ihr verabredet, dann wird's passieren.« Mallory war mit dem Ankleiden fertig. »Und wenn die Herren mich jetzt bitte entschuldigen würden ...«

Als Grundy Kat etwa eine Stunde später auf dem Flur begegnete, zeigte er ein böses Gesicht.

»Ich habe Sie gesucht«, sagte er verärgert.

»Stimmt was nicht?«

»Dieser Mistkerl Mallory - der ist sich seiner Sache inzwischen so sicher, daß er angeboten hat, weitere Wetten anzunehmen. Ich kann's einfach nicht glauben!«

»Keine Sorge«, stieß Kat grimmig hervor. »Die Wette verliert er.«

Als Mallory Kat am Samstag abend abholte, trug sie ein Kleid mit tiefem Dekollete, das ihre ohnehin üppigen Formen noch herausstrich.

»Du siehst fantastisch aus«, erklärte er in einem Ton offener Bewunderung.

Sie legte den Arm um ihn. »Für dich will ich doch besonders gut aussehen.« Sie schmiegte sich an ihn.

Mein Gott, wirklich, sie will mich! Und Mallorys Stimme war ganz rauchig geworden, als er sagte: »Hör zu, Kat. Mir kommt plötzlich eine Idee. Warum schlüpfen wir nicht jetzt vor dem Essen rasch ins Schlafzimmer und.«

Sie streichelte sein Gesicht. »Ach, Schatz, wenn's doch nur möglich wäre! Aber Paige ist zu Hause.« In Wirklichkeit hatte Paige im Krankenhaus Dienst.

»Ach so.«

»Aber anschließend, nach dem Essen.« Sie ließ den Vorschlag unausgesprochen in der Luft schweben.

»Ja?«

»Wir könnten doch zu dir.«

Mallory nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuß. »Ein herrlicher Gedanke!«

Er lud sie ein ins Iron Horse, wo sie köstlich dinierten und Kat den Abend trotz allem genoß. Mallory war liebenswürdig und amüsant, und er hatte eine unglaublich erotische Ausstrahlung. Und er schien aufrichtig daran interessiert, alles über sie zu erfahren. Sie wußte natürlich, daß er ihr schmeichelte; andererseits hatte sie aber den Eindruck, daß er die Komplimente, die er ihr machte, ernst meinte.

Wenn ich nicht genau wüßte...

Mallory hatte das Essen kaum angerührt. Ihm ging immer nur ein Gedanke durch den Kopf: In zwei Stunden werde ich zehntausend Dollar gewinnen... In einer Stunde werde ich zehntausend Dollar gewinnen... In dreißig Minuten...

Sie hatten ihren Kaffee ausgetrunken.

»Bist du bereit?« fragte Mallory.

Kat legte ihm die Hand auf den Arm. »Wenn du wüßtest, wie bereit. Komm, gehen wir.«

Sie fuhren mit dem Taxi zu Mallorys Wohnung. »Ich bin absolut verrückt nach dir«, murmelte Mallory. »Eine Frau wie dich hab' ich noch nie erlebt.«

Da klang ihr plötzlich wieder Grundys Stimme im Ohr: Der ist sich seiner Sache inzwischen so sicher, daß er angeboten hat, weitere Wetten anzunehmen.

Sie kamen an, Mallory zahlte für das Taxi und ließ Kat in den Fahrstuhl vorangehen, der, wie es Mallory schien, eine Ewigkeit brauchte. Mallory öffnete die Tür. »Da wären wir«, sagte Mallory voller Ungeduld.

Kat trat ein. Es war eine ganz gewöhnliche Junggesellenwohnung, der man sofort ansah, daß ihr die Hand einer Frau fehlte.

»Wie schön«, hauchte Kat und strahlte Mallory an. »Das bist du!«

Er grinste. »Komm, ich zeige dir unser Zimmer. Ich leg' nur noch rasch ein wenig Musik auf.«

Während er zum CD-Regal ging, schaute Kat kurz auf die Armbanduhr.

Barbara Streisands Stimme erfüllte den Raum.

Mallory nahm Kat bei der Hand. »Komm, Liebling.«

»Einen Augenblick!« bat Kat weich.

Er sah sie überrascht an. »Wozu?«

»Ich möchte diesen Augenblick mit dir genießen, weißt du, bevor wir.«

»Warum genießen wir ihn denn nicht im Schlafzimmer?«

»Ich hätte gern etwas zu trinken.«

»Einen Drink?« Er hatte Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. »Gut. Was hättest du gern?«

»Einen Wodka und Tonic bitte.«

»Das werden wir gerade noch hinkriegen.« Er lächelte, ging hinüber zur kleinen Bar und mixte eilig zwei Drinks.

Kat warf noch einmal rasch einen Blick auf die Armbanduhr.

Mallory kam mit den Gläsern zurück; eins reichte er Kat. »Auf dich, Baby.« Er hob sein Glas. »Auf die Zweisamkeit.«

»Auf die Zweisamkeit«, wiederholte Kat und nahm einen Schluck. »O mein Gott!«

Er reagierte nervös. »Was ist los?«

»Das ist ja Wodka!«

»Du hast mich ja auch um Wodka gebeten.«

»Hab' ich das? Verzeih. Aber ich hasse Wodka!« Sie streichelte seine Wange. »Könnte ich bitte einen Scotch mit Soda haben?«

»Natürlich.« Er schluckte seinen Ärger hinunter und kehrte zur Bar zurück, um einen neuen Drink zu mixen.

Kat blickte wieder auf die Armbanduhr.

Ken Mallory kam zurück. »Hier, bitte sehr.«

»Dank dir, Liebling.«

Sie trank zwei Schlucke. Mallory nahm ihr das Glas aus der Hand und setzte es auf dem Tisch ab. Er legte beide Arme um Kat und zog sie an sich. Sie konnte seine Erregung spüren.

»Und jetzt«, sagte Ken suggestiv, »wollen wir zusammen Geschichte machen.«

»O ja!« sagte Kat. »Ja!«

Sie ließ sich von ihm ins Schlafzimmer führen.

Ich hab's geschafft! jubilierte Mallory. Ich hab's geschafft! Die Mauern Jerichos fallen! »Zieh dich aus, Baby.«

»Du zuerst, Liebling. Ich möchte sehen, wie du dich ausziehst. Es erregt mich.« »Ach ja? Also gut.«

Während Kat still zuschaute, zog Mallory seine Sachen aus, ganz langsam, zuerst das Jackett, dann Hemd und Krawatte, danach Schuhe und Strümpfe, anschließend die Hose. Er hatte die feste, schlanke Figur eines Sportlers. »Erregt es dich, Baby?« »O ja. Und jetzt zieh die Unterhose aus.« Mallory ließ die Unterhose langsam zu Boden fallen. Er hatte eine volle Erektion. »Wunderbar!« rief Kat. »Jetzt bist du an der Reihe.« »In Ordnung.«

In genau diesem Moment legte Kats Piepser los.

Mallory zuckte zusammen. »Was zum Teufel.«

»Ich werde gerufen«, sagte Kat. »Darf ich dein Telefon benützen?«

»Jetzt?«

»Ja. Es muß ein Notfall sein.«

»Jetzt? Kann das nicht warten?«

»Aber Liebling, du kennst doch die Regeln.«

»Aber.«

Mallory sah sie zum Telefon gehen und wählen. »Hier Dr. Hunter.« Sie horchte. »Wirklich? Selbstverständlich. Ich bin gleich da.« Mallory starrte sie entgeistert an. »Was geht da vor?« »Ich muß sofort ins Krankenhaus, mein Engel.«

»Jetzt?«

»Ja. Ein Patient von mir liegt im Sterben.« »Kann das nicht warten, bis.«

»Tut mir leid. Wir holen's an einem anderen Abend nach.«

Ken Mallory stand splitterfasernackt da und schaute Kat nach, als sie aus der Wohnung ging, und als die Tür hinter ihr ins Schloß fiel, nahm er ihren Drink und schleuderte ihn gegen die Wand. Die Hexe... diese Hexe... die Hexe...

Als Kat in ihre Wohnung zurückkehrte, warteten Paige und Honey bereits aufgeregt auf sie.

»Wie war's?« fragte Paige. »Kam mein Ruf rechtzeitig?«

Kat lachte. »Genau im richtigen Moment.«

Sie begann, ihnen von ihrem Abend zu erzählen. Als sie an dem Punkt angelangt war, als Mallory nackt im Schlafzimmer stand, mit seiner schönen Erektion, lachten sie, bis ihnen die Tränen in die Augen schossen.

Beinahe hätte Kat ihnen erzählt, wie sehr sie das Zusammensein mit Ken Mallory genoß, aber sie kam sich blöd vor. Schließlich traf er sich nur mit ihr, um seine Wette zu gewinnen.

Paige schien irgendwie zu spüren, was in Kat vorging. »Nimm dich vor ihm in acht, Kat.«

Kat lächelte. »Keine Sorge. Aber ich muß zugeben, wenn ich nichts von dieser Wette wüßte... Er ist eine Schlange, aber eine charmante.«

»Wann wirst du ihn wiedersehen?« fragte Honey.

»Ich geb' ihm eine Woche, damit er wieder etwas abkühlt.«

Paige betrachtete sie eingehend. »Soll er sich wieder beruhigen -oder du?«

Kat sah Dinettos schwarze Limousine vor dem Krankenhaus warten. Der Schatten war allein. Kat wünschte sich, daß Rhino dabeigewesen wäre - der Schatten hatte etwas an sich, das sie gewissermaßen versteinerte. Er lächelte nie. Er sprach selten. Er war eine wan-delnde Drohung.

»Einsteigen«, stieß er hervor, als Kat näher kam.

»Hören Sie«, sagte Kat empört, »bestellen Sie Mr. Dinetto, daß ich mich von ihm nicht herumkommandieren lasse. Ich bin nicht bei ihm angestellt. Nur, weil ich ihm mal einen Gefallen getan habe...«

»Steigen Sie ein. Erzählen Sie ihm das selber.«

Kat zauderte. Es wäre für sie leicht genug gewesen, jetzt einfach davonzugehen und sich nicht weiter in die Sache hineinziehen zu lassen - ob das aber nicht Mike schaden würde? Kat stieg ein.

Diesmal war das Opfer böse zusammengeschlagen worden - man hatte ihm mit einer Kette zugesetzt. Lou Dinetto war bei ihm.

Kat brauchte nur einen Blick auf den Patienten zu werfen. »Er muß sofort ins Krankenhaus«, sagte Kat.

»Kat«, sagte Dinetto, »Sie werden ihn hier behandeln müssen.«

»Warum?« wollte Kat wissen. Doch sie kannte die Antwort - und diese Antwort jagte ihr Angst und Schrecken ein.

18. Kapitel

Es war einer von diesen Tagen, an denen in San Francisco ein Zauber in der Luft liegt. Der Nachtwind hatte die Regenwolken vertrieben und der Stadt einen frischen, sonnigen Sonntagmorgen beschert. Jason hatte mit Paige vereinbart, sie von ihrer Wohnung abzuholen. Als er läutete, war Paige selbst überrascht, wie sehr sie das Wiedersehen mit ihm freute.

»Guten Morgen«, sagte Jason zur Begrüßung. »Schön sehen Sie heute aus.«

»Danke für das Kompliment.«

»Und was würden Sie gern unternehmen?«

»Es ist Ihre Heimatstadt«, erwiderte Paige. »Ich folge Ihnen, wohin Sie mich auch führen.«

»Nichts dagegen.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, warf Paige ein, »würde ich nur gern auf einen Sprung beim Krankenhaus vorbeischauen.«

»Ich dachte, Sie hätten heute Ihren freien Tag.«

»Hab' ich auch. Es gibt da aber einen Patienten, der mir Sorgen bereitet.«

»Kein Problem.« Jason fuhr sie zum Krankenhaus.

»Wird nicht lang dauern«, versprach Paige beim Aussteigen.

»Ich warte hier auf Sie.«

Paige fuhr in den dritten Stock und ging zum Zimmer von Jimmy Ford, der nach wie vor im Koma lag und an einem Gewirr von Schläuchen und Röhrchen hing, mit deren Hilfe er künstlich ernährt wurde.

Im Krankenzimmer hielt sich eine Schwester auf, die den Kopf hob, als Paige durch die Tür trat. »Guten Morgen, Doktor.«

»Guten Morgen.« Paige stellte sich neben das Bett des jungen Mannes. »Irgendwelche Veränderungen?«

»Leider nein.«

Paige fühlte Jimmy den Puls und horchte nach seinem Herzschlag.

»So geht das nun schon seit ein paar Wochen«, bemerkte die Schwester. »Sieht nicht gut aus, oder?«

»Er wird durchkommen«, versicherte Paige mit fester Stimme. Sie beugte sich über die bewußtlose Gestalt auf dem Bett und sprach lauter. »Hören Sie mich? Sie werden bestimmt gesund!« Keine Reaktion. Sie schloß die Augen und sprach ein stilles Gebet. »Bei der geringsten Veränderung verständigen Sie mich über Piepser.«

»Jawohl, Doktor.«

Er wird nicht sterben, dachte Paige. Ich werde nicht zulassen, daß er stirbt...

Als Jason Paige kommen sah, stieg er aus. »Alles klar?«

Es gab keinen Anlaß, ihn mit ihren Problemen zu belasten. »Alles klar«, bestätigte sie.

»Dann wollen wir uns heute mal wie waschechte Touristen benehmen«, schlug Jason vor. »In Kalifornien gibt es ein Gesetz, demzufolge alle Besichtigungen am Fisherman's Wharf zu beginnen haben.«

Paige quittierte es mit einem Lächeln. »Gesetze sind dazu da, befolgt zu werden.«

Am Fisherman's Wharf war es wie bei einem Straßenkarneval. Die Künstler - Mimen, Clowns, Tänzer und Musikanten - waren in voller Stärke angetreten. An Imbißbuden wurden in dampfenden Töpfen Krabben und Fischsuppe angeboten, dazu frisches Sauerteigbrot.

»Das gibt es auf der ganzen Welt kein zweites Mal«, erklärte Jason begeistert.

Seine Begeisterung war so rührend, daß Paige, die Fisherman's Wharf und die meisten anderen touristischen Sehenswürdigkeiten San Franciscos natürlich schon kannte, ihm die Freude nicht verderben wollte.

»Sind Sie schon einmal Cable Car gefahren?« wollte Jason wissen.

»Nein.« Jedenfalls nicht seit letzter Woche.

»Dann haben Sie wirklich etwas versäumt. Kommen Sie!«

Sie liefen zur Powell Street, bestiegen einen Wagen, und nach Fahrtbeginn erklärte Jason: »Die Straßenbahn ist 1873 von Halliday erbaut worden und hieß damals im Volksmund Halliday's Folly.«

»Bestimmt hat man ihr ein frühzeitiges Ende prophezeit.«

Jason lachte. »Genau. In meiner Highschoolzeit bin ich übrigens an Wochenenden Touristenführer gewesen.«

»Das haben Sie bestimmt gut gemacht.«

»Ich war natürlich der Beste. Wollen Sie ein bißchen was von meinem Blabla hören?«

»Schrecklich gern.«

Jason ahmte die nasale Stimme eines typischen Touristenführers nach. »Meine Damen und Herren, zu Ihrer Information - die älteste Straße San Franciscos ist Grant Avenue, die längste - siebeneinhalb Meilen -, ist Mission Street, die breiteste ist Van Ness Avenue mit 41 Meter Breite, und es wird Sie überraschen zu erfahren, daß die schmälste, nämlich DeForest Street, nur anderthalb Meter breit ist, jawohl, meine Damen und Herren - anderthalb Meter. Als steilste Straße können wir Ihnen Filbert Street mit einunddreißig-einhalb Grad Steigung anbieten.« Er schaute Paige an und grinste. »Ich bin überrascht, daß ich das alles behalten habe.«

Als sie aus dem Wagen ausstiegen, blickte Paige zu Jason auf und fragte: »Und was jetzt?«

»Jetzt werden wir Kutsche fahren.«

Und bald darauf saßen sie in einer Pferdekutsche, die sie von der Fisherman's Wharf über den Ghirardelli Square nach North Beach brachte. Unterwegs zeigte Jason auf alles, was irgendwie von Interesse war, und Paige war ehrlich erstaunt, wieviel Spaß ihr das alles machte. Laß dich bloß nicht hinreißen.

Sie waren gerade auf den Coit Tower gestiegen und genossen den Ausblick auf die Stadt, als Jason plötzlich fragte: »Haben Sie eigentlich keinen Hunger?«

Die frische Luft hatte Paige allerdings sehr hungrig gemacht.

»Doch.«

»Gut. Dann werde ich Sie jetzt mit einem der besten chinesischen Restaurants der Welt bekannt machen - Tommy Toy's.«

Es war ein Restaurant, von dem Paige die Chefärzte im Kranken-haus schwärmen gehört hatte.

Es wurde ihnen ein wahres Festmahl serviert, das mit Hummer-spießchen mit Ghilisauce und Sauerscharfsuppe mit Meeresfrüchten begann, gefolgt von Hühnerfilet mit Zuckerschotenerbsen und Pekanüssen, Kalbsfilet mit Szechuansauce und gebratenem Reis mit viererlei Gewürzen. Zum Dessert bestellten sie eine Pfirsichmousse. Das Essen war himmlisch.

»Kommen Sie oft her?« fragte Paige.

»So oft wie nur möglich.«

Jason hatte etwas Jungenhaftes an sich, das sehr anziehend auf Paige wirkte.

»Sagen Sie«, meinte Paige, »haben Sie eigentlich immer Architekt werden wollen?«

»Ich hatte gar keine andere Wahl.« Jason grinste spitzbübisch. »Mein erstes Spielzeug waren Bauklötze. Es ist wirklich toll, sich etwas vorzustellen und dann zu erleben, wie ein Traum mit Hilfe von Beton und Stein und Ziegeln Wirklichkeit wird, in den Himmel emporwächst und Teil der Stadt wird, in der man lebt.«

Ich werde ein Taj-Mahal für dich bauen. Es ist mir ganz egal, wie lange ich dafür brauche.

»Ich zähle zu den glücklichen Menschen, Paige, die im Leben tun dürfen, was ihnen Spaß macht. Wie hat doch jemand so schön gesagt: >Die meisten Menschen führen ein Leben voll stiller Verzweiflung.««

Das trifft auf die Mehrzahl meiner Patienten zu, dachte Paige.

»Ich wüßte nicht, was ich sonst machen möchte. Ich kenne auch keine andere Stadt, in der ich leben möchte. San Francisco ist eine herrliche Stadt.« Er sprach überschwenglich. »Die Stadt hat alles, was man sich nur wünschen kann. Ich werde ihrer nie überdrüssig.«

Paige musterte ihn. Ihr gefiel seine Begeisterung. »Und Sie sind nie verheiratet gewesen?«

Jason zuckte mit den Schultern. »Einmal. Wir waren beide zu jung. Hat nicht geklappt.«

»Tut mir leid.«

»Dazu besteht gar kein Anlaß. In zweiter Ehe hat sie einen äußerst wohlhabenden Fleischfabrikanten geheiratet. Und Sie? Sind Sie schon einmal verheiratet gewesen?«

Ich will auch Arzt werden, wenn ich groß bin. Wir werden heiraten und zusammenarbeiten.

Auf einer Hafenrundfahrt fuhren sie unter der Golden Gate und der Bay Bridge durch. Jason nahm wieder seine Touristenführerstimme an. »Und dort, meine Damen und Herren, sehen Sie das befestigte Alcatraz, ehemals Heim der berüchtigtsten Verbrecher der Welt - Machine Gun Kelly, Al Capone und Robert Stroud, bekannt als der Vogelmensch. >Alcatraz< ist ein spanisches Wort und bedeutet >Pelikan<. Es hat ursprünglich >Isla de los Alcatraces< geheißen, nach den Vögeln, damals ihren einzigen Bewohnern. Wissen Sie, warum die Gefangenen dort früher jeden Tag heiß geduscht worden sind?«

»Nein.«

»Damit sie sich nicht an das kalte Wasser in der Bucht gewöhnen konnten, für den Fall, daß sie einen Fluchtversuch unternahmen.«

»Ist das wahr?« wollte Paige wissen.

»Habe ich Sie schon mal angelogen?«

Es war bereits Spätnachmittag, als Jason sie fragte: »Sind Sie schon einmal in Noe Valley gewesen?«

Paige schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ich würde es Ihnen gern zeigen. Ganz früher gab es dort nur Farmen und Flüsse. Heute stehen dort bunte Häuser und Gärten aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Häuser sind sehr alt - es ist praktisch das einzige Gebiet, das vom Erdbeben des Jahres 1906 verschont geblieben ist.«

»Hört sich gut an.«

Jason zögerte. »Ich wohne dort. Möchten Sie mein Haus sehen?« Er spürte Paiges innere Abwehr. »Paige, ich liebe Sie.«

»Aber wir kennen uns doch kaum. Wie könnten Sie denn ...«

»Es war mir klar, von dem Augenblick an, als Sie sagten: >Hat Ihnen etwa niemand gesagt, daß Sie zur Visite einen weißen Kittel tragen müssen?< In dem Augenblick habe ich mich in Sie verliebt.«

»Jason.«

»Ich glaube fest an die Liebe auf den ersten Blick. Mein Großvater hat meine Großmutter zum erstenmal gesehen, als sie mit dem Fahrrad im Park spazierenfuhr, und ist ihr gefolgt - drei Monate später haben sie geheiratet und sind fünfzig Jahre zusammen gewesen, bis zu seinem Tod. Mein Vater hat meine Mutter zum erstenmal beim Überqueren der Straße bemerkt und sofort gewußt, daß sie seine Frau werden würde. Sie sind inzwischen fünfundvierzig Jahre verheiratet. Sie sehen, das liegt bei uns in der Familie. Ich möchte Sie heiraten.«

Es war die Stunde der Wahrheit.

Paige schaute Jason an und dachte: Er ist seit Alfred der erste Mann, zu dem ich mich hingezogen fühle. Er ist bewundernswert und klug und natürlich. Er hat alles, was eine Frau sich von einem Mann nur wünschen kann. Was ist mit mir los? Ich klammere mich an ein Gespenst. Doch tief im Innersten hatte sie immer noch das überwältigende Gefühl, daß Alfred eines Tages zu ihr zurückkommen würde.

Sie schaute Jason an und traf ihren Entschluß.

»Jason.«

In diesem Moment rührte sich Paiges Piepser. Es klang dringend. Ominös.

»Ich muß sofort ein Telefon finden.« Zwei Minuten später war sie mit dem Krankenhaus verbunden.

Jason sah Paige erblassen.

Sie schrie in den Hörer hinein: »Nein! Nie und nimmer! Sagen Sie denen, daß ich sofort komme.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel.

»Worum geht's?« fragte Jason.

Als sie sich zu ihm umdrehte, standen ihre Augen voller Tränen. »Um meinen Patienten Jimmy Ford. Sie wollten ihn vom Beatmungsgerät abtrennen. Sie wollen ihn sterben lassen.«

In Jimmy Fords Zimmer standen neben dem Bett des Bewußtlosen drei Männer: George Englund, Benjamin Wallace und ein Unbekannter.

»Was geht hier vor?« fuhr Paige die drei sofort an.

Die Antwort gab Benjamin Wallace. »Auf der Sitzung des Ethikkomitees hier im Krankenhaus ist heute morgen festgestellt worden, daß Jimmy Fords Zustand hoffnungslos ist. Wir haben beschlossen, ihn...«

»Nein!« rief Paige. »Dazu sind Sie nicht berechtigt. Ich bin seine Ärztin, und ich sage: Er hat noch eine Chance, aus dem Koma aufzuwachen! Wir werden ihn nicht sterben lassen.«

»Das ist nicht Ihre Entscheidung, Frau Doktor«, schaltete sich der Fremde ein.

Paige musterte ihn herausfordernd. »Und wer sind Sie?«

»Sylvester Damone. Der Anwalt der Familie.« Er zog ein Dokument hervor, das er Paige überreichte. »Jimmy Fords Testament, in dem ausdrücklich festgehalten wird, daß er nicht mit mechanischen Hilfsmitteln am Leben gehalten werden soll, falls er ein lebensgefährliches Trauma erleiden sollte.«

»Aber ich habe seinen Zustand genau beobachtet«, flehte Paige.

»Sein Zustand hat sich in den letzten Wochen stabilisiert. Er könnte jeden Moment aus dem Koma erwachen.«

»Können Sie das garantieren?« wollte Damone wissen.

»Nein, aber.«

»Dann werden Sie sich an die Ihnen gegebene Anweisung halten müssen, Frau Doktor.«

Paige blickte auf die Gestalt von Jimmy herab. »Nein! Sie müssen noch etwas länger warten!«

Der Anwalt bemerkte ölig: »Ich bin mir, Frau Doktor, durchaus darüber im klaren, daß es im Interesse des Krankenhauses liegt, einen Patienten so lang wie möglich am Leben zu halten, aber die Familie kann sich die Kosten für die medizinische Versorgung nicht mehr länger leisten. Ich befehle Ihnen hiermit, den Patienten vom Beatmungsgerät abzutrennen.«

»Nur noch ein bis zwei Tage«, bat Paige verzweifelt, »ich bin sicher, daß .«

»Nein«, widersprach Damone bestimmt. »Heute.«

George Englund wandte sich an Paige. »So leid es mir tut - ich fürchte, daß uns keine andere Wahl bleibt.«

»Ich danke Ihnen, Doktor«, sagte der Anwalt. »Ich werde die Sache Ihnen überlassen. Ich werde die Angehörigen benachrichtigen, daß die Angelegenheit unverzüglich erledigt wird, damit sie die Beerdigung vorbereiten können.« Er wandte sich an Benjamin Wal-lace. »Danke für Ihre Kooperation. Guten Tag.«

Ihre Blicke folgten ihm auf dem Weg nach draußen.

»Das dürfen wir Jimmy nicht antun!« sagte Paige.

Dr. Wallace räusperte sich. »Paige.«

»Und wenn wir ihn von hier wegschaffen und in einem anderen Zimmer verstecken würden? Es muß doch etwas geben, woran wir noch nicht gedacht haben. Etwas.«

Benjamin Wallace erklärte: »Es handelt sich nicht um eine Bitte. Es ist ein Befehl.« Er sah George Englund an. »Wollen Sie.«

»Nein!« rief Paige. »Ich. ich werde es selber tun.«

»Also gut.«

»Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich gern mit ihm allein sein.«

George Englund drückte ihren Arm. »Tut mir leid, Paige.«

»Ich weiß.«

Die beiden Männer verließen den Raum.

Sie war mit dem bewußtlosen Jungen allein. Sie betrachtete das Beatmungsgerät, das ihn am Leben hielt, und die intravenösen Schläuche, über die sein Körper ernährt wurde. Es wäre im Grunde ein leichtes, das Gerät abzuschalten, ein Lebenslicht auszublasen. Aber er hatte so viele wunderbare Träume gehabt und so große Hoffnungen.

Eines Tages werde ich auch Arzt. Ich möchte so werden wie Sie.

Haben Sie schon gewußt, daß ich heiraten werde?... Betsy heißt sie.. Wir wünschen uns ein halbes Dutzend Kinder. Das erste Mädchen werden wir Paige nennen.

Er hatte so viel, für das sich zu leben lohnte.

Paige stand still vor ihm. Tränen trübten ihren Blick.

»Verdammt«, schimpfte sie laut. »Du bist ein Drückeberger!« Sie schluchzte. »Was ist aus deinen Träumen geworden? Ich hatte gedacht, du willst Arzt werden! Antworte mir! Hörst du mich? Mach die Augen auf.« Sie blickte auf die bleiche Gestalt. Keine Reaktion. »Es tut mir leid«, sagte Paige. »Verzeih mir.« Und sie beugte sich über ihn, um ihm die Wange zu küssen, und als sie sich ganz langsam wieder aufrichtete, blickte sie in seine geöffneten Augen.

»Jimmy! Jimmy!«

Er blinzelte und schloß die Augen wieder. Paige drückte ihm die Hand. Sie beugte sich über ihn und stieß unter heftigem Schluchzen die Worte hervor: »Jimmy, hast du den schon gehört vom Patienten, der künstlich ernährt wird? Er bittet den Arzt um eine zweite Flasche. Er erwartet einen Gast zum Mittagessen.«

19. Kapitel

So glücklich war Honey in ihrem Leben noch nie gewesen. Sie hatte zu den Patienten eine so persönliche Beziehung, wie das nur bei ganz wenigen Ärzten der Fall war; die Patienten lagen ihr wirklich sehr am Herzen. Sie arbeitete in der Geriatrie, in der Pädiatrie und einigen anderen Stationen, wobei Dr. Wallace fürsorglich darauf achtete, daß ihr nur harmlose Aufgaben übertragen wurden. Er tat alles, damit sie am Krankenhaus bleiben und ihm weiterhin zur Verfügung stehen konnte.

Honey beneidete die Krankenschwestern, die ihre Patienten pflegen durften, ohne sich um größere medizinische Entscheidungen sorgen zu müssen. Ich wollte ja gar nicht Arztin werden, dachte Honey, ich hob' immer nur davon geträumt, Krankenschwester zu sein. Aber eine Taft wird ja nicht Krankenschwester.

Wenn Honey nachmittags das Krankenhaus verließ, ging sie gern einkaufen, etwa in der Bay Company oder beim Musikgeschäft Streetlight Records, um Geschenke für die Kinder in der Pädiatrie zu besorgen.

»Ich hab' Kinder gern«, erklärte sie Kat. »Möchtest du selbst mal viele Kinder haben?«

»Irgendwann schon«, antwortete Honey melancholisch. »Erst muß ich aber mal einen Vater für sie finden.«

Einer von Honeys Lieblingspatienten in der geriatrischen Abteilung war Daniel McGuire, ein fröhlicher, alter Mensch über Neunzig

mit einem Leberleiden, der in seinen jungen Jahren Glücksspieler gewesen war und gern mit Honey wettete.

»Ich wette fünfzig Cents, daß der Pfleger sich mit meinem Frühstück verspätet.«

»Ich wette einen Dollar, daß es heut nachmittag regnet.«

»Ich wette, daß die Giants das Spiel gewinnen werden.«

Honey nahm jede Wette an.

»Ich wette zehn zu eins, daß ich diese Geschichte überstehe.«

»Diesmal wette ich nicht mit Ihnen«, erklärte ihm Honey. »Ich stehe auf Ihrer Seite.«

Er nahm ihre Hand. »Weiß ich ja.« Er grinste. »Und wenn ich ein paar Monate jünger wäre.«

Honey lachte. »Keine Sorge. Ich mag ältere Männer.«

Als eines Morgens für ihn ein Brief im Krankenhaus eintraf, brachte Honey ihn auf sein Zimmer.

»Lesen Sie ihn mir vor, ja?« Seine Sehkraft hatte nachgelassen.

»Natürlich«, sagte Honey, öffnete den Umschlag, warf einen Blick auf das Schreiben und stieß einen Jubelruf aus. »Sie haben in der Lotterie gewonnen! Fünfzigtausend Dollar! Herzlichen Glückwunsch!«

»Was sagen Sie nun?« rief er. »Ich hab's ja gewußt, daß ich einmal das große Los ziehen würde! Geben Sie mir einen Kuß!«

Honey beugte sich über ihn und zog ihn an sich.

»Wissen Sie was, Honey? Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt.«

Als Honey ihn am Nachmittag wieder besuchen kam, war er friedlich entschlafen.

Honey saß im Aufenthaltsraum der Ärzte, als Dr. Stevens hereinkam und laut fragte: »Ist einer von Ihnen Jungfrau?«

Ein Kollege lachte anzüglich. »Noch Jungfrau? Ich glaube kaum, daß Sie hier jemanden finden, der noch Jungfrau ist.«

»Das Sternzeichen«, erklärte Stephens ungeduldig. »Ich brauche eine Jungfrau.«

»Ich bin Jungfrau«, antwortete Honey. »Was ist los?«

Er ging zu ihr. »Eine verdammte Irre ist los. Sie will keinen an sich heranlassen, der nicht im Zeichen der Jungfrau geboren wurde.«

Honey erhob sich. »Ich geh' zu ihr.«

»Danke. Die Patientin heißt Frances Gordon.«

Frances Gordon hatte gerade eine neue Hüfte bekommen. Sie hob den Blick, als Honey das Zimmer betrat, und sagte ihr prompt auf den Kopf zu:

»Sie sind eine Jungfrau. Geboren in der ersten Dekade, stimmt's?«

»Richtig«, antwortete Honey schmunzelnd.

»All diese Wassermänner und Löwen hier - ahnungslos, völlig unbrauchbar. Die behandeln uns so, als ob wir Hackfleisch wären.«

»Wir haben in diesem Krankenhaus gute Ärzte«, widersprach Honey. »Sie.«

»Ha! Die meisten sind doch nur wegen des Geldes Arzt geworden.« Sie schaute Honey prüfend an. »Aber auf Sie trifft das nicht zu. Sie sind anders.«

Honey überflog das Krankenblatt am Fußende des Bettes. Ihr Gesicht verriet Erstaunen.

»Was ist los? Was sehen Sie sich da an?«

Honey machte große Augen. »Hier steht, unter Beruf, daß Sie. Medium sind.«

Frances Gordon nickte. »Das stimmt. Glauben Sie etwa nicht an Parapsychologie?«

»Tut mir leid.« Honey schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wie schade. Kommen Sie, setzen Sie sich einen Moment zu mir.«

Honey nahm auf dem Stuhl neben dem Bett Platz.

»Erlauben Sie - lassen Sie mich bitte einmal Ihre Hand sehen.«

Honey schüttelte den Kopf. »Ich glaube wirklich nicht.«

»Bitte, geben Sie mir Ihre Hand.«

Mit einigem Widerstreben überließ Honey ihr die Hand.

Frances Gordon betrachtete sie eine Weile, schloß für längere Zeit die Augen und stellte anschließend fest: »Sie haben es im Leben nicht leicht gehabt, stimmt's?«

Das trifft doch auf fast alle Menschen zu, dachte Honey geringschätzig. Gleich wird sie mir prophezeien, daß ich eine weite Reise unternehmen werde.

»Sie haben eine Menge Männer benutzt, nicht wahr?«

Honey spürte, wie sie sich plötzlich verkrampfte.

»Sie haben sich verändert - kürzlich erst - hab' ich recht?«

Honey wäre am liebsten davongestürzt. Die Frau machte sie ganz nervös. Sie wollte ihre Hand wegziehen.

»Sie werden sich verlieren.«

»Bedaure«, sagte Honey, »aber jetzt muß ich wirklich.«

»Er ist Künstler.«

»Ich kenne aber keine Künstler.«

»Sie werden einen Künstler kennenlernen.« Frances Gordon ließ Honeys Hand los. »Kommen Sie mich wieder besuchen!« befahl sie.

»Bestimmt.«

Honey ergriff die Flucht.

Unterwegs schaute Honey rasch bei Mrs. Owens vorbei, die neu eingeliefert worden war, eine magere Frau, die wie fünfzig aussah, dem Krankenblatt zufolge jedoch erst achtundzwanzig Jahre alt war. Sie hatte eine gebrochene Nase und zwei blaue Augen; das verweinte Gesicht wies Prellungen auf.

Honey trat zu ihr ans Bett. »Ich bin Dr. Taft.«

Die Frau sah sie aus trüben, ausdruckslosen Augen schweigend an.

»Was ist Ihnen zugestoßen?«

»Ich bin die Treppe runtergefallen.« Beim Sprechen zeigte sich eine Lücke im Mund; zwei Vorderzähne fehlten.

Honey warf einen Blick auf das Krankenblatt der Patientin. »Hier steht, daß Sie sich zwei Rippen und das Becken gebrochen haben.«

»Yeah. Es war ein schlimmer Sturz.«

»Und wie sind Sie an die blauen Augen gekommen?«

»Beim Sturz.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Yeah.«

»Kinder?«

»Zwei.«

»Was ist Ihr Mann von Beruf?«

»Lassen wir meinen Mann aus dem Spiel, okay?«

»Das ist leider überhaupt nicht okay«, sagte Honey. »Hat er Sie zusammengeschlagen?«

»Niemand hat mich zusammengeschlagen.«

»Ich werde die Sache der Polizei melden müssen.«

Da geriet Mrs. Owens auf einmal in Panik. »Nein! Bitte nicht!«

»Warum nicht?«

»Er würde mich umbringen! Sie kennen ihn nicht.«

»Hat er Sie schon öfter geschlagen?«

»Ja. Aber er. es hat gar nichts zu bedeuten. Er trinkt, und dann wird er wütend.«

»Warum haben Sie ihn dann nicht verlassen?«

Mrs. Owens zuckte mit den Schultern. Die Bewegung verursachte ihr Schmerzen. »Wo sollen wir denn hingehen, die Kinder und ich?«

Honey hörte ihr mit wachsendem Zorn zu. »Das müssen Sie sich nicht gefallen lassen, wissen Sie. Es gibt Frauenhäuser und Organi-sationen, die sich um Sie kümmern werden und Sie und die Kinder beschützen.«

Die Frau wurde ganz verzweifelt. »Ich habe aber doch kein Geld. Meine Stellung als Sekretärin habe ich verloren, als er anfing zu.« Ihr versagte die Stimme.

Honey drückte ihr die Hand. »Es wird alles gut. Ich werde sehen, daß für Sie gesorgt wird.«

Als Honey fünf Minuten später zu Dr. Wallace ins Büro kam, war er hocherfreut, sie wiederzusehen. Er fragte sich gespannt, was sie wohl diesmal für ihn mitgebracht hatte. Sie hatte verschiedentlich warmen Honig, heißes Wasser, geschmolzene Schokolade und - sein Lieblingsmittel - Ahornsirup angewendet. Sie war unglaublich erfinderisch.

»Schließ die Tür zu, Baby.«

»Ich kann nicht bleiben, Ben. Ich muß gleich wieder zurück.«

Sie erzählte ihm von ihrer Patientin.

»Du wirst die Polizei verständigen müssen«, meinte Wallace. »Das Gesetz will es so.«

»Aber das Gesetz hat sie schon vorher nicht beschützt. Sieh mal, sie will doch nur von ihrem Mann loskommen, mehr will sie ja gar nicht. Sie hat als Sekretärin gearbeitet. Du hast doch neulich mal erwähnt, daß du eine neue Registratorin brauchst?«

»Also, ja, aber. He, nicht so schnell!«

»Danke schön«, sagte Honey. »Wir bringen diese Frau wieder auf die Beine, wir besorgen ihr eine Wohnung, und sie bekommt eine Anstellung!«

Wallace seufzte. »Ich will sehen, was sich machen läßt.«

»Ich hab' ja gewußt, daß du's tun würdest«, sagte Honey.

Am folgenden Morgen besuchte Honey Mrs. Owens erneut.

»Wie fühlen Sie sich heute?« erkundigte sich Honey.

»Besser, danke. Wann darf ich nach Hause? Mein Mann sieht es nicht gern, wenn.«

»Ihr Mann wird Sie nicht mehr belästigen«, machte Honey ihr mit fester Stimme klar. »Sie bleiben bei uns, bis wir für Sie und die Kinder eine Unterkunft gefunden haben - und wenn Sie sich hinreichend erholt haben, bekommen Sie einen Job im Krankenhaus.«

Mrs. Owens starrte sie ungläubig an. »Ist. Ist das Ihr Ernst?«

»Mein völliger Ernst. Sie werden mit Ihren Kindern eine eigene Wohnung haben. Sie werden den ganzen Schrecken los sein, den Sie bisher haben durchmachen müssen, und Sie werden eine anständige Arbeit bekommen.«

Mrs. Owens griff nach Honeys Hand. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, schluchzte sie. »Sie können ja gar nicht wissen, wie schlimm alles gewesen ist.«

»Ich kann's mir denken«, sagte Honey. »Aber nun wird alles gut.«

Die Frau nickte. Ihr saß ein so großer Kloß im Hals, daß sie nicht sprechen konnte.

Als Honey tags darauf wiederkam, war das Zimmer leer.

»Wo ist denn Mrs. Owens?« fragte Honey.

»Oh«, entgegnete die Schwester, »sie hat das Krankenhaus heute morgen verlassen. Ihr Mann hat sie abgeholt.«

Ihr Name wurde schon wieder über Lautsprecher ausgerufen. »Dr. Taft. Zimmer 215. Dr. Taft. Zimmer 215.«

Auf dem Flur lief sie Kat über den Weg. »Angenehmer Tag heute?« fragte Kat.

»Man würd's fast nicht glauben wollen!« rief Honey.

Auf Zimmer 215 wurde sie von Dr. Ritter erwartet. Auf dem Bett lag ein Inder; ein Mann Ende Zwanzig.

»Ist das Ihr Patient?« fragte Dr. Ritter.

»Ja.« »Hier ist vermerkt, daß er kein Englisch kann. Richtig?« »Ja.«

Dr. Ritter zeigte ihr das Krankenblatt. »Und das hier ist Ihre Handschrift - Erbrechen, Krämpfe, starker Durst, Dehydration.?« »Ja, das stimmt«, sagte Honey. ». Ausbleiben des peripheren Pulses .« »Ja.«

»Und wie lautete Ihre Diagnose?« »Darmgrippe.«

»Haben Sie eine Stuhlprobe entnommen?« »Nein. Weshalb?«

»Weil Ihr Patient die Cholera hat! Deshalb!« Er schrie. »Jetzt werden wir das ganze verdammte Krankenhaus zusperren müssen!«

20. Kapitel

Cholera! Wollen Sie mir erzählen, daß es in meinem Krankenhaus _/einen Cholerapatienten gibt?« brüllte Benjamin Wallace. »So leid es mir tut, ja.« »Sie sind sich absolut sicher?«

»Keine Frage«, erwiderte Dr. Ritter. »In seinem Stuhl wimmelt es nur so vor Cholerabakterien. Außerdem weist er Hypotonie, Tachy-kardie und Zyanose auf.«

Laut Gesetz muß jeder Fall von Cholera oder einer anderen ansteckenden Krankheit unverzüglich der staatlichen Gesundheitsbehörde und dem Center for Disease Control in Atlanta gemeldet werden.

»Wir werden es melden müssen, Ben.«

»Man wird das Krankenhaus dichtmachen!« Wallace stand auf und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu schreiten. »Das können wir uns überhaupt nicht leisten. Ich will einen Besen fressen, wenn ich alle Patienten in diesem Krankenhaus unter Quarantäne stelle!« Er blieb einen Moment stehen. »Weiß der Patient, was er hat?«

»Nein. Er spricht kein Englisch. Er kommt aus Indien.«

»Wer hat Kontakt mit ihm gehabt?«

»Zwei Krankenschwestern und Dr. Taft.«

»Und Dr. Taft hat die Sache als Darmgrippe diagnostiziert?«

»Korrekt. Sie werden sie jetzt vermutlich entlassen.«

»Also nein«, sagte Wallace. »Ein Fehler kann doch jedem mal passieren. Wir sollten jetzt nicht übereilt handeln. Wie lautet der Eintrag auf dem Krankenblatt des Patienten - Darmgrippe?«

»Ja.«

Wallace traf seine Entscheidung. »Wir wollen es dabei belassen. Ich möchte Sie um folgendes bitten. Beginnen Sie mit einer intravenösen Rehydrierung - verwenden Sie dafür Ringer-Lösung. Und geben Sie ihm außerdem Tetracyclin. Wenn wir bei ihm das natürliche Blutvolumen und die Flüssigkeitsmenge sofort wiederherstellen können, dürfte er in ein paar Stunden so gut wie normal sein.«

»Wir wollen den Fall nicht melden?« fragte Dr. Ritter.

Wallace blickte ihm fest in die Augen. »Einen Fall von Darmgrippe?«

»Und was ist mit den Krankenschwestern und Dr. Taft?«

»Denen geben Sie ebenfalls Tetracyclin. Wie lautet der Name des Patienten?«

»Pandit Jawah.«

»Stellen Sie ihn für achtundvierzig Stunden unter Quarantäne. Dann ist er entweder kuriert oder tot.«

Honey befand sich in einem Zustand heilloser Aufregung. Sie suchte Paige auf. »Ich brauche deine Hilfe.« »Wo brennt's denn?«

Honey erzählte. »Bitte - könntest du nicht mit ihm sprechen? Er kann kein Englisch, und du kannst doch Indisch.« »Hindi.«

»Ist doch egal. Wirst du mit ihm sprechen?« »Selbstverständlich.«

Es dauerte keine zehn Minuten, und Paige unterhielt sich mit Pandit Jawah.

»Aap ki tabyat kaisi hai?« »Karabhai.«

»Aap jald acha ko hum kardenge.«

»Bhagwan aap ki soney ga.«

»Aap ka ilaj hum jalb shurro kardenge.«

»Shukria.«

»Dost kiss liay hain?«

Paige nahm Honey auf dem Flur beiseite. »Was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt, daß er sich furchtbar elend fühlt. Ich hab' ihm erklärt, daß es ihm bald bessergehen wird. Er sagte, das sollte ich mal Gott erzählen. Ich habe ihm gesagt, daß wir sofort mit der Behandlung beginnen werden. Er sagte, er sei mir dankbar.« »Bin ich dir auch.« »Wozu hat man Freunde?«

Cholera ist eine Krankheit, die innerhalb von vierundzwanzig Stunden durch Austrocknung des Körpers den Tod herbeiführen kann oder auch binnen weniger Stunden geheilt werden kann.

Pandit Jawah war fünf Stunden nach Beginn der Behandlung schon fast wieder gesund.

Paige schaute bei Jimmy Ford vorbei.

Bei ihrem Anblick leuchtete sein Gesicht auf. »Hallo.« Die Stimme war noch schwach; insgesamt hatte er sich jedoch wie durch ein Wunder rasch erholt.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte Paige.

»Großartig. Haben Sie den schon gehört, über den Arzt, der seinem Patienten erklärt: >Es wäre für Sie das beste, das Rauchen und Trinken ganz aufzugeben und Sex einzuschränken?< Darauf sagt der Patient: >Das Beste ist für mich viel zu gut. So viel Gutes habe ich nicht verdient. Was ist das Zweitbeste?««

Da wußte Paige, daß Jimmy auf dem Weg der Besserung war.

Ken Mallory hatte Dienstschluß, und er war mit Kat verabredet. Da hörte er über Lautsprecher seinen Namen. Er zögerte. Sollte er sich nun melden, oder sollte er rasch und unauffällig verduften? Sein Name wurde ein zweites Mal ausgerufen. Widerwillig nahm er den Hörer ab. »Hier Dr. Mallory.«

»Doktor, könnten Sie bitte zum Notfallraum 2 kommen? Wir haben hier einen Patienten, der.«

»Bedaure«, erwiderte Mallory. »Ich habe mich gerade abgemeldet. Suchen Sie sich jemand anderen.«

»Es ist sonst niemand verfügbar, der mit dieser Sache zurechtkäme. Es handelt sich um ein blutendes Magengeschwür, der Zustand des Patienten ist kritisch. Ich fürchte, daß wir ihn verlieren könnten, wenn .«

Verdammt! »In Ordnung. Bin gleich da.« Ich muß Kat anrufen und ihr mitteilen, daß ich mich verspäten werde.

Der Patient im Notfallraum war ein Mann in den Sechzigern, nur halb bei Bewußtsein und leichenblaß. Er schwitzte. Der Atem ging schwer. Er litt offensichtlich unter entsetzlichen Schmerzen. Mal-lory warf nur einen Blick auf den Mann und sagte: »Bringen Sie ihn in einen OP-Saal. Stat.«

Eine Viertelstunde später hatte Mallory den Patienten auf einem Operationstisch vor sich; der Anästhesist überwachte den Blutdruck. »Er sinkt rasch.«

»Pumpen Sie mehr Blut in ihn hinein!«

Ken Mallory begann mit der Operation. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Blitzschnell schnitt er durch die Haut, die Fettschicht, die Muskelhaut, den Muskel selbst und schließlich durch das glatte, durchsichtige Bauchfell. Das Blut ergoß sich in den Magen.

»Den Kauterisator!« rief Mallory. »Besorgen Sie mir von der Blutbank vier Einheiten Blut.« Er begann mit dem Ausbrennen der blutenden Gefäße.

Die Operation dauerte ganze vier Stunden. Mallory war total erschöpft. Er blickte auf den Patienten herab und stellte fest: »Er wird es überleben.«

Eine der Schwestern schenkte Mallory ein überaus warmes Lächeln. »Gott sei Dank, daß Sie da waren, Dr. Mallory.«

Er schaute sie an. Sie war ein hübsches, junges Ding und einer Einladung offensichtlich nicht abgeneigt. Dich hol' ich mir später, Baby, dachte er und wandte sich an den jüngeren Assistenten. »Machen Sie ihn wieder zu und bringen Sie ihn in den Aufwachraum. Ich werde ihn mir morgen früh anschauen.«

Mallory überlegte, ob er Kat anrufen sollte. Es war Mitternacht geworden. Er beschloß, ihr zwei Dutzend Rosen zu schicken.

Als Mallory am folgenden Tag um sechs seinen Dienst aufnahm, schaute er im Aufwachraum nach seinem neuen Patienten.

»Er ist bei Bewußtsein«, sagte die Schwester.

Mallory trat ans Bett. »Ich bin Dr. Mallory. Wie fühlen Sie sich?«

»Wenn ich die Alternative bedenke, geht's mir gut«, erwiderte der Patient mit schwacher Stimme. »Wie ich höre, haben Sie mir das Leben gerettet. Das war eine verrückte Geschichte. Ich war im Wagen unterwegs zu einer Abendgesellschaft, da krieg' ich plötzlich diese Schmerzen. Ich muß wohl das Bewußtsein verloren haben. Es war ein Glück, daß wir nur ein paar Straßen vom Krankenhaus entfernt waren. Man hat mich hier in die Notaufnahme eingeliefert.«

»Sie haben Glück gehabt. Sie hatten viel Blut verloren.«

»Man hat mir gesagt, daß ich zehn Minuten später nicht mehr zu retten gewesen wäre. Ich möchte Ihnen danken, Doktor.«

»Ich habe nur meine Pflicht getan.«

Der Patient musterte ihn gründlich. »Ich heiße Alex Harrison.«

Der Name bedeutete Mallory gar nichts. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Harrison.« Er fühlte ihm den Puls. »Spüren Sie jetzt Schmerzen?«

»Wenig. Ich nehme allerdings an, daß ich mit Medikamenten vollgestopft worden bin.«

»Die Narkose wird nachlassen«, versicherte ihm Mallory. »Und die Schmerzen auch. Es wird Ihnen wieder gutgehen.«

»Wie lange werde ich im Krankenhaus bleiben müssen?«

»Wir werden Sie in ein paar Tagen entlassen können.«

Ein Verwaltungsangestellter kam mit Krankenhausformularen herein. »Mr. Harrison, nur für unsere Unterlagen - das Krankenhaus muß wissen, ob Sie versichert sind.«

»Sie meinen, Sie wollen wissen, ob ich meine Rechnung bezahlen kann.«

»Nun ja, so würde ich es nicht ausdrücken, Sir.«

»Sie können sich bei der San Francisco Fidelity Bank nach mir erkundigen«, bemerkte er trocken. »Die gehört mir nämlich.«

Alex Harrison war nicht allein, als Mallory am Nachmittag wieder bei ihm hereinschaute. An seinem Bett saß eine reizende Frau Anfang Dreißig - blond, schlank, elegant. Sie trug ein Kleid von Adol-fo, das, wie Mallory vermutete, mehr gekostet haben mußte, als er im Monat verdiente.

»Ah, da kommt ja unser Held«, sagte Alex Harrison. »Dr. Mallory, nicht wahr?«

»Richtig. Ken Mallory.«

»Dr. Mallory, darf ich Sie mit meiner Tochter Lauren bekannt machen?«

Sie reichte ihm eine schmale, sehr gepflegte Hand. »Vater berichtete mir, daß Sie ihm das Leben gerettet haben.«

Er lächelte. »Dafür sind Ärzte schließlich da.«

Lauren musterte ihn wohlwollend. »Das läßt sich keineswegs von allen Ärzten behaupten.«

Es war Mallory klar, daß die zwei normalerweise nicht in einem Bezirkskrankenhaus anzutreffen wären. »Ihre Genesung verläuft ausgezeichnet«, bemerkte er. »Vielleicht wäre es Ihnen aber angenehmer, Ihren Hausarzt anzurufen.«

Alex Harrison schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Er hat mir nicht das Leben gerettet. Das sind Sie gewesen. Gefällt es Ihnen hier?«

Eine merkwürdige Frage. »Es ist interessant hier. Doch. Warum fragen Sie?«

Harrison richtete sich im Bett auf. »Na ja, ich habe nur mal so überlegt. Ein gutaussehender, tüchtiger Kerl wie Sie müßte doch eigentlich eine verdammt glänzende Zukunft vor sich haben. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß Ihnen ein Krankenhaus wie dieses hier eine tolle Karriere bieten kann.«

»Nun ja, ich .«

»Vielleicht hat mich ja die Vorsehung hierhergebracht.«

Da schaltete sich Lauren ein. »Ich glaube, mein Vater will damit sagen, daß er sich Ihnen gegenüber gern dankbar erweisen möchte.«

»Lauren hat völlig recht. Wenn ich hier heraus bin, sollten wir beide uns einmal ernsthaft unterhalten. Ich möchte Sie gern zum Abendessen einladen.«

Mallory warf einen Blick auf Lauren und meinte langsam: »Ich würde gern kommen.« Es sollte sein Leben verändern.

Ken Mallory fand es erstaunlich schwer, sich mit Kat zu verabreden.

»Wie wär's mit Montag, Kat?« »Wunderbar.«

»Gut. Ich werd' dich abholen ...«

»Einen Augenblick! Da fällt mir gerade ein, daß an dem Abend ein Cousin aus New York kommen wollte.« »Dann Dienstag.«

»Dienstag hab' ich Bereitschaftsdienst.« »Und Mittwoch?«

»Ich hab' Paige und Honey versprochen, daß wir am Mittwoch gemeinsam etwas unternehmen werden.«

Mallory wurde richtig nervös. Ihm blieb immer weniger Zeit. Die Sache wurde langsam knapp. »Donnerstag?« »Donnerstag ist prima.« »Großartig. Soll ich dich abholen?« »Nein. Warum treffen wir uns nicht bei Chez Panisse?« »Ausgezeichnet. Um acht?« »Wunderbar.«

Mallory saß allein im Restaurant und wartete bis neun Uhr. Dann rief er bei Kat an. Dort nahm niemand ab. Er wartete noch eine halbe Stunde. Vielleicht hat sie sich verhört, überlegte Mallory. Sie würde mich bestimmt nicht mit Absicht sitzenlassen.

Als Kat ihn am nächsten Morgen im Krankenhaus sah, lief sie auf ihn zu.

»Ach, Ken, bitte, verzeih mir! So etwas Dummes. Ich hab' vor unserer Verabredung nur rasch ein Nickerchen halten wollen, und da bin ich richtig eingeschlafen, und als ich aufwachte, war's schon nach Mitternacht. Armer Schatz! Hast du lang auf mich gewartet?«

»Nein, nein. Ist schon in Ordnung.« So eine blöde Kuh! Er kam näher. »Ich möchte nur, daß wir recht bald da weitermachen, wo wir aufgehört haben, Baby. Ich bin ganz verrückt nach dir.«

»Und ich nach dir«, sagte Kat. »Ich kann's gar nicht erwarten.«

»Vielleicht könnten wir am Wochenende.«

»O je. Am Wochenende bin ich beschäftigt.«

Und so ging das immerzu.

Die Zeit lief ihm davon.

Kat berichtete Paige gerade das Neueste, als ihr Piepser ein Zeichen gab.

»Entschuldige.« Kat ging zum nächsten Telefon. »Hier Dr. Hunter.« Sie hörte einen Moment lang schweigend zu. »Danke. Ich bin gleich da.« Sie legte den Hörer auf. »Ich muß gehen. Ein Notfall.«

Paige seufzte. »Was gibt's hier sonst schon Neues?«

Kat marschierte im Eiltempo den Flur hinunter und fuhr mit dem Lift zur Notfallstation. Alle zwölf Liegen waren belegt. Kat sah in ihm nur den Raum der Leiden - Tag und Nacht füllte er sich ununterbrochen mit Opfern von Verkehrsunfällen, Schießereien oder Messerstechereien. Für Kat war es ein Stückchen Hölle. Ein Pfleger eilte ihr entgegen. »Dr. Hunter.«

»Was gibt's denn?« fragte Kat. Sie machten sich auf den Weg zu einer Liege am anderen Ende des Raums.

»Er ist bewußtlos. Sieht aus, als ob er zusammengeschlagen worden wäre. Gesicht und Kopf sind arg mitgenommen, die Nase ist gebrochen, die Schulter ausgerenkt, und mindestens zwei Brüche im rechten Arm und.«

»Warum haben Sie ausgerechnet mich gerufen?«

»Die Sanitäter meinen, daß er eine Kopfverletzung hat. Könnte Gehirnschaden bedeuten.«

Sie hatten die Liege mit dem Opfer erreicht. Das Gesicht war blutverkrustet, wies Schwellungen und Prellungen auf. Die Schuhe des Mannes waren aus Krokoleder und . Kats Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie beugte sich vor und schaute genauer hin. Es war Lou Dinetto.

Kats Finger glitten ihm geschickt über die Schädeldecke und untersuchten die Augen. Eine Gehirnerschütterung. Da gab es gar keinen Zweifel.

Sie rannte zu einem Telefon und wählte. »Hier spricht Dr. Hunter. Ich brauche ein Computertomogramm. Der Name des Patienten lautet Dinetto. Lou Dinetto. Schicken Sie ein Rollbett herunter. Stat.«

Kat legte auf und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Dinetto zu. »Bleiben Sie bei ihm«, wies sie den Pfleger an. »Wenn das Rollbett eintrifft, bringen Sie den Mann in den dritten Stock. Ich warte dort.«

Eine halbe Stunde später untersuchte Kat im dritten Stock das bestellte Tomogramm. »Er hat Gehirnblutungen, hohes Fieber und steht unter Schock. Ich will, daß er die nächsten vierundzwanzig Stunden lang stabilisiert wird. Danach werde ich entscheiden, wann wir operieren.«

Kat überlegte, ob das, was Dinetto zugestoßen war, Mike in Mitleidenschaft ziehen könnte.

Und in welcher Form.

Paige schaute auf einen Sprung bei Jimmy vorbei. Er fühlte sich schon viel besser.

»Haben Sie den vom Exhibitionisten im Textilviertel schon gehört? Er trat auf eine kleine, alte Dame zu und knöpfte sich den Regenmantel auf. Sie musterte ihn kurz und sagte: >Und das nennen Sie Futter?<«

Kat aß mit Mallory in einem kleinen, intimen Restaurant in der Nähe der Bucht zu Abend, und wie sie ihm da so gegenübersaß und ihn betrachtete, überkam sie ein Gefühl von Schuld. Ich hätte nie damit anfangen dürfen, überlegte sie. Ich weiß, was er für einer ist, trotzdem genieße ich die Zeit mit ihm. Aber zur Hölle mit dem Kerl! Ich kann unsern Plan doch jetzt nicht fallenlassen.

Die beiden hatten den Kaffee nach der Mahlzeit bereits getrunken.

Kat beugte sich vor. »Können wir zu dir in die Wohnung gehn, Ken?«

»Und ob!« Na endlich, dachte Mallory.

Da begann Kat plötzlich nervös auf ihrem Stuhl herumzurutschen und machte ein unglückliches Gesicht.

»Ist was nicht in Ordnung?« fragte Mallory.

»Ich weiß nicht. Würdest du mich bitte einen Augenblick entschuldigen?«

»Selbstverständlich.« Er beobachtete, wie sie sich erhob und auf die Damentoilette zusteuerte.

Als sie wieder zurückkam, teilte sie ihm mit: »Das ist wirklich schlechtes Timing, Schatz. Es tut mir leid. Du solltest mich besser nach Hause fahren.«

Er fixierte sie. Er wollte sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen, aber ihm war, als ob sämtliche Schicksalsgötter sich gegen ihn verschworen hätten.

»Okay«, sagte Mallory spitz. Er hätte vor Wut platzen können.

Kat war noch keine fünf Minuten daheim, als die Türglocke läutete. Kat mußte innerlich lächeln - da hatte Mallory gewiß irgendeinen Vorwand gefunden, um noch einmal vorbeizukommen. Dann merkte sie, wie dieser Gedanke sie freute, und wurde auf sich selbst wütend. Sie lief zur Tür, um zu öffnen.

»Ken.«

Draußen standen Rhino und der Schatten. Kat spürte auf einmal Gefahr. Die beiden Männer drängten sich an ihr vorbei in die Wohnung.

Es war Rhino, der sprach. »Sie werden Mr. Dinetto operieren?«

Kats Mund war wie ausgetrocknet. »Ja.«

»Wir wollen nicht, daß ihm etwas zustößt.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Kat. »Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Ich bin müde und.«

»Kann es passieren, daß er stirbt?«

Kat zauderte. »Bei Gehirnoperationen besteht immer ein gewisses Risiko, daß.«

»Sie sollten dafür sorgen, daß es nicht dazu kommt.«

»Sie dürfen mir glauben, ich.«

»Passen Sie auf, daß ihm nichts passiert.« Der Schatten und Rhi-no wechselten einen merkwürdigen Blick. »Gehen wir.«

Sie gingen zur Tür. Kat sah ihnen nach.

An der Tür drehte der Schatten sich noch einmal zu ihr um und sagte nur: »Und bestellen Sie Mike einen Gruß von uns.«

Kat wurde plötzlich steif. »Soll das . Ist das so etwas wie eine Drohung?«

»Wir drohen niemandem, Doc. Wir sagen nur Bescheid. Falls Mr. Dinetto stirbt, werden Sie und Ihr verdammter Bruder ausradiert.«

21.Kapitel

Im Ankleideraum der Ärzte wurde Ken Mallory von einer Handvoll Kollegen sehnsüchtig erwartet.

Als er eintrat, rief Grundy: »Heil dem Held, dem Eroberer! Wir wollen aber alles ganz genau wissen. Sie dürfen kein einziges Detail auslassen!« Er feixte. »Der springende Punkt ist allerdings der, Kumpel - wir wollen es von ihr hören.«

»Mir ist leider eine Kleinigkeit dazwischengekommen.« Mallory grinste. »Aber Sie können schon einmal anfangen, das Geld zu zählen.«


Kat und Paige schlüpften ins OP-Gewand.

»Hast du schon mal einen Arzt operiert?« wollte Kat wissen.

»Nein.«

»Dein Glück. Ärzte sind die schlimmsten Patienten überhaupt. Sie wissen einfach zuviel.«

»Wen mußt du denn operieren?«

»Dr. Mervyn >Tumirnichtweh< Franklin.«

»Viel Glück.«

»Werd' ich brauchen können.«

Dr. Mervyn Franklin war in den Sechzigern, dürr, kahl und ungemein reizbar.

Als Kat sein Zimmer betrat, fuhr er sie an: »Höchste Zeit, daß Sie kommen. Sind die verdammten Elektrolytenberichte eingetroffen?«

»Ja«, erwiderte Kat. »Alles normal.«

»Wer sagt das? Dem verdammten Labor trau' ich nicht. Die wissen doch die Hälfte der Zeit überhaupt nicht, was sie tun. Und ge-ben Sie acht, daß es bei der Bluttransfusion keine Verwechslung gibt.«

»Ich werde dafür sorgen«, versprach Kat ruhig.

»Wer wird die Operation durchführen?«

»Dr. Jurgensen und ich. Dr. Franklin, ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie sich keine Sorgen machen müssen.«

»Wessen Gehirn wird denn operiert - Ihres oder meins? Alle Operationen sind riskant. Wissen Sie auch, warum? Weil fünfzig Prozent aller Chirurgen den Beruf verfehlt haben. Sie hätten Metzger werden sollen.«

»Dr. Jurgensen ist ein sehr fähiger Mann.«

»Weiß ich. Sonst würde ich mich doch auch nicht von ihm anfassen lassen. Wer ist der Anästhesist?«

»Dr. Miller, glaub' ich.«

»Dieser Scharlatan? Den will ich nicht. Besorgen Sie mir einen anderen.«

»Dr. Franklin .«

»Beschaffen Sie mir einen anderen! Sehen Sie mal nach, ob Hali-burton verfügbar ist.«

»Okay.«

»Und besorgen Sie mir die Namen der Schwestern im OP-Saal. Ich möchte sie überprüfen.«

Kat sah ihm in die Augen. »Möchten Sie die Operation lieber selbst durchführen?«

»Was?« Er schaute sie perplex an, dann grinste er verlegen. »Wohl kaum.«

»Wär's dann nicht besser, Sie würden die Operation uns überlassen?«

»Okay. Wissen Sie was? Ich mag Sie.«

»Ich mag Sie auch. Hat die Schwester Ihnen ein Sedativum gegeben?«

»Ja.«

»In Ordnung. In ein paar Minuten ist es soweit. Gibt's noch etwas, was ich für Sie tun kann?«

»Yeah. Erklären Sie der blöden OP-Schwester, wo meine Venen liegen.«

Im OP-Saal 4 lief beim Eingriff an Dr. Mervyn Franklins Gehirn alles wie geschmiert. Auf dem Weg vom Krankenzimmer zum Operationssaal hatte er ununterbrochen genörgelt.

»Und denkt daran«, sagte er, »eine minimale Narkose. Das Gehirn fühlt nichts, wenn Sie also erst mal drin sind, ist gar nicht mehr viel Betäubung notwendig.«

»Dessen bin ich mir bewußt«, sagte Kat geduldig.

»Und achten Sie darauf, daß die Temperatur vierzig Grad nicht übersteigt. Das ist das Maximum.«

»Okay.«

»Und lassen Sie während der Operation ein bißchen flotte Musik laufen. Das wird Sie alle auf Trab halten.«

»Okay.«

»Und sehen Sie zu, daß Sie eine exzellente OP-Schwester bekommen.«

»Okay.«

So war das ununterbrochen weitergegangen.

Als die Öffnung in Dr. Franklins Schädel gebohrt worden war, sagte Kat: »Ich kann das Gerinnsel sehen. Sieht nicht sehr schlimm aus.« Sie machte sich an die Arbeit.

Als sie drei Stunden später begannen, den Einschnitt zu schließen, kam der Chef der Chirurgie in den OP-Saal und sprach Kat an.

»Kat - sind Sie damit bald fertig?« wollte George Englund wissen.

»Nur noch ein paar Handgriffe.«

»Lassen Sie Dr. Jurgenson übernehmen. Wir brauchen Sie dringend. Es gibt einen Notfall.«

Kat nickte. »Schon unterwegs.« Sie wandte sich an Jurgenson. »Bringen Sie das zu Ende?«

»Kein Problem.«

Kat verließ den OP-Saal gemeinsam mit George Englund. »Was ist denn geschehen?«

»Laut Plan war Ihre Operation später angesetzt, aber der Patient hat Blutungen bekommen. Sie bringen ihn gerade auf OP-Saal 3. Sieht nicht so aus, als ob er durchkommen würde. Sie werden sofort operieren müssen.«

»Und wer ist der Patient?«

»Ein gewisser Mr. Dinetto.«

Kat blickte ihn entsetzt an. »Dinetto?«

Falls Mr. Dinetto stirbt, werden Sie und Ihr verdammter Bruder ausradiert.

Kat eilte über den Korridor zu OP-Saal 3. Rhino und der Schatten kamen ihr entgegen.

»Was geht hier vor?« wollte Rhino wissen.

Kat war der Mund wie ausgetrocknet. Sie konnte kaum mehr sprechen. »Mr. Dinetto hat angefangen zu bluten. Wir werden jetzt gleich operieren.«

Der Schatten packte sie am Arm. »Dann los! Aber vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. Halten Sie ihn am Leben!«

Kat riß sich los und rannte in den OP-Saal.

Wegen der Planänderung assistierte ihr Dr. Vance - ein guter Chirurg. Kat begann mit der üblichen Reinigungsprozedur: eine halbe Minute für jeden Arm, danach eine halbe Minute für jede Hand. Danach alles noch einmal; anschließend schrubbte sie ihre Fingernägel.

Dr. Vance trat an ihre Seite und begann ebenfalls, sich zu waschen. »Wie fühlen Sie sich?«

»Prima«, log Kat.

Lou Dinetto wurde halb bewußtlos in den Operationssaal gerollt und behutsam auf den Operationstisch gehoben. Sein rasierter Schädel wurde gewaschen und mit einer Desinfektionslösung eingerieben, die unter den Operationslampen in einem leuchtenden Orange glänzte. Sein Gesicht war totenblaß.

Das Team war in Position: Dr. Vance, ein weiterer Assistenzarzt, ein Anästhesist, drei OP-Schwestern. Kat überprüfte alles ein letztes Mal - sämtliche eventuell benötigten Instrumente und Mittel waren zur Stelle. Sie warf einen Blick auf die Monitore an der Wand -Sauerstoff Sättigung, Kohlendioxid, Körpertemperatur, Muskelsti-mulatoren, präkordiales Stethoskop, EKG, Blutdruck und Alarmlampe. Alles in Ordnung.

Der Anästhesist streifte Dinetto eine Blutdruckmanschette über den rechten Arm und legte ihm eine Gummimaske übers Gesicht. »In Ordnung. Jetzt. Atmen Sie tief ein. Holen Sie dreimal tief Luft.«

Vor dem dritten Atemzug war Dinetto bereits eingeschlafen.

Die Operation begann.

Kat berichtete laut und deutlich: »Der Schaden befindet sich in der Mitte des Gehirns. Verursacht wurde er von einem Gerinnsel, das sich von der Aortenklappe gelöst hat. Es blockiert jetzt ein kleines Blutgefäß an der rechten Gehirnhälfte und zieht sich ein klein wenig auf die linke Seite hinüber.« Sie ging tiefer. »Es befindet sich am unteren Rand des Sylviuskanals. Bitte das Skalpell.«

Mit einem elektrischen Bohrer wurde ein winziges Loch von der Größe eines 10-Cent-Stückes gedrillt, um die Dura mater freizulegen. Dann schnitt Kat die Dura auf, um einen Teil der darunter liegenden Großhirnrinde freizulegen. »Die Zange!«

Die OP-Schwester reichte ihr die elektrische Zange.

Der Einschnitt wurde mit Hilfe eines kleinen Retraktors offenge-halten, der seine Stellung selbsttätig wahrte.

»Er verliert verdammt viel Blut«, bemerkte Vance.

Kat nahm den Kauterisator und begann, die blutenden Stellen auszubrennen. »Die Blutungen werden wir schon unter Kontrolle bekommen.«

Dr. Vance plazierte Wattebäusche auf die Dura mater, die das Blut aufnehmen sollten. Die blutenden Venen auf der Oberfläche der Dura wurden lokalisiert und koaguliert.

»Sieht gut aus«, bemerkte Vance. »Er wird's packen.«

Kat stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Und in genau dem Augenblick bäumte sich Lou Dinetto plötzlich auf, und gleich darauf wurde sein Körper von einem Krampf erfaßt. Der Anästhesist schrie: »Blutdruck fällt!«

»Führt ihm mehr Blut zu!« ordnete Kat an.

Aller Augen hingen am Monitor. Die Kurve flachte rapide ab. Es kamen zwei rasche Herzschläge, gefolgt von Herzkammerflattern.

»Verpaßt ihm einen Schock!« stieß Kat hervor. Sie brachte die Elektroden am Körper an und schaltete das Gerät ein.

Dinettos Brustkorb hob sich ein einziges Mal und sank in sich zusammen.

»Injiziert ihm Epinephrin! Schnell!«

»Keine Herztätigkeit!« rief der Anästhesist einen Augenblick später.

Kat versuchte es noch einmal; sie erhöhte die Frequenz.

Und wieder folgte eine rasche Konvulsion.

»Keine Herztätigkeit!« schrie der Anästhesist. »Asystolie. Aussetzen der Herztätigkeit.«

In ihrer Verzweiflung versuchte es Kat ein letztes Mal. Der Körper hob sich diesmal noch höher. Und sank auch diesmal wieder in sich zusammen. Nichts.

»Er ist tot«, sagte Vance.

22. Kapitel

Der rote Alarm mobilisiert unverzüglich sämtliche verfügbaren Mittel zur Lebensrettung eines Patienten. Als Lou Dinettos Herz während der Operation stehenblieb, kam das Alarmsystem des OP-Saals sofort in Gang.

Kat hörte, wie die Lautsprecheranlage einsetzte: »Alarm Rot OP 3 ... Alarm Rot.. .« Rot, dachte Kat, reimt sich auf tot.

Kat geriet in Panik. Sie versuchte es noch einmal mit Elektroschocks. Es war ja nicht nur sein Leben, das sie retten mußte - es ging auch um Mike und um ihr eigenes Leben. Dinettos Körper schnellte nach oben und fiel wieder reglos zurück.

»Versuchen Sie es noch einmal!« drängte Dr. Vance.

Wir drohen niemand, Doc. Wir sagen nur Bescheid. Falls Mr. Dinetto stirbt, werden Sie und Ihr verdammter Bruder ausradiert.

Kat betätigte den Schalter und setzte das Gerät ein weiteres Mal auf Dinettos Brustkorb an. Und wieder hob sich der Körper zehn, fünfzehn Zentimeter, und wieder fiel er zurück.

»Noch einmal!«

Es klappt nicht, schoß es der verzweifelten Kat durch den Sinn. Und sein Tod wird auch mein Tod sein.

Der Operationssaal war plötzlich voller Ärzte und Schwestern.

»Worauf warten wir noch?« fragte einer.

Kat holte tief Luft und versuchte es noch einmal. Im ersten Moment tat sich nichts. Dann erschien auf dem Monitor plötzlich ein schwacher Impuls, fiel kurz aus, tauchte wieder auf, verschwand und wurde dann immer stärker, bis er sich zu einem kräftigen, regelmäßigen Rhythmus entwickelte.

Kat konnte den Blick nicht vom Monitor lösen. Sie konnte es nicht fassen. Im überfüllten Raum kam Beifall auf. »Er wird durchkommen!« schrie einer ganz laut.»Mein Gott, das war knapp!«

Die haben ja gar keine Ahnung, wie knapp, dachte Kat.

Zwei Stunden später wurde Lou Dinetto vom Operationstisch auf ein Rollbett gehoben und auf die Intensivstation gebracht. Kat ging neben ihm her. Auf dem Flur warteten Rhino und der Schatten.

»Die Operation war erfolgreich«, teilte Kat ihnen mit. »Er wird bald gesund sein.«

Ken Mallory befand sich in größter Not. Am Ende des Tages lief die Wettfrist aus. Das Problem war so langsam und allmählich entstanden, daß es ihm kaum bewußt geworden war. Er war sich vom ersten Abend an sicher gewesen, daß es ihm nicht schwerfallen würde, Kat ins Bett zu kriegen. Die und schwierig? Die ist doch scharf drauf. Und nun war die Frist plötzlich fast abgelaufen. Er stand vor einer Katastrophe.

Mallory dachte daran, was ihm alles einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte - Kats Mitbewohnerinnen waren just in dem Augenblick heimgekommen, als er gerade mit ihr ins Bett wollte; immerfort hatte es Schwierigkeiten gegeben, einen gemeinsamen freien Abend zu finden; Kat war über ihren Piepser ins Krankenhaus gerufen worden und hatte ihn nackt allein im Zimmer stehenlassen; ihr Cousin war zu Besuch gekommen; sie hatte verschlafen; hatte ihre Periode. Da fiel bei ihm auf einmal der Groschen. Moment mal! Das alles konnte doch gar nicht reiner Zufall gewesen sein! Dahinter konnte nur Absicht stecken. Irgendwie mußte Kat von der Wette Wind bekommen und sich entschlossen haben, ihn zum Narren zu halten: Zur Strafe wollte sie sich nun einen Jux mit ihm machen -einen Jux, für den er zehntausend Dollar würde zahlen müssen, die er gar nicht besaß. Dieses Miststück! Er war von seinem Ziel genauso weit entfernt wie an jenem Abend, als sie zum erstenmal zusammen ausgegangen waren. Sie hatte ihn ganz bewußt an der Nase herumgeführt. Wie habe ich darauf bloß reinfallen können? Und er wußte genau, daß er das Geld nie und nimmer würde aufbringen können.

Im Ärzteumkleideraum warteten schon alle auf ihn.

»Zahltag!« rief Grundy.

Mallory rang sich ein müdes Lächeln ab. »Ich hab' doch Zeit bis Mitternacht, ja? Glaubt mir, sie ist soweit, Jungs.«

Ein Kichern lief durch den Raum. »Klar doch«, meinte einer. »Wir glauben Ihnen, natürlich - aber erst wollen wir's von der Dame selbst hören. Und vergessen Sie nicht, morgen früh das Geld mitzubringen.«

Mallory lachte schallend auf. »Sorgt lieber dafür, daß ihr die Moneten parat habt!«

Er mußte einen Weg finden. Und nun fiel ihm die Lösung ein.

Ken Mallory entdeckte Kat im Aufenthaltsraum. Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. »Du hast das Leben eines Patienten gerettet, wie ich höre.«

»Und mein eigenes dazu.«

»Wie bitte?«

»Ach, nichts.«

»Wie wär's, wenn du mein Leben retten würdest?«

Kat warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Iß heut mit mir zu Abend.«

»Ich bin zu erschöpft, Ken.« Und sie war das Spiel, das sie mit ihm trieb, leid. Ich hab's satt, überlegte Kat. Und es wird außerdem höchste Zeit für mich, dieses Spiel zu beenden. Ich kann nicht mehr. Ich bin in die eigene Falle getappt. Wenn er doch bloß ein anderer Mensch wäre! Wenn er offen und ehrlich gewesen wäre. Ich hätte ihn wirklich gern haben können, dachte Kat.

Mallory dachte jedoch nicht einmal im Traum daran, Kat entwi-schen zu lassen. »Es muß ja nicht spät werden«, schmeichelte er. »Und irgendwo wirst du schließlich essen müssen.«

Widerstrebend, im Bewußtsein, daß es das letzte Rendezvous mit ihm sein würde, willigte Kat ein. Sie würde ihm sagen, daß sie über die Wette Bescheid wußte. Sie würde dem Spiel ein Ende machen.

»In Ordnung.«

Honeys Schicht ging um vier zu Ende. Sie schaute auf die Uhr und kam zu dem Schluß, daß sie gerade Zeit genug hatte, um noch rasch ein paar Einkäufe zu machen. Im Candelier kaufte sie ein paar Kerzen für die Wohnung; anschließend ging sie zur San Francisco Tea and Coffee Company, damit sie zum Frühstück genießbaren Kaffee hätten; dann weiter zu Chris Kelly, um Wäsche zu kaufen.

Mit Paketen beladen machte sie sich auf den Heimweg. Ich werd' mir zu Hause rasch ein Häppchen machen, beschloß Honey. Sie wußte, daß Kat mit Mallory verabredet war und Paige Notdienst hatte.

Sie fummelte ungeschickt mit den Einkaufspaketen, trat ein und schloß die Wohnungstür hinter sich zu. Sie machte Licht. Aus dem Bad kam ein riesiger schwarzer Mann. Er hinterließ auf dem weißen Teppich eine Blutspur. Er richtete einen Revolver auf sie.

»Ein Laut, und ich puste dir den verdammten Kopf weg!«

Honey schrie auf.

23.Kapitel

Mallory saß Kat im Restaurant Schroeder in der Front Street gegenüber.

Kurz vor zwölf, dachte er, und noch immer außen vor. Und die Folgen? Wenn er die zehntausend Dollar nicht zahlen könnte? Wie ein Lauffeuer würde sich die Nachricht im Krankenhaus verbreiten. Man würde ihn als falschen Fuffziger brandmarken und faule Witze über ihn reißen.

Kat erzählte von einem ihrer Patienten. Mallory schaute ihr in die Augen und hörte kein einziges Wort. Er hatte an Wichtigeres zu denken.

Die Mahlzeit war fast beendet. Der Kellner brachte den Kaffee. »Ich habe morgen früh einen wichtigen Termin, Ken. Ich meine, wir sollten jetzt aufbrechen.«

Er hatte den Blick gesenkt. »Kat.« Er hob den Kopf. »Ich muß dir etwas sagen.«

»Ja?«

»Ich habe ein Geständnis abzulegen.« Er holte ganz tief Luft. »Es fällt mir nicht leicht.«

Sie musterte ihn prüfend. »Worum geht es denn?«

»Es ist mir sehr peinlich, es dir zu sagen.« Er suchte nach Worten. »Ich. Ich habe mit ein paar Ärzten eine dumme Wette abgeschlossen, daß. daß ich dich ins Bett kriegen würde.«

Kat sah ihn entgeistert an. »Du.«

»Bitte, warte noch einen Moment, bevor du mich verurteilst. Ich schäme mich ja so wegen meines Verhaltens. Es hat gewissermaßen als Scherz angefangen, als Witz, aber nun hat er sich gegen mich gewendet. Es ist etwas passiert, womit ich nicht gerechnet habe.

Ich habe mich in dich verliebt.«

»Ken.«

»Ich habe bisher noch nie eine Frau geliebt, Kat. Ich habe viele Frauen gekannt, ja, aber so habe ich noch nie empfunden. Ich denke dauernd an dich.« Sein Atem war zittrig, als er Luft schöpfte. »Ich möchte dich heiraten.«

Um Kat drehte sich plötzlich alles. Sie verlor den Boden unter den Füßen. »Ich. Ich weiß gar nicht, was ich dazu.«

»Es ist das erste Mal, daß ich einer Frau einen Heiratsantrag mache. Sag bitte ja. Willst du mich heiraten, Kat?«

Dann hatte er die vielen schönen Worte also doch ernst gemeint! Kat klopfte das Herz bis zum Hals. Ihr war, als ob ein herrlicher Traum auf einmal in Erfüllung gehen würde. Ehrlichkeit - mehr hatte sie von ihm ja gar nicht verlangt. Und jetzt war er offen und ehrlich. Und hatte die ganze Zeit über wegen seines Verhaltens ihr gegenüber unter Schuldgefühlen gelitten. Er war gar nicht wie die anderen Männer. Er war echt und rücksichtsvoll.

Als Kat den Blick hob, leuchteten ihre Augen. »Ja, Ken. O ja!«

Sein strahlendes Lächeln schien den ganzen Raum zu erhellen.

»Kat.« Er beugte sich über den Tisch und gab ihr einen Kuß. »Die Sache mit dieser albernen Wette tut mir ja so leid.« Er schüttelte selbstkritisch den Kopf. »Zehntausend Dollar. Mit dem Geld hätten wir in die Flitterwochen fahren können. Aber es ist es mir wert, das Geld zu verlieren, wenn ich dadurch dich gewinne.«

Kat überlegte. Zehntausend Dollar!

»Ich bin ja so ein Idiot gewesen!«

»Wann läuft die Frist ab?«

»Heute um Mitternacht. Aber das ist jetzt völlig unwichtig. Wichtig sind jetzt nur wir beide. Daß wir heiraten werden. Wir.«

»Ken?«

»Ja, Liebling?«

»Komm, wir gehen zu dir.« In Kats Augen zeigte sich ein spitz-bübisches Funkeln. »Es ist ja noch nicht zu spät, um die Wette zu gewinnen.«

Kat war im Bett eine Löwin.

Mein Gott! Es ist das Warten wert gewesen, dachte Mallory. All die Gefühle, die Kat während der langen Jahre unterdrückt hatte, brachen plötzlich durch. Solche Leidenschaft hatte Ken Mallory noch bei keiner Frau erlebt, nach zwei Stunden war er völlig erschöpft. Er hielt Kat in seinen Armen. »Du bist fantastisch«, flüsterte er.

Sie stützte sich auf die Ellbogen und blickte von oben auf ihn herab. »Du aber auch, Liebling. Ich bin ja so glücklich.«

Mallory lächelte. »Und ich erst.« Ein Zehntausend-Dollar-Glück! jubelte er. Und dazu noch großartigen Sex.

»Versprich mir, daß es zwischen uns immer so sein wird, Ken.«

»Versprochen«, sagte Mallory im aufrichtigsten Ton, dessen er fähig war.

Kat schaute auf die Armbanduhr. »Jetzt muß ich mich aber anziehen.«

»Kannst du nicht die Nacht über hierbleiben?«

»Nein. Ich fahr' morgen früh mit Paige ins Krankenhaus.« Sie gab ihm einen langen Kuß. »Mach dir keine Sorgen. Wir haben ja ein ganzes Leben vor uns.«

Er beobachtete sie beim Ankleiden.

»Ich kann es gar nicht abwarten, meinen Gewinn zu kassieren. Damit finanzieren wir uns himmlische Flitterwochen.« Er wurde plötzlich nachdenklich. »Aber was ist, wenn mir die Jungs nicht glauben? Und sie werden es mir bestimmt nicht abnehmen wollen.«

Kat überlegte kurz. Dann erklärte sie: »Sei unbesorgt. Ich werd's ihnen sagen.«

Mallory grinste verschmitzt. »Komm wieder ins Bett.«

24.Kapitel

Der schwarze Mann zielte mit dem Revolver auf Honey und brüllte: »Ich hab' dir doch gesagt, daß du den Mund halten sollst!«

»Ich. Verzeihung«, sagte Honey. Sie zitterte am ganzen Körper. »Wa. Was wollen Sie hier?«

Er preßte die Hand gegen seine Seite, um die Blutung aufzuhalten. »Ich brauche meine Schwester.«

Das kam Honey vollends rätselhaft vor. Der Mann mußte ja verrückt sein. »Ihre Schwester?«

»Kat.« Seine Stimme wurde schwächer.

»O mein Gott! Du bist Mike!«

»Yeah.«

Der Revolver fiel ihm aus der Hand. Mike sackte zusammen. Honey stürzte zu ihm. Das Blut floß in Strömen. Es schien aus einer Schußwunde zu kommen.

»Bleib still liegen«, sagte Honey. Sie eilte ins Badezimmer und holte etwas Peroxid und ein großes Handtuch. »Es wird weh tun«, warnte sie ihn, als sie zurückkam.

Er war zu geschwächt, um sich zu rühren.

Sie goß Peroxid auf die Wunde und preßte ihm das Handtuch an die Seite. Er biß sich in die Hand, um nicht laut zu schreien.

»Ich rufe jetzt eine Ambulanz und bring' dich ins Krankenhaus«, sagte Honey.

Er packte ihren Arm. »Nein! Bloß kein Krankenhaus. Keine Polizei.« Er konnte kaum mehr sprechen. »Wo ist Kat?«

»Ich weiß nicht«, sagte Honey hilflos. Daß Kat mit Mallory ausgegangen war, wußte sie zwar; sie hatte jedoch keine Ahnung, wo-hin. »Laß mich eine Freundin anrufen.«

»Paige?«

Honey nickte. »Ja.« Kat hat ihm also von uns erzählt.

Es dauerte zehn Minuten, bis man Paige gefunden hatte.

»Du mußt ganz schnell heimkommen«, sagte Honey.

»Ich habe Notdienst, Honey. Ich bin mitten in einer...«

»Kats Bruder ist da.«

»Ach so. Dann sag ihm.«

»Man hat auf ihn geschossen.«

»Man hat was?«

»Auf ihn geschossen.«

»Ich schicke die Sanitäter und ...«

»Keine Krankenhäuser und keine Polizei, sagt er. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Wie schlimm steht's um ihn?«

»Ziemlich schlimm.«

Schweigen. Dann: »Ich muß erst jemand finden, der für mich einspringt. In einer halben Stunde bin ich da.«

Honey legte den Hörer auf und drehte sich zu Mike um. »Paige kommt.«

Kat war auf dem Heimweg von einem Gefühl geradezu himmlischen Wohlbefindens beseelt. Sie hatte Angst vor der körperlichen Liebe gehabt, Angst, daß es ihr nach den fürchterlichen Erfahrungen in ihrer frühen Jugend zuwider sein könnte; doch statt dessen hatte Ken Mallory es in etwas Wunderbares verwandelt. Er hatte in ihr Gefühle geweckt, von denen sie nicht einmal wußte, daß es sie gab.

Und als Kat daran dachte, wie sie beide gemeinsam, in der allerletzten Minute, die anderen Ärzte überlistet und die Wette für sich entschieden hatten, da huschte ein frohes Lächeln über ihr Gesicht.

Sie öffnete die Wohnungstür - und schrak zusammen. Sie war wie erstarrt. Sie sah Paige und Honey neben Mike knien. Er lag auf dem Boden, mit einem Kissen unter dem Kopf; er drückte sich eine Hand gegen die Seite. Seine Kleidung war blutverschmiert.

Paige und Honey hoben den Kopf.

»Mike! O mein Gott!« Kat stürzte zu ihrem Bruder. »Was ist geschehen?«

»Hallo, Schwesterchen.« Es war kaum ein Flüstern.

»Eine Schußwunde«, erklärte Paige. »Er hat viel Blut verloren.«

»Schaffen wir ihn ins Krankenhaus«, sagte Kat.

Mike schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte er. »Du bist doch Ärztin. Versorg du mich.«

Kat warf Paige einen Blick zu.

»Ich habe die Blutung gestillt, soweit möglich. Die Kugel steckt aber noch in seinem Körper. Uns fehlen hier die Instrumente.«

»Er verliert immer noch Blut.« Kat wiegte Mikes Kopf in ihren Armen. »Hör zu, Mike. Ohne die richtige medizinische Hilfe wirst du sterben.«

»Du ... darfst. dies ... nicht melden. Ich will nichts mit der Polizei zu tun haben.«

»Und mit wem hast du es zu tun gehabt, Mike?« fragte Kat ruhig.

»Nichts. Ein Geschäft. es ist schiefgegangen . da hat dieser Kerl die Nerven verloren. Hat auf mich geschossen.«

Es war genau die Art von Geschichte, die Kat sich seit Jahren immer wieder anhören mußte. Lügen. Alles nur Lügen. Sie hatte es im Grunde immer gewußt, so wie sie es auch in diesem Augenblick wußte; sie hatte es nur nicht wahrhaben wollen.

Mike hielt sie am Arm fest. »Wirst du mir helfen, Schwesterchen?«

»Ja. Ich werde dir helfen, Mike.« Kat beugte sich über ihn, gab ihm einen Kuß auf die Wange, stand auf und ging zum Telefon. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Unfallstation im

Krankenhaus. »Hier spricht Dr. Hunter«, sagte sie mit unsicherer Stimme. »Ich brauche sofort eine Ambulanz .«

Im Krankenhaus hatte Kat Paige darum gebeten, die Kugel aus Mikes Körper herauszuoperieren.

»Er hat Unmengen von Blut verloren«, erklärte Paige dem assistierenden Chirurgen. »Geben Sie ihm noch eine Einheit.«

Es war draußen bereits hell geworden, als die Operation beendet war. Sie war erfolgreich verlaufen.

Anschließend nahm Paige Kat auf die Seite. »Wie soll ich die Sache melden?« wollte sie wissen. »Ich könnte sie als einen Unfall ausgeben oder.«

»Nein«, widersprach Kat mit schmerzerstickter Stimme. »Ich hätte es schon längst tun sollen. Ich möchte dich bitten, den Vorfall wahrheitsgemäß als Schußwunde zu melden.«

Vor dem Operationssaal wartete Mallory auf Kat.

»Kat! Ich hab's gehört. Dein Bruder. Und.«

Kat nickte traurig.

»Es tut mir leid. Ist alles in Ordnung?«

Kat sah Mallory lange an. »Ja«, sagte sie dann. »Und es wird in Mikes Leben das erste Mal sein, daß alles in Ordnung ist.«

Mallory drückte Kats Hand. »Ich möchte nur, daß du weißt, wie fantastisch es letzte Nacht war. Du warst einfach wunderbar. Oh. Das bringt mich darauf - die Ärzte, mit denen ich gewettet habe, warten in der Lounge. Aber nach alldem, was inzwischen vorgefallen ist, wirst du wahrscheinlich nicht mit ihnen sprechen wollen ...«

»Warum denn nicht?«

Sie hakte sich ein, und so gingen sie in den Aufenthaltsraum. Die Ärzte sahen den beiden erwartungsvoll entgegen.

»Hallo, Kat«, sagte Grundy. »Wir brauchen in einem ganz bestimmten Punkt Ihre persönliche Aussage. Dr. Mallory behauptet, daß er mit Ihnen zusammen die Nacht verbracht hat und daß es großartig gewesen ist.«

»Mehr als das«, erwiderte Kat. »Es war fantastisch.« Sie gab Mallory einen Kuß. »Bis später, mein Geliebter.«

Den Männern blieb der Mund offen stehen.

Im Ankleidezimmer sagte Kat zu Paige und Honey: »Übrigens - bei der ganzen Aufregung hatte ich gar keine Gelegenheit, euch die Nachricht mitzuteilen.«

»Was für eine Nachricht?« fragte Paige.

»Ken will mich heiraten.«

Auf ihren Gesichtern spiegelten sich blanker Unglaube.

»Du willst uns wohl auf den Arm nehmen!« sagte Paige.

»Nein. Er hat mir gestern abend einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe angenommen.«

»Aber du darfst ihn nicht heiraten!« rief Honey. »Du weißt doch, was für ein Typ er ist. Ich meine, er hat versucht, dich ins Bett zu kriegen, nur um eine Wette zu gewinnen!«

»Er hat's auch geschafft.« Kat grinste.

Paige schaute sie verständnislos an. »Da komme ich nicht mehr mit.«

Kat erklärte es ihnen. »Wir haben uns ein falsches Bild von ihm gemacht. Ein total falsches. Ken hat mir die Sache mit der Wette selber erzählt. Sie hat ihm während der ganzen Zeit auf der Seele gelegen. Wißt ihr, was passiert ist? Ich bin mit ihm ausgegangen, weil ich ihm eine Lektion erteilen wollte; und er ist mit mir ausgegangen, um etwas Geld zu gewinnen, und am Ende haben wir beide uns ineinander verliebt. Ach, ich kann euch ja gar nicht sagen, wie glücklich ich bin.«

Honey und Paige tauschten Blicke. »Und wann werdet ihr heiraten?« fragte Honey.

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen, aber sicherlich bald. Ihr beiden müßt meine Brautjungfern sein.«

»Du kannst auf uns zählen«, erklärte Paige. »Wir werden kommen.« Aber sie hatte ihre Zweifel. Sie gähnte. »Die Nacht war lang. Ich werde jetzt nach Hause gehen, um mich ein bißchen auszu-schlafen.«

»Ich werde bei Mike bleiben«, sagte Kat. »Die Polizei wird sich mit ihm unterhalten wollen, sobald er aufwacht.« Sie ergriff beider Hände. »Ich danke euch, daß ihr so gute Freundinnen seid.«

Auf dem Heimweg dachte Paige über die Ereignisse dieser Nacht nach. Sie wußte, wie sehr Kat an ihrem Bruder hing. Es hatte viel Mut erfordert, ihn der Polizei zu übergeben. Ich hätte es schon längst tun sollen.

Als Paige die Wohnung betrat, hörte sie das Telefon läuten. Sie rannte los.

Es war Jason. »Hi! Ich ruf nur an, damit Sie auch wissen, wie sehr Sie mir fehlen. Was tut sich in Ihrem Leben?«

Paige war versucht, es ihm zu berichten - sie hätte all das gern mit jemandem geteilt, aber es war eine allzu persönliche Angelegenheit, die nur Kat etwas anging.

»Nichts«, erwiderte Paige. »Alles in Ordnung.«

»Gut. Haben Sie heute abend Zeit?«

Paige war sich bewußt, daß es da um mehr ging als nur um diesen Abend. Wenn ich ihn noch öfter sehe, sagte sich Paige, werde ich mich in ihn verlieben. Und wußte auf einmal, daß sie jetzt eine der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens treffen würde.

Sie atmete tief. »Jason.« Es läutete an der Tür. »Nur einen Augenblick, ja, Jason?«

Paige legte den Hörer hin und ging öffnen.

Vor ihr stand Alfred Turner.

25.Kapitel

Paige war wie versteinert.

Alfred lächelte zaghaft. »Darf ich reinkommen?«

Sie war total verwirrt. »Oh ... natürlich. Ich ... Verzeihung.« Sie ließ Alfred, als er ins Wohnzimmer trat, keinen Moment aus den Augen. Sie verstand ihre eigenen Gefühle nicht mehr. Es war der reinste Widerspruch. Sie war glücklich und nervös und verärgert zugleich. Aber warum mache ich so ein Theater? fragte sie sich. Er kommt doch wahrscheinlich nur vorbei, um guten Tag zu sagen.

Alfred drehte sich zu ihr um. »Ich habe Karen verlassen.«

Die Worte versetzten Paige einen Schock.

Alfred kam näher. »Ich habe einen großen Fehler gemacht, Paige. Ich hätte dich nie gehen lassen dürfen. Niemals.«

»Alfred. « Da fiel es Paige plötzlich wieder ein. »Entschuldige mich.« Sie rannte zum Telefon und nahm den Hörer in die Hand. »Jason?«

»Ja, Paige. Was den Abend betrifft, so könnten wir.«

»Ich. ich kann mich nicht mit Ihnen treffen.«

»Oh. Wenn es heute abend nicht geht, wie war's dann mit morgen abend?«

»Ich . ich weiß nicht.«

Er hörte ihr die Verkrampfung an. »Stimmt etwas nicht?«

»Nein. Alles in Ordnung. Ich werde Sie morgen anrufen und Ihnen dann alles erklären.«

»Okay.« Es klang eher perplex.

Paige legte auf.

»Du hast mir gefehlt, Paige«, sagte Alfred. »Hab' ich dir auch gefehlt?«

Nein. Ich laufe auf der Straße bloß Fremden hinterher und rede sie dann mit >Alfred< an. »Ja«, entgegnete Paige.

»Gut. Wir gehören zusammen, weißt du. Wir haben immer zusammengehört.«

Haben wir das? Hast du deswegen Karen geheiratet? Glaubst du, du könntest einfach so in mein Leben treten und wieder verschwinden, wie's dir beliebt?

Alfred stand dicht vor ihr. »Etwa nicht?«

Paige sah ihm in die Augen und sagte: »Ich weiß nicht.« Ihr kam das alles viel zu plötzlich.

Alfred nahm ihre Hand. »Natürlich weißt du das.«

»Und was ist mit Karen?«

Alfred zuckte die Schultern. »Karen war ein Fehler. Ich hab' immer nur an dich gedacht und an die schönen Zeiten, die wir beide gemeinsam verlebt haben. Wir sind füreinander bestimmt.«

Sie musterte ihn, vorsichtig, mißtrauisch. »Alfred.«

»Ich bleibe jetzt da. Für immer. Wenn ich >da< sage, dann meine ich natürlich nicht >hier<. Wir ziehen nach New York.«

»New York?«

»Ja. Ich werde dir alles erzählen. Dürfte ich eine Tasse Kaffee haben?«

»Natürlich. Ich mache eine frische Kanne. Es dauert nicht lang.«

Doch Alfred folgte ihr in die Küche, wo Paige den Kaffee aufsetzte. Sie hatte Mühe, ihre Gedanken zu ordnen. Sie hatte sich immer verzweifelt gewünscht, daß Alfred zu ihr zurückkäme, und nun war er da, aber.

»Ich habe in den letzten Jahren eine Menge gelernt, Paige«, sagte Alfred. »Ich bin ein erwachsener Mensch geworden.«

»Ach ja?«

»Ja. Du weißt doch, ich habe die ganze Zeit für die WHO gearbeitet. Viele, viele Jahre.«

»Ich weiß.«

»Aber in diesen Ländern hat sich seit unserer Kindheit nichts verändert. Offen gesagt, es ist teilweise sogar schlimmer geworden. Noch mehr Krankheiten, noch mehr Seuchen, noch größere Armut.«

»Aber du warst da und hast geholfen«, sagte Paige.

»Ja. Und dann bin ich plötzlich aufgewacht.«

»Aufgewacht?«

»Mir ist auf einmal klargeworden, daß ich meine Zeit verschwende. Da habe ich dort unten im Elend gelebt und täglich vierundzwanzig Stunden gearbeitet, um diesen dummen Wilden zu helfen. Während ich hier in Amerika einen Haufen Geld hätte verdienen können.«

Paige konnte kaum glauben, was sie da hörte.

»Dann bin ich einem Arzt begegnet, der in New York eine Praxis in der Park Avenue hat. Weißt du, wieviel der in einem Jahr verdient? Über eine halbe Million Dollar! Hast du mich gehört? Eine halbe Million jährlich!«

Paige sah ihn entgeistert an.

»Und ich habe mich gefragt: >Warum verdiene ich nicht auch so viel Geld?< Er hat mir«, erklärte Alfred voller Stolz, »eine Position in seiner Praxis angeboten, als Partner, und ich habe angenommen. Das ist der Grund, warum wir beide, du und ich, nach New York ziehen.«

Paige war von seinen Worten wie betäubt.

»Ich werde mir ein Penthouse leisten können, und ich kann dir hübsche Kleider kaufen und überhaupt all die Dinge, die ich dir immer versprochen habe.« Er grinste. »Nun, was sagst du dazu?«

Paige hatte einen ganz trockenen Mund. »Ich. ich weiß nicht, was ich sagen soll, Alfred.«

Er lachte laut auf. »Natürlich nicht. Eine halbe Million jährlich -da verschlägt es wohl jedem die Sprache.«

»Ich habe nicht an das Geld gedacht«, sagte Paige langsam.

»Nein?«

Sie musterte ihn so, als ob sie ihn zum erstenmal im Leben be-wußt sähe. »Alfred - hast du denn in den Jahren deiner Tätigkeit für die WHO nicht das Gefühl gehabt, Menschen zu helfen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Diesen Menschen kann man nicht helfen. Außerdem - was gehen einen diese Leute überhaupt an? Kannst du begreifen, daß Karen mich tatsächlich allen Ernstes gebeten hat, in Bangladesh zu bleiben? Unter keinen Umständen, hab' ich gesagt. Da ist sie allein zurückgegangen.« Er nahm Paiges Hand. »Da bin ich nun ... Du bist ein bißchen still. Wahrscheinlich ist das alles ein bißchen viel für dich, wie?«

Paige mußte an ihren Vater denken. Er hätte in der Park Avenue großen Erfolg haben können, aber Geld hat ihn nicht interessiert. Er war nur daran interessiert, Menschen zu helfen.

»Von Karen bin ich inzwischen geschieden. Wir können also gleich heiraten.« Er tätschelte ihre Hand. »Was hältst du davon, in New York zu leben?«

Paige holte tief Luft. »Alfred.«

Auf seinem Gesicht zeigte sich ein erwartungsvolles Lächeln. »Ja?«

»Raus mit dir.«

Das Lächeln verblich. »Wie bitte?«

Paige stand auf. »Ich möchte, daß du hier verschwindest.«

Er war ganz verdattert. »Wohin soll ich denn gehen?«

»Das will ich dir lieber nicht sagen«, erklärte Paige. »Es wäre zu verletzend.«

Nachdem Alfred gegangen war, blieb Paige gedankenverloren in der Wohnung zurück. Kat hatte recht gehabt. Sie hatte sich an ein Gespenst geklammert. Diesen dummen Wilden helfen, während ich hier in Amerika einen Haufen Geld hätte verdienen können ... Eine halbe Million

jährlich!

Und an so was habe ich mich geklammert, sagte sich Paige verwundert. Sie hätte Niedergeschlagenheit empfinden müssen, aber statt dessen war sie in Hochstimmung. Sie fühlte sich frei. Und wußte auf einmal auch ganz genau, was sie wollte.

Sie ging zum Telefon und wählte Jasons Nummer.

»Hallo.«

»Jason, hier spricht Paige. Sie haben mir von Ihrem Haus in Noe Valley erzählt. Sie erinnern sich?«

»Ja.«

»Ich möchte es gern sehen. Haben Sie heute abend Zeit?«

Jason erwiderte leise: »Paige, würden Sie mir bitte erklären, was da vorgeht? Ich bin total durcheinander.«

»Ich bin diejenige, die durcheinander ist. Ich hatte geglaubt, einen Mann zu lieben, den ich vor langer Zeit gekannt habe, aber den Mann gibt es gar nicht mehr. Und inzwischen weiß ich auch, was ich gern möchte.«

»Ja?«

»Ich möchte gern Ihr Haus sehen.«

Noe Valley war aus einem anderen Jahrhundert - eine farbenprächtige Oase im Herzen einer der modernsten Großstädte der Welt.

Das Haus war wie Jason selbst - angenehm, klar und liebenswert. Er führte Paige durch die Räume, zeigte ihr das Wohnzimmer, die Küche, das Gästebadezimmer, das Arbeitszimmer. Er schaute sie an. »Das Schlafzimmer befindet sich im ersten Stock. Möchten Sie es sehen?«

»Sehr gern«, antwortete Paige leise.

Sie gingen zum Schlafzimmer nach oben. Paige klopfte das Herz. Was da geschah, war unausweichlich. Ich hätte es von Anfang an wissen müssen, dachte sie.

Sie wußte nicht, wer den ersten Schritt tat, irgendwie lagen sie sich plötzlich einfach in den Armen, ihre Lippen berührten sich, und es schien die natürlichste Sache der Welt. Sie begannen, sich gegenseitig zu entkleiden; beide waren voll drängender Begierde. Und dann waren sie auch schon im Bett, und er liebte sie.

»O mein Gott«, flüsterte er, »ich liebe dich ja so sehr.«

»Ich weiß«, neckte sie. »Seit ich dir befahl, den weißen Kittel anzuziehen.«

Hinterher sagte Paige: »Ich würde gern die Nacht über bleiben.«

»Und du wirst mich morgen früh bestimmt nicht hassen?« fragte Jason lächelnd.

»Das versprech' ich dir.«

Paige und Jason verbrachten die Nacht miteinander - erzählten sich. liebten sich . erzählten. Am Morgen machte sie ihm Frühstück.

»Ich weiß gar nicht«, sagte Jason, der sie in der Küche beobachtete, »womit ich so viel Glück verdient habe, aber ich möchte dir danken.«

»Aber ich bin doch der Glückspilz«, sagte sie zu ihm.

»Weißt du was? Ich habe noch gar keine Antwort auf meinen Heiratsantrag bekommen.«

Am Nachmittag gab ein Kurier einen Umschlag in Jasons Büro ab. Darin befand sich die Karte, die Jason dem Modell des Hauses beigelegt hatte.

Mein Haus ()

Unser Haus (x)

Zutreffendes bitte ankreuzen.

26.Kapitel

Lou Dinetto hatte sich soweit erholt, daß er aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Kat ging sich von ihm verabschieden. Rhino und der Schatten waren bei ihm auf dem Zimmer.

Als Kat eintrat, drehte Dinetto sich zu ihnen um. »Verschwindet.«

Kat schaute ihnen nach, als sie das Zimmer verließen.

Dinetto sah ihr in die Augen und sagte: »Ich bin Ihnen etwas schuldig.«

»Sie schulden mir überhaupt nichts.«

»Scheint Ihnen mein Leben denn so wertlos? Sie wollen heiraten, wie ich höre.«

»Ja, das stimmt.«

»Einen Arzt.«

»Ja.«

»Also, dann bestellen Sie ihm, daß er gut auf Sie aufpassen soll, sonst bekommt er es mit mir zu tun.«

»Ich werde es ihm ausrichten.«

Kurzes Schweigen. »Das mit Mike tut mir leid.«

»Er wird's schaffen«, sagte Kat. »Ich habe mich lange mit ihm unterhalten. Er wird in Ordnung kommen.«

»Gut.« Dinetto hielt ihr einen dicken Umschlag hin. »Ein kleines Hochzeitsgeschenk für Sie.«

Kat schüttelte den Kopf. »Nein. Vielen Dank.«

»Aber.«

»Passen Sie auf sich auf!«

»Sie auch. Wissen Sie was? Sie sind ein richtig tapferes Weibsbild, und ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, was Sie sich merken sollten. Wenn Sie mal Hilfe brauchen - ganz egal, was -, dann kommen Sie

zu mir. Verstehen Sie mich?«

»Ich habe Sie verstanden.«

Sie wußte, daß er es ernst meinte; und sie wußte auch, daß sie ihn, selbst in der größten Not, niemals um Hilfe bitten würde.

Paige und Jason telefonierten in den folgenden Wochen drei- bis viermal täglich und waren, sofern Paige keinen Nachtdienst hatte, abends stets beisammen.

Im Krankenhaus gab es mehr denn je zu tun. Es geschah während einer Sechsunddreißigstundenschicht, in der ein Notfall auf den andern folgte - Paige war im Bereitschaftsraum gerade erst eingeschlafen, da wurde sie schon wieder durch das drängende Schrillen des Telefons geweckt.

Sie tastete nach dem Hörer. »H'lo?«

»Dr. Taylor, kommen Sie auf Zimmer 422. Stat.«

Paige mußte sich anstrengen, um wenigstens einigermaßen klar zu denken. Zimmer 422 ... Ein Patient von Dr. Barker. Lance Kelly. Bei Lance Kelly war soeben eine Mitralklappe ersetzt worden. Da muß etwas schiefgegangen sein. Paige hievte sich von der Liege und trat auf den menschenleeren Flur. Sie beschloß, nicht auf den Fahrstuhl zu warten. Sie lief die Treppe hoch. Möglicherweise ist da bloß eine Schwester nervös geworden. Falls es etwas Ernstes sein sollte, werd' ich Dr. Barker anrufen, überlegte sie.

Sie betrat Zimmer 422 und blieb erschreckt im Türrahmen stehen. Der Patient rang stöhnend nach Luft. Die Krankenschwester war sichtlich erleichtert, Paige zu sehen. »Ich hab' nicht gewußt, was ich machen soll, Doktor. Ich.«

Paige eilte ans Bett. »Es wird alles gut«, sagte sie aufmunternd. Sie nahm das Handgelenk des Patienten zwischen zwei Finger. Der Puls hüpfte wie verrückt. Die Mitralklappe versagte.

»Wir geben ihm ein Beruhigungsmittel«, wies Paige an.

Die Schwester reichte Paige eine Nadel, die Paige in eine Vene einführte. »Die Oberschwester soll ein Operationsteam zusammenstellen. Stat. Und Dr. Barker rufen lassen.«

Eine Viertelstunde später lag Kelly bereits auf dem Operationstisch. Das OP-Team bestand aus drei OP-Schwestern und zwei Assistenten. In einer Ecke des Raums, hoch oben, war ein Monitor angebracht, damit Herzfrequenz, EKG und Blutdruck überwacht werden konnten.

Als der Narkosearzt hereinkam, hätte Paige am liebsten laut geflucht. Die meisten Anästhesisten am Krankenhaus leisteten gute Arbeit. Aber Herman Koch, mit dem Paige schon ein paarmal zu tun gehabt hatte und den sie mied, wo sie nur konnte, war eine Ausnahme. Sie hatte überhaupt kein Vertrauen zu ihm. Nur blieb ihr jetzt keine andere Wahl.

Er befestigte ein Röhrchen an der Kehle des Patienten, während Paige eine Papierhülle mit Sichtfenster auffaltete und dem Patienten über den Brustkorb legte.

»Legen Sie eine Leitung in die Drosselvene«, wies Paige Koch an.

Koch nickte. »Gut.«

»Dr. Barker hat ihm gestern die Mitralklappe ersetzt. Sie ist vermutlich gerissen.« Paige blickte zu Koch hinüber. »Ist der Patient betäubt?«

Koch nickte. »Der schläft so tief, als ob er daheim im Bett läge.«

Wenn Sie doch auch daheim wären, dachte Paige. »Was verwenden Sie?«

»Propofil.«

Sie nickte. »In Ordnung.«

Sie beobachtete, wie Kelly an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen wurde, damit sie einen Bypass legen konnte. Paige beobachtete den Monitor an der Wand. Puls 140. Sauerstoffsätti-gung 92 Prozent. Blutdruck 80 zu 60. »Fangen wir an«, sagte Paige.

Einer der Assistenten schaltete Musik ein.

Paige trat am Operationstisch unter elfhundert Watt heißen, weißen Lichtes und wandte sich zur OP-Schwester. »Das Skalpell bitte .«

Die Operation begann.

Paige entfernte am Brustbein alle Drähte von der Operation des Vortags. Anschließend führte sie einen Schnitt von der Nackenbasis zum unteren Ende des Brustbeins, während ein Assistent das Blut wegwischte.

Paige schnitt mit allergrößter Behutsamkeit durch die Fett- und Muskelschichten, bis sie das unregelmäßig schlagende Herz vor sich hatte. »Da hätten wir das Problem«, stellte Paige fest. »Der Vorhof ist perforiert. Um das Herz sammelt sich Blut und drückt es zusammen.« Paige schaute zum Monitor an der Wand. Der Pumpendruck war gefährlich gesunken.

»Die Zufuhr erhöhen!« befahl Paige.

In dem Moment öffnete sich die Tür des Operationssaals. Lawrence Barker trat ein. Er stellte sich neben den OP-Tisch und beobachtete den Vorgang.

»Dr. Barker«, sagte Paige. »Möchten Sie.«

»Das ist Ihre Operation.«

Paige warf einen raschen Blick auf Koch. »Vorsicht! Die Narkose ist zu stark, verdammt! Langsamer!«

»Aber ich .«

»Vorhofflimmern . der Blutdruck fällt!«

»Was soll ich denn machen?« fragte Koch hilflos.

Das müßte er doch selber wissen, dachte Paige wütend. »Geben Sie ihm Lidocain und Epinephrin! Sofort!« schrie Paige.

»Gut.«

Paige sah, wie Koch die Spritze nahm und in einen IV-Schlauch einführte.

Ein Assistenzarzt schaute auf den Monitor und rief warnend: »Der Druck wird immer niedriger.«

Paige arbeitete wie verrückt, um das Strömen des Blutes zu unterbinden. Sie blickte zu Koch hoch. »Zu starker Fluß! Ich hab' Ihnen doch gesagt.«

Die Laute des Herzschlags auf dem Monitor wurden auf einmal chaotisch.

»Mein Gott! Da ist was schiefgelaufen!«

»Den Defibrillator!« schrie Paige.

Die OP-Schwester griff nach dem Defibrillator auf dem Gerätewagen für Rettungsaktionen, nahm zwei sterilisierte Elektroden heraus und schloß sie an. Sie drückte den Hebel nach oben, um sie zu laden, und reichte sie zehn Sekunden später Paige.

Paige nahm die Elektroden und brachte sie unmittelbar über Kellys Herz an. Kellys Körper sprang hoch und fiel wieder zurück.

Paige versuchte es noch einmal, versuchte ihn mit ihrer Willenskraft zu zwingen, ins Leben zurückzukehren, ihm zu suggerieren, das Atmen wieder aufzunehmen. Nichts. Das Herz lag still und regungslos da, ein totes, unnützes Organ.

Paige war außer sich vor Zorn. Ihr Teil der Operation war erfolgreich verlaufen. Koch hatte den Patienten zu stark narkotisiert.

Als Paige den Defibrillator zum drittenmal vergeblich ansetzte, trat Dr. Barker an den Operationstisch heran und wandte sich an Paige. »Sie haben ihn getötet.«

27.Kapitel

Jason befand sich in einer Planungssitzung, als seine Sekretärin

meldete: »Dr. Taylor für Sie am Telefon. Soll ich ihr sagen, daß sie später anrufen möchte?«

»Nein. Ich spreche mit ihr.« Er hob ab. »Paige?«

Sie schluchzte. »Jason . Ich brauche dich.«

»Was ist geschehen?«

»Könntest du zu mir in die Wohnung kommen?«

»Selbstverständlich. Bin gleich da.« Er stand auf. »Die Sitzung ist beendet. Wir machen morgen früh weiter.«

Als Jason eine halbe Stunde später eintraf, stand Paige mit völlig verweinten Augen in der Tür und warf sich ihm in die Arme.

»Aber was ist denn?« fragte Jason.

»Es ist furchtbar. Dr. Barker hat gesagt, daß. ich einen Patienten getötet hätte, und es war, ehrlich, es war gar nicht meine Schuld, daß er gestorben ist!« Ihr versagte die Stimme. »Ich halte es einfach nicht länger aus, sein.«

»Paige«, sagte Jason mitfühlend, »du hast mir doch erzählt, wie gemein er immer ist. Also, Dr. Barker kann doch gar nicht anders. Er hat einfach einen miesen Charakter.«

Paige schüttelte den Kopf.

»Es ist wirklich nicht nur das. Seit ich mit ihm zusammenarbeite, hat er systematisch versucht, mich aus dem Krankenhaus zu ekeln. Jason, wenn er ein schlechter Arzt wäre und nichts von meinen Fähigkeiten hielte, dann würde es mich ja auch nicht so belasten. Aber der Mann ist brillant. Ich kann sein Urteil über mich nicht ignorieren. Ich glaube, ich bin einfach nicht gut genug.«

»Unsinn!« sagte Jason verärgert. »Natürlich bist du gut genug.

Jeder sagt, du seist eine hervorragende Ärztin.«

»Lawrence Barker nicht.«

»Vergiß ihn.«

»Das werde ich tatsächlich tun«, sagte Paige. »Ich werde nämlich kündigen.«

Jason nahm sie in seine Arme. »Paige - ich weiß doch, daß du deinen Beruf viel zu sehr liebst, um ihn aufzugeben.«

»Ich will doch nicht meinen Beruf aufgeben. Ich will bloß dieses Krankenhaus nie mehr wiedersehen.«

Jason zog ein Taschentuch hervor und trocknete ihre Tränen.

»Verzeih, daß ich dich mit solchen Sachen belästige«, bat Paige.

»Aber dafür sind zukünftige Ehemänner doch da, oder?«

Da gelang ihr, trotz allem, doch noch ein Lächeln. »Das klingt nett. Also gut.« Sie atmete einmal tief durch. »Jetzt fühl' ich mich schon wieder besser. Danke, daß du dir für mich Zeit genommen hast. Ich habe Dr. Wallace bereits angerufen und ihm mitgeteilt, daß ich kündigen werde. Ich fahre jetzt zum Krankenhaus, damit ich's hinter mir habe.«

»Also, dann sehen wir uns beim Abendessen.«

Als Paige über die Flure des Krankenhauses ging, kam es ihr auf einmal voll zu Bewußtsein, daß sie das alles nun zum letztenmal sah. Überall vertraute Geräusche; hin und her eilende Menschen -Paige merkte plötzlich, wie sehr sie hier zu Hause war. Sie mußte an Jimmy und an Tom denken; an all die ausgezeichneten Kollegen, mit denen sie hier zusammengearbeitet hatte; an den Tag, als Jason im weißen Kittel auf Visite mitgegangen war. Paige kam an der Cafeteria vorbei, wo sie hundertmal mit Honey und Kat gefrühstückt hatte; an der Lounge, wo sie mit ihnen das verunglückte Fest veranstaltet hatte.

Die Gänge und Räume waren voller Erinnerungen. Es wird mir fehlen, dachte Paige, aber ich weigere mich trotzdem, mit diesem Ekel unter einem Dach zu arbeiten.

Sie betrat das Büro von Dr. Wallace, der sie bereits erwartete.

»Also, ich muß schon sagen - Ihr Anruf hat mich überrascht, Paige! Ihre Entscheidung ist wirklich endgültig?«

»Jawohl.«

Benjamin Wallace seufzte laut. »Na schön. Übrigens - Dr. Barker möchte Sie gern sprechen, bevor Sie uns verlassen.«

»Mit dem hab' ich auch noch ein Wörtchen zu reden!« Bei Paige brach plötzlich der ganze aufgestaute Zorn durch.

»Er befindet sich im Labor. Also. viel Glück.«

»Danke.« Und schon war Paige auf und davon.

Als Paige ins Labor eintrat, untersuchte Dr. Barker gerade einige Dias unter dem Mikroskop. Er hob den Kopf. »Ich habe gehört, daß Sie beschlossen haben, das Krankenhaus zu verlassen.«

»Das stimmt. Jetzt kriegen Sie Ihren Willen.«

»Und der wäre?« fragte Dr. Barker.

»Sie haben mich vom ersten Augenblick an aus dem Krankenhaus weghaben wollen. Jetzt haben Sie's geschafft. Ich halte es nicht mehr aus, ich habe nicht mehr die Kraft, gegen Sie anzukämpfen. Als Sie mich beschuldigten, Ihren Patienten getötet zu haben, da ist mir.« Paige versagte die Stimme. »Sie sind ein Sadist, ein kaltherziges Ekel, und ich hasse Sie!«

»Setzen Sie sich«, sagte Dr. Barker.

»Nein. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«

»Aber ich Ihnen. Für wen zum Teufel halten Sie sich eigentlich, Sie.«

Er brach plötzlich ab und rang nach Luft.

Paige sah, wie er sich ans Herz griff und auf seinem Stuhl vornübersank. Die eine Seite des Gesichts war auf schreckliche Weise verzerrt. Paige war sofort an seiner Seite. »Dr. Barker!« Sie schnappte sich das Telefon und schrie in den Hörer: » Alarm Rot! Alarm

Rot!«

»Ein schwerer Schlaganfall«, sagte Dr. Peterson. »Es ist noch zu früh, um zu wissen, ob er überleben wird.«

Es ist meine Schuld, dachte Paige. Ich habe gewollt, daß er stirbt. Ihr war ganz elend.

Sie suchte noch einmal Ben Wallace auf. »Ich bedaure, was geschehen ist«, erklärte sie ihm. »Er war ein guter Arzt.«

»Ja. Das ist bedauerlich. Sehr sogar.« Wallace musterte sie. »Paige . Würden Sie bleiben, falls Dr. Barker bei uns nicht mehr praktizieren kann?«

Paige zögerte kurz. »Ja«, sagte sie dann. »Selbstverständlich.«

28. Kapitel

)ohn Cronin, weiß, männlich, Alter: 70, Diagnose: Herztumor.«

So stand es auf seinem Krankenblatt.

Persönlich hatte Paige diesen John Cronin, an dem sie eine Herzoperation vornehmen sollte, noch nicht kennengelernt. Sie trat in Begleitung einer Schwester und eines Krankenhausarztes in sein Zimmer und begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln: »Guten Morgen, Mr. Cronin.«

Cronin blickte zu Paige hinüber. »Wer zum Teufel sind Sie?«

»Ich bin Dr. Taylor. Ich werde Sie untersuchen und.«

»Den Teufel werden Sie tun! Nehmen Sie Ihre Scheißhände von mir weg! Warum schickt man mir keinen richtigen Arzt?«

Das Lächeln auf Paiges Gesicht schwand. »Ich bin Herzchirurgin. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit Sie wieder ge-sund werden.«

»Sie wollen an meinem Herzen herumoperieren?«

John Cronin fixierte den Assistenzarzt. »Himmel noch mal«, stieß er hervor, »ist das alles, was dieses Krankenhaus auf Lager hat?«

»Ich versichere Ihnen, Dr. Taylor ist voll qualifiziert«, wies ihn der Assistent zurecht.

»Das gilt auch für meinen Hintern.«

»Möchten Sie lieber von Ihrem eigenen Chirurgen operiert werden?« fragte Paige förmlich.

»Ich habe keinen eigenen Arzt. Ich kann mir solche überbezahlten Quacksalber nicht leisten. Ihr Ärzte seid doch alle gleich. Ihr seid immer bloß am Geld interessiert. Die Menschen scheren euch einen feuchten Dreck. Für euch sind wir einfach nur Fleischklumpen, an denen ihr rumschnipseln könnt. Hab' ich nicht recht?«

Paige verlor beinahe die Selbstbeherrschung. »Ich kann verstehen, daß Sie momentan etwas verstört sind, aber.«

»Ich und verstört? Bloß weil Sie mir das Herz herausschneiden werden?« Inzwischen schrie er fast. »Ich weiß, daß ich auf dem Operationstisch sterben werde. Sie werden mich umbringen. Hoffentlich sind Sie dann wegen Mord dran.«

»Das reicht!« bemerkte Paige.

Er griente sie maliziös an. »Es würde sich aber in Ihren Personalunterlagen gar nicht gut machen, wenn ich abkratze, nicht wahr, Frau Doktor? Vielleicht werde ich mich also doch von Ihnen operieren lassen.«

Paige kämpfte gegen eine heftige innere Erregung an. Sie konzentrierte sich auf die Arbeit und gab der Schwester Anweisungen. »Ich brauche ein EKG und einen Laborbericht.« Bevor sie den Raum verließ, warf sie John Cronin noch einen langen Blick zu.

Als sie eine Stunde danach mit den Testberichten zurückkehrte, hob John Cronin den Kopf. »Oha, da ist das Miststück ja schon wieder.«

Paige operierte John Cronin am folgenden Tag um sechs Uhr morgens. Als sie ihn aufschnitt, war ihr sofort klar, daß es für ihn keine Hoffnung mehr gab. Das Herz war nicht das Problem; aber Cro-nins Organe zeigten sämtliche Krebssymptome.

»O mein Gott!« rief einer der Assistenten aus. »Was sollen wir machen?«

»Wir werden für ihn beten, daß er damit nicht allzu lange leben muß.«

Als Paige den OP-Saal verließ, sah sie im Flur eine Frau und zwei Männer. Die Frau war Ende Dreißig, hatte knallrotes Haar und trug viel zuviel Make-up und roch nach einem schweren, süßlichen Parfüm; das enge Kleid betonte ihre üppigen Formen. Die Männer, ebenfalls rothaarig, waren Ende Vierzig. Irgendwie fühlte Paige sich beim Anblick der drei an eine Zirkustruppe erinnert.

»Sie sind Dr. Taylor?« fragte die Frau.

»Ja.«

»Ich bin Mrs. Cronin. Das sind meine Brüder. Wie geht's meinem Mann?«

Paige zögerte einen Augenblick und sagte dann mit Bedacht: »Die Operation ist so gut verlaufen, wie man erwarten durfte.«

»Ach ja, Gott sei Dank!« rief Mrs. Cronin überschwenglich und betupfte sich die Augen mit einem Spitzentaschentuch. »Ich würd' ja vor Kummer sterben, wenn John etwas zustoße.«

Paige hatte den Eindruck, einer Schmierenkomödiantin gegenüberzustehen.

»Kann ich meinen Liebling jetzt sehen?«

»Noch nicht, Mrs. Cronin. Er liegt zur Zeit im Aufwachraum. Ich würde empfehlen, ihn morgen zu besuchen.«

»Wir kommen wieder.« Sie winkte den Männern. »Los, kommt, Jungs.«

Paige sah ihnen nach und dachte nur: Der arme John Cronin.

Der Bericht, den Paige am nächsten Morgen bekam, hielt fest, daß der Krebs in John Cronins Körper bereits überall Metastasen gebildet hatte. Für eine Strahlenbehandlung war es zu spät.

»Da läßt sich nichts mehr machen«, erklärte der Onkologe, »wir können nur noch versuchen, ihm seine Lage so angenehm wie möglich zu machen. Er wird verdammt starke Schmerzen haben.« »Wieviel Zeit bleibt ihm noch?« »Allerhöchstens ein bis zwei Wochen.«

Paige ging John Cronin in der Intensivstation besuchen. Er schlief. John Cronin war für sie nicht länger ein verbitterter, giftiger alter Mann, sondern ein Mensch, der verzweifelt um sein Leben kämpfte. Er war an ein Atemgerät angeschlossen und wurde intravenös ernährt. Paige ließ sich an seiner Seite nieder, um ihn zu beobachten. Er wirkte müde und erschlagen. Er gehört zu den Pechvögeln, dachte Paige, die die Medizin trotz aller modernen Wunder nicht zu retten vermag. Paige streichelte ihm behutsam über den Arm, bevor sie ihn wieder verließ.

Am Spätnachmittag schaute Paige noch einmal bei John Cronin vorbei. Er hing nicht mehr am Beatmungsgerät. Als er die Augen öffnete und Paige wahrnahm, sagte er benommen: »Die Operation ist zu Ende, wie?«

Paige schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Ja. Ich bin nur rasch vorbeigekommen, um zu sehen, ob Sie es bei uns bequem haben.«

»Bequem?« Er schnaubte verächtlich. »Das ist Ihnen doch völlig

schnurz.«

»Bitte«, sagte Paige, »wir wollen uns doch jetzt nicht streiten.«

Cronin lag schweigend da und beobachtete sie. »Der andere Arzt hat mir gesagt, daß Sie gute Arbeit geleistet haben.«

Paige äußerte sich nicht.

»Ich habe Krebs. Stimmt's?«

»Ja.«

»Wie schlimm steht es?«

Die Frage stellte Paige vor das Dilemma, mit dem alle Chirurgen früher oder später konfrontiert werden. Sie gab zu: »Es steht ziemlich schlimm.«

Langes Schweigen. »Was ist mit Bestrahlung oder Chemotherapie?«

»Es tut mir leid, aber dabei würden Sie sich nur noch schlechter fühlen, und es würde nichts bringen.«

»Ich verstehe. Also. es war ein schönes Leben. Ich habe gut gelebt.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Sie werden's vielleicht nicht glauben, wenn Sie mich hier so sehen - aber ich habe viele Frauen gehabt.«

»Ich glaub's Ihnen.«

»Yeah. Frauen . dicke Steaks. gute Zigarren . Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Sollten Sie aber sein. Alle Menschen sollten verheiratet sein. Ich bin verheiratet gewesen. Zweimal. Das erste Mal fünfunddreißig Jahre lang - mit einer wunderbaren Frau. Sie ist an einem Herzanfall gestorben.«

»Das tut mir leid.«

»Schon gut.« Er seufzte. »Dann hab' ich mich dazu hinreißen lassen, ein Flittchen zu heiraten. So ein Flittchen - und dann ihre zwei gierigen Brüder! Ist wohl meine eigene Schuld. Weil ich geil war. War ihr rotes Haar, das mich angemacht hat. Die ist vielleicht ein durchtriebenes Stück.«

»Ich bin sicher, daß sie .«

»Will Sie ja nicht beleidigen - aber wissen Sie, warum ich in diesem blöden Bezirkskrankenhaus liege? Meine Frau hat darauf bestanden. Wollte meinetwegen kein Geld für eine Privatklinik aus dem Fenster rausschmeißen. Auf die Weise bleibt nach meinem Tod mehr für sie und ihre beiden Brüder übrig.« Er sah Paige in die Augen. »Wie lange hab' ich denn noch?«

»Wollen Sie es wirklich wissen?«

»Nein. Ja.«

»Ein bis zwei Wochen.«

»Jesusmaria! Die Schmerzen werden weiter zunehmen, nicht wahr?«

»Ich werde tun, was ich kann, um es für Sie erträglich zu machen, Mr. Cronin.«

»Nennen Sie mich John.«

»John.«

»Das Leben ist gemein, nicht wahr?«

»Sie haben aber doch gesagt, daß Sie ein schönes Leben gehabt haben.«

»Hab' ich auch. Ist nur irgendwie komisch - zu wissen, daß es praktisch vorbei ist. Wo geht die Reise hin - was meinen Sie?«

»Ich weiß nicht.«

Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich werd's Ihnen sagen, wenn ich angekommen bin.«

»Sie werden gleich ein paar Medikamente bekommen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Yeah. Kommen Sie heut nacht und reden Sie mit mir.«

Eigentlich hatte Paige in dieser Nacht dienstfrei, außerdem war sie todmüde, doch sie versprach es ihm. »Ich komme wieder.«

John Cronin lag wach, als Paige ihn am Abend noch einmal in seinem Zimmer besuchte.

»Wie fühlen Sie sich?«

Er verzog das Gesicht. »Furchtbar. Mit Schmerzen bin ich nie besonders gut fertig geworden. Ich habe vermutlich eine niedrige Toleranzgrenze.«

»Ich verstehe.«

»Sie sind Hazel begegnet, oder?«

»Hazel?«

»Meiner Frau. Dem Flittchen. Sie ist mich mit ihren zwei Brüdern besuchen gekommen. Sie haben mir erzählt, daß sie mit Ihnen gesprochen hätten.«

»Ja.«

»Das ist mir eine, was? Da hab' ich mir echt einen Haufen Probleme aufgeladen. Die drei können's gar nicht erwarten, daß ich ins Gras beiße.«

»Das stimmt doch gar nicht.«

»Doch, das stimmt. Hazel hat mich nur aus einem Grund geheiratet - sie will mein Geld. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen - mich hat das nicht sehr gekratzt. Ich hatte wirklich eine schöne Zeit mit ihr im Bett. Aber dann ist sie - zusammen mit ihren Brüdern -plötzlich habgierig geworden. Sie wollten immer noch mehr.«

Paige und Cronin verharrten in wohltuendem Schweigen.

»Hab' ich Ihnen erzählt, daß ich viel von der Welt gesehen habe?«

»Nein.«

»Yeah. Ich bin in Schweden gewesen ... Dänemark. Deutschland. Waren Sie schon mal in Europa?«

Sie mußte an ihren Besuch im Reisebüro denken. Reisen wir nach Venedig! - Nein, wir fahren nach Paris! - Wie wär's denn mit London? »Nein, noch nie.«

»Sollten Sie aber.« »Vielleicht später einmal.«

»In so einem Krankenhaus verdient man nicht gerade viel, hab' ich recht?«

»Ich verdiene genug.«

Er nickte, als ob er sich in irgend etwas bestätigt sah. »Yeah, Sie müssen Europa kennenlernen. Tun Sie mir einen Gefallen. Besuchen Sie Paris. wohnen Sie im Hotel Crillon, essen Sie bei Ma-xim's zu Abend, bestellen Sie sich ein großes, dickes Steak und eine Flasche Champagner, und wenn Sie das Steak essen und den Champagner trinken, dann denken Sie bitte an mich. Würden Sie das tun?«

»Eines Tages werde ich das tun.«

John Cronin sah sie mit einem prüfenden Blick an. »Gut. Ich bin jetzt müde. Kommen Sie morgen wieder, damit wir uns weiter unterhalten können?«

»Ich komme wieder«, versprach Paige.

John Cronin schlief.

29.Kapitel

Ken Mallory setzte großes Vertrauen in Frau Fortuna und war nach der Begegnung mit den Harrisons noch fester davon überzeugt, daß sie auf seiner Seite standen. Daß ein so wohlhabender Mensch wie Alex Harrison ins Embarcadero County Hospital eingeliefert wurde, war ein reiner Glücksfall. Und dann bin ich derjenige gewesen, der ihm das Leben gerettet hat, und jetzt will er sich mir gegenüber dankbar erweisen. Mallory rieb sich die Hände.

Er hatte sich bei einem Freund nach den Harrisons erkundigt.

»Reich ist überhaupt kein Ausdruck«, hatte der Freund ihm berichtet. »Der ist ein Multimultimillionär. Und außerdem hat er eine gutaussehende Tochter, die ist drei- oder viermal verheiratet gewesen. Das letzte Mal mit einem Grafen.«

»Kennst du die Harrisons persönlich?«

»Nein. Mit gewöhnlichen Menschen verkehren die nicht.«

Als Alex Harrison an einem Samstagmorgen aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wollte er wissen: »Ken, glauben Sie, daß ich heute in einer Woche wieder fit genug sein werde, um eine Abendgesellschaft zu geben?«

Mallory nickte. »Ich wüßte nicht, was dagegen spräche. Wenn Sie's nicht übertreiben.«

Alex Harrison lächelte. »Ausgezeichnet. Sie werden unser Ehrengast sein.«

Mallory geriet in Hochstimmung. Der alte Herr meint es tatsächlich ernst. »Also. vielen Dank.«

»Lauren und ich erwarten Sie heute in acht Tagen um halb acht abends.« Er gab Mallory eine Adresse auf dem Nob Hill.

»Ich werde da sein«, erklärte Mallory. Und ob!

Eigentlich hatte er Kat versprochen, an diesem Abend mit ihr ins Theater zu gehen; aber das würde sich problemlos verschieben lassen. Die Wette hatte er ja gewonnen, das Geld eingestrichen, und Sex mit ihr war nach wie vor ein Genuß. Sie fanden in jeder Woche mehrmals zueinander - in einem unbenutzten Bereitschaftsraum, einem leeren Krankenzimmer oder auch in ihrer oder seiner Wohnung. Ihr Feuer ist lange Zeit unterdrückt gewesen, dachte Mallory beglückt, doch als es dann gefunkt hat - wow! Aber nun würde bald der Tag kommen, an dem er ihr Arrividerci< sagen mußte.

Mallory rief Kat erst an dem Tag an, als er bei den Harrisons eingeladen war. »Schlechte Nachrichten, Baby.«

»Was gibt's denn, Liebling?«

»Ein Kollege ist erkrankt und hat mich gebeten, für ihn einzuspringen. Ich fürchte, ich muß unsere Verabredung heute abend platzen lassen.«

Sie wollte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen; wollte nicht, daß er merkte, wie wichtig er ihr war. Sie sagte daher leichthin: »So ist das nun mal bei uns Ärzten, nicht wahr?«

»Yeah. Ich werd's ein andermal gutmachen.«

»Da gibt es nichts gutzumachen«, meinte sie innig. »Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.«

»Ken - wann werden wir darüber sprechen . ich meine, über uns beide?«

»Was meinst du damit?« Er wußte ganz genau, worauf sie hinauswollte. Auf eine feste Zusage. Sie sind doch alle gleich. Sie benutzen ihre Muschis als Köder und hoffen, sich so einen Idioten zu angeln, der dann das ganze Leben mit ihnen verbringt. Also, dafür war er zu clever. Dem würde er sich, wie schon ein dutzendmal geschehen, im richtigen Augenblick mit einem Ausdruck des Bedauerns zu entziehen wissen.

»Meinst du nicht«, fragte Kat, »daß wir ein Datum festsetzen soll-ten? Da gibt es doch viel im voraus zu planen, Ken.«

»Sicher. Machen wir.«

»Ich hatte eventuell an Juni gedacht. Was hältst du davon?«

Du wirst bestimmt nicht wissen wollen, was ich davon halte. Wenn ich meine Karten nur richtig ausspiele, wird es wirklich eine Hochzeit geben, aber nicht mit dir. »Wir werden das alles noch besprechen, Baby. Jetzt muß ich mich aber wirklich sputen.«

Das Heim der Harrisons, mitten in einem sorgfältig gepflegten Landschaftsgarten, sah aus wie ein Herrenhaus im Film; im Inneren schienen die Flure und Räume kein Ende zu nehmen. Zwei Dutzend Gäste waren versammelt, im riesigen Wohnraum spielte eine Kapelle. Lauren rannte Mallory entgegen. Sie trug ein enganliegendes, langes Seidenkleid. Sie drückte Mallory die Hand. »Unser Ehrengast - herzlich willkommen! Ich freu' mich, daß Sie da sind.«

»Ich mich auch. Wie geht's Ihrem Vater?«

»Dank Ihnen ist er sehr lebendig. In unserem Freundeskreis feiert man Sie als Helden.«

Mallory setzte ein bescheidenes Lächeln auf. »Ich habe nur meine Pflicht getan.«

»Das sagt Gott vermutlich jeden Tag.« Sie nahm ihn an der Hand und stellte ihn den übrigen Gästen vor.

Die Creme de la creme hatte sich eingefunden - der Gouverneur von Kalifornien, der französische Botschafter, ein Richter vom Sup-reme Court und ein Dutzend Politiker, Künstler und Tycoons. Mallory konnte die Macht, die von diesen Leuten ausging, fast körperlich wahrnehmen - ein Gefühl, das ihn richtig in Stimmung brachte. Das ist meine Welt, sagte er sich. Bei diesen Menschen fühle ich mich zu Hause.

Das Dinner war köstlich, und es wurde stilvoll serviert. Als die Gäste sich zum Schluß einer nach dem andern verabschiedeten, nahm Harrison Mallory beiseite: »Nun stürzen Sie nicht gleich davon, Ken. Ich würde mich gern noch mit Ihnen unterhalten.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

Harrison, Lauren und Mallory nahmen in der Bibliothek Platz.

»Es war mir ernst damit, als ich Ihnen im Krankenhaus erklärte, daß Sie eine große Zukunft vor sich hätten.«

»Ihr Vertrauen ehrt mich, Sir.«

»Sie sollten Ihre eigene Praxis aufmachen.«

Mallory lächelte bescheiden. »Das ist gar nicht so einfach, Mr. Harrison. Es dauert ziemlich lange, eine Privatpraxis aufzubauen, und.«

»Für gewöhnlich schon, ja. Aber Sie sind kein gewöhnlicher Mensch.«

»Was meinen Sie damit?«

Lauren kam ihm zu Hilfe. »Vater möchte Ihnen gern eine Privatpraxis einrichten, wenn Sie Ihre Ausbildungszeit am Krankenhaus beendet haben.«

Mallory war zunächst einmal sprachlos. Das ging ihm zu schnell. Ihm war zumute wie in einem wunderbaren Traum. »Ich. ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Ich habe viele wohlhabende Freunde. Mit einigen habe ich bereits über Sie gesprochen, und eins kann ich Ihnen heute schon sagen - in dem Moment, wo Sie Ihren Laden aufmachen, werden Sie sich vor dem Ansturm nicht retten können.«

»Daddy, Ärzte machen doch keinen Laden auf.«

»Nenn es, wie du willst. Ich würde Sie jedenfalls gern finanzieren. Wären Sie daran interessiert?«

Es verschlug Mallory förmlich die Sprache. »Sehr sogar. Aber ich. ich weiß nicht, wann ich Ihnen das Geld zurückzahlen könnte.«

»Sie verstehen mich falsch. Ich zahle doch Ihnen etwas zurück. Sie werden mir gar nichts schulden.«

Lauren schaute Mallory mit einem herzlichen Blick an. »Sagen Sie ja. Bitte.«

»Ich wäre doch blöd, wenn ich nein sagen würde, oder?«

»Genau«, hauchte Lauren ihm zu. »Und ich weiß doch, daß Sie nicht dumm sind.«

Auf dem Heimweg befand Ken sich im Zustand reinster Euphorie. Besser könnte es gar nicht kommen, dachte er. Aber da irrte er sich gewaltig. Es kam noch viel besser.

Lauren rief bei ihm an. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Geschäftliches mit Privatvergnügen zu verbinden.«

Er klopfte sich innerlich auf die Schulter. »Nicht im geringsten. Woran hatten Sie denn gedacht?«

»Nächsten Samstag findet ein Wohltätigkeitsball statt. Möchten Sie mich begleiten?«

Oh, Baby, und ob ich dich begleiten möchte. »Herzlich gern.« Er hatte am kommenden Samstag Dienst - er würde sich einfach krank melden, dann müßte das Krankenhaus Ersatz für ihn finden.

Mallory war jemand, der gern vorausdachte; was ihm nun widerfuhr, übertraf allerdings seine wildesten Zukunftsträume.

In den darauffolgenden Wochen wurde er in Laurens Gesellschaftskreise hineingezogen, so daß sein Leben zum atemberaubenden Wirbel wurde und er mit Lauren manchmal die halbe Nacht durchtanzte; tagsüber wankte er dann durchs Krankenhaus und überstand seinen Dienst nur mit Mühe. Die Beschwerden über seine Arbeit häuften sich; aber das war ihm egal. Ich bin sowieso nicht mehr lange hier, sagte er sich.

Der Gedanke, von diesem langweiligen Krankenhaus befreit zu werden und eine eigene Praxis zu führen, war schon aufregend ge-nug; aber Frau Fortuna gab ihm noch einen zusätzlichen Bonus -Lauren.

Kat wurde allmählich lästig. Mallory mußte dauernd neue Ausreden erfinden, um sich ihr zu entziehen. Sie drängte; und dann sagte er etwa: »Liebling, ich bin verrückt nach dir. natürlich möchte ich dich gern heiraten, aber im Moment, weißt du, ich.« und dann folgte eine ganze Litanei von Entschuldigungen.

Es war Laurens Vorschlag, miteinander ein Wochenende im Landhaus der Familie in Big Sur zu verbringen. Mallory jubelte. Die ganze verdammte Welt ist himmelblau, dachte er. Und mir liegt sie zu Füßen!

Der Besitz zog sich über bewaldete Hügel hin, das Haus, ein enormes Gebäude aus Holz, Schindeln und Stein, schaute auf den Pazifik hinaus. Es bestand aus einem riesigen Schlafzimmer, acht Gästezimmern, einem geräumigen Wohnraum mit gemauertem Kamin, einem überdachten Swimmingpool und einem großen Heißwasserbecken. Das Ganze stank nur so nach Geld.

Lauren sagte gleich nach der Ankunft: »Ich habe den Bediensteten für das Wochenende freigegeben.«

Mallory grinste. »Gute Idee.« Er legte die Arme um sie und flüsterte: »Ich bin ganz wild auf dich.«

»Dann zeig's mir doch.«

Sie blieben den ganzen Tag über im Bett. Lauren war fast so unersättlich wie Kat.

»Du erschöpfst mich ja total!« lachte Mallory.

»Gut. Ich will nicht, daß du auch nur in der Lage wärst, eine andere zu lieben!« Sie setzte sich auf. »Es gibt doch in deinem Leben keine andere, Ken?«

»Absolut nicht«, erwiderte Mallory in seinem aufrichtigsten Ton. »Außer dir gibt's für mich niemanden auf der Welt. Ich liebe dich, Lauren.« Der Moment war gekommen, in dem er alles wagen muß-te; seine gesamte Zukunft mußte er jetzt fein säuberlich zu einem

Paket schnüren. Ein erfolgreicher Arzt mit eigener Praxis - das war eine Sache. Alex Harrisons Schwiegersohn - das war noch etwas völlig anderes. »Ich möchte dich heiraten.«

Er hielt, in Erwartung ihrer Antwort, den Atem an.

»O ja, Liebling«, sagte Lauren. »Ja.«

Kat versuchte verzweifelt, Mallory zu erreichen. Sie rief beim Krankenhaus an. »Bedaure, Dr. Hunter, aber Dr. Mallory ist nicht im Dienst und meldet sich nicht.«

»Hat er denn keine Nachricht hinterlassen, wo man ihn erreichen könnte?«

»Bei uns ist nichts vermerkt.«

Kat legte den Hörer auf und wandte sich an Paige. »Ihm muß etwas zugestoßen sein. Ich weiß es. Sonst hätte er mich doch angerufen!«

»Aber Kat, es könnte tausend Gründe geben, warum du nichts von ihm gehört hast. Vielleicht hat er plötzlich verreisen müssen, oder.«

»Du hast ja recht. Es gibt dafür bestimmt einen guten Grund.« Kat fixierte das Telefon. Sie wollte es zwingen zu läuten.

Als Mallory nach San Francisco zurückkam, rief er sofort im Krankenhaus an und verlangte Kat.

»Dr. Hunter ist nicht im Dienst«, informierte ihn die Zentrale.

»Danke.« Mallory rief in der Wohnung an. Kat war daheim.

»Ken! Wo bist du gewesen? Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich habe dich überall zu erreichen.«

»Eine Familienkrise«, behauptete er glattzüngig. »Tut mir leid, aber ich konnte dich nicht mehr anrufen. Ich mußte plötzlich verreisen. Darf ich zu dir kommen?« »Das weißt du doch. Ich bin ja so froh, daß es dir gutgeht. Ich.«

»In einer halben Stunde.« Er legte auf. Er dachte: Die Zeit ist gekommen, sagte das Walroß, da so mancherlei besprochen werden muß. Kat, Baby, es hat großen Spaß gemacht, aber damit hat sich's nun.

Als Mallory die Wohnung betrat, warf Kat ihm die Arme um den Hals. »Du hast mir ja so gefehlt!« Sie durfte ihm gar nicht sagen, wie groß ihre Verzweiflung und Sorge gewesen waren - dergleichen können Männer auf den Tod nicht leiden. Sie trat einen Schritt zurück. »Aber Darling, du siehst ja völlig erschöpft aus!«

Mallory seufzte. »In den letzten vierundzwanzig Stunden hab' ich nicht eine Sekunde Schlaf bekommen.«

Kat umarmte ihn. »Armer Liebling. Kann ich dir etwas anbieten?«

»Nein, alles in Ordnung. Was ich jetzt brauche, ist Schlaf. Komm, setzen wir uns. Wir müssen etwas bereden.«

»Stimmt was nicht?« fragte Kat.

Mallory holte tief Luft. »Kat, ich hab' in letzter Zeit viel über uns nachgedacht.«

»Ich auch.« Sie lächelte. »Und ich hab' Nachrichten für dich. Ich.«

»Nein, warte. Laß mich ausreden. Kat, ich glaube, daß wir alles doch ein bißchen überstürzt haben. Ich. mein Heiratsantrag war vielleicht ein wenig unüberlegt.«

Sie erbleichte. »Was. was willst du damit sagen?«

»Ich will damit nur sagen, daß ich meine, wir sollten alles ein wenig verschieben.«

Ihr war, als würde die Welt um sie herum zusammenbrechen. Sie vermochte kaum mehr zu atmen. »Ken, wir können nichts mehr verschieben. Ich bekomme ein Baby von dir.«

30.Kapitel

Als Paige um Mitternacht nach Hause kam, war sie total erledigt.

Der Tag war überaus anstrengend gewesen. Zum Mittagessen war überhaupt keine Zeit geblieben; und abends hatte sie sich zwischen zwei Operationen nur rasch ein Sandwich greifen können. Sie ließ sich ins Bett fallen und schlief auf der Stelle ein. Beim Läuten des Telefons wurde sie wieder wach. Paige griff nach dem Hörer. Sie warf automatisch einen Blick auf die Uhr neben dem Bett. Es war drei Uhr früh.

»Dr. Taylor? Tut mir leid, daß ich Sie störe, aber einer Ihrer Patienten gibt keine Ruhe und will Sie unbedingt sofort sprechen.«

Paige hatte einen so ausgetrockneten Hals, daß sie kaum sprechen konnte. »Ich bin doch außer Dienst«, murmelte sie. »Kann denn nicht jemand anders.«

»Er will mit niemand sonst reden. Er sagt, daß er sie braucht.«

»Wer ist es?«

»John Cronin.«

Paige setzte sich ein wenig auf. »Was fehlt ihm denn?«

»Das weiß ich nicht. Er will mit niemandem sprechen. Er will nur Sie.«

»Also gut«, sagte Paige seufzend. »Ich fahre gleich los.«

Als Paige eine halbe Stunde später das Krankenhaus erreichte, begab sie sich direkt zu John Cronin aufs Zimmer. Er lag wach im Bett. Aus den Nasenlöchern und von den Armen stachen Röhrchen hervor.

»Danke, daß Sie gekommen sind.« Die Stimme klang schwach und heiser.

Paige ließ sich auf dem Stuhl neben seinem Bett nieder. Sie setzte ein freundliches Lächeln auf. »Ist schon gut, John. Ich hatte sowie nichts zu tun, außer zu schlafen. Was kann ich für Sie tun - wie kommt's, daß es in diesem riesigen Krankenhaus außer mir niemanden gibt, der etwas für Sie tun kann?«

»Ich möchte mit Ihnen reden.«

Paige stöhnte laut auf. »Um diese Tageszeit? Ich hatte angenommen, daß es sich um irgendeine Art von Notfall handeln würde.«

»Tut es auch. Ich möchte gehen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Sie können jetzt nicht nach Hause. Dort könnten Sie diese besondere Behandlung nicht.«

Er unterbrach sie. »Ich will doch nicht nach Hause. Ich möchte gehen.«

Sie ließ den Blick auf ihm ruhen und fragte ganz langsam: »Was wollen Sie damit sagen?«

»Sie wissen ganz genau, was ich damit sagen will. Die Medikamente wirken nicht mehr. Ich kann diese Schmerzen nicht länger ertragen. Ich will da raus.«

Paige beugte sich vor und hielt ihm die Hand. »John, das darf ich nicht tun. Kommen Sie, ich gebe Ihnen.«

»Nein. Ich bin es leid, Paige. Ich möchte sterben, ganz gleich, wohin es dann geht, aber so will ich hier nicht länger herumhängen.« »John.«

»Wie lang habe ich denn überhaupt noch? Noch ein paar Tage? Ich hab' Ihnen ja gesagt, daß ich mit Schmerzen nicht gut zurechtkomme. Ich bin hier wie ein Tier, das in der Falle sitzt, ich stecke voller gottverdammter Röhrchen. Mein Körper wird von innen zerfressen. Das ist kein Leben - das ist Sterben. Um Gottes willen, helfen Sie mir!«

Er wurde von einem plötzlichen Schmerzkrampf geschüttelt. Als er wieder sprach, war seine Stimme noch leiser, noch schwächer. »Helfen Sie mir doch . bitte .«

Paige wußte, was sie in so einer Situation zu tun hätte: Sie müßte

John Cronins Bitte Dr. Benjamin Wallace melden, der sie weiterleiten würde an den Verwaltungsrat des Krankenhauses, der wiederum ein Ärztekomitee damit beauftragen würde, John Cronins Zustand zu begutachten, und danach eine Entscheidung träfe, welche anschließend gebilligt werden müßte durch.

»Paige. es ist mein Leben. Erlauben Sie, daß ich entscheide, was ich damit mache.«

Sie betrachtete die hilflose, vor Schmerz zuckende Gestalt.

»Ich flehe Sie an.«

Sie nahm seine Hand und hielt sie lange Zeit, schweigend, bis sie sagte: »In Ordnung, John. Ich werde es tun.«

Ihm gelang der Hauch eines Lächelns. »Ich habe gewußt, daß ich auf Sie zählen kann.«

Paige beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. »Schließen Sie die Augen, damit Sie schlafen.«

»Gute Nacht, Paige.«

»Gute Nacht, John.«

Paige blieb sitzen und betrachtete ihn nachdenklich. Was hatte sie sich da vorgenommen? Sie erinnerte sich daran, wie entsetzt sie am ersten Tag, auf ihrer ersten Visite mit Dr. Radnor, reagiert hatte. Sie liegt bereits seit sechs Wochen im Koma. Ihre Lebenszeichen werden schwächer. Wir können nichts mehr für sie tun. Wir werden heute nachmittag den Stöpsel herausziehen. War es falsch, einen Mitmenschen aus seinem Elend zu erlösen?

Ganz langsam, wie unter Wasser, stand Paige auf und ging zu einem Schrank in der Ecke, wo für Notfälle eine Flasche Insulin aufbewahrt wurde. Sie nahm die Flasche heraus. Sie blieb reglos stehen. Sie betrachtete die Flasche. Sie schraubte die Flasche auf. Sie füllte eine Spritze mit dem Insulin und trat wieder an John Cronins Bett. Noch konnte sie zurück. Ich bin hier wie ein Tier, das in der Falle sitzt... Das ist kein Leben ... Das ist Sterben. Um Gottes willen, helfen Sie mir.

Paige lehnte sich vor und führte das Insulin langsam in die intravenöse Versorgung ein.

»Schlaf gut«, flüsterte Paige. Sie merkte nicht einmal, daß sie schluchzte.

Paige fuhr nach Hause und lag die ganze restliche Nacht über wach und dachte über ihre Tat nach.

Der Anruf kam um sechs Uhr morgens.

»Bedaure, Ihnen schlechte Nachrichten mitteilen zu müssen. Dr. Taylor. Ihr Patient John Cronin ist am frühen Morgen an Herzstillstand gestorben.«

Der diensttuende Oberarzt an diesem Morgen war Dr. Arthur Kane.

31. Kapitel

Ken Mallory war bisher nur ein einziges Mal in der Oper gewesen; damals war er eingeschlafen. An diesem Abend sah er im Opernhaus von San Francisco Verdis Rigoletto und genoß jede Minute. Er saß mit Lauren Harrison und ihrem Vater in einer Loge. Während der Pause hatte Alex Harrison ihn im Foyer des Opernhauses einer Reihe von Freunden vorgestellt.

»Mein zukünftiger Schwiegersohn, ein brillanter Arzt - Ken Mal-lory.« Es reichte, Alex Harrisons Schwiegersohn zu werden, um ein brillanter Arzt zu sein.

Nach der Vorstellung hatten die Harrisons mit Mallory im eleganten, großen Speisesaal des Fairmont Hotels zu Abend gegessen. Mallory genoß die ehrfürchtige Begrüßung des Maitre d'hotel, der sie zu ihrem Separee geleitete. Von nun an werde ich mir derartige Schuppen leisten können, dachte Mallory. Von nun an werde ich jemand sein.

Nachdem sie bestellt hatten, sagte Lauren: »Liebling, ich finde, wir sollten ein Fest veranstalten, um unsere Verlobung bekanntzugeben.«

»Eine blendende Idee!« sagte ihr Vater. »Was sagen Sie dazu, Ken?«

In Mallorys Bewußtsein begann eine Alarmglocke zu klingeln. Eine Verlobungsparty würde öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Ich muß unbedingt zuerst die Angelegenheit mit Kat hinbiegen. Das müßte sich, wie er meinte, mit einem kleinen Sümmchen regeln lassen. Mallory verfluchte die dumme Wette, auf die er sich eingelassen hatte. Wegen lächerlicher zehntausend Dollar stand nun seine gesamte glänzende Zukunft auf dem Spiel. Er konnte sich vorstellen, was passieren würde, wenn er den Harrisons von Kat erzählen würde.

Übrigens, ich habe ganz vergessen zu erwähnen, daß ich schon verlobt bin, mit einer Arztin vom Krankenhaus. Sie ist eine Schwarze...

Oder so: Soll ich Ihnen mal was Lustiges erzählen? Ich habe gegen die Jungs vom Krankenhaus gewettet, daß ich's schaffen würde, diese schwarze Arztin zu ficken .

Oder auch: Ich hatte bereits eine andere Hochzeit geplant.. ,

Nein, dachte er, ich werde einen Weg finden müssen, um Kat loszuwerden.

Die beiden sahen ihn ganz erwartungsvoll an.

Mallory lächelte. »Eine Party. das klingt wundervoll.«

»Gut«, erklärte Lauren begeistert. »Dann werde ich die Sache in die Hand nehmen. Männer haben ja keine Idee, was zu einer Party alles dazugehört.«

Alex Harrison wandte sich an Mallory. »Ich habe den Ball für Sie bereits in Rollen gebracht.«

»Sir?«

»Ich habe da einen alten Golfkumpel, Gary Gitlin, Chef des North Shore Hospitals, mit dem habe ich über Sie gesprochen, und er meint, es sei überhaupt kein Problem, Sie in seinem Krankenhaus unterzubringen. So was ist ziemlich prestigeträchtig, wissen Sie. Und gleichzeitig würde ich Ihnen Ihre Privatpraxis einrichten.«

Mallory lauschte andächtig. »Das ist herrlich.«

»Es wird natürlich ein paar Jahre dauern, bis Sie eine wirklich lukrative Praxis aufgebaut haben, ich denke aber, daß Sie doch in der Lage sein müßten, in den ersten Jahren zwei- bis dreihunderttausend Dollar zu verdienen.«

Zwei- oder dreihunderttausend Dollar! Mein Gott! dachte Mallory. Und das sagt er so dahin, als ob's ein paar Erbsen wären. »Das . das wäre sehr angenehm, Sir.«

Alex Harrison lächelte. »Ken, da ich nun einmal dein Schwiegervater sein werde, sollten wir mit diesem albernen >Sir< Schluß machen. Nenn mich Alex.«

»Gut, Alex.«

»Ich habe bisher noch nie im Juni geheiratet«, bemerkte Lauren. »Ist dir Juni recht, Liebling?«

Ihm klang Kats Stimme im Ohr. Meinst du nicht auch, daß wir ein Datum festsetzen sollten? Ich hatte eventuell an Juni gedacht.

Mallory nahm Laurens Hand. »Hört sich gut an.« Das läßt mir eine Menge Zeit, um mit Kat fertig zu werden, überlegte Mallory. Beim nächsten Gedanken mußte er innerlich schmunzeln. Ich werde ihr etwas von dem Geld anbieten, das ich gewonnen habe, weil ich sie ins Bett kriegte.

»Wir haben eine Jacht in Südfrankreich«, erzählte Alex Harrison. »Was haltet ihr zwei davon, die Flitterwochen an der Französischen Riviera zu verbringen? Hinfliegen könnt ihr ja mit unserer Gulf-stream-Maschine.«

Eine Jacht. Die Französische Riviera. Es war wie ein Traum, der in Erfüllung geht. Mallory schaute Lauren an. »Mit Lauren würde ich überall Flitterwochen machen.«

Alex Harrison nickte. »Na, da scheint ja alles geregelt.« Er warf seiner Tochter einen zufriedenen Blick zu. »Du wirst mir fehlen, Schatz.«

»Es ist ja nicht so, daß du mich verlierst, Vater. Du gewinnst einen Arzt dazu.«

»Und einen verdammt guten Arzt! Ich kann dir nie genug dafür danken, daß du mir das Leben gerettet hast, Ken.«

Lauren streichelte Mallorys Hand. »Ich werde ihm an deiner Stelle danken.«

»Hör zu, Ken - warum treffen wir uns nächste Woche nicht zum Lunch«, schlug Harrison vor. »Wir suchen anständige Praxisräume für dich, eventuell im Post Building, und ich bringe dich mit Gary Gitlin zusammen. Meine Freunde können's gar nicht abwarten, dich kennenzulernen.«

»Und ich habe meinen Freundinnen von dir erzählt. Die sind ebenfalls ziemlich scharf darauf, deine Bekanntschaft zu machen -nur werde ich das verhindern.«

»Ich habe an niemandem Interesse, außer an dir«, erklärte Mal-lory im Brustton der Überzeugung.

Als sie in den Rolls-Royce einstiegen, der von einem Chauffeur gefahren wurde, fragte Lauren: »Wo sollen wir dich absetzen?«

»Am Krankenhaus. Ich muß mich noch um ein paar Patienten kümmern.« Er hatte keineswegs die Absicht, sich um irgendwelche Patienten zu kümmern. Er ging nur hin, weil er wußte, daß Kat Dienst hatte.

Lauren streichelte ihm die Wange. »Armer Kleiner. Du arbeitest viel zuviel.«

Mallory seufzte. »Macht nichts. Solange ich nur Menschen helfen kann.«

Er fand Kat in der geriatrischen Abteilung.

»Hallo, Kat.«

Sie war übelgelaunt. »Wir hatten gestern abend eine Verabredung, Ken.«

»Ich weiß. Entschuldige, ich habe es einfach nicht geschafft, und.«

»Das ist in dieser Woche bereits das dritte Mal. Was ist nur mit dir los?«

Sie entwickelte sich langsam zur Nervensäge. »Kat, ich muß mit dir reden. Gibt es hier irgendwo ein leeres Zimmer?«

Sie dachte einen Augenblick lang nach. »Der Patient von Zimmer 315 ist heute entlassen worden. Dort wären wir ungestört.«

Sie gingen den Flur hinunter. Eine Schwester kam auf sie zu. »Ach, Dr. Mallory! Dr. Peterson sucht sie. Er.«

»Sagen Sie ihm, ich sei beschäftigt.« Er faßte Kat am Arm und führte sie zum Fahrstuhl.

Im dritten Stock schwiegen beide, bis Mallory auf Zimmer 315 die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er war nervös. Von den nächsten paar Minuten hing seine ganze goldene Zukunft ab.

Er nahm Kats Hand. Es wurde Zeit, offen und ehrlich zu sein. »Kat, du weißt, daß ich nach dir verrückt bin. Was ich für dich empfinde, das habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht für eine Frau empfunden. Andererseits, Schatz, die Vorstellung, jetzt sofort ein Kind in die Welt zu setzen. also . siehst du nicht auch, wie falsch das wäre? Ich meine. wir sind beide Tag und Nacht beschäftigt, und wir verdienen doch nicht genug, um.«

»Aber wir könnten damit auskommen«, widersprach Kat. »Ken, ich liebe dich, und ich.«

»Warte. Ich verlange ja nur, daß wir das Ganze ein bißchen aufschieben. Wenn meine Zeit im Krankenhaus ausläuft und ich irgendwo eine Privatpraxis aufmachen kann. Vielleicht kehren wir in den Osten zurück. In ein paar Jahren werden wir's uns leisten können, zu heiraten und ein Kind zu kriegen.«

»In ein paar Jahren? Ich hab' dir doch gesagt, daß ich schwanger bin.«

»Ich weiß, Liebling, aber du bist jetzt, Moment. im zweiten Monat? Da ist noch genug Zeit, um abzutreiben.«

Kat sah ihn mit einem Ausdruck des Entsetzens an. »Nein! Ich werde es nicht abtreiben lassen! Ich will, daß wir sofort heiraten. Jetzt!«

Wir haben eine Jacht in Südfrankreich. Was haltet ihr zwei davon, die Flitterwochen an der Französischen Riviera zu verbringen? Hinfliegen könnt ihr ja mit unserer Gulfstream-Maschine.

»Ich habe Paige und Honey schon gesagt, daß wir heiraten werden. Sie werden meine Brautjungfern sein. Und von dem Baby wissen die beiden auch.«

Mallory lief es kalt über den Rücken. Die Dinge gerieten außer Kontrolle. Falls die Harrisons Wind davon bekämen, wäre er erledigt. »Das hättest du nicht tun dürfen.«

»Warum nicht?«

Mallory zwang sich zu einem Lächeln. »Weil es mir lieber ist, wenn unser Privatleben unser Privatleben bleibt.« Ich werde Ihnen eine Praxis einrichten... in den ersten Jahren zwei- bis dreihunderttausend Dollar. »Kat, ich frage dich jetzt zum letztenmal: Wirst du eine Abtreibung vornehmen lassen?« Er suggerierte ihr mit aller Willenskraft ein Ja und versuchte gleichzeitig, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.

»Nein.«

»Kat.«

»Ich bring's nicht über mich, Ken. Ich hab' dir doch erzählt, wie ich mich wegen der Abtreibung gefühlt habe, die ich als junges

Mädchen erlebt habe. Ein zweites Mal könnte ich das nicht ertragen. Frag mich bitte nicht noch mal.«

Es war in diesem Augenblick, daß Ken Mallory begriff: Er durfte nichts riskieren. Er sah keine andere Alternative. Ich werde sie umbringen müssen.

32. Kapitel

Honey freute sich jeden Tag schon im voraus darauf, den Patienten auf Zimmer 306 wiederzusehen. Er hieß Sean Reilly und war ein gutaussehender Ire mit schwarzem Haar und funkelnden dunklen Augen. Honey schätzte ihn auf Anfang Vierzig.

Als Honey ihn zum erstenmal auf ihrer Visite bemerkte, hatte sie auf sein Krankenblatt gesehen und gesagt: »Wie ich sehe, sind Sie wegen einer Cholezystektomie hier.«

»Ich dachte, sie wollten mir die Gallenblase entfernen.«

Honey lächelte. »Das ist doch dasselbe.«

Sean richtete seine schwarzen Augen auf sie. »Die Ärzte können mir herausschneiden, was sie wollen, nur nicht mein Herz. Das gehört Ihnen.«

Honey lachte. »Mit Schmeicheln erreichen Sie alles.«

»Hoffentlich, Feinsliebchen.«

Wann immer Honey einige Minuten erübrigen konnte, schaute sie bei Sean herein. Er war ebenso liebenswürdig wie amüsant.

»Lohnt sich, operiert zu werden, nur um Sie um sich zu haben, Feinsliebchen.«

»Sie sind gar nicht nervös wegen der Operation, nicht wahr?«

»Solang Sie operieren, bestimmt nicht, Liebes.«

»Ich bin kein Chirurg. Ich bin Internistin.«

»Dürfen Internistinnen mit ihren Patienten zu Abend essen?«

»Nein. Das ist gegen die Regeln.«

»Setzen Internistinnen sich denn nie über die Regeln hinweg?«

»Niemals.« Honey sagte es mit einem Lächeln.

»Ich finde Sie wunderschön«, erklärte Sean.

Das hatte Honey noch nie jemand gesagt. Sie spürte, wie sie rot wurde. »Danke sehr.«

»Sie sind wie Morgentau in den Tälern von Killarney.«

»Sind Sie überhaupt schon einmal in Irland gewesen?« fragte Honey vorsichtig.

Er lachte schallend. »Nein. Aber ich verspreche Ihnen - eines Tages werden wir gemeinsam nach Irland fahren. Sie werden schon sehen.«

Es war lächerlich. Typisch irisch, diese Übertreibungen, aber trotzdem.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte sie, als sie ihn am Nachmittag besuchte.

»Besser. Weil ich Sie sehe. Haben Sie über unsere Verabredung nachgedacht?«

»Nein«, log Honey.

»Ich hatte gehofft, daß ich nach der Operation mit Ihnen ausgehen könnte. Sie sind doch nicht verlobt oder verheiratet oder was ähnlich Dummes, oder?«

Honey lächelte ihm zu. »So was Dummes nicht.«

»Prima! Ich auch nicht. Wer würde mich schon wollen?«

Viele Frauen würden dich sofort nehmen, dachte Honey.

»Falls Sie Hausmannskost mögen - ich koche fantastisch.«

»Mal sehen.«

Als Honey am Morgen darauf wiederkam, sagte er: »Ich habe ein kleines Geschenk für Sie.« Er überreichte ihr ein Blatt Zeichenpa-pier. Es zeigte eine zarte, idealisierte Skizze von Honey.

»Das gefällt mir!« rief Honey. »Sie sind ja ein richtiger Künstler.« Und da fielen ihr plötzlich wieder die Worte des Mediums ein: Sie werden sich verlieben. Er ist Künstler. Sie sah Sean mit einem merkwürdigen Blick an.

»Stimmt was nicht?«

»Nein«, sagte Honey ganz langsam. »Nein.«

Fünf Minuten später tauchte Honey bei Frances Gordon auf.

»Da kommt ja die Jungfrau!«

Honey fragte ohne Umschweife: »Können Sie sich erinnern, daß Sie mir vorausgesagt haben, ich würde mich verlieben - in einen Künstler?«

»Ja.«

»Also. ich glaube, ich bin ihm begegnet.«

Frances Gordon lächelte. »Sehen Sie? Die Sterne lügen nie.«

»Könnten. Könnten Sie mir ein bißchen was über ihn erzählen? Über uns beide?«

»In der Schublade drüben liegen ein paar Tarotkarten. Würden Sie mir die bitte bringen?«

Als Honey die Karten holte, dachte sie: Das ist lächerlich! An so etwas glaube ich doch gar nicht!

Frances Gordon legte die Karten aus. Sie nickte immer wieder vor sich hin, nickte, lächelte still in sich hinein, bis sie plötzlich innehielt. »O mein Gott!« Sie hob den Kopf und sah Honey lange an.

»Was ist denn?« fragte Honey erschrocken.

»Dieser Künstler - Sie sagen, daß Sie ihm bereits begegnet sind?«

»Ich glaube ja. Doch.«

In der Stimme Frances Gordons lag tiefe Trauer. »Der arme Mann!« Ihre Augen ruhten mitfühlend auf Honey. »Es tut mir leid - es tut mir ja so leid.«

Sean Reillys Operation war für den folgenden Morgen anberaumt.

8.15 Uhr: Dr. William Radner traf die Vorbereitungen für die Operation in OP-Saal 2.

8.25 Uhr: Vor dem Eingang zur Notfallstation des Embarcadero hielt ein Lkw mit dem Wochenbedarf an Blutkonserven. Der Fahrer trug die Konserven zur Blutbank im Keller. Der diensthabende Arzt Eric Foster genoß bei Kaffee und Plundergebäck gerade die Gesellschaft der hübschen jungen Schwester Andrea.

»Wo soll ich sie ablegen?« fragte der Fahrer.

»Legen Sie sie einfach dorthin.« Foster deutete in eine Ecke.

»Okay.« Der Fahrer legte die Konserven auf den Boden und zog ein Formular heraus. »Sie müssen sich hier noch verewigen.«

»In Ordnung.« Foster zeichnete das Formular ab. »Danke.«

»Kein Problem.« Der Fahrer verschwand.

Foster wandte sich wieder Andrea zu. »Wo waren wir stehengeblieben?«

»Sie haben mir gerade erzählt, wie bewundernswert ich sei.«

»Richtig. Und wenn Sie nicht verheiratet wären, wäre ich echt hinter Ihnen her«, erklärte der im Krankenhaus wohnende Medizinalassistent. »Lassen Sie sich manchmal auf was ein?«

»Nein. Mein Mann ist nämlich Boxer.«

»Ach so. Haben Sie noch eine Schwester?«

»Um ehrlich zu sein - ja.«

»Ist sie so hübsch wie Sie?«

»Noch hübscher.«

»Und wie heißt sie?«

»Marilyn.«

»Warum verabreden wir uns dann nicht für einen Abend zu viert?«

Während sie alberten, schaltete sich das Faxgerät ein. Foster beachtete es nicht.

8.45 Uhr: Dr. Radnor begann mit der Operation an Sean Reilly. Alles verlief reibungslos. Der OP-Saal funktionierte wie eine gutgeölte Maschine, die von Leuten bedient wird, die ihr Handwerk verstehen.

9.05 Uhr: Dr. Radnor erreichte den Gallenblasengang. Bis dahin war die Operation wie nach Lehrbuch verlaufen. Als er zum Herausschneiden der Gallenblase ansetzte, glitt seine Hand aus, und das Skalpell ritzte eine Arterie. Blut strömte aus. »Herrje!« Er versuchte, den Blutfluß aufzuhalten. Der Anästhesist meldete laut: »Der Blutdruck ist soeben unter 95 gesunken. Er kommt unter Schock!«

Radnor wandte sich an die OP-Schwester. »Beschaffen Sie uns Blut! Stat.« »Bin unterwegs, Doktor.«

9.05 Uhr: In der Blutbank läutete das Telefon.

»Nicht fortgehen!« befahl Foster Schwester Andrea, ging zum Telefon und nahm ab. »Hier Blutversorgung.« »Wir benötigen im OP-Saal 2 vier Einheiten Blutgruppe 0. Stat.« »Okay.« Foster legte auf und ging in die Ecke, wo das neu eingetroffene Blut deponiert worden war. Er zog vier Beutel heraus und legte sie auf das oberste Regal des Metallwagens, der für solche Notfälle bereitstand. Er überprüfte die Blutkonserven zweimal. »Blutgruppe 0«, sagte er laut. Er telefonierte nach einem Krankenhauspfleger. Das Faxgerät stand inzwischen still.

»Was ist los?« fragte Andrea.

Foster warf einen Blick auf den OP-Terminplan, der vor ihm lag. »Sieht so aus, als ob Dr. Radnor Schwierigkeiten mit einem Patienten bekommt.«

9.15 Uhr: Der Krankenpfleger meldete sich in der Blutbank. »Was steht an?«

»Bringen Sie die vier Beutel zum OP-Saal 2. Man wartet drauf.« Er schaute dem Krankenpfleger nach, der den Wagen hinausschob, und setzte die Unterhaltung mit Andrea fort. »Erzählen Sie mir von Ihrer Schwester.« »Sie ist ebenfalls verheiratet.« »Wie sehr.«

Andrea grinste. »Aber sie macht herum.« »Ehrlich?«

»Ich mach' bloß Spaß. Ich muß wieder an die Arbeit, Eric. Danke für den Kaffee und das Gebäck.«

»Jederzeit.« Er sah ihr nach und dachte: Was für ein herrlicher Hintern!

9.25 Uhr: Der Krankenpfleger wartete auf den Fahrstuhl, der ihn in den zweiten Stock bringen sollte.

9.23 Uhr: Dr. Radnor tat alles in seiner Macht Stehende, um die Katastrophe einzugrenzen. »Wo bleibt das verflixte Blut?!«

9.25 Uhr: Der Krankenpfleger klopfte an die Tür zum OP-Saal 2. Eine OP-Schwester öffnete ihm.

Sie sagte: »Danke sehr.« Sie trug die Tüten in den Raum. »Hier ist das Blut, Doktor.« »Pumpen Sie's in ihn hinein. Schnell!«

In der Blutbank trank Eric Foster seinen Kaffee aus und dachte an Andrea. Warum nur müssen die Hübschen immer gleich verheiratet sein?

Auf dem Weg zum Schreibtisch kam er am Faxgerät vorbei. Er zog das Fax heraus. Die Nachricht lautete:

Rückruf Alarm #687, 25. Juni: Rote Blutkörperchen, frisches gefrorenes Plasma. Einheiten CB93711, CB800007. Öffentliche Blutbank von Kalifornien, Arizona, Washington, Oregon. Untersuchung der in Umlauf gebrachten Blutprodukte ergab mehrfach positive Reaktion auf HIV-Test, Typ I.

Foster musterte es kurz, ging zum Schreibtisch, nahm den Lieferschein zur Hand, den er für die soeben eingetroffenen Blutkonserven abgezeichnet hatte. Dann warf er einen Blick auf die Nummer des Lieferscheins. Es war dieselbe Nummer wie auf dem Fax.

»O mein Gott!« Er griff nach dem Telefonhörer. »Verbinden Sie mich mit OP 2, ganz schnell.« Dort meldete sich eine Schwester.

»Hier die Blutbank. Ich habe soeben vier Einheiten der Gruppe 0 hochgeschickt. Nicht verwenden! Ich schicke sofort neues Blut herauf.«

Die Schwester erwiderte: »Bedaure. Zu spät.«

Es kam zu einer offiziellen Untersuchung, die nichts ergab. »Es war nicht meine Schuld«, erklärte Eric Foster. »Als das Fax hier eintraf, war das Blut leider bereits nach oben geschickt worden.«

Dr. Radnor unterrichtete Sean Reilly.

»Es war ein Irrtum«, sagte Dr. Radnor. »Ein schrecklicher Irrtum. Ich würde alles tun, um ihn ungeschehen zu machen.« Sean starrte ihn entsetzt an. »Mein Gott! Ich werde sterben.«

»Es wird sechs bis acht Wochen dauern, bevor wir wissen, ob Sie HIV-positiv sind. Und selbst wenn, muß das noch nicht bedeuten, daß Sie an Aids erkranken. Wir werden alles Menschenmögliche für Sie tun.«

Honey war am Boden zerstört, als sie die Nachricht erfuhr. Ihr kamen die Worte von Frances Gordon in den Sinn. Der arme Mann.

Sean Reilly schlief, als Honey sein Zimmer betrat. Sie saß lange Zeit schweigend an seinem Bett und beobachtete ihn.

Er öffnete die Augen und erblickte Honey. »Ich hab' geträumt, daß ich träumte, daß ich nicht sterben würde.« »Sean.«

»Sind Sie hergekommen, um die Leiche zu besuchen?« »Bitte, so etwas dürfen Sie nicht sagen.« »Wie konnte das nur geschehen?« Er weinte. »Irgend jemand hat einen Fehler begangen, Sean.« »Mein Gott, ich will nicht an Aids sterben.« »Manche Leute sind HIV-positiv und kriegen nie Aids. Und die Iren haben doch Glück.« »Wenn ich Ihnen nur glauben könnte!« Sie nahm seine Hand. »Sie müssen mir glauben.« »Ich habe bisher nicht zu den Menschen gehört, die zu Gott beten«, seufzte Sean. »Jetzt werde ich aber damit anfangen, darauf können Sie Gift nehmen!«

»Ich bete mit«, sagte Honey.

Er lächelte trübselig. »Das gemeinsame Abendessen werden wir jetzt wohl vergessen müssen, oder?«

»Aber nein. So leicht kommen Sie mir nicht davon. Ich freu' mich schon darauf.« Er musterte sie. »Sie meinen das wirklich, nicht wahr?« »Darauf können Sie wetten! Ganz gleich, was passiert - vergessen Sie nicht, daß Sie versprochen haben, mir Irland zu zeigen.«

33. Kapitel

Fühlst du dich nicht wohl, Ken?« fragte Lauren. »Du bist ja richtig verspannt, Liebling.«

Die beiden waren in Harrisons riesiger Bibliothek allein.

Beim vorhergehenden sechsgängigen Diner, das ein Dienstmädchen und ein Butler serviert hatten, hatte Harrison - Nenn mich Alex - mit Mallory über dessen große Zukunft gesprochen.

»Gibt's einen Grund, daß du so verspannt bist?«

Weil diese schwangere schwarze Hexe von mir erwartet, daß ich sie heirate. Weil unsere Verlobung jeden Moment an die Öffentlichkeit dringen kann, und wenn sie es erfährt, bringt sie alles zum Platzen. Weil meine ganze schöne Zukunft zerstört werden könnte.

Er nahm Laurens Hand. »Ich muß wohl zuviel arbeiten. Patienten sind für mich mehr als nur Patienten, Lauren. Für mich sind sie Menschen, Menschen in Not. Ich sorge mich um sie.«

Sie streichelte sein Gesicht. »Das ist einer der Gründe, warum ich dich so schätze, Ken. Du nimmst soviel Anteil.« »Das hat sicherlich mit meiner Erziehung zu tun.«

»Oh - ich hab' ganz vergessen, es dir zu sagen. Der Redakteur für die Gesellschaftsseite des Chronicle kommt am Montag mit einem Fotografen vorbei, für ein Interview.«

Das traf ihn wie ein Schlag in den Magen.

»Ob du es wohl einrichten könntest, daß du auch kommst, Liebling? Sie möchten ein Foto von dir.«

»Ich. ich würde ja gern. Aber ich habe den ganzen Tag über im Krankenhaus zu tun.« Seine Gedanken überschlugen sich fast. »Lauren, hältst du es wirklich für eine gute Idee, zu diesem Zeitpunkt ein Interview zu geben? Ich meine, sollten wir damit nicht warten, bis .«

Lauren lachte. »Du kennst die Presse nicht, Liebling. Die Journalisten sind wie Bluthunde. Nein, so was bringt man am besten gleich hinter sich.«

Montag!

Am folgenden Morgen spürte Mallory Kat nach langem Suchen endlich in einem Haushaltsraum auf. Sie wirkte müde und hager. Sie war ohne Make-up; das Haar unfrisiert. Lauren würde sich niemals so gehenlassen, dachte Mallory.

»Hallo, Schatz.«

Kat gab keine Antwort.

Mallory nahm sie in die Arme. »Ich habe viel über uns nachgedacht, Kat. Ich habe während der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. Du bedeutest mir alles. Du hattest recht, ich habe mir die Sache nicht richtig überlegt. Ich glaube, es lag daran, daß mich die Nachricht im ersten Moment völlig überrascht hat, fast wie ein Schock. Ich möchte, daß du unser Baby zur Welt bringst.« Er sah, wie Kats Gesicht plötzlich aufleuchtete.

»Meinst du das wirklich, Ken?« »Darauf kannst du wetten.«

Sie legte ihm die Arme um den Hals. »Gott sei Dank! Ach, Liebling, ich habe ja solche Angst gehabt. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde.«

»Darüber mußt du dir doch keine Gedanken machen. Von jetzt an wird alles wunderbar.« Du ahnst ja nicht, wie wunderbar. »Sieh mal, am Sonntagabend habe ich keinen Dienst. Hast du Zeit?«

Sie griff nach seiner Hand. »Ich werde sie mir nehmen.«

»Großartig! Dann werden wir zusammen irgendwo hübsch essen gehen und hinterher auf einen Schlummertrunk zu dir in die Wohnung. Könntest du es hinkriegen, daß Paige und Honey uns nicht im Weg sind - was meinst du? Ich möchte gern, daß wir beide ungestört sind.«

Kat lächelte. »Kein Problem. Du weißt ja gar nicht, wie glücklich mich das macht. Habe ich dir überhaupt schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?«

»Ich liebe dich doch auch. Ich werd's dir am Sonntag beweisen.«

Mallory kam nach langen und gründlichen Überlegungen zu dem Schluß, daß sein Plan narrensicher war. Er hatte ihn bis ins letzte Detail ausgearbeitet. Es würde absolut unmöglich sein, ihn, Ken Mallory, für Kats Tod verantwortlich zu machen.

Sich das erforderliche Mittel aus der Krankenhausapotheke zu besorgen, wäre zu riskant; die Sicherheitsmaßnahmen waren dort nach der Bowman-Affäre verschärft worden. Mallory suchte deshalb am Sonntagmorgen nach einer Apotheke, die weit entfernt von seiner Wohngegend lag; da sonntags jedoch die meisten Apotheken geschlossen hatten, war erst die sechste oder siebte, die er ansteuerte, geöffnet.

»Guten Morgen«, grüßte der Apotheker hinter der Theke. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ja. Ich mache einen Hausbesuch bei einem Patienten hier in der Gegend und möchte ihm gern ein Mittel verschreiben und mitbringen.« Er zog seinen Rezeptblock aus der Tasche und füllte ein Formular aus.

Der Apotheker zeigte sich angenehm überrascht. »Es gibt heutzutage nicht mehr viele Ärzte, die noch Hausbesuche machen.«

»Ich weiß. Wirklich ein Jammer, daß sich die Leute nicht mehr um ihre Mitmenschen kümmern.« Er händigte dem Apotheker das Rezept aus.

Der Apotheker warf einen Blick darauf und meinte dann zuvorkommend: »Es wird nur ein paar Minuten dauern.« »Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

Schritt Nummer eins.

Am Sonntag nachmittag schaute Mallory im Krankenhaus vorbei. Er blieb nicht länger als etwa zehn Minuten, und als er wieder herauskam, trug er ein kleines Paket.

Schritt Nummer zwei.

Mallory hatte sich mit Kat im Trader's Vic zum Abendessen verabredet. Er war schon vor ihr da, und als er sie dann auf seinen Tisch zukommen sah, dachte er sich im stillen: Das ist dein letztes Abendmahl, du Miststück.

Er erhob sich und begrüßte sie mit einem warmherzigen Lächeln. »Hallo, Puppe. Schön siehst du aus.« Sie sah wirklich sensationell aus. Sie hätte ein Model sein können. Und im Bett ist sie auch eine Wucht.

Ihr fehlt wirklich nur eins, dachte Ken, nämlich runde zwanzig Millionen Dollar.

Kat wurde sich im Restaurant wieder einmal der Blicke der anderen Frauen bewußt, die neidisch auf ihr ruhten. Doch Ken hatte nur für sie, nur für Kat Augen. Er war wieder ganz der alte Ken, den sie liebte, aufmerksam und liebevoll.

»Wie ist dein Tag gewesen?« erkundigte sich Ken.

Sie seufzte. »Es gab viel zu tun. Drei Operationen am Morgen und drei am Nachmittag.« Sie beugte sich vor. »Ich weiß, daß es dafür eigentlich noch zu früh ist, aber ich schwör's dir - als ich mich für den Abend zurechtgemacht habe, da hab' ich das Baby spüren können.«

Mallory lächelte. »Vielleicht möchte es gern herauskommen.«

»Wir können einen Ultraschalltest machen lassen, damit wir wissen, ob's ein Junge oder ein Mädchen wird. Dann könnte ich schon die Babysachen kaufen.«

»Gute Idee.«

»Ken, können wir den Hochzeitstag festlegen? Ich würde gern so bald wie möglich heiraten.«

»Kein Problem«, meinte Ken. »Wir können die Heiratslizenz in der kommenden Woche beantragen.«

»Wunderbar!« Ihr kam plötzlich ein Gedanke. »Vielleicht könnten wir uns ja ein paar Tage freinehmen und Flitterwochen machen. Irgendwo, nur nicht zu weit weg - oben in Oregon oder Washington.«

Falsch, Baby. Ich mache im Juni auf meiner Jacht an der Französischen Riviera Flitterwochen.

»Das klingt himmlisch. Ich werde mit Wallace darüber sprechen.«

Kat drückte ihm die Hand. »Ich danke dir«, sagte sie mit rauher Stimme. »Ich werde dir die beste Frau in der ganzen Welt sein.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Ken. »Und nun iß dein Gemüse. Wir wollen doch ein gesundes Baby, nicht wahr?«

Sie verließen das Restaurant um neun Uhr. Kurz vor Kats Wohnung erkundigte sich Ken: »Bist du auch ganz sicher, daß Paige und Honey nicht zu Hause sind?«

»Ich habe dafür gesorgt«, erwiderte Kat. »Paige arbeitet im Krankenhaus. Honey habe ich einfach erzählt, daß ich mit dir allein sein möchte.« Scheiße!

Sie bemerkte den Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nein, Baby. Aber ich habe dir doch gesagt, daß es mir am liebsten ist, Privates auch wirklich ganz privat zu halten.« Ich werde aufpassen müssen, dachte er. Ich werde sogar sehr vorsichtig sein müssen. »Komm, schnell.«

Seine Ungeduld tat Kat wohl.

In der Wohnung sagte Mallory gleich: »Komm, gehen wir ins Schlafzimmer.«

Kat grinste. »Klingt irgendwie gut.«

Mallory sah Kat beim Entkleiden zu. Sie hat eine herrliche Figur, dachte er. Ein Baby würde die Figur bloß ruinieren.

»Willst du dich nicht ausziehen, Ken?«

»Selbstverständlich.« Er erinnerte sich an den Abend, als sie ihn dazu gebracht hatte, sich auszuziehen, und ihn dann hatte stehenlassen. Das würde er ihr heute heimzahlen.

Er zog sich langsam aus. Werd' ich's überhaupt bringen können? fragte er. Er zitterte fast vor Nervosität. Sie ist selber schuld. Meine Schuld ist es nicht. Ich hab' ihr Gelegenheit gegeben, einen Rückzieher zu machen, und sie war zu dumm, die Gelegenheit zu nutzen.

Er schlüpfte neben sie ins Bett und fühlte, wie sich ihr warmer Körper an seinen schmiegte. Sie streichelten einander. Er spürte, wie sie ihn erregte, und er drang in sie ein. Sie begann zu stöhnen.

»Oh, Liebling. das ist ja so wundervoll.« Sie bewegte sich immer schneller. »Ja. ja. o mein Gott! . nicht aufhören.« Und ihr Leib begann, krampfhaft zu zucken, und dann erschauerte sie und lag danach ganz still in seinen Armen.

Sie wandte sich ihm besorgt zu. »Und du .?«

»Natürlich«, log Mallory. Er war viel zu verkrampft gewesen. »Möchtest du einen Drink?«

»Nein. Besser nicht. Das Baby.«

»Aber heut feiern wir doch, Schatz. Und ein kleiner Schluck kann sicher nicht schaden.«

Kat zögerte. »Na gut. Aber wirklich nur einen ganz kleinen Schluck.« Sie wollte das Bett verlassen.

Mallory hielt sie zurück. »Nein, nein. Mama bleibt im Bett. Von jetzt an mußt du dich verwöhnen lassen.«

Kat blickte Mallory nach, der ins Wohnzimmer ging, und sie dachte: Ich bin die glücklichste Frau der Welt!

Mallory begab sich zu der kleinen Bar und goß Scotch in zwei Gläser. Er vergewisserte sich, daß er vom Schlafzimmer aus nicht beobachtet werden konnte, ging dann zur Couch, auf der er sein Jackett abgelegt hatte, zog ein Fläschchen aus der Tasche und schüttelte den Inhalt in Kats Glas. Er kehrte zur Bar zurück, rührte Kats Drink um und roch daran - nichts zu merken. Er trug die Gläser ins Schlafzimmer und reichte Kat ihr Getränk.

»Laß uns auf unser Baby anstoßen!« sagte Kat.

»Gut. Auf unser Baby.«

Er sah genau zu, als Kat einen großen Schluck nahm.

»Wir werden uns irgendwo eine hübsche Wohnung suchen«, meinte Kat verträumt. »Ich werd' ein Kinderzimmer einrichten. Wir werden unser Kind schrecklich verwöhnen, nicht wahr?« Sie nahm einen zweiten Schluck.

Mallory nickte. »Total.« Er behielt sie im Auge. »Wie fühlst du dich?« »Herrlich. Ich hatte mir um uns solche Sorgen gemacht, Ken. Aber jetzt nicht mehr.«

»Prima«, sagte Mallory. »Du hast auch gar keinen Grund, dir Sorgen zu machen.«

Kat konnte die Augen kaum mehr offenhalten. »Nein«, sagte sie. »Es gibt keinen Grund zur Sorge.« Sie begann plötzlich, undeutlich zu sprechen. »Ken, mir ist so komisch.« Alles begann, sich um sie zu drehen.

»Du hättest niemals schwanger werden dürfen.« Sie sah ihn verständnislos an. »Was?« »Du hast alles verdorben, Kat.«

»Verdorben.?« Sie hatte allmählich Mühe, sich zu konzentrieren.

»Du bist mir in die Quere gekommen.«

»Was.?«

»Niemand hat mir in die Quere zu kommen.« »Ken, mir ist so schwindlig.«

Er stand neben dem Bett und blickte von oben auf sie herab. »Ken. hilf mir doch, Ken .« Ihr Kopf fiel nach hinten aufs Kissen.

Mallory schaute auf die Uhr. Er hatte noch viel Zeit.

34. Kapitel

Es war Honey, die zuerst nach Hause kam und über Kats verstümmelten Körper stolperte, der in einer Blutlache auf den weißen Badezimmerfliesen lag; daneben eine blutbefleckte Kürette. Das Blut kam aus Kats Schoß.

Honey war vor Schreck wie versteinert. »O mein Gott!« flüsterte sie erstickt. Honey kniete sich neben den Körper und hielt zitternd einen Finger gegen Kats Halsschlagader. Kein Puls. Honey stürzte ins Wohnzimmer, nahm den Hörer ab und wählte.

Eine Männerstimme antwortete: »Neun-eins-neun Notfall.«

Honey war wie gelähmt und brachte kein Wort heraus.

»Neun-eins-neun Notfall. Hallo?«

»H... Hilfe! Ich. Da liegt.« Die Worte blieben ihr im Hals stecken. »S. Sie ist tot.«

»Wer ist tot, Miss?«

»Kat.«

»Ihre Katze ist tot?«

»Nein!« kreischte Honey. »Kat ist tot. Schicken Sie sofort jemand her.«

»Meine Dame.«

Honey knallte den Hörer auf die Gabel. Mit bebenden Fingern wählte sie das Krankenhaus an. »Dr. T.Taylor, bitte.« Ihre Stimme erstarb.

»Augenblick.«

Honey umklammerte das Telefon. Sie mußte zwei Minuten warten, bis sie die Stimme von Paige hörte. »Hier Dr. Taylor.«

»Paige! Du. du mußt sofort nach Haus kommen!«

»Honey? Was ist geschehen?«

»Kat. sie ist tot.«

»Was!?« Sie schien es nicht glauben zu können. »Wie?«

»Es. es sieht so aus, als ob sie versucht hätte abzutreiben.«

»O mein Gott! In Ordnung. Ich komm' so schnell ich kann.«

Als Paige in der Wohnung ankam, waren dort bereits zwei Polizisten, ein Kriminalbeamter und ein Leichenbeschauer eingetroffen. Honey, die unter starken Beruhigungsmitteln stand, befand sich in ihrem Zimmer. Der ärztliche Leichenbeschauer war über Kats nackte Leiche gebeugt. Bei Paiges Eintreten hob der Kriminalbeamte den Kopf.

»Wer sind Sie?«

Paige starrte auf den leblosen Körper am Boden. Sie war erblaßt. »Ich bin Dr. Taylor. Ich wohne hier.«

»Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich bin Inspector Burns. Ich habe versucht, mit der anderen Dame zu sprechen, die hier wohnt, sie war jedoch völlig hysterisch. Der Arzt hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.«

Paige wandte den Blick von dem gräßlichen Anblick auf dem Boden ab. »Was. was möchten Sie wissen?«

»Die Tote hat hier gewohnt?«

»Ja.« Ich werde das Baby von Ken behalten!

»Es sieht so aus, als hätte sie versucht, das Baby loszuwerden, und hat's vermasselt«, meinte der Kriminalbeamte.

Paige stand regungslos da. Um sie drehte sich alles. »Das glaube ich nicht«, sagte sie schließlich.

Inspector Burns musterte sie kurz. »Und warum glauben Sie das nicht, Frau Doktor?«

»Weil sie das Baby unbedingt bekommen wollte.« Sie konnte allmählich wieder klar denken. »Es war der Vater, der es nicht gewollt hat.«

»Der Vater?«

»Dr. Ken Mallory. Er arbeitet am Embarcadero County Hospital. Er wollte sie auch nicht heiraten. Hören Sie, Kat ist - war -«, dieses war auszusprechen, tat weh, »Ärztin. Falls sie abtreiben wollte, hätte sie es nie selber in einem Badezimmer versucht.« Paige schüttelte den Kopf. »Da stimmt etwas nicht.«

Der ärztliche Leichenbeschauer richtete sich auf. »Vielleicht hat sie's selber versucht, weil sie nicht wollte, daß jemand von dem Baby erfuhr.«

»Das ist nicht wahr. Sie hat es uns erzählt.«

Inspector Burns beobachtete Paige nachdenklich. »Ist sie an diesem Abend allein in der Wohnung gewesen?«

»Nein. Sie hatte eine Verabredung mit Dr. Mallory.«

Ken Mallory lag im Bett und ließ die Ereignisse des Abends noch einmal Revue passieren. Er ging jeden Schritt noch einmal in Gedanken durch, vergewisserte sich, daß er nichts vergessen hatte. Perfekt, sagte er sich zu guter Letzt. Er fragte sich, warum die Polizei wohl so lange brauchte; und während er noch darüber nachdachte, klingelte es an der Wohnungstür. Mallory ließ es dreimal läuten, bevor er aufstand, sich einen Morgenmantel überzog und ins Wohnzimmer ging.

Er kam an die Tür. »Wer ist da?« Er gab seiner Stimme einen verschlafenen Ton.

»Dr. Mallory?«

»Ja.«

»Inspector Burns. Kriminalpolizei.«

»Kriminalpolizei?« Die Überraschung in seiner Stimme war genau richtig dosiert. Mallory öffnete die Tür.

Der Mann auf dem Flur zeigte seine Dienstmarke. »Darf ich eintreten?«

»Ja. Worum geht's denn?«

»Ist Ihnen eine Frau Dr. Hunter bekannt?«

»Selbstverständlich.« Sein Gesicht zeigte Beunruhigung. »Ist Kat etwas passiert?«

»Sind Sie heute abend mit ihr zusammengewesen?«

»Ja. Mein Gott, nun sagen Sie schon, was geschehen ist! Ist ihr etwas zugestoßen?«

»Es tut mir leid, aber ich habe eine schlechte Nachricht. Frau Dr. Hunter ist tot.«

»Tot? Das glaube ich Ihnen nicht. Wie denn?«

»Sie hat anscheinend versucht, eine Abtreibung an sich vorzunehmen, die aber danebenging.«

»O mein Gott!« stöhnte Mallory und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Es ist meine Schuld.«

Der Kommissar behielt ihn genau im Auge. »Wieso Ihre Schuld?«

»Ja. Ich. Dr. Hunter und ich wollten heiraten. Ich habe ihr erklärt, daß ich es für keine gute Idee hielt, daß sie jetzt ein Kind bekommt. Ich wollte damit warten, und sie hat zugestimmt. Ich habe dann vorgeschlagen, daß sie die Sache im Krankenhaus erledigen läßt. Sie muß dann wohl beschlossen haben. Ich . ich kann es nicht glauben.«

»Zu welchem Zeitpunkt haben Sie Frau Dr. Hunter verlassen?«

»Es muß etwa zehn Uhr gewesen sein. Ich habe sie an ihrer Wohnung abgesetzt und bin weitergefahren.«

»Sie haben ihre Wohnung nicht betreten?«

»Nein.«

»Hat Dr. Hunter ihr Vorhaben erwähnt?«

»Sie meinen, wegen der.? Nein. Mit keinem Wort.«

Inspector Burns zog eine Visitenkarte hervor. »Falls Ihnen noch etwas in den Sinn kommt, was uns weiterhelfen könnte, wäre ich für Ihren Anruf dankbar.«

»Gewiß. Ich. Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für ein Schock ist.«

Paige und Honey blieben die ganze Nacht auf. Sie sprachen über Kat und darüber, was ihr zugestoßen war. Sie begannen immer wieder von vorn, sie waren entsetzt, sie konnten es einfach nicht fassen.

Um neun Uhr kam Inspector Burns bei ihnen vorbei.

»Guten Morgen. Ich möchte Ihnen nur mitteilen, daß ich in der Nacht mit Dr. Mallory gesprochen habe.«

»Und?«

»Er behauptet, mit ihr gemeinsam in einem Restaurant gegessen zu haben und sie dann heimgefahren und vor der Wohnung abgesetzt zu haben.«

»Er lügt«, sagte Paige. Sie dachte kurz nach. »Warten Sie! Sind in Kats Körper Spuren von Sperma entdeckt worden?«

»Ja, sind sie.«

»Also dann«, meinte Paige ganz aufgeregt, »haben wir ja sogar den Beweis, daß er lügt. Er ist mit ihr ins Bett gegangen.«

»Eben deswegen bin ich heute morgen noch einmal bei ihm gewesen. Er behauptet, er hätte vor dem Abendessen mit ihr geschlafen.«

»Oh.« Aber sie gab nicht auf. »Es wird von ihm Fingerabdrücke geben - auf der Kürette, mit der er sie getötet hat.« Sie wurde ganz aufgeregt. »Haben Sie Fingerabdrücke gefunden?«

»Ja, Frau Doktor«, erklärte er ruhig, »ihre eigenen.«

»Das ist unmög. Warten Sie! Dann hat er Handschuhe getragen und nach der Tat ihre Finger um die Kürette gelegt. Wie klingt das?«

»Als ob hier jemand zu viele Fernsehkrimis ansehen würde.«

»Sie glauben nicht, daß Kat ermordet worden ist, nicht wahr?«

»Bedaure, nein.«

»Ist eine Autopsie durchgeführt worden?«

»Ja.«

»Und?«

»Der Gerichtsmediziner klassifiziert die Sache als einen Unfalltod. Wie Dr. Mallory mir berichtet, hat sie sich angeblich dafür entschieden, das Kind nicht zu bekommen, und ist dann offensichtlich .«

».gleich ins Badezimmer gegangen und hat sich abgemurkst?« unterbrach Paige. »Aber Inspector! Herrgott noch mal! Sie war Ärztin - sie war Chirurgin! Es ist absolut ausgeschlossen, daß sie sich

das angetan haben könnte!«

Inspector Burns meinte nachdenklich: »Sie glauben, Mallory hat sie zu einer Abtreibung überredet und versucht, ihr dabei zu helfen und ist weggelaufen, als die Sache danebenging?«

Paige schüttelte den Kopf. »Nein. So kann es auch nicht gewesen sein. Darauf hätte Kat sich nie eingelassen. Er hat sie ermordet.« Sie dachte laut. »Kat war eine kräftige Frau. Sie müßte bewußtlos gewesen sein, damit er überhaupt. tun konnte, was er getan hat.«

»Bei der Autopsie ergaben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß sie geschlagen wurde, auch sonst nichts, was eine Bewußtlosig-keit verursacht haben könnte. Keinerlei blaue Flecken an der Kehle.«

»Hat man vielleicht Spuren von einem Schlafmittel gefunden, oder.«

»Nichts.« Er bemerkte den Ausdruck auf Paiges Gesicht. »Mir scheint das alles nicht sehr nach Mord auszusehen. Ich glaube vielmehr, daß Frau Dr. Hunter einen Fehler begangen hat und. tut mir leid.«

Sie spürte, daß er gehen wollte. »Warten Sie!« rief Paige. »Es gibt aber doch ein Motiv.«

Er drehte sich noch einmal um. »Eigentlich nicht. Mallory erklärt, sie hätte in die Abtreibung eingewilligt. Da bleibt nicht viel übrig von Ihrem Motiv, oder?«

»Bleibt der Mord.« Paige blieb stur.

»Frau Doktor, dafür haben wir keine Beweise. Da steht sein Wort gegen das Wort des Opfers, und sie ist tot. Es tut mir aufrichtig leid.«

Er ging.

Ich werde nicht zulassen, daß Ken Mallory damit davonkommt, sagte sich Paige verzweifelt.

Jason kam vorbei, um Paige zu trösten. »Ich habe es gehört«, sagte er. »Das begreife ich nicht. Wie konnte sie sich nur so etwas

antun?«

»Sie hat sich nichts angetan«, widersprach Paige. »Sie ist ermordet worden.« Sie berichtete Jason von ihrer Unterredung mit Inspector Burns. »Die Polizei wird in dieser Sache nichts unternehmen, die Polizei glaubt, daß es ein Unfall war. Aber, Jason - es ist meine Schuld, daß Kat nicht mehr lebt.«

»Wieso deine Schuld?«

»Weil ich ihr überhaupt erst eingeredet habe, mit Mallory auszugehen. Sie wollte gar nicht. Das Ganze hat als dummer Scherz angefangen, bis. und dann hat sie sich in ihn verliebt. Ach, Jason!«

»Deswegen mußt du dir keine Vorwürfe machen«, wies er sie mit Bestimmtheit zurecht.

Paige schaute sich voller Verzweiflung um. »In dieser Wohnung kann ich nicht mehr leben. Ich muß hier raus.«

Jason nahm sie in seine Arme. »Dann laß uns auf der Stelle heiraten.«

»Das geht doch jetzt nicht. Ich meine, Kat ist.«

»Ich weiß. Dann warten wir eben ein bis zwei Wochen.«

»Gut.«

»Paige, ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch, Schatz. Ist das nicht dumm? Ich habe auch deshalb Schuldgefühle, weil wir beide, Kat und ich, uns verliebt haben, und jetzt ist sie tot, und ich bin noch am Leben.«

Das Foto erschien am Dienstag auf der Titelseite des San Francisco Chronicle. Es zeigte einen strahlenden Ken Mallory, der einen Arm um Lauren Harrison gelegt hatte. Die Bildunterschrift lautete: >Er-bin heiratet Arzt<.

Paige war sprachlos. Zwei Tage nach Kats Tod gab Ken Mallory seine Verlobung mit einer anderen Frau bekannt! Das hieß aber doch, daß er zur selben Zeit, als er Kat die Ehe versprach, die Hei-rat mit einer anderen geplant hatte. Das ist der Grund, warum er Kat umgebracht hat. Um sie aus dem Weg zu schaffen!

Paige nahm den Hörer und wählte die Nummer des Polizeipräsidiums.

»Inspector Burns bitte.«

Sie wurde sofort durchgestellt.

»Hier Dr. Taylor.«

»Ja, Frau Doktor?«

»Haben Sie das Foto im heutigen Chronicle gesehn?«

»Ja.«

»Jetzt haben Sie Ihr Motiv!« rief Paige. »Ken Mallory mußte Kat zum Schweigen bringen, bevor Lauren Harrison von seiner Verbindung mit Kat erfuhr. Sie müssen Mallory verhaften.« Sie schrie die Worte fast in den Hörer hinein.

»Nun mal langsam. Beruhigen Sie sich, Frau Doktor. Vielleicht haben wir da tatsächlich ein Motiv, aber, wie ich Ihnen bereits erklärte, wir haben nicht einmal einen Fetzen eines Beweises. Sie haben selber gesagt, daß Frau Dr. Hunter bewußtlos gewesen sein müßte, bevor Mallory an ihr eine Abtreibung hätte vornehmen können. Ich habe nach unserem Gespräch noch einmal mit unserem Gerichtspathologen gesprochen. Es gab bei ihr wirklich kein Anzeichen von Gewaltanwendung, die die Bewußtlosigkeit verursacht haben könnte.«

»Dann muß er ihr ein Sedativum verabreicht haben«, sagte Paige stur. »Wahrscheinlich Chloralhydrat. Das wirkt äußerst rasch und.«

»Frau Doktor«, führte Inspector Burns geduldig aus, »im Körper von Frau Dr. Hunter ist auch nicht die kleinste Spur von Chloral-hydrat gefunden worden. Ich bedaure außerordentlich, aber wir können einen Mann nicht verhaften, nur weil er heiratet. Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen?«

Alles. »Nein«, antwortete Paige. Sie knallte den Hörer auf und überlegte. Mallory mußte Kat irgendein Mittel gegeben haben. Das hatte er sich doch bestimmt ohne Probleme in der Krankenhausapotheke besorgen können.

Eine Viertelstunde später war Paige zum Embarcadero unterwegs.

Der Chefpharmazeut Pete Samuels persönlich stand hinter der Theke. »Guten Morgen, Dr. Taylor. Was kann ich für Sie tun?«

»Wenn ich mich nicht irre, hat Dr. Mallory vor einigen Tagen irgendein Medikament abgeholt. Er hat mir gesagt, was es war, ich kann mich aber nicht an den Namen erinnern.«

Samuels legte die Stirn in Falten. »Ich kann mich nicht erinnern, daß Dr. Mallory während der letzten vier Wochen überhaupt hier gewesen wäre.«

»Sind Sie sich da sicher?«

Samuels nickte. »Absolut. Ich würde mich daran erinnern. Wir unterhalten uns nämlich immer über Football.«

Paige verlor den Mut. »Vielen Dank.«

Dann muß er das Rezept bei irgendeiner anderen Apotheke eingereicht haben. Es war eine gesetzliche Auflage, wie Paige wußte, daß alle Rezepte für Narkotika dreifach ausgestellt werden mußten - die eine Kopie bekam der Patient, die zweite mußte zum Bureau of Controlled Substances gesandt werden, die dritte war für die Akten der Apotheke bestimmt.

Bei irgendeiner Apotheke muß Ken Mallory ein Rezept eingereicht haben. Aber in San Francisco gibt es wahrscheinlich zwei- bis dreihundert Apotheken. Da wäre es unmöglich, einem einzelnen Rezept nachzuspüren. Es war anzunehmen, daß Mallory sich das Mittel unmittelbar vor dem Mord an Kat beschafft hatte. Das würde bedeuten: Samstag oder Sonntag. Falls er es am Sonntag getan hat, hätte ich eventuell eine Chance, überlegte Paige. An Sonntagen haben immer nur einige wenige Apotheken geöffnet. Das engt den Kreis ein.

Sie begab sich einen Stock höher, wo die Listen der ärztlichen Dienstzeiten aufbewahrt wurden, und überprüfte die Aufstellung für den vergangenen Samstag. Dr. Ken Mallory hatte den ganzen

Samstag Bereitschaftsdienst gehabt; vermutlich hatte er das Rezept dann am Sonntag ausgestellt. Wie viele Apotheken hatten in San Francisco sonntags geöffnet?

Paige rief beim staatlichen Aufsichtsamt für Pharmazeutik an.

»Hier spricht Dr. Taylor«, sagte Paige. »Eine Freundin von mir hat am vergangenen Sonntag bei einer Apotheke ein Rezept für mich hinterlegt, ich soll ihr das Medikament mitbringen, leider habe ich aber den Namen der Apotheke vergessen. Ob Sie mir da helfen könnten?«

»Nun, ich wüßte nicht, wie, Frau Doktor. Wenn Sie den Namen nicht wissen .«

»Die meisten Apotheken haben sonntags geschlossen, nicht wahr?«

»Ja, aber.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir die Apotheken nennen könnten, die geöffnet hatten.«

Schweigen.

»Also, falls es wichtig ist.«

»Es ist sehr wichtig«, versicherte Paige.

»Warten Sie einen Augenblick.«

Die Liste enthielt die Namen von sechsunddreißig Apotheken, die über ganz San Francisco verstreut lagen. Wenn sie zur Polizei gehen und um Unterstützung bitten könnte, wäre das weiter kein Problem gewesen, doch Inspector Burns glaubte ihr nicht. Das werden Honey und ich ganz allein erledigen müssen, folgerte Paige. Sie legte Honey ihren Plan dar.

»Das ist wirklich ein Schuß ins Blaue, nicht wahr?« meinte Ho-ney. »Du weißt ja nicht einmal, ob er das Rezept auch wirklich am Sonntag ausgestellt hat.«

»Es ist unsere einzige Chance«, erklärte Paige. Kats einzige Chance, korrigierte sie sich im stillen. »Hör zu: Ich werde die Apotheken in Richmond, Marina, North Beach, Upper Market, Mission und Pot-rero überprüfen. Übernimm du die Apotheken in den Bezirken Ex-celsior, Ingleside, Lake Merced, Western Addition und Sunset.«

»In Ordnung.«

In der ersten Apotheke zeigte Paige ihren Ausweis und erklärte: »Dr. Ken Mallory, ein Kollege von mir, hat bei Ihnen am Sonntag ein rezeptpflichtiges Medikament abgeholt. Er mußte verreisen und hat mich gebeten, eine neue Packung zu besorgen, den Namen des Medikaments hab' ich allerdings vergessen. Würden Sie bitte für mich nachschauen?«

»Dr. Ken Mallory? Einen Moment bitte.« Er kam nach ein paar Minuten zurück. »Bedaure, aber für einen Dr. Mallory haben wir am Sonntag kein Rezept eingelöst.«

»Danke.«

Bei den nächsten vier Apotheken erhielt Paige die gleiche Antwort. Honey erging es auch nicht besser.

»Wir haben es hier mit Tausenden von Rezepten zu tun, wissen Sie.«

»Ich weiß, aber es geht doch nur um vergangenen Sonntag.«

»Bedaure, wir haben aber kein Rezept von einem Dr. Mallory abgelegt.«

Die beiden verbrachten den ganzen Tag damit, von Apotheke zu Apotheke zu laufen. Allmählich verloren sie den Mut. Es war bereits spät am Nachmittag, als Paige in einer kleinen Apotheke im Potrerobezirk fündig wurde. »O ja, da hätten wir's ja«, sagte der Apotheker. »Dr. Ken Mallory. Genau. Ich erinnere mich an ihn. Er wollte bei einem Patienten einen Hausbesuch machen. Das hat mich beeindruckt - es gibt heute nicht mehr viele Ärzte, die Hausbesuche machen.«

Das gibt es überhaupt nicht, daß ein Assistenzarzt Hausbesuche macht. »Für welches Mittel war das Rezept ausgestellt?« Paige hielt den Atem an. »Chloralhydrat.«

Paige begann vor Aufregung fast zu zittern. »Sicher?«

»Hier steht's doch.«

»Und wie hieß der Patient?«

Der Apotheker blickte auf das Rezept. »Spyros Levathes.« »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir von diesem Rezept eine Kopie zu machen?« bat Paige. »Nicht im geringsten, Doktor.«

Eine Stunde später sprach Paige bei Inspector Burns vor und legte ihm das Rezept auf den Tisch.

»Da haben Sie Ihren Beweis«, sagte sie. »Dr. Mallory hat am vergangenen Sonntag eine Apotheke aufgesucht, die von seiner Wohnung weit entfernt liegt, und hat dieses Rezept für Chloralhydrat eingelöst. Er hat Kat das Chloralhydrat in den Drink gemixt, und als sie danach bewußtlos war, da hat er sie abgeschlachtet und die Sache dann wie einen Unfall aussehen lassen.«

»Sie behaupten also, daß er ihr das Chloralhydrat in den Drink geschüttet und sie anschließend umgebracht hat?« »Jawohl.«

»Es gibt da nur ein Problem, Frau Dr. Taylor. Wir haben in Dr. Hunters Leiche nicht die geringste Spur von Chloralhydrat gefunden.«

»Es muß aber so sein. Ihr Pathologe hat einen Fehler gemacht. Bitten Sie ihn um eine Überprüfung.« Er verlor die Geduld. »Frau Doktor.« »Bitte! Ich weiß, daß ich recht habe.« »Sie vergeuden nur unsere Zeit.«

Paige ließ sich ihm gegenüber nieder und fixierte ihn schweigend für eine lange Zeit.

Er seufzte. »Na schön. Ich werde mit ihm sprechen. Vielleicht hat er ja einen Fehler gemacht.«

Jason holte Paige ab. »Wir essen heute abend bei mir zu Hause«, sagte er. »Ich muß dir etwas zeigen.«

Unterwegs informierte Paige Jason über die jüngsten Entwicklungen.

»Man wird das Chloralhydrat in ihrem Körper entdecken«, erklärte Paige, »und dann wird Ken Mallory sich nicht mehr herausreden können.«

»Mir tut das alles ja so leid, Paige.«

»Ich weiß.« Sie streichelte seine Wange. »Gott sei Dank, daß ich dich habe.«

Der Wagen blieb vor Jasons Haus stehen.

Paige schaute aus dem Fenster. Ihr stockte der Atem. Um den Vorgarten verlief ein neuer weißer Lattenzaun.

Sie war in der dunklen Wohnung allein. Ken Mallory ließ sich mit dem Schlüssel ein, den Kat ihm gegeben hatte, und bewegte sich leise auf das Schlafzimmer zu. Paige hörte seine Schritte, doch bevor sie etwas tun konnte, hatte er sie schon angesprungen. Seine Hände umklammerten ihren Hals.

»Du Miststück! Du willst mich vernichten. Aber du wirst nicht länger herumschnüffeln.« Er drückte fester zu. »Ich hab' euch alle ausmanövriert.« Seine Finger preßten ihr die Kehle zu. »Keiner wird je beweisen können, daß ich Kat getötet habe.«

Sie wollte schreien. Sie bekam keine Luft mehr, konnte nicht atmen, riß sich los und wachte auf einmal auf. Sie war allein im

Zimmer. Paige setzte sich zitternd im Bett auf.

Sie blieb den Rest der Nacht über wach und wartete auf den Anruf von Inspector Burns. Er kam um zehn Uhr.

»Frau Dr. Taylor.«

»Am Apparat.« Sie hielt den Atem an.

»Ich habe soeben das dritte Gutachten des Gerichtsmediziners erhalten.«

»Und?« Ihr klopfte das Herz wie wild.

»In Dr. Hunters Leiche war keine Spur von Chloralhydrat oder irgendeinem anderen Sedativum zu finden.«

Das war unmöglich! Da mußte es Spuren geben. Jegliche Anzeichen für Schläge oder sonstige Formen der Gewaltanwendung, die eine Bewußtlosigkeit verursacht haben könnten, fehlten. Keine Schwellungen oder blaue Flecken an der Kehle. Das ergab aber doch keinen Sinn. Kat mußte bewußtlos gewesen sein, als Mallory sie umbrachte. Der Gerichtsmediziner irrte sich.

Paige beschloß, persönlich mit ihm zu sprechen.

Dr. Dolan war äußerst gereizt. »Es paßt mir nicht, wenn man meine Arbeit in Zweifel zieht«, fuhr er sie an. »Ich habe es dreimal überprüft. Ich habe Inspector Bums informiert, daß in keinem der Organe Spuren von Chloralhydrat zu finden waren, und es gab auch keine.«

»Aber.«

»Sonst noch etwas, Frau Doktor?«

Paige sah ihn hilflos an. Damit war ihre letzte Hoffnung dahin. Ken Mallory würde davonkommen, der Mord ungestraft bleiben. »Ich . ich glaube nicht. Wenn Sie wirklich keine Chemikalien in ihrem Körper gefunden haben, dann kann ich ja nicht.«

»Ich habe nicht behauptet, gar keine Chemikalien entdeckt zu haben.«

Sie schaute ihn einen Augenblick lang nachdenklich an.

»Sie haben also etwas gefunden?«

»Nur eine Spur Trichloräthylen, ein Metabolit von Trichloräthylen.«

Sie runzelte die Stirn. »Was würde Trichloräthylen denn bewirken?«

Er zuckte mit den Schultern. »Nichts. Es ist ein Analgetikum, das niemanden einschläfern würde.«

»Ich verstehe.«

»Bedaure, Ihnen nicht weiterhelfen zu können.«

Paige nickte. »Vielen Dank.«

Auf dem Weg durch den langen sterilen Gang der Leichenhalle wurde Paige das Gefühl nicht los, daß sie irgend etwas übersah - sie war sich absolut sicher gewesen, daß Kat mit Chloralhydrat be-wußtlos gemacht worden war.

Alles, was Dr. Dolan gefunden hat, war eine Spur Trichloräthylen. Kat mußte also kurz vor ihrem Tod Trichloräthylen inhaliert haben. Aber wie kam sie denn dazu? Kat hat doch überhaupt keine Medikamente genommen. Paige blieb mitten im Gang stehen. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren.

Als Paige das Krankenhaus erreichte, begab sie sich sofort in die medizinische Fachbibliothek im fünften Stock. Sie würde jetzt unter >Chloralhydrat< nachsehen! Der Eintrag lautete: Farblose, durchsichtige Kristalle, scharfer Geruch; sehr leicht löslich in Wasser, Äthanol, Chloroform und Ölen. Der Schmelzpunkt liegt bei etwa 55 °C, der Siedepunkt bei 97,5 °C.

Und dann, in der letzten Zeile, fand Paige, wonach sie gesucht hatte. Wenn Chloralhydrat in den Stoffwechsel gelangt, erzeugt es als Nebenprodukt Trichloräthanol. Also gab es zwei Möglichkeiten: Kat konnte das harmlose Trichloräthylen genommen haben - oder aber Chloralhydrat.

35. Kapitel

Inspector, Frau Dr. Taylor möchte Sie sprechen.«

»Schon wieder?« Er war versucht, sie abzuweisen. Aber sie war wie besessen von ihrer unausgegorenen Theorie, und er fand, daß er ihren Umtrieben einen Riegel vorschieben müßte. »Schicken Sie sie herein.«

Als Paige eintrat, bemerkte Inspector Burns in schneidendem Ton: »Hören Sie, Frau Doktor, ich finde, jetzt reicht's. Dr. Dolan hat angerufen, um sich zu beschweren .«

»Ich weiß, wie Ken Mallory es gemacht hat!« Sie klang erregt. »In Kats Körper hat sich Trichloräthanol gefunden.«

Er nickte. »Davon hat Dr. Dolan mich in Kenntnis gesetzt. Er hat mir auch erklärt, daß Trichloräthylen sich zu dieser Substanz reduziert. Und, daß sie dadurch nicht bewußtlos geworden sein kann. Er.«

»Aber Chloralhydrat wird auch in Trichloräthanol umgesetzt!« rief Paige triumphierend. »Mallory hat gelogen, als er behauptete, Kat nicht mehr in die Wohnung begleitet zu haben. Er hat ihr Chloral-hydrat in den Drink geschüttet. Chloralhydrat ist ohne Geschmack, wenn es mit Alkohol vermischt wird, und wirkt innerhalb von Minuten. Und als sie bewußtlos war, hat er sie getötet und es so aussehen lassen, als sei es eine verpfuschte Abtreibung gewesen.«

»Frau Doktor, wenn Sie mir bitte verzeihen mögen, aber das alles ist pure Spekulation.« »Nein, keineswegs. Er hat das Rezept für einen Patienten namens Spyros Levathes ausgestellt und eingelöst. Er hat Levathes das Chlo-ralhydrat jedoch nie gegeben.«

»Und woher wissen Sie das?«

»Weil es gar nicht für Levathes bestimmt sein konnte. Ich habe Spyros Levathes überprüft. Er leidet an einer schweren Leberfunktionsstörung!«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Dr. Mallory hat diesem seinem Patienten kein Chloralhydrat verschrieben, weil ihn das nämlich getötet hätte! Chloralhydrat ist bei Leberfunktionsstörungen kontraindiziert. Es hätte bei Levathes sofort krampfartige Anfälle ausgelöst.«

Es war das erste Mal, daß Inspector Burns sich beeindruckt zeigte. »Sie haben Ihre Hausaufgaben wirklich gründlich gemacht, nicht wahr?«

Paige ließ nicht locker. »Warum sollte Ken Mallory eine weit abgelegene Apotheke aufsuchen und ein Rezept ausfüllen für einen Patienten, von dem er wußte, daß er ihm dieses Präparat nie verabreichen dürfte? Sie müssen ihn verhaften.«

Er trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. »So einfach ist das nicht.«

»Sie müssen.«

Inspector Burns hob eine Hand. »In Ordnung. Ich sag' Ihnen, was ich tun werde. Ich werde mit dem Amt des District Attorney reden und feststellen, ob man dort der Ansicht ist, daß wir damit einen triftigen Grund zu einer Verhaftung haben.«

Paige war sich der Tatsache bewußt, daß sie nicht weiter in ihn dringen durfte. »Ich danke Ihnen, Inspector.«

»Ich werde mich wieder bei Ihnen melden.«

Inspector Burns dachte lange Zeit über das Gespräch nach. Hand-feste Beweise lagen gegen Dr. Mallory nicht vor; es gab nur die Verdächtigungen einer hartnäckigen Frau. Er analysierte die wenigen Fakten, über die er verfügte. Dr. Mallory war mit Kat Hunter verlobt gewesen. Zwei Tage nach ihrem Tod war Mallory mit Alex Harrisons Tochter verlobt. Das war durchaus interessant - aber gesetzeswidrig war es nicht. Mallory hatte behauptet, Kat Hunter vor der Haustür abgesetzt und nicht in die Wohnung hinaufbegleitet zu haben. In ihrer Leiche war Sperma gefunden worden; dafür hatte er jedoch eine plausible Erklärung.

Dann gab es da die Geschichte mit dem Chloralhydrat. Mallory hatte ein Rezept für ein Mittel ausgestellt, das seinen Patienten hätte töten können. War er des Mordes schuldig oder nicht schuldig?

Burns rief seine Sekretärin. »Barbara, besorgen Sie mir für diesen Nachmittag einen Termin beim District Attorney.«

Als Paige hereinkam, befanden sich in dem Büro vier Herren: der District Attorney, sein Assistent, ein Mensch namens Warren und Inspector Burns.

»Danke, daß Sie vorbeigekommen sind«, begann der District At-torney. »Inspector Burns hat mir von Ihrem Interesse an Dr. Hunters Tod berichtet. Ich weiß das zu schätzen. Dr. Hunter war Ihre Mitbewohnerin. Da ist es nur verständlich, daß Sie der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen möchten.«

Also werden sie Ken Mallory doch verhaften!

»Ja«, sagte Paige. »Es gibt überhaupt keinen Zweifel. Dr. Mallory hat sie umgebracht. Wenn Sie ihn verhaften.«

»Ich bedaure, aber das ist unmöglich.«

Paige sah ihn entsetzt an. »Wie bitte?«

»Wir können Dr. Mallory nicht verhaften.«

»Aber warum denn nicht?«

»Wir haben keinen Grund.«

»Natürlich haben Sie einen Grund!« rief Paige aus. »Das Trichlor-äthylen beweist doch, daß .«

»Frau Doktor, Unkenntnis des Gesetzes kann vor Gericht als Entschuldigung nicht geltend gemacht werden. Unkenntnis in medizinischen Dingen schon.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ganz einfach - das heißt, daß Dr. Mallory behaupten kann, einen Fehler begangen zu haben -, daß er nicht gewußt hätte, welche Auswirkung das Chloralhydrat auf seinen Patienten haben würde. Und dann könnte niemand beweisen, daß er lügt. Es würde zwar beweisen, daß er ein miserabler Arzt ist, aber nicht, daß er einen Mord begangen hat.«

Paige gab ihre Enttäuschung unverhohlen zu erkennen. »Sie wollen ihn einfach davonkommen lassen?«

Er musterte sie kurz. »Ich werde Ihnen sagen, wozu ich bereit wäre. Ich habe die Sache mit Inspector Burns durchgesprochen. Mit Ihrer Erlaubnis schicken wir jemanden zu Ihnen in die Wohnung, um die Gläser in der Bar abzuholen. Wenn wir an einem Spuren von Chloralhydrat entdecken, entscheiden wir über den nächsten Schritt.«

»Und was ist, wenn er sie abgespült hat?«

Inspector Burns bemerkte trocken: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich die Zeit genommen hat, sie mit einem Spülmittel zu reinigen. Und falls er sie bloß mit Wasser ausgespült hat, finden wir, was wir suchen.«

Zwei Stunden später rief Inspector Burns Paige an.

»Wir haben alle Gläser in der Bar einer chemischen Analyse unterzogen, Frau Doktor«, berichtete er.

Paige wappnete sich für eine Enttäuschung.

»Wir haben ein Glas mit Spuren von Chloralhydrat entdeckt.«

Paige schloß die Augen und sprach ein stilles Dankgebet.

»Außerdem haben sich an dem Glas Fingerabdrücke gefunden. Wir werden sie mit Dr. Mallorys Fingerabdrücken vergleichen.«

Paige wurde von einem Gefühl innerer Erregung erfaßt.

Der Inspector fuhr fort: »Als er sie tötete - sofern er sie getötet hat -, trug er Handschuhe, damit er auf der Kürette keine Fingerabdrücke hinterlassen würde. Andererseits wäre es wohl nicht gut möglich gewesen, daß er beim Mixen ihres Drinks Handschuhe trug, und möglicherweise hat er auch keine Handschuhe getragen, als er die Gläser ins Regal zurückstellte.«

»Nein«, meinte Paige. »Das ist kaum wahrscheinlich, nicht wahr?«

»Ich muß gestehen - anfangs war ich der ehrlichen Meinung, daß Ihre Theorie uns nirgendwohin führen würde. Heute meine ich, daß Dr. Mallory unser Mann sein könnte. Aber das auch zu beweisen - das ist eine andere Sache.« Er fuhr fort: »Der District Attor-ney hat recht. Es wäre reine Zeitverschwendung, Mallory vor Gericht zu bringen. Mallory brauchte tatsächlich nur zu behaupten, sich der Wirkung des Medikaments nicht bewußt gewesen zu sein, und schon wäre er frei. Es gibt kein Gesetz gegen einen medizinischen Fehler. Ich sehe nicht, wie wir.«

»Moment mal!« rief Paige aufgeregt. »Ich glaube, ich wüßte da einen Weg!«

Ken Mallory hörte Lauren Harrison am Telefon zu. »Vater und ich haben da Praxisräume gefunden, die dich begeistern werden, Liebling! Eine wunderschöne Suite im Post Building! Und ich werde eine Empfangsdame für dich einstellen, eine, die nicht allzu schön ist.«

Mallory lachte. »In dem Punkt mußt du dir wirklich keine Sorgen machen, Baby. Für mich gibt's in der Welt niemanden außer dir.«

»Ich kann's gar nicht abwarten, daß du dir die Räume ansiehst.

Kannst du nicht gleich kommen?«

»Mein Dienst ist in etwa zwei Stunden zu Ende.«

»Ausgezeichnet! Warum holst du mich nicht von zu Hause ab?«

»Einverstanden.« Mallory legte auf. Besser kann's nicht mehr kommen, dachte er. Es gibt doch einen Gott, und: Sie liebt mich.

Er hörte, wie sein Name ausgerufen wurde. »Dr. Mallory. Zimmer 430. Dr. Mallory. Zimmer 430.« Er blieb sitzen; er war viel zu sehr in seinen Traum von der goldenen Zukunft vertieft. Eine großartige Suite im Post Building als Praxis, in der sich reiche alte Damen die Klinke in die Hand geben, weil sie es gar nicht erwarten konnten, ihr Geld bei ihm zu lassen. Da hörte er seinen Namen erneut über Lautsprecher. »Dr. Mallory. Zimmer 430.« Seufzend erhob er sich. Dieses Irrenhaus werde ich bald hinter mir haben, dachte er und machte sich auf den Weg zu Zimmer 430.

Vor dem Zimmer wartete ein Assistenzarzt auf ihn. »Tut mir leid, aber wir haben hier ein Problem«, erklärte er. »Es betrifft einen Patienten Dr. Petersons, doch Dr. Peterson ist nirgends erreichbar. Ich habe mit einem anderen Arzt Streit bekommen.«

Sie traten ins Zimmer ein, in dem sich drei Menschen aufhielten - ein Mann im Bett, ein Pfleger und ein Arzt, dem Mallory noch nicht begegnet war.

»Das ist Dr. Edwards«, stellte der Assistent vor. »Wir brauchen Ihren Rat, Dr. Mallory.«

»Wo liegt das Problem?«

Der Assistent erläuterte. »Der Patient leidet unter einer schweren Leberfunktionsstörung, aber Dr. Edwards besteht darauf, ihm ein Sedativum zu geben.«

»Da sehe ich kein Problem.«

»Danke«, sagte Dr. Edwards. »Der Mann hier hat seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen. Ich habe ihm Chloralhydrat verschrieben, damit er etwas Ruhe findet und.«

Mallory betrachtete ihn voller Erstaunen. »Sind Sie wahnsinnig geworden? Das könnte ihn umbringen! Er würde sofort einen krampfartigen Anfall und extremes Herzjagen bekommen und wahrscheinlich sterben. Wo zum Teufel haben Sie eigentlich Medizin studiert?«

Der Mann sah Mallory an und sagte mit leiser Stimme: »Ich habe nie Medizin studiert.« Er hielt Mallory eine Dienstmarke unter die Nase. »Ich gehöre zur Polizei von San Francisco. Morddezernat.« Er drehte sich zum Mann im Bett um. »Haben Sie's?«

Der Mann zog ein Aufnahmegerät unter dem Kissen hervor. »Ich hab's.«

Mallory blickte stirnrunzelnd in die Runde. »Ich verstehe Sie nicht. Was soll das? Was ist hier eigentlich los?«

Der Inspector sprach Mallory an. »Herr Dr. Mallory, Sie sind wegen Mordes an Dr. Kate Hunter verhaftet.«

36. Kapitel

Der San Francisco Chronicle brachte die Schlagzeile ARZT WEGEN MORD AN VERLOBTER VERHAFTET. Der dazugehörige Text schilderte die gräßlichen Fakten des Falles ausführlich und in allen Details.

Mallory knallte die Zeitung nach der Lektüre auf den Tisch.

»Sieht ganz so aus, als hättense dich am Schlafittchen, Kumpel.«

»Nie im Leben«, erwiderte Mallory zuversichtlich. »Ich habe Beziehungen. Meine Freunde werden mir den gottverdammt besten Anwalt der Welt besorgen. In vierundzwanzig Stunden bin ich hier wieder raus. Dazu braucht es sicher nur einen einzigen Anruf.«

Die Harrisons lasen die Zeitung beim Frühstück.

»Großer Gott!« rief Lauren. »Ken! Das kann doch nicht wahr sein.«

Der Butler näherte sich dem Frühstückstisch. »Verzeihung, Miss Harrison. Dr. Mallory ist für Sie am Telefon. Ich glaube, er ruft aus dem Gefängnis an.« »Ich komme.« Lauren erhob sich.

»Du bleibst, wo du bist, und ißt dein Frühstück zu Ende«, befahl Alex Harrison mit fester Stimme. Er wandte sich an den Butler. »Wir kennen keinen Dr. Mallory.«

Paige las die Zeitung beim Ankleiden. Sie fand allerdings keinerlei Befriedigung angesichts der Tatsache, daß Mallory für seine schreckliche Tat nun doch bestraft werden würde. Ganz gleich, wie hoch die Strafe auch ausfiele - sie konnte Kat nicht zurückbringen.

Es läutete. Paige ging öffnen. Vor der Tür stand ein Unbekannter. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte eine Aktentasche dabei. »Dr. Taylor?« »Ja, bitte.«

»Mein Name ist Roderick Pelham. Ich bin Anwalt der Kanzlei Rothman & Rothman. Darf ich hereinkommen?« Paige musterte ihn ratlos. »Ja.« Er betrat die Wohnung. »Was verschafft mir die Ehre?«

Er öffnete die Aktentasche und zog einige Dokumente hervor. »Ihnen ist natürlich bekannt, daß Sie die Hauptnutznießerin des Testaments von John Cronin sind?«

Paige starrte ihn verständnislos an. »Was reden Sie da? Da muß ein Irrtum vorliegen.«

»O nein, da liegt kein Irrtum vor. Mr. Cronin hat Ihnen die Summe von einer Million Dollar hinterlassen.«

Paige sank völlig überwältigt auf einen Stuhl, weil sie sich plötzlich erinnerte.

>Sie müssen Europa kennenlernen. Tun Sie mir einen Gefallen. Besuchen Sie Paris... wohnen Sie im Hotel Crillon, essen Sie bei Maxim's zu Abend, bestellen Sie sich ein großes, dickes Steak und eine Flasche Champagner, und wenn Sie das Steak dann essen und den Champagner trinken, dann denken Sie bitte an mich.<

»Wenn Sie hier bitte unterschreiben möchten, werden wir uns um alle notwendigen Formalitäten kümmern.«

Paige hob den Kopf.

»Ich. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich ... er hatte doch Familie.«

»Die letztwillige Verfügung meines Mandanten sieht für dessen Familie den Rest der Hinterlassenschaft vor. Dabei handelt es sich um keine große Summe.«

»Das kann ich nicht annehmen«, erklärte Paige.

Pelham schaute sie verblüfft an. »Und warum nicht?«

Auf die Frage wußte sie keine Antwort. John Cronin hatte schließlich gewollt, daß sie sein Geld bekam. »Ich weiß nicht. Es ... es kommt mir unethisch vor, irgendwie. Er war doch mein Patient.«

»Also, ich lasse Ihnen den Scheck da. Es bleibt ganz Ihnen überlassen, wie Sie ihn verwenden. Sie müssen hier nur unterschreiben.«

Paige war ganz benommen, als sie ihre Unterschrift auf das Stück Papier setzte.

»Auf Wiedersehen, Doktor.«

Sie sah, wie er durch die Tür ging, und stand nicht einmal auf, um ihn hinauszubegleiten. Sie war in Gedanken bei John Cronin.

Die Nachricht von Paiges Erbschaft war im Krankenhaus das Gesprächsthema. Paige hatte gehofft, daß es nicht herauskommen würde. Sie hatte sich noch immer nicht entschlossen, was sie mit dem Geld anfangen würde. Es gehört mir nicht, dachte Paige. Er hatte doch Familie.

Eigentlich war Paige gefühlsmäßig noch nicht in der Lage, ihre Arbeit wiederaufzunehmen, doch ihre Patienten brauchten Betreuung. Für den Morgen war eine Operation geplant. Arthur Kane fing Paige im Flur ab. Seit dem Vorfall mit den seitenverkehrten Rönt-genbildern hatte sie kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Obwohl Paige keinen Beweis hatte, daß Kane der Täter war, hatten ihr die zerstochenen Autoreifen damals einen maßlosen Schreck eingejagt.

»Hallo, Paige. Wir sollten Vergangenes vergessen. Was meinen Sie?«

Paige zuckte mit den Schultern. »Okay.«

»Furchtbar, die Geschichte mit Ken Mallory, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Paige.

Kane schaute sie listig von der Seite an. »Können Sie sich einen Arzt vorstellen, der mit Absicht einen Menschen tötet? Schrecklich, nicht wahr?«

»Ja.«

»Übrigens«, sagte er, »meinen Glückwunsch. Sie sind, wie ich höre, Millionärin geworden?«

»Ich verstehe nicht.«

»Ich habe Theaterkarten für heute abend, Paige. Ich dachte, wir könnten zusammen hingehen.«

»Vielen Dank«, sagte Paige. »Aber ich bin verlobt.«

»Dann schlage ich vor, daß Sie sich wieder entloben.«

Paige warf ihm einen überraschten Blick zu. »Verzeihung?«

Kane rückte näher. »Ich habe eine Autopsie bei John Cronin angeordnet.«

Paiges Herz begann schneller zu schlagen. »Ja?«

»Er ist überhaupt nicht an Herzversagen gestorben. Irgend je-mand hat ihm eine Überdosis Insulin gegeben. Ich vermute, diese Person hat wohl die Möglichkeit einer Autopsie übersehen.« Paige hatte auf einmal einen ganz trockenen Mund. »Sie sind doch bei ihm gewesen, als er starb, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte sie zögernd.

»Ich bin der einzige, der das weiß. Ich bin übrigens auch der einzige, der den Autopsiebericht besitzt.« Er tätschelte ihre Schulter. »Und meine Lippen sind versiegelt. Nun, wie steht's mit dem Theaterbesuch heute abend.« Paige entzog sich ihm. »Nein.« »Wissen Sie, was Sie da tun?«

Sie holte tief Luft. »Ja. Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen möchten.«

Und damit ließ sie ihn stehen. Kane schaute ihr nach. Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Er drehte sich um und machte sich auf den Weg zu Dr. Benjamin Wallaces Büro.

Sie wurde um ein Uhr morgens in der Wohnung vom Schrillen des Telefons geweckt.

»Sie sind schon wieder ein unartiges Mädchen gewesen.« Die gleiche heisere Stimme, zu einem rauchigen Flüstern verstellt - diesmal erkannte Paige die Stimme. Mein Gott, dachte Paige, ich hatte recht, mich zu fürchten.

Am nächsten Morgen warteten im Krankenhaus zwei Männer auf Paige. »Dr. Paige Taylor?« »Ja.«

»Sie müssen uns bitte begleiten. Sie sind wegen Mordes an John Cronin verhaftet.«

s war der letzte Prozeßtag. Der Verteidiger Alan Penn hielt sein Schlußplädoyer.

»Meine Damen und Herren, Sie haben eine Menge Zeugenaussagen über Dr. Taylors Kompetenz oder Inkompetenz gehört. Nun, die Richterin wird Ihnen auseinandersetzen, daß es in diesem Pro-zeß nicht um diese Frage ging. Ich bin außerdem sicher, daß wir für jeden Arzt, der Dr. Taylors Arbeit nicht billigte, ein Dutzend anderer Ärzte finden können, die Dr. Taylors Arbeit guthießen. Aber darum geht es hier gar nicht.

Paige Taylor steht wegen John Cronins Tod vor Gericht. Sie hat zugegeben, bei seinem Tod nachgeholfen zu haben. Sie hat es getan, weil er unter großen Schmerzen litt und sie darum bat. Das ist Sterbehilfe, und sie wird in der ganzen Welt zunehmend akzeptiert und gebilligt. Im vergangenen Jahr hat der California Supreme Court jedem Menschen, der erwachsen und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, das Recht zugestanden, das Absetzen medizinischer Behandlung jedweder Form zu verweigern oder zu verlangen. Es ist der einzelne Mensch, der mit der gewählten oder zurückgewiesenen Art der Behandlung leben oder sterben muß.«

Er schaute den Geschworenen ins Gesicht. »Sterbehilfe - oder Euthanasie - ist ein Verbrechen aus Mitleid und Barmherzigkeit, und ich wage zu behaupten, daß sie in der einen oder anderen Form in allen Krankenhäusern auf der ganzen Erde vorkommt. Der Ankläger fordert ein Todesurteil. Sie sollten sich von ihm in dieser Frage nicht verwirren lassen. Es hat für Sterbehilfe noch nie ein Todesurteil gegeben. Dreiundsechzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung ist der Überzeugung, daß Sterbehilfe legal sein sollte, und in achtzehn Staaten unseres Landes ist sie legal. Die Frage ist die: Haben wir das Recht, hilflose Patienten zu einem Leben voller Schmerzen zu zwingen, sie zu zwingen, am Leben zu bleiben und leiden zu müssen? Die Frage ist durch die großen medizinischen und technologischen Fortschritte kompliziert worden. Wir haben die Pflege von Patienten Maschinen überantwortet. Maschinen kennen keine Gnade. Wenn ein Pferd sich ein Bein bricht, dann erlösen wir es durch einen Gnadenschuß aus seinem Elend. Aber einen Menschen verdammen wir zu einem halben Leben, das für ihn die Hölle ist.

Es war nicht Dr. Taylor, die entschieden hat, wann John Cronin sterben sollte. Das hat John Cronin selbst entschieden. Lassen Sie sich in dem Punkt nicht täuschen - was Dr. Taylor getan hat, war ein Akt der Gnade. Dafür hat sie die volle Verantwortung übernommen. Sie dürfen aber gewiß sein, daß sie von dem Geld, das er ihr hinterlassen hat, nichts wußte. Was sie getan hat, tat sie aus einem Gefühl des Mit-Leidens heraus. John Cronin war ein Mensch mit einem versagenden Herzen und mit einem tödlichen Krebs, der nicht mehr behandelt werden konnte, ein Krebs, der sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte und ihm fürchterliche Schmerzen bereitete. Stellen Sie sich nur eine Frage: Würden Sie unter solchen Umständen weiterleben wollen? Ich danke Ihnen.« Er drehte sich um, begab sich wieder zu seinem Tisch und nahm neben Paige Platz.

Gus Venable erhob sich und pflanzte sich vor den Geschworenen auf. »Mitleid? Barmherzigkeit?« Er sah hinüber zu Paige, schüttelte den Kopf und wandte sich erneut den Geschworenen zu. »Meine Damen und Herren, ich bin nun seit über zwanzig Jahren als Anwalt tätig, und ich muß Ihnen gestehen, daß mir in all diesen Jahren noch nie - noch nie - ein eindeutigerer Fall von kaltblütigem, vorsätzlichem Mord untergekommen ist.«

Paige, verkrampft und blaß, hing an seinen Lippen.

»Die Verteidigung hat von Sterbehilfe gesprochen. Hat Frau Dr. Taylor das, was sie tat, aus Mitleid und Barmherzigkeit getan? Ich glaube nicht. Dr. Taylor und andere Zeugen haben ausgesagt,daß John Cronin nur noch wenige Tage zu leben hatte. Warum hat sie ihn diese wenigen Tage nicht noch erleben lassen? Vielleicht deswegen, weil sie Angst hatte, Mrs. Cronin könnte erfahren, daß ihr Mann sein Testament geändert hatte, und die Änderung wieder rückgängig machen.

Es ist ein bemerkenswertes Zusammentreffen, daß Frau Dr. Taylor ihm unmittelbar nach der Testamentsänderung, die ihr die Summe von einer Million Dollar einbrachte, die Überdosis Insulin gegeben und ihn damit getötet hat.

Die Angeklagte hat sich immer wieder von neuem durch ihre eigenen Worte überführt. Sie erklärte, daß sie mit John Cronin auf freundschaftlichem Fuß stand, daß er sie mochte und schätzte. Sie selbst haben jedoch Zeugenaussagen gehört, daß er Frau Dr. Taylor nicht ausstehen konnte, daß er sie als >Miststück< bezeichnete und sie aufforderte, ihre >Scheißhände< von ihm zu nehmen.«

Gus Venable streifte die Angeklagte neuerlich mit einem Blick. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein Ausdruck von Verzweiflung ab. Er wandte sich wieder an die Geschworenen. »Ein Anwalt hat ausgesagt, daß Frau Dr. Taylor bezüglich der ihr hinterlassenen Million Dollar geäußert hat: >Das kommt mir unethisch vor. Er war doch mein Patient.< Aber das Geld hat sie dann doch genommen. Sie hat es gebraucht. Sie hatte eine ganze Schublade voll mit Reiseprospekten - Paris, London, Venedig. Und bedenken Sie wohl, daß sie das Reisebüro keineswegs nach der Erbschaft aufgesucht hat. O nein. Diese Reisen hatte sie bereits vorher fest geplant. Was ihr fehlte, war nur das nötige Geld sowie eine Gelegenheit - und John Cronin hat ihr beides geliefert. Ein hilfloser, sterbender Mann, den sie zu manipulieren vermochte. Sie hatte einen Mann in ihrer Hand, der, wie sie selbst gestanden hat, unter furchtbaren Schmerzen litt - Todesschmerzen, wie sie selbst zugegeben hat. Sie können sich vorstellen, wie schwer es sein muß, klar zu denken, wenn man unter derartigen Schmerzen leidet. Wir wissen nicht, wie Frau Dr. Taylor John Cronin dazu gebracht hat, sein Testament so zu ändern, daß er die Familie, die er liebte, aus seinem letzten Willen ausschloß und sie selbst zur Hauptnutznießerin machte. Wir wissen aber eins: Er hat sie in jener schicksalhaften Nacht an sein Bett gerufen. Worüber haben die beiden miteinander gesprochen? Könnte es sein, daß er ihr eine Million Dollar anbot, damit sie ihn von seinem Elend befreite? Das ist eine Möglichkeit, die wir in Erwägung ziehen müssen. Und doch war es, so oder so, kaltblütiger Mord.

Meine Damen und Herren, wissen Sie, welcher Zeuge im Verlauf dieses Prozesses die Angeklagte am meisten belastet hat?« Er zeigte in einer dramatischen Geste auf Paige. »Die Angeklagte selbst. Wir haben die Aussage eines Zeugen vernommen, daß sie eine illegale Bluttransfusion veranlaßt und hinterher die Unterlagen gefälscht hat. Sie selbst hat diese Tatsache nicht bestritten. Frau Dr. Taylor hat behauptet, außer John Cronin nie einen Patienten getötet zu haben, doch wir haben die Aussage eines anderen Zeugen gehört, daß Dr. Barker, ein allseits geachteter Arzt, sie beschuldigte, seinen Patienten getötet zu haben.

Dr. Barker, meine Damen und Herren, ist nach einem bedauerlichen Schlaganfall leider außerstande, heute hier vor Gericht zu erscheinen und gegen die Angeklagte auszusagen. Erlauben Sie mir aber, Ihnen Dr. Barkers Meinung von der Angeklagten in Erinnerung zu rufen. Hier haben Sie die Aussage von Dr. Peterson im Zusammenhang mit einer Operation, die Dr. Taylor durchführte.«

Er las aus dem Protokoll vor.

»>Ist Dr. Barker noch während der Operation im OP-Saal eingetroffen?<

>Ja.<

>Und hat sich Dr. Barker bei der Gelegenheit gegenüber Dr. Taylor in irgendeiner Weise geäußert?<

Antwort: >Dr. Barker hat gesagt: >Sie haben ihn getötet!«

Und die Aussage von Schwester Berry: >Er sagte, sie sei inkompetent . er hat gesagt, daß er sie nicht einmal seinen Hund operieren lassen würde.<«

Gus Venable schaute vom Blatt auf. »Entweder liegt hier eine Art Verschwörung vor, an der all diese ehrbaren Ärzte und Schwestern beteiligt sind, oder aber Dr. Taylor ist eine Lügnerin, und nicht bloß eine Lügnerin, sondern eine pathologische.«

Die hintere Tür des Gerichtssaals hatte sich geöffnet. Ein Assistent trat herein, blieb im Türrahmen kurz stehen, unschlüssig, wie wenn er über den nächsten Schritt nachdenken müßte, und kam dann durch den mittleren Gang von hinten auf Gus Venable zu.

»Sir.«

Gus Venable drehte sich verärgert um. »Sehen Sie denn nicht, daß ich.«

Der Assistent flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Gus Venable betrachtete ihn mit einem Ausdruck blanken Erstaunens. »Was sagen Sie da? Aber das ist ja wunderbar!«

Die Richterin beugte sich vor und erkundigte sich mit ominös leiser Stimme: »Sie zwei dort - verzeihen Sie, wenn ich störe, aber was erlauben Sie sich eigentlich?«

Gus Venable wandte sich erregt an die Richterin. »Euer Ehren, ich bin soeben davon in Kenntnis gesetzt worden, daß Dr. Barker vor dem Gerichtssaal wartet. Er sitzt im Rollstuhl, ist jedoch aussagefähig. Ich würde ihn gern in den Zeugenstand rufen.«

Stimmengewirr im Gerichtssaal.

Alan Penn war aufgesprungen. »Einspruch!« brüllte er. »Der Ankläger befindet sich inmitten seines Schlußplädoyers. Es gibt keinerlei Präzedenzfall, daß zu einem so späten Zeitpunkt ein neuer Zeu-ge aufgerufen würde. Ich.«

Richterin Young ließ ihren Hammer niedersausen. »Würden die beiden Anwälte bitte zur Richterbank kommen?«

Penn und Venable traten nach vorn.

»Das ist höchst ungewöhnlich, Euer Ehren. Ich protestiere.«

»Sie haben insofern recht, als es in der Tat ungewöhnlich ist, Mr. Penn«, klärte ihn die Richterin auf. »Sie irren aber, insofern Sie es als beispiellos bezeichnen. Ich könnte Ihnen ein ganzes Dutzend von Präzedenzfällen nennen, in denen maßgeblichen Zeugen unter besonderen Umständen die Aussage zu einem solch späten Zeitpunkt noch gestattet worden ist. Fürwahr, wenn Ihnen die Präze-denz wirklich so sehr am Herzen liegt, können Sie einen Fall nachschlagen, der vor fünf Jahren in ebendiesem Gerichtssaal verhandelt wurde. Den Vorsitz des Gerichts hatte zufällig ich.«

Alan Penn schluckte. »Soll das heißen, daß Sie ihm gestatten werden auszusagen?«

Richterin Young dachte kurz nach, bevor sie entschied: »Da Dr. Barker im vorliegenden Fall ein Hauptzeuge ist und aus gesundheitlichen Gründen außerstande war, zu einem früheren Zeitpunkt zu erscheinen, werde ich im Interesse von Recht und Gerechtigkeit entscheiden, daß ihm gestattet wird, als Zeuge aufzutreten.«

»Einspruch! Es gibt keinen Beweis dafür, daß der Zeuge aussagefähig ist. Ich verlange, daß eine ganze Reihe von Psychiatern.«

»Mr. Penn, in diesem Gerichtssaal verlangen wir gar nichts. Wir ersuchen.« Sie sprach Venable an. »Sie dürfen Ihren Zeugen hereinbringen.«

Alan Penn stand da wie ein begossener Pudel. Jetzt ist alles aus, dachte er. Jetzt geht unser Fall den Bach runter.

Gus Venable forderte seinen Assistenten auf: »Führen Sie Dr. Barker herein.«

Ganz langsam öffnete sich die Tür. Dr. Lawrence Barker wurde in seinem Rollstuhl in den Gerichtssaal gefahren. Er hielt den Kopf

schräg; die eine Seite seines Gesichts war verzerrt.

Die Anwesenden beobachteten mit Spannung, wie die blasse, gebrechliche Gestalt nach vorn geschoben wurde. Als er an Paige vorbeikam, schaute er zu ihr herüber.

Sein Blick verriet keinerlei Freundlichkeit, und Paige mußte an seine letzten Worte denken: Für wen zum Teufel halten Sie sich eigentlich...

Als Lawrence Barker vor dem Podium ankam, lehnte sich die Richterin vor und fragte liebenswürdig: »Dr. Barker, sind Sie in der Lage, hier und heute als Zeuge auszusagen?«

Barker sagte, undeutlich, aber hörbar: »Das bin ich, Euer Ehren.«

»Sind Sie völlig über das im Bilde, was in diesem Gerichtssaal verhandelt wird?«

»Ja, Euer Ehren.« Er blickte in Paiges Richtung. »Die Frau da steht wegen Mordes an einem Patienten vor Gericht.«

Paige zuckte zusammen. Die Frau da!

Die Richterin traf ihre Entscheidung und wandte sich an den Gerichtsdiener. »Würden Sie bitte die Vereidigung dieses Zeugen vornehmen?«

Nach seiner Vereidigung erklärte die Richterin: »Sie dürfen sitzen bleiben, Dr. Barker. Der Ankläger macht den Anfang. Ich werde der Verteidigung danach gestatten, Sie ins Kreuzverhör zu nehmen.«

Gus Venable lächelte selbstzufrieden. »Vielen Dank, Euer Ehren.« Er begab sich leichtfüßig zum Rollstuhl. »Wir werden Sie nicht lange beanspruchen, Herr Doktor. Das Gericht ist Ihnen tief für Ihr Entgegenkommen verbunden, unter solch beschwerlichen Umständen als Zeuge zur Verfügung zu stehen. Sind Sie in etwa mit den Aussagen vertraut, die im Laufe des vergangenen Monats hier gemacht worden sind?«

Dr. Barker nickte. »Ich habe alles im Fernsehen und in der Presse verfolgt. Es hat mich angewidert.«

Paige vergrub ihr Gesicht in den Händen.

»Ich bin sicher, daß viele von uns genauso empfinden, Herr Doktor«, erklärte der Ankläger salbungsvoll, der ein Gefühl des Triumphes kaum verbergen konnte.

»Ich bin hergekommen, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird.«

Venable lächelte freundlich. »Genau wie wir.«

Lawrence Barker schöpfte tief Luft - dann ließ er seiner Empörung freien Lauf. »Wie konnten Sie Dr. Taylor dann überhaupt vor Gericht bringen?«

Venable glaubte, sich verhört zu haben. »Ich bitte um Verzeihung.«

»Dieser Prozeß ist eine Farce!«

Paige und Alan Penn wechselten einen verblüfften Blick.

Gus Venable wurde blaß. »Herr Dr. Barker.«

»Unterbrechen Sie mich nicht!« fuhr ihn Barker an. »Sie haben die Aussagen von einem Haufen engstirniger, neidischer Leute benutzt, um eine brillante Chirurgin fertigzumachen. Sie.«

»Augenblick!« Venable war nahe daran, die Fassung zu verlieren. »Stimmt es etwa nicht, daß Sie Dr. Taylors Fähigkeiten dermaßen scharf kritisiert haben, daß sie am Ende soweit war, das Embarca-dero County Hospital zu verlassen?«

»Doch.«

Gus Venable fühlte sich gleich ein wenig wohler. »Na also«, meinte er herablassend. »Wie können Sie dann aber behaupten, sie sei eine brillante Ärztin?«

»Weil es zufällig die Wahrheit ist.« Barker drehte sich um, so daß er Paige anschauen konnte, und als er von neuem das Wort ergriff, da sprach er auf eine Weise, als befände er sich allein mit ihr im Gerichtssaal: »Es gibt Menschen, die dazu geboren sind, Arzt zu werden. Zu diesen seltenen Menschen gehören Sie. Ich habe Ihre Fähigkeiten von Anfang an erkannt. Ich war Ihnen gegenüber hart - zu hart vielleicht -, weil Sie so gut sind. Ich bin so hart mit Ihnen umgesprungen, weil ich erreichen wollte, daß Sie härter gegen sich selbst werden. Ich wollte alles tun, damit Sie vollkommen werden. In unserem Beruf ist für Irrtümer und Fehler kein Platz. Nicht der geringste.«

Paige starrte ihn wie hypnotisiert an; um sie drehte sich alles. Das kam viel zu schnell.

Im Gerichtssaal herrschte gebanntes Schweigen.

»Ich hätte Sie nie und nimmer gehen lassen.«

Gus Venable spürte, wie ihm der Sieg entglitt. Sein Traumzeuge war zum schlimmsten Alptraum seines Lebens geworden. »Dr. Barker - hier ist die Aussage gemacht worden, daß Sie Dr. Taylor beschuldigten, Ihren Patienten Lance Kelly getötet zu haben. Wie ...«

»Das habe ich ihr gegenüber gesagt, weil sie für die Operation letztendlich verantwortlich war. Tatsächlich war der Narkosearzt schuld an Lance Kellys Tod.«

Paige war überwältigt.

Dr. Barker sprach langsam und mit sichtlicher Anstrengung. »Und was John Cronin betrifft und das Geld, das er ihr vermacht hat, so hat Dr. Taylor davon nichts gewußt. Ich persönlich habe mit Mr. Cronin gesprochen. Er hat mir erzählt, daß er Dr. Taylor das Geld hinterlassen wollte, weil er seine Familie haßte, und er hat mir auch mitgeteilt, daß er Taylor bitten wollte, ihn aus seinem Elend zu erlösen. Ich habe dem zugestimmt.«

Die Zuschauer tobten. Gus Venable stand völlig verloren da, mit einem Ausdruck totaler Fassungslosigkeit im Gesicht.

Alan Penn sprang auf. »Euer Ehren, ich beantrage, das Verfahren einzustellen.«

Die Richterin ließ ihren Hammer niedersausen und brüllte: »Ruhe!« Sie musterte die beiden Anwälte. »In meine Räume.«

Richterin Young, Alan Penn und Gus Venable hatten in den Amts-räumen der Richterin Platz genommen.

Gus Venable befand sich in einem Schockzustand. »Ich. ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Er ist ganz augenscheinlich ein kranker Mann, Euer Ehren. Er ist geistig verwirrt. Ich möchte ihn von einer Reihe von Psychiatern begutachten lassen und.«

»Sie können es nicht mal so, mal so haben, je nachdem, wie es Ihnen persönlich gerade paßt, Gus. Sieht ganz so aus, als ob sich Ihr Plädoyer mitsamt all Ihren Argumenten soeben in Rauch aufgelöst hätte. Ich glaube, wir sollten Ihnen weitere Peinlichkeiten ersparen, ja? Ich werde dem Antrag auf Einstellung des Verfahrens stattgeben. Irgendwelche Einwände?«

Langes Schweigen.

»Wohl kaum«, sagte Venable schließlich.

»Eine gute Entscheidung«, kommentierte die Richterin. »Ich will Ihnen noch einen guten Rat geben. Rufen Sie niemals - ich wiederhole: niemals - einen Zeugen auf, es sei denn, Sie wissen vorher, was er aussagen wird.«

Das Gericht tagte erneut. Die Richterin gab eine Erklärung ab: »Meine Damen und Herren Geschworenen, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und für Ihre Geduld. Das Gericht stellt das Verfahren in allen Punkten ein. Die Angeklagte ist frei.«

Paige drehte sich um und warf Jason eine Kußhand zu, dann eilte sie zu Dr. Barker, ließ sich auf die Knie nieder und umarmte ihn.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, flüsterte sie.

»Sie hätten überhaupt nicht in diesen Schlamassel geraten dürfen«, brummte er. »Verdammt töricht von Ihnen. Machen wir, daß wir hier wegkommen, damit wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten können.«

Die Richterin hatte es mitgehört. Sie erhob sich und sagte: »Sie dürfen, wenn Sie wollen, für Ihr Gespräch gern meine Amtsräume

benutzen. Das ist das mindeste, was wir für Sie tun können.«

Paige, Jason und Dr. Barker waren in den Räumen der Richterin allein.

Dr. Barker sagte: »Tut mir leid, daß man mir nicht früher gestattet hat, Ihnen zu helfen. Aber Sie wissen ja, wie die gottverdammten Ärzte so sind.«

Paige war den Tränen nahe. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie.«

»Dann lassen Sie's bleiben«, knurrte er.

Paige musterte ihn nachdenklich. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Wann haben Sie mit John Cronin gesprochen?« »Was?«

»Sie haben mich genau verstanden. Wann haben Sie mit John Cronin gesprochen?« »Wann?«

Paige sagte ganz langsam: »Sie sind John Cronin überhaupt nie begegnet. Sie haben ihn gar nicht gekannt.«

Auf Dr. Barkers Lippen zeigte sich der Anflug eines Lächelns. »Nein. Aber ich kenne Sie.« Paige beugte sich vor und warf ihm die Arme um den Hals. »Werden Sie bloß nicht sentimental«, brummte er, mit einem Blick zu Jason. »Sie ist nämlich manchmal sentimental. Geben Sie bloß auf sie acht, sonst bekommen Sie's mit mir zu tun.« »Keine Sorge, Sir«, sagte Jason. »Ich werde auf sie aufpassen.«

Paige und Jason wurden am folgenden Tag getraut. Trauzeuge war Dr. Barker.

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