Die Bevölkerung des Wunderlandes wuchs, und mit der Zeit bildeten sich mehrere Staaten. Bald gab es auch
Könige, die sich mit Hofleuten und zahlreichen Dienern umgaben. Die Könige stellten Armeen auf, und es begannen Grenzstreitigkeiten, die zu Kriegen führten.
Im westlichen Teil des Landes herrschte vor tausend Jahren ein König namens Aranja. Er regierte so lange, daß sein Sohn Bofaro müde wurde, auf den Tod seines Vaters zu warten, und diesen zu stürzen beschloß. Durch Versprechungen gewann Prinz Bofaro mehrere tausend Anhänger, aber noch bevor sie etwas unternehmen konnten, wurde die Verschwörung aufgedeckt, und Prinz Bofaro kam vor das Gericht seines Vaters. Dieser saß, von Hofleuten umgeben, auf seinem hohen Thron und blickte zornig in das blasse Gesicht des Prinzen.
„Gestehst du, mein unwürdiger Sohn, daß du gegen mich Böses im Schilde führtest?" fragte der König.
„Ja, ich gestehe es", erwiderte der Prinz dreist, ohne die Augen vor dem strengen Blick des Vaters zu senken.
„Hättest du mich getötet, um den Thron in deinen Besitz zu bringen?" fuhr Aranja fort.
„Nein", sagte Bofaro, „das war nicht meine Absicht. Ich habe Euch nur lebenslänglichen Kerker zugedacht."
„Das Schicksal hat es aber anders gewollt", sagte der König. „Was du mir zugedacht hast, soll dir und deinen Kumpanen widerfahren. Kennst du die Höhle?"
Der Prinz zuckte zusammen. Natürlich hatte er von der riesigen Höhle tief unter der Erde gehört. Neugierige, die hineingeblickt hatten, erzählten, sie hätten dort Schatten seltsamer Tiere gesehen, vor denen es ihnen graute. Es sei undenkbar, daß Menschen dort leben könnten, sagten sie. „Ich verbanne dich und deine Kumpane für ewige Zeiten in die Höhle!" rief der König so grimmig, daß selbst die Feinde Bofaros erschauerten. „Aber das ist noch nicht alles! Nicht nur ihr, sondern auch eure Kinder und Kindeskinder sollen nie mehr den blauen Himmel und die strahlende Sonne
sehen. Dafür werden meine Erben sorgen. Sie werden mir schwören müssen, meinen Wunsch heiligzuhalten. Hast du etwas zu entgegnen?" „Nein!" sagte Bofaro, der ebenso stolz und trotzig war wie sein Vater. „Ich habe die Strafe verdient, weil ich meine Hand gegen den Vater erhob. Ich bitte nur, daß man uns Ackerbaugeräte mitgibt."
„Die sollt ihr haben", sagte der König. „Ihr sollt sogar Waffen bekommen, damit ihr euch gegen die wilden Höhlentiere wehren könnt." Die düsteren Kolonnen der Verbannten zogen, von ihren weinenden Frauen und Kindern gefolgt, unter die Erde. Vor dem Eingang wurde ein großer Trupp Soldaten postiert, die darauf zu achten hatten, daß kein Rebell zurückkehrte. Bofaro, seine Frau und seine zwei Söhne stiegen als erste in die Höhle hinab. Sie erblickten ein unterirdisches Land, das sich dahinstreckte, soweit das Auge reichte. Auf der weiten Ebene waren kleine waldbestandene Hügel zu sehen, und inmitten der Höhle schimmerte ein großer runder See. Die Landschaft hatte ein herbstliches Aussehen. Das Laub der Bäume und der Sträucher war dunkelrot, rosa und goldfarben, das Gras auf den Wiesen so gelb wie vor einer überfälligen Mahd. Dämmerung herrschte im unterirdischen Land, nur die goldgelben Wolken streuten ein falsches Licht aus.
„Hier sollen wir leben?" fragte Bofaros Frau entsetzt. Ja, das ist unser Los", erwiderte der Prinz finster.
Die Ausgestoßenen mußten lange gehen, bis sie zu dem See gelangten, dessen Ufer mit Steinen übersät war. Bofaro stieg auf einen großen Stein und hob die Hand zum Zeichen, daß er sprechen wolle. Alle richteten die Augen auf ihn.
„Meine Freunde!" begann Bofaro. „Ich fühle mich vor euch schuldig. Mein Ehrgeiz hat euch ins Unglück gestürzt, durch ihn seid ihr in diese düstere Höhle verbannt worden. Aber das läßt sich nun nicht mehr ändern. Außerdem ist es ja besser zu leben als tot zu sein. Uns steht ein harter Kampf um unser Dasein bevor. Darum müssen wir einen Mann aus unserer Mitte wählen, der uns führen soll."
„Du bist unser Führer!" riefen die Leute. „Dich wählen wir, Prinz!" „Du stammst von Königen ab, du sollst uns regieren, Bofaro!" Niemand erhob die Stimme dagegen, und ein schwaches Lächeln erhellte das düstere Gesicht Bofaros. Es war immerhin ein Trost, König zu sein, auch wenn es in einem unterirdischen Land war.
„Hört, ihr Leute!" sagte er. „Wir haben eine Rast redlich verdient, aber dazu ist es noch zu früh. Ich habe da Schatten großer Tiere gesehen, die uns folgten."
„Auch wir haben sie gesehen!" riefen mehrere Stimmen. „Wir dürfen keine Zeit verlieren! Die Frauen sollen ihre Kinder schlafen legen und auf sie achtgeben, die Männer aber eine Befestigung bauen!" Bofaro wälzte den ersten Stein heran. Die anderen folgten, ihre Müdigkeit überwindend, seinem Beispiel. Sie schleppten Steine herbei und begannen eine Mauer zu errichten.
Nach mehreren Stunden stand eine dicke, feste Mauer von doppelter Mannshöhe da.
„Ich glaube, das reicht einstweilen", sagte König Bofaro. „Später werden wir hier eine Stadt bauen."
Bofaro stellte eine Wache aus mehreren Männern mit Pfeilen und Lanzen auf; die anderen, die vor Müdigkeit fast umfielen, begaben sich im unheimlichen Licht der goldgelben Wolken zur Ruhe. Ihr Schlaf sollte jedoch nur kurz sein. „Alarm! Alarm!" schrie die Wache.
Die aufgeschreckten Menschen stiegen auf Vorsprünge an der Innenseite der Befestigung und blickten über die Mauer. Da gewahrten sie einige Dutzend seltsamer Tiere, die sich der Befestigung näherten. „Sechsfüßer! Das sind Sechsfüßer!" riefen mehrere Leute. Die Tiere hatten tatsächlich nicht vier, sondern sechs dicke, runde Beine, auf denen mächtige runde Rümpfe ruhten. Ihr Fell war schmutzigweiß, dicht und zottig. Sie starrten aus großen runden Augen auf die Befestigung, die so jählings entstanden war…
„Welch gräßliche Ungeheuer! Ein Glück, daß die Befestigung uns schützt!" riefen die Menschen. Während die Bogenschützen Pfeile auflegten, kamen die Tiere immer näher. Sie schnüffelten, glotzten und schüttelten drohend ihre großen Köpfe mit den kurzen Ohren. Bald hatten sie sich auf Schußweite genähert. Die Schützen spannten die Bogen, die Pfeile schwirrten durch die Luft. Sie konnten aber die dicke Haut der Tiere nicht durchbohren und blieben in ihrem zottigen Fell stecken. Mit dumpfem Gebrüll kamen die Sechsfüßer näher. Wie alle Tiere des Wunderlandes konnten sie sprechen, aber sie sprachen undeutlich, denn ihre Zungen waren zu dick und unbeholfen.
„Verschießt eure Pfeile nicht umsonst!" befahl Bofaro. „Haltet die Schwerter und Lanzen bereit! Schafft die Frauen und Kinder in die Mitte der Befestigung!"
Die Tiere wagten es aber nicht, anzugreifen. Sie umstellten die Befestigung und hielten ihre glühenden Augen unverwandt auf sie gerichtet. Bofaro und seine Leute waren belagert. Da begriff er, welchen Fehler er begangen hatte: Er hatte es unterlassen, für Wasser zu sorgen. Wenn jetzt die Belagerung lange anhielt, würden seine Leute verdursten. Bis zum See waren es zwar nur ein paar Dutzend Schritt, aber wie sollte man die Umkreisung des Feindes durchbrechen, der gar nicht so schwerfällig war, wie er aussah? Es vergingen ein paar Stunden. Als erste verlangten die Kinder zu trinken. Vergeblich versuchten die Mütter, sie zu beruhigen. Bofaro bereitete sich zu einem verzweifelten Ausfall vor. Plötzlich rauschte es in der Luft, am Himmel tauchte eine Schar sonderbarer Geschöpfe auf, die sich schnell näherte. Sie sahen wie Krokodile aus, nur waren sie viel größer. Diese Ungeheuer schwangen ihre gewaltigen hautbespannten Flügel, und aus ihren schmutziggelben, schuppigen Bäuchen ragten mächtige Tatzen mit scharfen Krallen hervor.
„Wir sind verloren!" schrien die Belagerten. „Das sind fliegende Drachen; vor ihnen kann uns keine Befestigung schützen!"
Die Menschen bedeckten ihre Köpfe mit den Händen, und sie vermeinten schon zu spüren, wie die schrecklichen Krallen in ihr Fleisch eindrangen. Aber da geschah etwas Unerwartetes: Die Drachen stürzten sich heulend auf die Sechsfüßer und suchten deren Augen zu treffen. Diese schienen aber an solche Überfälle gewöhnt: Sie zogen tief die Köpfe ein, richteten sich auf den Hinterbeinen auf und schlugen wild mit den Vorderbeinen um sich. Das Heulen der Drachen und das Brüllen der Sechsfüßer betäubte fast die Menschen, die das ungewöhnliche Schauspiel beobachteten. Einige Sechs-füßer hatten sich zusammengerollt, und die wütenden Drachen rissen ihnen mit den Zähnen ganze Büschel des zottigen Fells aus. Ein unvorsichtiger
Drache, den ein mächtiger Tatzenhieb getroffen hatte, konnte nicht auffliegen und hüpfte hilflos umher. Dann stoben die Sechsfüßer, von den fliegenden Echsen verfolgt, auseinander. Sofort ergriffen die Frauen ihre Krüge und eilten zum See, um Wasser für ihre weinenden Kinder zu holen. Erst viel später, als die Menschen sich in der Höhle eingelebt hatten, erfuhren sie den Grund der Feindschaft zwischen den Sechsfüßern und den Drachen. Die Echsen legten nämlich ihre Eier an einsamen Stellen ab und verscharrten sie in der warmen Erde. Für die Sechsfüßer aber waren diese Eier der schönste Leckerbissen; sie gruben sie aus und fraßen sie, wo immer sie sie fanden. Das konnten die Drachen den Sechsfüßern nicht verzeihen. Aber auch die Echsen waren nicht schuldlos: Wenn sie ein Sechsfüßer-junges ohne Eltern erblickten, fielen sie darüber her und fraßen es auf. Diesmal hatte die Fehde zwischen den Sechsfüßern und den Echsen den Menschen jedoch das Leben gerettet.
Jahre vergingen. Die Ausgestoßenen gewöhnten sich allmählich an das Leben unter der Erde. Sie erbauten am Ufer des Sees eine Stadt und umgaben sie mit einer steinernen Mauer. Um nicht Hungers zu sterben, begannen sie zu pflügen und Getreide zu säen. Die Höhle lag so tief, daß ihr Boden durch die unterirdische Hitze erwärmt wurde. Von Zeit zu Zeit fiel Regen aus den goldgelben Wolken, so daß der Weizen ausreifen konnte, allerdings langsamer als auf der Erde. Für die Menschen war es aber ungeheuer anstrengend, die schweren Pflüge über die steinigen Äcker zu schleppen. Einmal kam der alte Jäger Karum zu König Bofaro und sagte zu ihm:
„Eure Majestät! Die Bauern werden die Mühen des Pflügens nicht mehr aushalten können und vor Erschöpfung sterben. Darum schlage ich vor, daß wir Sechsfüßer vor die Pflüge spannen."
Der König fragte überrascht: „Werden die Bestien die Bauern nicht zerreißen?"
„Ich werde sie zähmen", versicherte Karum. „Oben, auf der Erde, hatte ich mit den schrecklichsten Raubtieren zu tun, und ich habe sie immer gezähmt!"
„Dann tu es!" willigte Bofaro ein. „Du wirst wahrscheinlich Helfer brauchen, nicht wahr?"
„Ja", sagte der Jäger, „aber außer den Menschenwerden mir auch die Drachen helfen."
Wieder staunte der König. Doch Karum sagte ruhig: „Seht, wir Menschen sind schwächer als die Sechsfüßer und die fliegenden Echsen. Aber wir besitzen Verstand, und den haben diese Tiere nicht. Ich werde die Sechsfüßer mit Hilfe der Drachen zähmen, und die Sechsfüßer werden mir helfen, die Drachen in Botmäßigkeit zu halten."
Karum machte sich an die Arbeit. Seine Jäger lasen Drachenjungen auf, die eben aus den Eiern geschlüpft waren. Unter der Obhut der Menschen wuchsen die Jungen zu gehorsamen Tieren heran, und mit ihrer Hilfe gelang es Karum, die ersten Sechsfüßer einzufangen. Es war nicht leicht, die wilden Tiere abzurichten, aber die Menschen schafften es. Als die Sechsfüßer viele Tage nichts zu fressen bekamen, begannen sie von den Menschen Nahrung anzunehmen, und dann ließen sie sich auch anschirren und vor den Pflug spannen. Anfangs gab es auch Unfälle, aber dann kam alles in die rechte Bahn. Zahme Drachen trugen die Menschen durch die Lüfte, und Sechsfüßer pflügten den Boden. Die Leute atmeten erleichtert auf, die Gewerbe erblühten. Weber webten Stoffe, Schneider nähten Kleider, Töpfer stellten Töpfe und Schüsseln her, Erzgräber hoben Erz aus den tiefen Gruben, Gießer erschmolzen daraus Metalle, und Schlosser und Dreher fertigten aus den Metallen Gegenstände, die das Volk brauchte. Die Erzgewinnung war sehr anstrengend, in den Gruben arbeiteten viele Menschen, und deshalb begann man dieses Gebiet das Land der unterirdischen Erzgräber zu nennen. Da die Ausgestoßenen auf sich selbst angewiesen waren, wurden sie erfinderisch. Allmählich vergaßen sie die obere Welt. Die Kinder, die in der Höhle geboren wurden, hatten das oberirdische Land niemals gesehen — sie kannten es nur aus den Geschichten, die ihnen ihre Mütter erzählten und die sich bald wie Märchen anhörten…
Das Leben wurde nach und nach erträglicher. Unterdessen hatte sich aber der ehrgeizige Bofaro mit zahlreichen Hofleuten und Dienern umgeben, und den Unterhalt dieser Tagediebe mußte das Volk bestreiten. Obwohl die Bauern fleißig den Boden pflügten, säten und Getreide ernteten, die Gärtner
Gemüse zogen und die Fischer Fische und Krabben im See fingen, hatten die Menschen doch bald nicht mehr genug zu essen. Deshalb mußten die Erzgräber einen Tauschhandel mit den oberirdischen Menschen beginnen. Die Unterirdischen tauschten ihre Erzeugnisse — Kupfer und Bronze, eiserne Pflüge und Eggen, Glas und Edelsteine — gegen Getreide, Butter und Früchte der Oberirdischen. Allmählich entwickelte sich der Handel. Der Marktplatz, wo der Tausch getätigt wurde, lag am Ausgang des unterirdischen Reichs in das Blaue Land, dicht an dessen östlicher Grenze. Dieser Ausgang war einst auf Befehl König Aranjas durch ein mächtiges Tor versperrt worden. Nach Aranjas Tod wurde die Wache jedoch von dem Tor zurückgezogen, denn die unterirdischen Erzgräber unternahmen keinen Versuch, in die obere Welt zurückzukehren. Während der vielen Jahre ihres unterirdischen Lebens hatten sie die Sonne nicht mehr gesehen, und jetzt konnten die Erzgräber nur noch nachts zur Oberfläche aufsteigen, weil für ihre Augen das Sonnenlicht zu grell war. Jeder Markttag wurde durch das mitternächtliche Geläute der Glocke angekündigt, die über dem Tor hing. Am Morgen prüften und zählten die Kaufleute des Blauen Landes die Waren, die die unterirdischen Einwohner nachts hinterlassen hatten. Dann brachten Hunderte Menschen Schubkarren mit Säcken voller Mehl, Körbe mit Obst und Gemüse, Kisten mit Eiern, Butter und Käse zum Tor. In der folgenden Nacht wurde alles von den Bewohnern des unterirdischen Landes abgeholt.
Bofaro regierte viele Jahre im unterirdischen Lande. Er war mit zwei Söhnen hinabgestiegen, dann wurden ihm weitere fünf geboren. Da Bofaro alle seine Kinder gleich liebte, wußte er nicht, welches er zu seinem Nachfolger bestimmen sollte. Er dachte, wenn er einen Sohn zum Thronfolger auswählte, werde er dadurch die anderen sehr kränken. Siebzehnmal änderte Bofaro sein Vermächtnis, bis er, des Klatsches und der Intrigen seiner zukünftigen Erben müde, auf einen Gedanken kam, der ihm die Ruhe wiedergab. Er ernannte nämlich alle sieben Söhne zu seinen Erbfolgern. Sie sollten, so besagte das Vermächtnis, der Reihe abwechselnd je einen Monat regieren. Damit sie sich nicht stritten und nicht bekriegten, mußten sie dem Vater schwören, daß sie immer in Frieden leben und die Reihenfolge der
Herrschaft genau einhalten würden. Der Eid fruchtete aber nichts. Gleich nach dem Tod Bofaros begannen die Brüder miteinander zu streiten, wer als erster die Herrschaft antreten solle.
„Wir müssen die Reihenfolge der Herrschaft nach unserem Wuchs bestimmen. Ich bin der Größte, und darum werde ich als erster regieren", sagte Prinz Wagissa.
„Mit Verlaub", entgegnete der dicke Gramento, „wer mehr wiegt, hat mehr Verstand, also soll die Waage entscheiden, wer als erster zu regieren hat." „Du hast viel Fett, aber keinen Verstand", schrie Prinz Tubago. „Mit den Geschäften des Königreichs wird der Stärkste am besten fertig. Ich nehme es mit dreien von euch auf. Tretet vor und laßt uns unsere Kräfte messen!" brüllte er, seine riesigen Fäuste schwingend. Es kam zu einer Rauferei, bei der einer der Brüder etliche Zähne verlor, während die anderen blauunterlaufene Augen und ausgerenkte Arme und Beine davontrugen… Als sich die Prinzen wieder ausgesöhnt hatten, wunderten sie sich, daß ihnen nicht schon früher die beste Lösung eingefallen war, nämlich die Reihenfolge nach dem Alter der Brüder festzulegen. Sie beschlossen, einen gemeinsamen Palast zu bauen, in dem ein jeder seinen Teil haben sollte. Architekten und Maurer errichteten auf dem Stadtplatz ein riesiges Gebäude mit sieben Türmen und sieben getrennten Eingängen zu den Gemächern jedes Königs. Die ältesten Einwohner der Höhle hatten den Regenbogen, der am Himmel ihrer verlorenen Heimat strahlte, noch gut in Erinnerung. Sie beschlossen, ihn auf den Wänden des Palastes für ihre Nachfahren zu erhalten, und strichen die sieben Türme in den sieben Farben des Regenbogens. Kunstfertige Maler verliehen den Farben eine wunderbare Reinheit, und sie strahlten so schön wie die eines richtigen Regenbogens. Jeder König machte die Farbe des Turmes, in dem er sich niederließ, zu seiner Leibfarbe. Im grünen Teil des Palastes zum Beispiel war alles grün: die Gemächer, das Festkleid des Königs, die Kleider der Hofleute, die Livreen der Diener, die Möbel. Im violetten Teil war alles violett… Welche Farbe welchem König zufallen solle, wurde durch das Los entschieden. In der unterirdischen Welt gab es keinen Wechsel von Tag und Nacht, deshalb wurde die Zeit mit Sanduhren gemessen. Die Könige beschlossen, daß besondere Würdenträger, Hüter der Zeit, auf den rechtzeitigen Wechsel der Regierung achten sollten. Das Vermächtnis König Bofaros hatte aber schlimme Folgen. Es fing damit an, daß jeder König die anderen feindseliger Absichten verdächtigte und sich eine eigene Wache zulegte, die auf Drachen ritt. Außerdem hielt jeder König Aufseher, die die Arbeit auf den Feldern und in den Fabriken überwachten. Für den Unterhalt der Soldaten, der Aufseher, der Hofleute und der Diener mußte das Volk aufkommen. Ein anderes Übel war, daß das Land keine festen Gesetze hatte. Kaum gewöhnten sich die Einwohner an die Forderungen des einen Königs, da war der Monat seiner Regierungszeit auch schon um, und ein anderer bestieg den Thron, der wiederum neue Forderungen an das Volk stellte. Besonders viele Unannehmlichkeiten bereiteten den Bürgern die Grußvorschriften.
Der eine König verlangte, daß die Leute bei seinem Anblick auf die Knie fielen, der andere, daß sie die linke Hand mit gespreizten Fingern an die Nase legten und mit der rechten über dem Kopf winkten, vor dem dritten mußte man auf einem Bein hüpfen…
Die Könige suchten einander darin zu überbieten, das Volk aber stöhnte unter ihren verrückten Einfällen. Jeder Landesbewohner besaß sieben Hüte in den sieben Farben des Regenbogens. Am Tage des Regierungswechsels mußte man den Hut in der Farbe des neuen Königs aufsetzen, dessen Soldaten streng auf die Befolgung dieser Vorschrift achteten. Nur in einem glichen sich die Könige: Sie dachten sich ständig neue Steuern aus. Die Untertanen arbeiteten im Schweiße ihres Angesichts, um die unzähligen Launen ihrer Herrscher zu befriedigen. Jeder König gab aus Anlaß seiner Thronbesteigung ein üppiges Festmahl, zu dem die Hofleute aller sieben Könige in den Regenbogenpalast geladen wurden. Man feierte die Geburtstage der Könige, ihrer Gemahlinnen und Erbfolger, jede erfolgreiche Jagd, die Geburt eines jeden neuen Drachen in den königlichen Drachenzuchten und vieles andere…
Fast jeden Tag grölten im Palast die Zecher, die den Wein der oberen Welt tranken und den Herrscher priesen, der gerade den Thron bestiegen hatte.
Man schrieb das Jahr 189 der unterirdischen Zeitrechnung, die mit dem Tag der Verbannung des rebellischen Prinzen Bofaro und seiner Anhänger begonnen hatte. Mehrere Geschlechter hatten sich unterdessen im unterirdischen Land abgelöst. Die Leute waren bereits an das Leben in der Höhle und das fahle Licht gewöhnt, das der Abenddämmerung auf der Erde glich. Ihre Haut war blaß, ihre Körper waren schlanker geworden, und ihre großen Augen, die sich dem schwachen, aus den goldgelben Wolken kommenden Licht angepaßt hatten, konnten jetzt das Tageslicht der oberen Welt nicht mehr vertragen. Die Regierungszeit des Königs Pamelja II. näherte sich ihrem Ende, und Pampuro III. sollte ihn nun ablösen. Da dieser aber noch ein Säugling war, fiel seiner Mutter, der Königswitwe Stafida, die Regentschaft zu. Stafida war aber eine machtgierige Frau, die es nicht abwarten konnte, das Land zu regieren. Sie ließ ihren Hüter der Zeit Urgando, einen grauhaarigen, stämmigen Greis mit langem Bart, rufen und befahl ihm:
„Urgando, du sollst den Zeiger der Uhr auf dem Hauptturm um sechs Stunden vordrehen!"
„Zu Befehl, Eure Majestät!" erwiderte Urgando mit einer Verbeugung. „Ich weiß, die Untertanen warten schon mit Ungeduld auf Eure Thronbesteigung."
„Schon gut. Geh und schwatz nicht!" unterbrach ihn Stafida. „Ich tu's ja nicht zum erstenmal!" lächelte verschmitzt Urgando. Er tat, wie ihm geheißen. Aber der Hüter der Zeit König Pameljas, der junge Turrepo, hatte indessen von seinem Herrscher, der seine Regierungszeit verlängern wollte, den Befehl erhalten, den Zeiger um 12 Stunden zurückzudrehen. In der Stadt der sieben Könige und im ganzen Lande geriet alles durcheinander. Kaum hatten die Menschen die Augen geschlossen und sich dem ersten süßen Schlaf überlassen, da schlug die Palastglocke sechs — das Signal zum Auf stehen. Gähnend krochen die Leute aus den Federn und schickten sich an, zur Arbeit zu gehen.
„Hallo!" rief ein Schneider seinem Nachbarn, einem Schuster, zu. „Was ist
passiert? Warum läutet es denn schon?"
„Wer kennt sich bei denen aus!" erwiderte dieser. „Die
Könige wissen die Zeit wohl besser. Vergiß nicht, den grünen Hut aufzusetzen. ."
„Gewiß, gewiß. Ich hab ja das vorige Mal genug Ärger gehabt, weil ich mit dem falschen Hut zum Bäcker ging. Vierundzwanzig Stunden mußte ich dafür auf der Wache absitzen. ."
Die Leute, die auf den Palastplatz traten, hörten ein schreckliches Geschrei. Es kam von dem Turm mit der Uhr, auf dem sich Urgando und Turrepo rauften. Turrepo wollte Urgando hinabstoßen, um den Zeiger zurückzudrehen, aber der Alte, der stärker war, versetzte ihm einen Stoß, daß er die Treppe hinunterrollte. Turrepo blieb minutenlang reglos liegen, doch dann erhob er sich und stieg wieder den Turm hinauf. Abermals stieß ihn Urgando hinunter. Turrepo gab sich aber nicht geschlagen. Beim dritten Mal bekam er seinen Gegner zu fassen, und beide purzelten die Treppe hinab. Dabei schlug Urgando mit dem Kopf gegen eine Stufe und verlor das Bewußtsein. Turrepo drehte den Zeiger zurück und gab das Signal zur Ruhe. Ausrufer rannten durch die Stadt und befahlen den Bürgern, schlafen zu gehen, während gelbe Soldaten auf Drachen in die Dörfer und Siedlungen flogen, um dem Volk zu verkünden, daß die Grünen es zu früh geweckt hätten. Die Leute nahmen sofort die grünen Hüte ab und setzten die gelben auf. Turrepo, der gesiegt hatte, ging schlafen, ohne sich um den bewusstlosen Urgando zu kümmern. Nach anderthalb Stunden kam Urgando wieder zu sich, stieg auf den Turm und schickte seine Boten aus, das Volk in Stadt und Land zu wecken. An diesem Tag standen die Einwohner der Höhle siebenmal auf und gingen siebenmal schlafen, bis sich der hartnäckige Turrepo schließlich geschlagen gab. Die Bürger, denen verkündet wurde, daß seine Majestät König Pampuro III. den Thron bestiegen habe, vertauschten also ihre gelben Hüte gegen die grünen. Das war der letzte Hutwechsel dieses Tages.
Wieder waren hundert Jahre vergangen. In dieser Zeit hatte sich die Lage im unterirdischen Lande immer mehr verschlechtert. Um die unersättliche Habsucht der Könige und ihrer Gefolgschaften zu befriedigen, mußte das einfache Volk jetzt 18 bis 20 Stunden täglich arbeiten. Mit großer Besorgnis dachten die Leute an ihre Zukunft. Da kam ihnen ein wunderbarer Zufall zu Hilfe. Alles begann mit einer Sechsfüßerjagd. Die gezähmten Sechsfüßer brachten dem Land großen Nutzen. Sie zogen die schweren Pflüge, Eggen und Getreidemäher und drehten die Räder der Dreschmaschine. Sie arbeiteten auch an den Schaufelrädern, die das Wasser aus dem See für die Stadt der Sieben Könige schöpften, und zogen die Förderkörbe mit dem Erz aus den tiefen Gruben…
Die Sechsfüßer waren Allesfresser. Man gab ihnen Stroh und Heu, Fische aus dem See und Abfälle der städtischen Küchen… Nur eins war schlimm — daß die alten Sechsfüßer ausstarben. Um sie zu ersetzen, mußte man neue in einem Felslabyrinth einfangen, das die Höhle umgab. Dieses Labyrinth wurde zu einem königlichen Schutzpark erklärt. Dort war den Bürgern das Jagen unter Todesstrafe verboten. Im königlichen Schutzpark herrschte Stille. Kein Geräusch unterbrach das Schweigen der unterirdischen Gänge. In einer Höhle stand einst ein Sechsfüßer mit zottigem weißem Fell, das ein schwaches Licht aussandte, welches die Gegenstände im Umkreis von zwei, drei Schritten beleuchtete. Das Tier löste mit der Zunge gierig riesige Schnecken von dem nassen Fels und verschlang sie mitsamt dem Gehäuse. Lange gab es sich dieser angenehmen Beschäftigung hin, als plötzlich aus der Ferne Lärm an sein feines Ohr drang. Das Tier horchte, nahm nun schon langsamer die Schnecken vom Fels auf und drehte unruhig den zottigen Kopf nach allen Seiten. Was hatte den Sechsfüßer so beunruhigt? Das sollte sich bald zeigen. In der Ferne tauchten Lichtflecke auf, dann wurden Menschen mit leuchtenden Kugeln an den Hüten sichtbar. Das Licht ähnelte dem, welches das Fell des Sechsfüßers ausstrahlte, nur war es viel heller und beleuchtete die Gegenstände zwanzig Schritte im Umkreis. Schlanke Männer in Lederkleidung näherten sich dem Tier. Sie hielten gleichen Abstand voneinander und trugen ein langes Netz vor sich her, das über die ganze Breite der Höhle gespannt war. Manche hielten Stöcke mit Schlingen am Ende in den Händen. Die Bewohner des Unterirdischen Landes waren auf Sechsfüßerjagd.
„Leise, Freunde!" sagte der Anführer der königlichen Jäger, der geschickte Tierfänger Ortega. „Das Tier ist nicht weit."
„Paßt auf an den Seiten", befahl Ortega. „Die Sechsfüßer suchen immer an der Wand durchzuschlüpfen." „Die Fackeln sind bereit", sagten die Männer. „Wir werden ihn mit dem Feuer schrecken." So leise die Menschen auch sprachen, das Tier hörte sie und huschte in einen schmalen Gang. Aber die erfahrenen Jäger, die das Labyrinth genau kannten, hatten auch den zweiten Ausgang der Höhle mit einem Netz versperrt, das eine andere Schar hielt. Der Sechsfüßer kehrte heulend um und begann durch die Höhle zu rasen. Die Jäger aber erhoben ein lautes Geschrei, zündeten ihre Fackeln an, stampften mit den Füßen und schlugen mit den Stöcken auf den felsigen Boden. Der durch das Echo verstärkte Lärm erschreckte das Tier derart, daß es vorwärts stürmte und sich in den weiten Maschen des Netzes verfing. Die Stricke drohten unter den wuchtigen Tatzenschlägen zu zerreißen, aber die Jäger schlugen das Netz fester um den Sechsfüßer, der jetzt ihr Gefangener war. Aus dem Gang trat die andere Jägerschar hervor. Freudestrahlend umringten die Leute den Sechsfüßer.
„Für dieses Tier ist uns eine schöne Belohnung sicher", sagte ein Jäger. „Schaut, wie groß es ist!"
Jetzt laß uns, lieber Leser, sehen, wozu die Leute die Stöcke mit den Schlingen brauchten. Ein paar Männer lösten vorsichtig das Netz von den Beinen des Ungeheuers, warfen ihnen die Schlingen um und banden sie so zusammen, daß der Sechsfüßer nur ganz kleine Schritte machen konnte. Dann setzten sie dem Tier einen festen ledernen Maulkorb auf und banden mehrere Stricke daran. Nachdem all das mit großem Geschick getan war, wurde das Netz abgenommen und zusammengerollt. Dann machten sich die Jäger auf den Heimweg. Die Größten und Stärksten von ihnen zogen den Sechsfüßer an den Stricken, und wenn er nicht weiter wollte, stachen ihn hinten die anderen mit den spitzen Enden ihrer Stöcke. Das Tier fügte sich schließlich in sein Geschick und folgte den Menschen. „Bringt dieses Baby in das Sechsfüßergehege Nr.4. Du, Selano, wirst es dort zähmen!" sagte Ortega. „Und jetzt geht, ich will mich derweilen im Labyrinth ein wenig umschauen, mir scheint, daß es hier noch mehr für uns zu tun gibt."
Die Jäger boten Ortega eine Fackel an, aber dieser nahm sie nicht, die Leuchtkugel auf seinem Hut, sagte er, genüge ihm. Die Leute zogen mit dem Sechsfüßer davon, während Ortega das Labyrinth in Augenschein nahm. Nach etwa zwei Stunden entdeckte er, daß sich in diesem Teil der Höhle eine Sechsfüßermutter mit einem Jungen verbarg. Auf dem Heimweg machte Ortega einen Abstecher in eine Höhle, in der er schon lange nicht mehr gewesen war. Plötzlich erblickte er den Widerschein seiner Leuchtkugel in einem kleinen Becken, das früher leer war. „Siehe da", wunderte sich der Jäger, „das ist ja eine neue Quelle!" Nach dem langen Marsch verspürte er einen starken Durst. Er kniete nieder, schöpfte eine Handvoll Wasser und begann gierig zu trinken. Das Wasser hatte einen sehr angenehmen Geschmack, es schäumte und quirlte. Ortega wollte noch ein paar Schluck trinken, aber da überkam ihn eine unerklärliche Müdigkeit.
„Oho, Ortega", tadelte sich der Jäger, „du wirst alt! Früher hätte dir ein solcher Spaziergang überhaupt nichts ausgemacht! Na, dann werde ich eben etwas ausruhen. ."
Er machte es sich auf dem harten Boden bequem, und im Nu übermannte ihn der Schlaf. Erst gegen Abend des nächsten Tages wurden die Angehörigen Ortegas wegen seines Verschwindens unruhig. Sie waren es zwar gewöhnt, daß der alte Jäger lange wegblieb, als er aber nach drei Tagen noch immer nicht zurückkehrte, schlugen Frau und Kinder Alarm. Was konnte dem Jäger zugestoßen sein? Daß er sich im Labyrinth verirrt hatte, war nicht anzunehmen, denn er kannte es ja sehr gut. Man mußte das Schlimmste befürchten, daß nämlich ein hungriges Tier ihn überfallen oder daß er verschüttet worden war. Das erstere war sehr zu bezweifeln, denn die Sechsfüßer hatten schon längst. die Bekanntschaft der Menschen gemacht und mieden sie. König Ukonda, der in diesem Monat regierte, sandte eine Schar Jäger auf die Suche aus. Ihr Führer war Kuoto, Ortegas Gehilfe. Die Leute nahmen Fackeln und Proviant für mehrere Tage mit. Nach langem Suchen fanden sie Ortega in einer Höhle, die kaum jemand kannte. Er lag an einer kleinen runden Vertiefung, die wie ein Wasserbecken aussah, nur daß kein Tropfen drin war.
Es schien, als schliefe der Jäger, aber er atmete nicht. Als die Leute das Ohr an seine Brust legten, stellten sie fest, daß das Herz stillstand. „Er ist tot!" rief einer der Jäger.
„Der Tod muß eben erst eingetreten sein", sagte Kuoto, „denn der Körper ist noch weich und warm. Wie hat er aber die zwei Wochen ohne Essen und Trinken leben können?"
Der traurige Zug mit dem leblosen Körper Ortegas machte vor dem blauen Teil des Palastes halt, in dem Ukonda lebte. Der König selbst trat heraus, um seinem treuen Jäger die letzte Ehre zu erweisen. „Wann willst du deinen Mann bestatten?" fragte er die vom Kummer gebrochene Alona, die Frau Ortegas.
„Morgen, wie's der Brauch unserer Väter verlangt!" erwiderte sie. „Ha, ha, ha", lachte ein Mann im blauen Mantel schallend. Es war Doktor Boril, der sich einen Weg durch die Menge bahnte. „Wer will hier einen lebendigen Menschen bestatten?… Schaut nur, wie frisch sein Gesicht ist! Sieht ein Toter vielleicht so aus? Da", der kleine dicke Doktor hob den Arm Ortegas, und als er ihn losließ, fiel er weich auf die Bahre zurück. Alona blickte hoffnungsvoll und doch zweifelnd den Doktor an, der zu beweisen fortfuhr, daß Ortega lebe und nur ohnmächtig sei.
„Unsinn! Quatsch!" rief ein dröhnender Baß abgehackt, und ein baumlanger, dürrer Mann trat heran, Doktor Robil, dem ein grüner Mantel lose von den Schultern hing. „Dieser! Mann! ist! tot! wie! ein! Stein!" stieß er die Worte einzeln hervor. Zwischen den beiden Ärzten entbrannte ein Streit, der mit wissenschaftlichen Beweisen gespickt war. Je nachdem, wer von den beiden recht zu haben schien, schwankte Alona zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Zuletzt setzte sich die abgehackte Stimme Doktor Robils durch. Den kleinen Boril von oben ansehend, dröhnte er: „Ich! sage! daß! dieser! Mann! morgen! bestattet! werden! muß!"
In diesem Augenblick regte sich aber der „Tote" und schlug die Augen auf. Die Menge wich entsetzt zurück, nur Alona sank auf die Brust ihres Mannes nieder und begann ihn schluchzend zu küssen.
„Ha, ha, ha! Ho, ho, ho!" lachte aus vollem Halse Boril. „Der hochverehrte Doktor Robil hätte beinahe einen Lebenden begraben! Und das will ein Mann der Wissenschaft sein!"
Der blamierte Robil gab sich aber nicht geschlagen: „Es! bleibt! noch! zu beweisen! daß! er! lebt!" rief er und verließ, sich würdevoll in seinen grünen Mantel hüllend, den Platz. Ein paar Leute lachten bei den letzten Worten Robils, aber Doktor Boril machte ein besorgtes Gesicht. Ortega sprach kein Wort, er erkannte niemanden, auch nicht seine Frau, und verstand nicht die teilnahmsvollen Worte, die König Ukonda höchstpersönlich an ihn richtete.
„Seltsam, sehr seltsam!" murmelte Doktor Boril. „Dieser unstete Blick, wie bei einem Neugeborenen, diese unregelmäßigen Bewegungen der Arme und Beine! Interessant, höchst interessant!" erregte sich der Doktor. „Der Fall könnte sich als sehr wertvoll für die Wissenschaft erweisen. Liebe Frau!" wandte er sich an Alona. „Ich bin bereit, Ihren Mann zu behandeln, und zwar völlig unentgeltlich."
Der gutmütige Doktor achtete nicht auf die Dankesworte der Frau und befahl, Ortega nach Hause zu tragen, der, als man ihn auf die Beine gestellt hatte, keinen Schritt tun konnte. Borilf olgte der Bahre.
Doktor Boril verbrachte Tag und Nacht am Lager Ortegas, der in vielem einem Säugling glich. Er wußte nicht, wie man ißt, und man mußte ihn mit dem Löffel füttern. Er sprach kein Wort und lallte nur. Er verstand nicht, was man zu ihm sagte, und war wie taub, wenn man ihn beim Namen rief…
„Ein seltsamer Fall", murmelte Doktor Boril und rieb sich die Hände. „Das sollte man den oberirdischen Doktoren erzählen! Ich wette meinen Kopf, daß bei ihnen dergleichen noch nie vorgekommen ist!" Die Wiederherstellung der verlorenen Fähigkeit ging bei Ortega erstaunlich schnell voran. Schon am Abend sagte er „Papa" und „Mama", was aus dem Munde des bärtigen Mannes sehr komisch klang, und machte die ersten zaghaften Schritte an der Hand seines Sohnes. Am folgenden Tag war seine Sprache völlig normal und das Bewußtsein klar. Kuoto, sein Gehilfe, erzählte ihm stundenlang allerlei Jagderlebnisse, die allmählich im Gedächtnis Ortegas wieder auflebten. Nach einem weiteren Tag angespannten
Unterrichts konnte der Jäger, von Doktor Boril zum König geführt, sein
ungewöhnliches Erlebnis im Labyrinth erzählen.
„Aber als wir dich fanden, war das Becken doch leer!" rief Kuoto, der
mitgekommen war, und fügte rasch hinzu: „Bitte ergebenst um Verzeihung,
Majestät, daß ich die Anstandsregeln verletzt habe."
„Wieso leer?" fragte Ortega den Gehilfen.
„Es war kein Tropfen Wasser drin", versicherte Kuoto. „Unmöglich!" ereiferte sich Ortega. „Ich habe doch nicht geträumt!" „Vielleicht! habt! Ihr! es! doch! geträumt!" sagte Doktor Robil höhnisch. „Ihr! habt! so! fest! und! so! lange! geschlafen!" Man rüstete eine Expedition unter der Führung des völlig wiederhergestellten Ortega aus, die das Labyrinth untersuchen sollte. Außer den Jägern gingen der Minister für Ackerbau und der Minister für Industrie König Ukondas sowie die Doktoren Boril und Robil mit. Ortega staunte nicht wenig, als man, am Becken angekommen, dieses völlig trocken vorfand.
„Wie ist das möglich?" murmelte er. „Ich kann mich ja genau erinnern, daß der Schlaf mich übermannte, nachdem ich aus diesem Becken getrunken hatte. ."
Die Schar wollte wieder abziehen, aber da sprach Doktor Boril einen Gedanken aus, der später das Leben im Lande der unterirdischen Erzgräber völlig verändern sollte. Er sagte:
„Vielleicht tritt das Wasser hier hervor und verschwindet dann wieder? Vielleicht fließt es von Zeit zu Zeit aus dem Felsen und versickert dann?" Doktor Robil lachte über diese Vermutung, und der gekränkte Doktor Boril schlug vor, man solle sie doch überprüfen.
„Laßt uns eine Woche hier verweilen oder zwei, oder einen Monat!" rief er. „Vielleicht! ein! Jahr!?" fragte spöttisch Doktor Robil. „Falls das Wasser nach einem Monat nicht da ist, gebe ich mich geschlagen", sagte tapfer Boril. „Dann will ich zum Zeichen meiner Niederlage auf allen vieren eine Runde um die Stadt der sieben Könige machen!" „Das! ist! mir! recht!" schmunzelte Robil.
Die zwei Doktoren blieben bei der verschwundenen Quelle, und damit es ihnen nicht langweilig werde, blieben auch die beiden Minister, die die Neugier gepackt hatte. Außerdem konnte man ja zu viert besser würfeln
(einer der Minister, ein leidenschaftlicher Spieler, trug immer Würfel bei sich). „Und Ihre Ministerien?" fragte Ortega. „Die kommen auch ohne uns aus", sagte der Ackerbauminister unbekümmert. Die Minister befahlen, man solle Bettzeug und alles Notwendige für einen längeren Aufenthalt im Labyrinth herbeischaffen, so Proviant, Wein und Obst. Dann solle man sie alle zwei Tage besuchen und den Vorrat ergänzen. Fünfmal kehrte Ortega in die Höhle zurück, und jedesmal fand er alles beim alten. Das Becken war leer. Doktor Robil hänselte seinen Kollegen Boril und riet ihm, sich rechtzeitig im Gehen auf allen vieren zu üben, das Gesicht Borils aber wurde mit jedem Tag finsterer. Bei der sechsten Wiederkehr bot sich Ortega und seinen Jägern ein unerwartetes Bild: Die beiden Doktoren und die beiden Minister lagen reglos auf dem Boden, sie atmeten nicht, und ihr Herz schlug nicht. An den verstreuten Würfeln war zu erkennen, daß sie ein Spiel begonnen und nicht zu Ende geführt hatten. Das Becken aber war leer. Als man die vier Schlafenden vor die blaue Treppe brachte, sagte König Ukonda: „Jetzt ist mir alles klar. Dieses Wasser, das so geheimnisvoll hervortritt und wieder verschwindet, schläfert ein. Meine Minister und die beiden Doktoren waren sehr leichtsinnig, als sie alle auf einmal vom Zauberwasser tranken. Es bleibt uns nichts anderes übrig als abzuwarten, bis sie wieder aufwachen. Man trage die Schlaf mützen in ihre Häuser und erstatte mir jeden Tag Bericht über ihr Befinden!"
Der Jäger Ortega hatte zwei Wochen geschlafen. Jetzt vergingen jedoch zwei Wochen, ein Monat und noch ein halber, ohne daß sich am Zustand der Schlafenden etwas änderte. Ihre Körper waren warm und weich, aber ihr Atem und der Herzschlag hatten ausgesetzt. Als erster erwachte Doktor Boril. Das geschah am dreiundfünfzigsten Tag, nachdem er vom Wasser getrunken hatte. Wie einst Ortega glich jetzt auch der Doktor einem Säugling, was ein großes Unglück war. Im Unterirdischen Land gab es nämlich nur zwei Ärzte — für einen dritten hätten sich dort keine Patienten gefunden. Die Ärzte überlieferten ihr Wissen den Nachfahren, immer vom Vater auf den Sohn. Aber die Väter Borils und Robils waren längst tot, und es gab niemanden, der den beiden die Heilkunde wieder beibringen konnte. Die sieben Könige schnaubten vor Wut. Wenn sie erkrankten, würde es jetzt niemanden geben, der ihnen helfen konnte! Sie wollten sogar Ortega
aufhängen, weil er diese Unglücksquelle entdeckt hatte, aber dann überlegten sie es sich, denn das hätte ja niemandem genützt. Binnen drei Tagen war Doktor Boril so weit, daß er gehen und sprechen konnte. Aber die Heilkunde hatte er völlig vergessen. Zum Glück fanden sich im Haus die Aufzeichnungen seines Vaters und die alten Hefte mit den Hausaufgaben Borils. Nach zwei Wochen konnte er schon leidlich seinem Beruf wieder nachgehen. Unterdessen war auch Robil erwacht.
„Ich werde ihn unterrichten!" sagte Boril, und natürlich hatte niemand etwas dagegen einzuwenden. Jetzt, da er über seinen Freund und Rivalen Macht hatte, wollte der dicke Doktor jeden möglichen Vorteil daraus ziehen. Als Robil wieder zu sprechen anfing, flüsterte Boril ihm ein: „Weißt du, wer ich bin? Ich bin der berühmte Doktor Boril, ein großer Mann der Wissenschaft, dein einziger Lehrer und Beschützer, ohne den du dein Leben lang ein Dummkopf und Trottel bleiben würdest. Hast du verstanden? Wiederhole!"
Der baumlange Robil, der fast zusammenknickte und dabei immer noch auf seinen Lehrer herabblickte, schaute ihn mit verliebten Augen an und sagte: „Ihr seid der berühmte Doktor Boril, ein großer Mann der Wissenschaft, mein einziger Lehrer und Beschützer. Ohne Euch würde ich mein Leben lang ein Dummkopf und Trottel bleiben. ."
„So, das merke dir und höre nicht auf die Leute, die dir etwas anderes sagen sollten."
Die Minister, die mehr als die Doktoren vom Wasser getrunken hatten, schliefen drei Monate. Dann erwachten sie beide gleichzeitig. König Ukonda, der darüber erbost war, daß sie ohne Erlaubnis ihr Amt verlassen und so lange geschlafen hatten, gebot ihnen einzuflüstern, daß sie früher Diener im Palast gewesen seien. Ihren Angehörigen befahl er unter Androhung schwerer Strafe, den Ärmsten nichts von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Dieses kühne Experiment gelang: Beide Minister hatten die Vergangenheit völlig vergessen. In ihren Dienerkleidern liefen sie mit Tabletts durch den Palast, fegten die Zimmer, putzten Schuhe und bedienten bei Tisch.
Als sich diese seltsamen Dinge zutrugen, befand sich unter den sieben Hütern der Zeit einer namens Bellino, der durch Verstand und Ehrlichkeit hervorragte. Seinen klugen Ratschlägen folgten nicht nur die anderen Hüter der Zeit, sondern sogar die Könige. Dieser Bellino hatte einen prächtigen Einfall.
„Wie wär's, wenn man die Könige einschläfern würde für die Zeit, in der sie nicht regieren?" sagte er leise, blickte sich aber sogleich nach allen Seiten um, ob niemand horche…
Zuerst schien ihm diese Idee vermessen und unerfüllbar, aber je länger er nachdachte, desto mehr gefiel sie ihm.,Jetzt', überlegte Bellino, muß das Volk sieben Könige mit ihren Familien, sieben Höfe, sieben maßlos freche Dienerhaufen, sieben militärische Wacheinheiten und sieben Spionsbanden ernähren. Das sind mehr als tausend unnütze Esser. Wird aber meine Idee verwirklicht, so werden dem Volk nur etwa anderthalb Hundert Tagediebe auf der Tasche liegen, während die übrigen friedlich und traumlos schlafen und nicht an ihren Magen denken werden. Zuerst überlegte der alte Bellino selbst seinen Plan, dann teilte er ihn dem kleinen dicken Doktor Boril mit. „Bei allen Senfumschlägen der Welt", rief dieser begeistert, „das ist eine geniale Idee! Aber werden unsere Herrscher schlafen wollen?" fügte er nachdenklich hinzu. „Egal, dann werden wir sie eben überreden!" Vor allem mußten jedoch die geheimnisvollen Eigenschaften des Schlafwassers untersucht werden. Das übernahmen Bellino und die Doktoren Boril und Robil. Sie stellten fest, daß das Zauberwasser einmal im Monat aus dem Felsen hervortrat. Es füllte das kleine runde Becken, verblieb darin mehrere Stunden und floß dann in die unerforschte Tiefe der Erde zurück. Das Wasser wurde in Krügen in die Stadt gebracht, aber schon nach 24 Stunden verlor es seine einschläfernde Kraft. Damit es wirkte, mußte man es frisch trinken. Es war nicht leicht herauszufinden, wieviel Zauberwasser ein Mensch trinken mußte, um genau sechs Monate zu schlafen. Die Versuche Bellinos und der beiden Ärzte nahmen geraume Zeit in Anspruch. Mit Genehmigung der sieben Könige, die keine Ahnung hatten, worum es ging, schläferten die Ärzte Handwerker und Bauern ein. Diese ließen es gern geschehen, denn der lange ruhige Schlaf brachte ihnen
Erholung von der schweren Arbeit. Als die Versuche beendet waren, wußte man genau, wieviel Zauberwasser ein erwachsener Mann trinken muß, um ein halbes Jahr zu schlafen. Frauen brauchten eine kleinere Dosis, Kinder noch weniger.
Nach Abschluß der Versuche bat Bellino die Könige, den Großen Rat einzuberufen, an dem nach altem Brauch die Herrscher mit allen ihren Angehörigen, den Ministern und Hofleuten teilnahmen. Der Rundsaal des Regenbogenpalastes mit seinen Girlanden phosphoreszierender Kugeln bot ein prächtiges Bild. Der Saal war in sieben Sektoren eingeteilt — jeder für einen König und seinen Hof. Die Kleider der Herrscher und ihrer Hofleute waren wie immer verschiedener Farbe. In einem Sektor strahlte Grün in allen Tönen. In einem anderen leuchtete Rot in berückenden Verbindungen, weiter folgten Tiefblau und Violett, Himmelblau und Goldgelb. In diesem riesigen unterirdischen Saal wäre selbst ein Regenbogen vor Neid erblaßt. Das Auge, von den eintönigen bronzenen, braunen und dunkelroten Farben des unterirdischen Landes müde, konnte hier ausruhen und sich an der strahlenden Pracht ergötzen. Nicht umsonst hatte der weise König Karvento vor 200 Jahren ein Gesetz verabschiedet, das die düstere Natur des unterirdischen Reiches durch viele helle Farben aufzuheitern gebot. Damals wurden die Häuser, die Zäune und Wegweiser meergrün, himmelblau und perlmuttfarben gestrichen. Als der letzte König, der sich verspätet hatte, mit seiner Gattin und den zwei Söhnen in den Saal trat, wurde die Versammlung eröffnet. Mit Genehmigung König Asfejos, der in diesem Monat regierte, nahm der Hüter der Zeit, Bellino, das Wort. Er sprach von der schwierigen Lage, in der sich das Land befand. Schon lange, sagte er, reichen die Arbeitskräfte nicht mehr aus, mit jedem Jahr fließen immer weniger Steuern in die Staatskasse, und deshalb müsse der Luxus der königlichen Höfe eingeschränkt werden…
„Pfui, Schande!" hörte man von den Plätzen rufen, wo die Könige saßen. „Auch ich bin der Ansicht, daß man damit Schluß machen muß", führ Bellino fort. „Ich glaube auch ein Mittel gefunden zu haben." „Hm, interessant", räusperte sich König Asfejo. „Laß hören."
Bellino erzählte von seinem ungewöhnlichen Plan, worauf eine lange, drückende Stille eintrat. Man überlegte, wie man sich zu diesem dreisten Vorschlag verhalten solle. Bellino begann den Königen die Vorzüge des neuen Plans auszumalen.
„Überlegt einmal, Eure Majestäten, wie bequem das für Euch sein wird! Wenn Ihr jetzt einen Monat regiert habt, müßt Ihr dann ein halbes Jahr in qualvollem Nichtstun verharren, bis Ihr wieder an die Reihe kommt. Das ist die Ursache der vielen Streitigkeiten. Nehmt Ihr aber meinen Plan an, so wird Euch die Zeit, in der Ihr nicht regiert, wie im Nu vergehen. Euer Leben wird ein einziges Regieren sein, denn die Zeit Eures Zauberschlafes werdet Ihr ja gar nicht merken. Eure Majestäten schlafen doch auch jetzt alle Tage!"
„Famos!" rief ein König aus.
„Gewiß!" sagte Bellino erfreut. „Außerdem haben ich und die hochgeschätzten Doktoren Boril und Robil", die beiden Ärzte verbeugten sich würdevoll, „herausgefunden, daß dieser Schlaf, obwohl er lange dauert, Euer Leben nicht verkürzen, sondern verlängern würde. Sind Euch zum Beispiel 60 Jahre beschieden, so werdet Ihr 400 Jahre leben, also siebenmal so lange, denn die Schlafzeit zählt ja nicht!"
Die Ratsmitglieder waren von diesem lockenden Vorschlag derart verblüfft, daß sie lange kein Wort hervorbringen konnten. Dann rief König Ukonda begeistert: „Es ist entschieden! Ich lege mich als erster schlafen!" „Warum Ihr?" fragte König Asfejo neidisch. „Meine Regierungszeit läuft nächste Woche ab, also gehe ich als erster schlafen. Ihr aber, Eure Majestäten, wartet unterdessen, bis die Reihe an Euch kommt!" Königin Rinna fragte: „Müssen denn die Hofleute und die Diener auch eingeschläfert werden? Vielleicht reicht das Zauberwasser gar nicht für alle?" „Seid unbesorgt", beruhigte sie Doktor Boril, „es reicht. Und außerdem: Was sollen denn die Höflinge, die Soldaten und die Spione tun, solange die Könige schlafen? Ränke schmieden?" „Nein, nein", riefen die Könige und Königinnen wie aus einem Munde. „Da ist es schon besser, wenn alle schlafen werden!"
König Asfejo war der erste, der mit seiner Familie, den Hofleuten, Dienern, Soldaten und Spionen eingeschläfert wurde. Es war wunderlich anzusehen, wie der König und dann seine Gemahlin und die Kinder aus Kristallbechern das Wasser tranken, das ihnen die Doktoren genau abgemessen hatten, dann auf den weichen Teppich sanken und sofort einschliefen. Nach ihnen kamen die Diener, Soldaten und Spitzel. Diener des Königs Ukonda, Asfejos Nachfolger, trugen die Eingeschlafenen lachend in eine Kammer und legten sie auf Brettergestelle, wo sie mit Mottenpulver bestreut wurden. Damit die Mäuse, von denen es im Lande wimmelte, die Schlafenden nicht benagten, wurden auch zwei gezähmte Eulen (im unterirdischen Land gab es keine Katzen) in die Kammer gebracht. Mit jedem Monat wuchs die Zahl der Schlafenden. Das Volk aber atmete erleichtert auf. Es brauchte jetzt weniger Lebensmittel an den Königspalast abzuführen und hatte darum selbst mehr zu essen. Wie genial die Idee Bellinos war, begriffen die Menschen aber erst nach einem halben Jahr, als von den sieben Türmen des Regenbogenpalastes sechs verlassen dastanden. Nur noch in einem wurde gezecht, schmetterte die Musik und hallten die Trinksprüche. Das war natürlich viel leichter zu ertragen als früher, da alle sieben königlichen Höfe sich gleichzeitig den Lustbarkeiten hingaben. Der Hüter der Zeit, Bellino, genoß allgemeine Verehrung. Die Leute verbeugten sich tief, wenn sie ihm begegneten, bis er, von Natur aus sehr bescheiden, ihnen diese Ehrenbezeigungen verbot. Bellino trank nicht von dem Schlafwasser, denn ihm oblag es ja, die Reihenfolge des Königwechsels zu überwachen. Er versah sein Amt so gut, daß das Volk folgenden Entschluß verabschiedete: „Wir brauchen jetzt nicht mehr sieben Hüter der Zeit, denn sie stiften nur Verwirrung. Bellino allein soll Hüter der Zeit sein und sich nach eigenem Ermessen seine Gehilfen auswählen. Wenn die Zeit kommt, da er in den Ruhestand tritt, wird das Volk unter den würdigsten und angesehensten Bürgern des unterirdischen Landes seinen Nachfolger wählen." Furchtbar anstrengend waren für den Hüter der Zeit und seine Gehilfen die Tage nach dem Erwachen der Eingeschläferten. In drei Tagen mußte man sie das Gehen und Sprechen lehren und ihr Gedächtnis wiederherstellen.
Für die Erwachten brach dann ein Monat an, in dem sie überhaupt nicht zu Bett gingen. In einem halben Jahr sammelten sie nämlich so viel Kraft, daß sie des täglichen Schlafs nicht bedurften und sich den ganzen Monat ausschließlich den Belustigungen hingaben. Nach dem Festgelage gingen sie auf Sechsfüßerjagd, dann folgten ausgedehnte Angelpartien, Reisen auf geflügelten Echsen und wieder Festgelage… Der König hatte keine Zeit, das Land zu regieren und Gesetze herauszugeben. So kam es, daß die ganze Last des Regierens und alle Staatssorgen auf den Schultern des Hüters der Zeit ruhten, während den Königen nur die Ehren und Titel verblieben. Schon Bellino hatte für die Erhaltung der Quelle gesorgt, die den Namen Heilige Quelle erhielt. Später wurde auch die Höhle heilig genannt. Das Wasserbecken wurde in einem schönen runden Turm aus verschiedenfarbigen Backsteinen eingefaßt, vor dessen Eingang immer eine Wache stand. Das Schlafwasser wurde zum Staatseigentum erklärt, wer davon trinken wollte, mußte sich beim Hüter der Zeit und den zwei Doktoren, den Nachfahren Borils und Robils, die Erlaubnis dazu einholen. Solche Fälle kamen vor, wenn es in einer Familie Zwistigkeiten gab. Mann und Frau wurden dann für ein paar Monate eingeschläfert, und wenn sie dann wieder aufwachten, hatten sie den Zwist vergessen. Jahrhundert um Jahrhundert verging in dem Reich, das von der oberen Welt durch eine mächtige Erdschicht getrennt und mit ihr nur durch einen Ausgang verbunden war, vor dem der Tauschhandel zwischen den Erzgräbern und den Einwohnern des Blauen Landes stattfand. In den verflossenen Jahrhunderten hatte sich der Charakter der unterirdischen Bewohner sehr verändert. Sie waren mißtrauisch geworden und fürchteten die Tücke der oberen Menschen. Wachen mit Pfeil und Bogen flogen ständig auf Drachen in der Höhle umher und hielten nach Feinden Ausschau. Im unterirdischen Land hatten sich unterdessen viele Geschlechter abgelöst, nur im Regenbogenpalast schien das Leben stillzustehen: In den 700 Jahren, die seit der ersten Einschläferung vergangen waren, hatten nur zwei Wechsel der sieben Könige, ihrer Höflinge und Diener stattgefunden. Der Verstand dieser Leute änderte sich überhaupt nicht, denn jedesmal, wenn sie nach einer Schlafperiode aufwachten, hatten sie alles vergessen, was sie früher wußten, und man mußte sie in allem neu unterweisen. Wieviel aber kann schon ein Mensch erlernen, wenn die ganze Lehrzeit nur
drei, vier Tage dauert? Das Volk begann sich Gedanken darüber zu machen, ob das Land die sieben Könige überhaupt brauche, die nur schliefen oder zechten und die Staatsgeschäfte vernachlässigten. Doch die von den Vorfahren ererbte Ehrfurcht vor den Monarchen war zu tief verwurzelt, und kaum jemand glaubte ernsthaft daran, daß man die Könige stürzen und ohne sie leben konnte. Eine unerwartete Begebenheit brachte jedoch die Ordnung, die seit Jahrhunderten im unterirdischen Lande herrschte, durcheinander.
Es waren genau 300 Jahre und vier Monate nach der Entdeckung des Schlafwassers im Labyrinth vergangen. In verschiedenen Teilen des Kontinents, den man zu jener Zeit bereits Amerika nannte, lebten vier Zauberinnen, zwei gute und zwei böse. Die guten hießen Willina und Stella, die bösen Gingema und Bastinda. Obwohl sie leibliche Schwestern waren, lagen sie miteinander in ewigem Streit. Die menschlichen Siedlungen rückten immer näher an die Gebiete der Zauberinnen heran, und diese beschlossen, wie einst der mächtige Hurrikap, ihren Wohnort zu wechseln. Seltsamerweise kam ihnen dieser Gedanke zur gleichen Zeit, aber was gibt es nicht alles auf der Welt! Die Schwestern guckten in ihre Zauberbücher und beschlossen, in das Wunderland zu ziehen, das durch eine große Wüste und unbezwingbare Berge von der übrigen Welt getrennt war. Den Büchern entnahmen sie auch, daß in diesem Land kleine stille Menschlein lebten, die man leicht unterwerfen konnte, und daß es dort weder Zauberer noch Zauberinnen gab, mit denen man um die Macht hätte ringen müssen. Die vier Schwestern waren unangenehm überrascht, als sie, nachdem sie auf verschiedenen Wegen ins Wunderland gekommen waren (wobei sie natürlich ihre Zaubermittel mitführten), plötzlich einander gegenüberstanden.
„Das ist mein Land!" kreischte die vor Bosheit spindeldürre Gingema. „Ich war die erste hier!"
Sie war tatsächlich eine Stunde vor den anderen angekommen. „Ihr habt einen zu großen Appetit, Verehrteste!" bemerkte die schöne Stella, die das Geheimnis der ewigen Jugend kannte. „In diesem großen Lande wird sich wohl für uns alle Platz finden." „Ich will mit niemandem teilen, nicht einmal mit Schwester Gingema!" rief die einäugige Bastinda, die einen schwarzen Schirm unterm Arm hielt, der sie auf ihren Wunsch überallhin trug. „Hütet euch", sagte sie, „bei einem Streit mit mir werdet ihr schlecht abschneiden." Die grauhaarige, gutmütige Willina sagte nichts. Sie nahm aus den Falten ihres Kleides ein winziges Buch, pustete darauf, und siehe da, es verwandelte sich in einen riesigen Band. Voller Respekt blickten die anderen Zauberinnen auf Willina, denn sie waren nicht imstande, ihre Zauberbücher so zu verwandeln, und mußten sie in ihrer vollen Größe mitschleppen. Willina blätterte in ihrem Buch und raunte:
„Afrika, Ananas, Aprikosen, Brot, Buche… da, ich hab's: Krieg!" Die Zauberin überflog ein paar Zeilen und lächelte überlegen: „Ihr wollt Krieg führen? Nun denn, ich bin bereit!"
Gingema und Bastinda bekamen Angst. Sie verstanden, daß es ein ernster Kampf sein würde, in dem sie — das mußte wohl Willina in ihrem Zauberbuch gelesen haben — unterliegen würden. Die vier Zauberinnen kamen überein, den Streit gütlich zu regeln. Aus ihren Büchern erfuhren sie natürlich auch von dem unterirdischen Lande, doch keine wollte dorthin ziehen. Das Los entschied, daß Gingema das Blaue Land, Willina das Gelbe, Bastinda das Violette und Stella das Rosa Land erhalten solle. Das mittlere Gebiet sollte einen Trennungsraum zwischen ihnen bilden, damit sie einander seltener begegneten. Die Zauberinnen einigten sich auch; ihre Länder niemals für längere Zeit zu verlassen, was durch einen Eid besiegelt wurde. Dann machte sich eine jede in ihr Land auf. Zu jener Zeit gab es im ganzen Wunderland, mit Ausnahme der Höhle, keine königliche Macht mehr. Die Völker, die der Könige überdrüssig geworden waren, weil sie ständig im Streit miteinander lagen und Kriege führten, hatten sich erhoben und die Tyrannen gestürzt. Aus den Schwertern schmiedeten sie Sicheln und Sensen, und die Völker konnten nun ruhig leben. Der Stamm, der früher das Blaue Land bevölkerte, war fortgezogen, und jetzt lebten dort kleine Menschen, die die komische Angewohnheit hatten, die Kiefer ständig zu bewegen, so daß es aussah, als kauten sie. Dafür wurden sie Käuer genannt. Es war ein Unglückstag für die Käuer, als die böse Gingema in ihr Land kam. Die Zauberin stieg auf einen hohen Felsen und begann so laut zu schreien, daß die Bewohner aller umliegenden Dörfer herbeieilten. Dann sagte sie zu den zähneklappernden Menschlein:
„Ich, die mächtige Zauberin Gingema, rufe mich hiermit zur Herrscherin eures Landes aus. Meine Macht ist grenzenlos, ich kann Stürme und Orkane heraufbeschwören…"
Die Käuer schauten sie ungläubig an.
„Ich sehe, ihr zweifelt?" kreischte Gingema. „Nun denn, ich will's euch zeigen!" Bei diesen Worten spreizte sie die Schöße ihres schwarzen Mantels und murmelte: „Pikapu, trikapu, loriki, joriki, turabo, furabo, skoriki, moriki." Sogleich erhob sich ein Wind, und am Himmel ballten sich schwarze Wolken. Da fielen die entsetzten Käuer auf die Knie und gelobten, die Macht Gingemas anzuerkennen.
„Ich werde mich in eure Geschäfte nicht einmischen", sagte die Zauberin. „Ihr könnt eure Äcker bestellen und Hühner und Kaninchen züchten, mir aber werdet ihr Steuern entrichten in Form von Mäusen und Fröschen, Blutegeln und Spinnen — das sind die Leckerbissen, von denen ich mich ernähre."
Die Käuer hatten schreckliche Angst vor Fröschen und Blutegeln, aber Gingema war noch schrecklicher, und so weinten sie denn und ergaben sich in ihr Schicksal. Die Zauberin ließ sich in einer großen Höhle nieder, hängte Bündel von Mäusen und Fröschen unter die Decke und rief die Eulen aus dem Wald. Die Käuer wagten nicht, sich der Höhle zu nähern. Da sie aber Metall für ihre Sensen, Sicheln und Pflüge und Edelsteine für ihren Schmuck brauchten, fuhren sie fort, mit den unterirdischen Erzgräbern zu handeln. Nach wie vor versammelten sie sich an den Markttagen vor dem Tor und warteten auf das mitternächtliche Geläute der Glocke. Die Erzgräber bekamen sie nie zu sehen, denn die unterirdischen Menschen waren in den verflossenen Jahrhunderten so empfindlich gegen das Tageslicht geworden, daß sie nur noch bei völliger Finsternis, wenn alle Käuer schliefen, zur Oberwelt hinauf stiegen. Ebenso leicht, wie Gingema vom Blauen Land Besitz ergriffen hatte, bemächtigte sich Bastinda des Violetten Landes, in dem die friedlichen und fleißigen Zwinkerer lebten, so genannt, weil sie immerzu mit den Augen zwinkerten. Bastinda ließ sich einen Palast bauen, in dem sie, von jedermann gehaßt, mit ihren Dienern hauste.
Den Bewohnern des Gelben und des Rosa Landes aber war das Glück hold. Bei ihnen regierten die guten Feen Stella und Willina, die ihre Völker nicht unterdrückten, sondern bemüht waren, ihr Leben zu verbessern. So blieb es im Wunderland mehrere Jahrhunderte, aber dann trat ein Ereignis ein, das, auf den ersten Blick unscheinbar, wichtige Folgen haben sollte. In Amerika, im Staate Kansas, lebte ein Pechvogel namens James Goodwin. Nicht daß er ein Faulenzer oder ein Dummkopf war, nein, er hatte einfach Pech im Leben. Was immer er auch unternahm, alles mißlang ihm. Schließlich kaufte er sich einen aufblasbaren Luftballon, mit dem er auf den Jahrmärkten auf stieg — zur Belustigung der Gaffer, die Münzen in seinen Hut warfen. Einmal riß aber das Seil, das den Ballon hielt. Der Wind erfaßte den Ballon und trug ihn in das Wunderland. Zum Glück landete er im mittleren Teil des Landes, in dem es keine Zauberinnen gab. Als herbeieilende Menschen einen Mann vom Himmel herabsteigen sahen, hielten sie ihn für einen großen Wundertäter. Goodwin nahm sich nicht die Mühe, es ihnen auszureden. Er baute sich in mehreren Jahren eine schöne Stadt, die er mit zahllosen Smaragden ausschmückte, welche seine Untertanen im Tausch von den Bewohnern des unterirdischen Landes bekommen hatten. Als die Smaragdenstadt — so hatte sie Goodwin benannt — fertig war, zog er in einen prächtigen Palast und verbreitete das Gerücht, daß er der mächtigste Zauberer der Welt sei. Seinen Besuchern zeigte sich Goodwin in verschiedenen wunderlichen Gestalten, die den Leuten Schreck einflößten. Dabei erklang irgendwo von der Seite her eine Stimme, die sagte: „Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche! Warum lenkst du mich von meinen weisen Gedanken ab?"
Das Komischste an der Sache war, daß viele Jahre lang nicht nur die Bewohner der Smaragdenstadt, sondern sogar die vier Zauberinnen auf diesen Trick hereinfielen. Selbst sie glaubten, daß Goodwin ein großer Zauberer sei, und fürchteten sich vor einem Kampf mit ihm. Dabei bestand die Ursache des Schrekkens, den Goodwin verbreitete, einzig und allein darin, daß er mit einem Ballon vom Himmel herabgestiegen war. Das verstanden jedoch die Zauberinnen nicht, weil sie ungebildet waren und nie etwas von Luftballons gehört hatten…
Goodwin wurde von Elli entlarvt, einem kleinen Mädchen, das ein Zufall in das Wunderland verschlagen hatte.
Elli lebte mit ihren Eltern in der weiten Steppe von Kansas. Als Haus diente ihnen ein leichter Packwagen ohne Räder. Einmal wollte die böse Zauberin Gingema das ganze Menschengeschlecht vernichten und beschwor zu diesem Zweck einen schrecklichen Sturm herauf, der sich bis nach dem fernen Kansas wälzte. Ihre Schwester, die gute Zauberin Willina, machte den Sturm jedoch unschädlich. Das einzige, was sie ihm gewährte, war, den Packwagen aus der Steppe von Kansas fortzutragen. Das ließ Willina geschehen, denn ihr Zauberbuch hatte ihr gesagt, daß dieser Wagen während der Stürme immer leer stand. Manchmal irren aber selbst die Zauberbücher. Als der Sturm ausbrach, befand sich gerade die kleine Elli im Wagen, die ihr Hündchen Toto in Sicherheit bringen wollte. Der Wagen wurde vom Sturm in das Wunderland getragen, wo er der bösen Gingema, die sich am Gewitter ergötzte, auf den Kopf fiel. Die Hexe war augenblicklich tot. Elli war nun mutterseelenallein im fremden Lande, ohne Freunde, wenn man das Hündchen Toto nicht rechnet, das im Wunderland plötzlich zu sprechen anf ing und damit seine kleine Herrin in Staunen versetzte. Dem Mädchen kam Willina, die gute Zauberin des Gelben Landes, zu Hilfe. Sie riet Elli, zum großen Zauberer Goodwin in die Smaragdenstadt zu gehen. Dieser, sagte sie, werde sie nach Kansas zu Vater und Mutter führen, falls sie, Elli, drei Geschöpfen bei der Erfüllung ihrer sehnlichsten Wünsche helfen werde. Das stand in Willinas Zauberbuch. Nach dieser Mitteilung flog die Zauberin in ihr Land zurück. Während Elli mit Willina sprach, geriet der umherschnüffelnde Toto in die Höhle der Gingema, aus der er bald mit zwei schönen Silberschuhen in den Zähnen herauskam. Die Käuer, die das alles mit angesehen hatten, versicherten dem Mädchen, diese Schuhe seien der wertvollste Besitz Gingemas gewesen und hätten eine große Zauberkraft. Was das für eine Kraft sei, wußten sie jedoch nicht zu sagen. Elli zog die Silberschuhe an, die ihr genau paßten, und machte sich, von den Käuern reichlich mit Mundvorrat versorgt, mit ihrem Hündchen auf den Weg in die Smaragdenstadt. Unterwegs gewann Elli neue Freunde. In einem Weizenfeld hob sie einen Strohmann von einem Pfahl-es war der Scheuch, der gehen und sprechen konnte und den sehnlichsten Wunsch hatte, ein kluges Gehirn für seinen Strohkopf zu bekommen. Der Scheuch beschloß,
mit Elli zusammen in die Smaragdenstadt zu ziehen. In einem dichten Wald retteten Elli und der Scheuch den Eisernen Holzfäller vor dem Tod. Der Mann hatte ein ganzes Jahr mit erhobener Axt an einem Baum gestanden, wo ihn einmal der Regen überrascht hatte. Weil er seine Ölkanne damals nicht bei sich hatte, waren seine eisernen Gelenke im Regen eingerostet. Elli holte die Ölkanne aus des Holzfällers Haus und schmierte ihn, worauf er sich wie neugeboren fühlte. Auch er beschloß, in die Smaragdenstadt zu ziehen, wo er sich von Goodwin ein liebendes Herz für seine eiserne Brust erbitten wollte, denn das war sein sehnlichster Wunsch. Als nächster schloß sich der wunderlichen Schar der Feige Löwe an, der davon träumte, tapfer zu werden. Auf dem Weg in die Smaragdenstadt erlebten Elli und ihre Gefährten viele gefährliche Abenteuer. Sie besiegten einen Menschenfresser, schlugen sich mit schrecklichen Säbelzahntigern, überquerten einen reißenden Fluß und gerieten in ein tückisches Mohnfeld, in dem Elli, Toto und der Löwe vom Duft der Mohnblumen in einen tiefen Schlaf fielen, aus dem sie nur durch einen glücklichen Zufall wieder erwachten. Während dieses letzten Abenteuers lernte Elli die Königin der Feldmäuse, Ramina, kennen, die ihre Freundin wurde. Von Ramina bekam sie eine silberne Zauberpfeife, die Elli sehr zustatten kommen sollte. Nach unzähligen Strapazen erreichten Elli und ihre Gefährten den herrlichen Palast Goodwins. Beim Betreten der Stadt hatte man ihnen grüne Brillen aufgesetzt, worauf alles ringsum in den verschiedensten Tönen der grünen Farbe zu funkeln begann. Goodwin erklärte sich bereit, unsere Wanderer zu empfangen, nur mußte jeder einzeln vor ihn treten. Elli erschien er in der Gestalt eines riesigen Kopfes, dessen Stimme von der Seite kam. „Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche", hörte Elli. „Wer bist du, und warum belästigst du mich?"
„Ich bin Elli, ein kleines und schwaches Mädchen", antwortete sie. „Ich komme von weit her, damit Ihr mir helft!"
Elli erzählte dem Kopf ihre Abenteuer und bat, er solle ihr helfen, zu Vater und Mutter nach Kansas zurückzukehren. Als der Zauberer hörte, daß Elli aus Kansas sei, sagte er in milderem Ton:
„Geh in das Violette Land und befreie seine Einwohner von der bösen Bastinda. Dann werde ich dich nach Hause bringen."
Das gleiche forderte Goodwin vom Scheuch, vom Eisernen Holzfäller und vom Löwen, nachdem sie ihre Anliegen vorgetragen hatten. Schweren Herzens machten sich unsere Freunde in das Violette Land auf, denn sie glaubten nicht, die mächtige Bastinda besiegen zu können. Die böse Hexe mußte indessen alle ihre Zaubermittel anwenden, um der tapferen Schar Herr zu werden. Auf ihren Befehl zerrissen die fliegenden Affen den Scheuch, warfen den Eisernen Holzfäller in einen Abgrund und brachten Elli, den Löwen und Toto als Gefangene in den Violetten Palast. Lange schmachteten die drei in der Gefangenschaft ohne Hoffnung auf Rettung. Diese kam aber, wenn auch durch Zufall. Die Hexe hatte nämlich eine schreckliche Angst vor Wasser. Seit 500 Jahren hatte sie sich nicht mehr gewaschen, ihre Zähne nicht geputzt und kein Wasser angerührt, denn man hatte ihr prophezeit, daß sie durch Wasser umkommen werde. Eines Tages schüttete Elli, außer sich vor Zorn, weil die Hexe ihr die silbernen Schuhe rauben wollte, einen Eimer Wasser über sie aus. Bastinda löste sich auf, und das Land der Zwinkerer war von nun an frei. Frohlockend flickten die Zwinkerer die Kleider des Scheuchs und stopften sie mit frischem Stroh aus. Den Eisernen Holzfäller zerlegten sie in seine Bestandteile, und nachdem jedes einzeln repariert wurde, bauten sie ihn wieder zusammen und polierten ihn auf Hochglanz. Der Mann gefiel ihnen so sehr, daß sie ihm die Herrschaft über ihr Land anboten. Der Holzfäller willigte ein, sagte aber, er müsse sich zuerst bei Goodwin ein Herz holen. Siegreich kehrte die kleine Schar in die Smaragdenstadt zurück, doch Goodwin beeilte sich nicht, sein Versprechen zu halten. Darüber aufgebracht, stürmten unsere Helden in den Thronsaal, wo Toto hinter einem Wandschirm einen kleinen alten Mann in gestreiften Hosen hervorzerrte. Elli und ihre Begleiter waren enttäuscht, als sie erfuhren, daß das ängstliche Männchen niemand anders als der große und schreckliche Zauberer Goodwin war. Dieser erzählte ihnen seine Geschichte und gestand, daß er die Menschen viele Jahre lang betrogen hatte. Er schloß jedoch mit den Worten:
„Eure Wünsche werde ich trotzdem erfüllen, Freunde. Ich war ja immerhin viele Jahre Zauberer, und da hab ich schließlich einiges gelernt." Goodwin nahm dem Scheuch den Kopf ab, schüttete das Stroh aus und füllte ihn mit Sägespänen, in die er Näh- und Stecknadeln getan hatte.
„So, jetzt habt Ihr einen ungewöhnlich scharfen Verstand, mein Freund", sagte Goodwin, „Ihr müßt nur lernen, ihn richtig zu nutzen." „Oh, verlaßt Euch darauf!" rief der Scheuch freudig. Dem Holzfäller schnitt Goodwin eine Öffnung in die eiserne Brust, hängte ein totes, mit Sägespänen ausgestopftes Seidenherz hinein und lötete das Loch zu. Das Herz schlug nun in der Brust des wackeren Mannes, der darüber ganz entzückt war. Dem Löwen setzte der entlarvte Zauberer eine große Schüssel mit Mut vor, und als dieser sie ausgetrunken hatte, sagte er, jetzt sei er das tapferste Tier von der Welt. Nachdem die sehnlichsten Wünsche der drei Freunde in Erfüllung gegangen waren, war es für Elli an der Zeit, nach Kansas zurückzukehren, wie das Zauberbuch Willinas ihr prophezeit hatte. Aber da ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Goodwin sagte, er habe es satt, den Zauberer zu spielen, und wollte mit Elli nach Kansas gehen. Zu diesem Zweck setzte er den Luftballon wieder instand, mit dem er in das Wunderland gekommen war. Kaum hatte er ihn jedoch bestiegen, da riß ein Windstoß ihn fort, und Elli blieb im Wunderland zurück. Der Weise Scheuch, den Goodwin vor seiner Abreise zum Herrscher der Smaragdenstadt ernannt hatte, hielt mit seinen Freunden Rat, und man beschloß, gemeinsam zur guten Zauberin Stella zu ziehen, von der man sich Hilfe erhoffte. Und Stella half. Freilich mußten die Wanderer unterwegs viele gefährliche Abenteuer bestehen, aber da sie fest zusammenhielten, trotzten sie allen Gefahren. Stella eröffnete Elli das Geheimnis der Silberschuhe. Es stellte sich heraus, daß sie nur den Wunsch auszusprechen brauchte, und die Schuhe würden sie dorthin tragen, wohin sie wollte, und wäre es auch ans Ende der Welt.
„Hättest du von der Kraft der Schuhe gewußt", sagte Stella, „so hättest du gleich an dem Tag heimkehren können, da der Sturm dich in unser Land verschlug."
„Aber dann hätte ich mein wunderbares Gehirn nicht erhalten und wäre nicht Herrscher der Smaragdenstadt geworden!" rief der Scheuch. „Ich müßte noch heute im Weizenfeld stehen und die Krähen vertreiben." „Und ich wäre nicht zu meinem liebenden Herzen gekommen", sagte der Eiserne Holzfäller. „Ich müßte im Walde stehen und rosten, bis ich zu Staub zerfiele." „Und ich wäre ein Feigling geblieben", sagte der Löwe, „und nicht König der Tiere geworden."
„Es tut mir auch gar nicht leid, daß alles so gekommen ist", sagte Elli. „Ich freue mich sehr, solch liebe, treue Freunde gefunden und euch geholfen zu haben, daß eure sehnlichsten Wünsche in Erfüllung gingen." Elli verabschiedete sich unter Tränen von dem Weisen Scheuch, dem Eisernen Holzfäller und dem Tapferen Löwen, dankte Stella für ihre gütige Hilfe, nahm Toto auf den Arm und rief: „Jetzt tragt mich, Schuhe, nach Kansas zu Vater und Mutter!" Im nächsten Augenblick verschwamm alles vor ihren Augen. Die Sonne schoß wie ein Feuerstrahl über den Himmel, und noch ehe Elli Angst verspüren konnte, stand sie auf der Wiese vor dem neuen Häuschen, das ihr Vater anstelle des alten Packwagens gebaut hatte. Beim dritten Schritt auf das Häuschen zu verlor Elli die Silberschuhe, was auch nicht verwunderlich war, denn in Kansas gibt es ja keine Zauberdinge.
Als noch Gingema im Blauen Lande regierte, lebte dort ein böser und schlauer Tischler namens Urfin Juice. Er haßte seine Landsleute und baute sich ein Haus im Walde unweit von Gingemas Höhle. Dann verdingte er sich als Diener bei der Hexe und half ihr, die Steuern bei den Käuern einzutreiben. Ein paar Monate nach Gingemas Tod fegte ein Sturm über das Wunderland hinweg, der Samen einer unbekannten Pflanze in Urfins Garten trug. Diese Pflanzen bedeckten bald alle Beete. Je mehr Urfin dieses Unkraut jätete, desto dichter wucherte es, denn es besaß eine gewaltige Lebenskraft. Der Tischler riß das Unkraut mit den Wurzeln aus und zerhackte es in kleine Stücke, die er auf Bleche streute und in der Sonne trocknen ließ. Auf diese Weise erhielt der Tischler ein dunkelbraunes Pulver, das sich als lebenspendend erweisen sollte. Als er zufällig ein bißchen auf einem Bärenfell verschüttete, wurde dieses lebendig und begann zu gehen und zu sprechen. Urfin streute Pulver auf einen geschnitzten Holzclown, worauf dieser gleichfalls lebendig wurde und seinen Herrn in den Finger biß. Da beschloß der ehrgeizige Tischler, große hölzerne Soldaten anzufertigen und zu beleben, um mit ihrer Hilfe Herrscher im
Wunderland zu werden. Urfin war ein geschickter Handwerker, und sein Plan gelang. Mit der Armee der Holzköpfe unterwarf er sich das Land der Käuer und dann die Smaragdenstadt, die vom Nachfolger Goodwins, dem Weisen Scheuch, regiert wurde. Die Eroberung der Smaragdenstadt war für Urfin kein leichtes Unternehmen. Der Scheuch und seine Freunde, der langbärtige Din Gior und der Hüter des Tores Faramant, schlugen alle Angriffe der Holzköpfe tapfer zurück. Da wandte Urfin eine List an: Er warf seinen Holzclown, der den Befehl erhalten hatte, einen Verräter unter den Bürgern der Stadt aufzuspüren, über die Mauer, und der Clown fand einen solchen Verräter in Gestalt eines reichen Mannes namens Ruf Bilan, der auf den Scheuch sehr neidisch war, weil er selber Herrscher der Stadt werden wollte. Nachts öffnete Ruf Bilan das Tor, und die Smaragdenstadt fiel dem Feind in die Hände. Für seinen Verrat wurde Ruf Bilan von Urfin zum obersten Zeremonienmeister ernannt. Es fanden sich in der Stadt auch noch etliche andere Verräter, die Urfin zu seinen Räten machte. Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller kamen in Gefangenschaft. Als sie sich weigerten, in Urfins Dienste zu treten, sperrte dieser sie in einen hohen Turm unweit der Stadt ein. Dort sollten sie schmachten, bis sie sich ihm unterwürfen. Die beiden Freunde dachten aber nicht daran, sich dem Usurpator zu unterwerfen. Die Krähe Kaggi-Karr, die einst dem Scheuch geraten hatte, sich ein kluges Gehirn zu verschaffen, drang durch das Gitter in das Gelaß der Gefangenen. Diese baten sie, nach Kansas zu fliegen und Elli zu Hilfe zu rufen. Der Holzfäller ritzte mit einer Nadel auf ein grünes Blatt eine Botschaft an Elli, worauf Kaggi Karr den langen und gefährlichen Weg antrat. Es gelang ihr, das Mädchen ausfindig zu machen und ihm den Brief zu übergeben. Auf der Farm der Smiths weilte damals Frau Annas Bruder, der einbeinige Seemann Charlie Black, zu Besuch, ein fröhlicher und Unternehmungslustiger Geselle. Elli und ihr Onkel Charlie wurden Freunde. Das Mädchen erzählte ihm von seinen Abenteuern im Wunderland und gestand, daß sie große Sehnsucht nach ihren wackeren Freunden habe. Da kam die Nachricht, daß der Scheuch und der Holzfäller in Gefahr schwebten. Elli mußte ihre Eltern lange bitten, bis sie ihr erlaubten, mit dem Onkel ins Wunderland zu ziehen. Sie rief auch Goodwin, der in der Nachbarschaft einen Laden hatte, aber dieser schlug die Einladung aus.
„Ich hab die Zauberer und Zauberinnen und alle Zauberdinge satt", sagte er.
Elli und Charlie nahmen das Hündchen Toto mit und machten sich auf den Weg. Als sie die große Wüste erreichten, holte Charlie, der wahrhaft goldene Hände hatte, aus dem Rucksack Werkzeug hervor und baute ein Schiff mit vier breiten Rädern. Mit gehißten Segeln ging es durch die Wüste, in der die Reisenden fast vor Durst umkamen. Dann überquerten sie die Berge und kamen in das Land der Käuer, wo man ihnen vom tückischen Urfin und seinen Holzsoldaten erzählte. Das Mädchen und der Seemann hatten jedoch keine Angst. Sie riefen den Löwen zu Hilfe und setzten auf der mit gelbem Backstein ausgelegten Straße den Marsch in die Smaragdenstadt fort. Wie bei der ersten Reise lauerten auf Elli und ihre Freunde wieder viele Gefahren, aber die Findigkeit des Seemanns half, sie zu überwinden. Als die kleine Schar sich der Smaragdenstadt näherte, war diese von Urfins Soldaten und Polizisten umstellt. Da blies Elli in die Silberpfeife, und schon war die Fee Ramina, die Königin der Feldmäuse, zur Stelle. Ramina erzählte dem Mädchen, daß nicht weit von hier der Eingang eines unterirdischen Ganges liege, der in den Keller des Turms münde, wo sich der Scheuch und der Holzfäller befinden. Die Mäusekönigin fügte hinzu, daß dieser Gang am Land der unterirdischen Erzgräber vorbeiführe, und schärfte Elli ein, vorsichtig zu sein und diese Leute nicht zu belästigen. Diese Warnung war nur zu begründet. Elli, die ihre Neugier nicht zu zügeln vermochte, wollte durch ein Loch, das sie zufällig in der Wand entdeckte, die Wunder der unterirdischen Welt sehen. Ein Wachsoldat, der unter der Decke auf einem Drachen umherflog, schoß einen Pfeil auf das Mädchen ab, der es um ein Haar getroffen hätte. Unterdessen regierte Urfin im Wunderland weiter. Allerdings hatte er kein frohes Leben. Zur Zerstreuung gab er Festgelage, die von den Bürgern der Stadt jedoch gemieden wurden. Die schmeichelnden Reden der Minister aber hatte Urfin satt. Eines Tages kam ihm zu Ohren, daß Elli und ihr Onkel, den die kleinen Käuer den „Riesen von der anderen Seite der Berge" nannten, im Lande aufgetaucht seien. Urfin rüstete zum Kampf. Er fertigte immer mehr Holzsoldaten an, die er mit dem Zauberpulver lebendig machte. Obwohl diese Arbeit ihn viel Schweiß kostete, gab er sie erst auf, als das Zauberpulver ihm ausging. Trotz aller Wachsamkeit der Polizisten und der Holzköpfe konnten Elli und Charlie den Holzfäller, den Scheuch, den langbärtigen Soldaten Din Gior und den Hüter des Tores Faramant befreien. Dann brachen sie in das
Violette Land auf, wo sie die Zwinkerer bewaffneten. Mit ihnen zogen sie in den Krieg. Seine größten Hoffnungen setzte der Seemann in eine aus einem dicken Baumstamm hergestellte Holzkanone, für die Charlie selbst das Pulver bereitet hatte. Die Kanone bewährte sich. Mit einem einzigen Schuß entschied sie den Ausgang der Schlacht. Die Holzsoldaten hatten Angst vor Feuer, und als brennende Fetzen und glühende Kohlen auf ihre Köpfe herunterfielen, stoben sie entsetzt auseinander. Urfin Juice wurde gefangengenommen, vor Gericht gestellt und verbannt. Die kriegerischen Holzköpfe aber verwandelten sich in fleißige Arbeiter, nachdem man ihre grimmigen Gesichter auf Vorschlag des Scheuchs durch lächelnde ersetzt hatte. Die Verräter, die Urfin Juice gedient hatten, wurden alle bestraft, mit Ausnahme des größten — des Zeremonienmeisters und ersten Ministers Ruf Bilan — , der spurlos verschwunden war. Und wieder nahm das Mädchen Elli Smith aus Kansas von ihren treuen Freunden Abschied…
Ruf Bilan lief, so schnell ihn seine kurzen dicken Beine trugen. Er hatte den Mund weit aufgesperrt und atmete schwer. Die Laterne in seinen zitternden Händen beleuchtete nur schwach den Weg.
„Ach, könnte ich doch nur einen Augenblick verschnaufen!' Aber im Rücken war der schwere Schritt des Eisernen Holzfällers zu hören, und eine maßlose Angst trieb den Fliehenden weiter. Schnellfüßige Polizisten hatten Ruf Bilan die Nachricht von der Zerschlagung der Holzarmee überbracht. Die anderen Räte des Königs beschlossen, ihre Missetaten vor dem Volk zu bekennen und es um Gnade zu bitten. Freilich war ihre Schuld nur gering im Vergleich mit den Verbrechen Bilans. Ihm hätte man den schändlichen Verrat wohl nicht verziehen, und deshalb beschloß er zu fliehen. Im ganzen Wunderland hätte sich wahrscheinlich niemand gefunden, der Bilan Unterschlupf gewähren würde.
,Ich werde mich im unterirdischen Gang verstecken', entschied Bilan. Der Verräter hatte es so eilig, die Stadt zu verlassen, daß er nicht einmal an Mundvorrat dachte und nur eine kleine Öllaterne mitnahm. Er wußte, daß es im unterirdischen Gang stockfinster war. Ruf Bilan schlich sich heimlich in den Keller des Turms, in dem der Holzfäller und der Scheuch gefangen
gewesen waren. Dieser Keller war durch eine feste Tür vom unterirdischen Gang getrennt. In diese Tür hatte seinerzeit Charlie, als er mit Elli und ihren Freunden die Gefangenen befreite, ein Loch gesägt, durch das der Holzfäller und der Scheuch ins Freie gelangten. Jetzt zwängte sich der dicke Bilan mit großer Mühe hindurch. Dann zündete er die Laterne an und lief, so schnell er konnte. Alsbald hörte er aber hinter sich den schweren Schritt des Eisernen Holzfällers.
„Kehr um, du Tor!" rief dieser. „Da sind wilde Tiere, sie werden dich zerreißen!"
Für den von Entsetzen gepackten Ruf Bilan gab es jedoch nichts Schlimmeres als eine Rückkehr in die Stadt, die er verraten hatte. Die Angst trieb ihn vorwärts, und als er in der Wand ein schwarzes Loch erblickte, stürzte er sich blindlings hinein. Vor ihm lag ein schmaler gewundener Gang, und Ruf Bilan ging, so leise er konnte, weiter. Die Schritte und die Stimme des Eisernen Holzfällers verhallten — offenbar hatte er die Spur des Verräters verloren.
„Gerettet", entfuhr es Ruf Bilan. Er sank auf den steinernen Boden hin und verlor das Bewußtsein. Die Laterne entglitt seinen Händen, ihre Flamme flackerte noch einmal auf und erlosch, undurchdringliche Finsternis hüllte den Entflohenen ein. Als Bilan wieder zu sich kam, wußte er nicht, wie lange er bewußtlos dagelegen hatte. Aber seine Arme und Beine waren wie gelähmt, und er erhob sich nur mit Mühe. Erst jetzt begriff er, in welch einer schrecklichen Lage er sich befand: Er war allein, ohne Nahrung und Wasser, und bald würde er auch ohne Licht sein, denn das Öl in der Laterne konnte höchstens drei, vier Stunden reichen…
,Ich werde umkehren und mich ergeben', entschied Bilan,vielleicht wird man mir das Leben schenken. Hier unten aber müßte ich vor Hunger und Durst unter schrecklichen Qualen sterben.'
Er zündete die Laterne an und ging. Aber nach der Ohnmacht verfehlte er die Richtung, und statt in den Hauptgang, den er verlassen hatte, zurückzukehren, entfernte er sich immer mehr von ihm. Das erkannte er aber erst, als der schmale Gang plötzlich in eine große runde Höhle mündete, deren Wände mehrere Öffnungen zeigten. Ruf trat in die Mitte der Höhle und schaute sich um. „Hier war ich nicht", sagte er, und obwohl seine Stimme schwach war, schallte sie, durch das vielfache Echo verstärkt, sehr laut. „Ich
bin wohl falsch gegangen. Aber wo ist nur der Gang, durch den ich herkam?"
Das Blut gerann ihm schier in den Adern, denn jetzt war ihm klar, daß er sich verirrt hatte. Unfähig zu überlegen, stürzte er sich in die erstbeste Öffnung und rannte los. Aber schon nach zehn Minuten versperrte ihm eine Wand den Weg. Ruf kehrte um und legte einen Stein vor die Öffnung, aus der er gekommen war.
,Ich werde jetzt vor jeden Gang, aus dem ich zurückkehre, einen Stein legen, damit ich wenigstens weiß, wo ich schon gewesen bin, entschied er. Nach kurzer Rast betrat Ruf Bilan den nächsten Gang. Als dieser sich gabelte, hielt er sich rechts. Bald aber stand er wieder vor einer Gabelung. Je weiter er kam, um so verworrener wurde das Labyrinth aus breiten und schmalen, hohen und niedrigen, geraden und krummen Gängen, die Höhlen miteinander verbanden. Diese glichen bald Prunksälen, die so hoch waren, dass das schwache Laternenlicht nicht einmal die Decke erkennen ließ, bald glichen sie runden Schalen, deren Boden mit Wasser oder mit Steinen, die von der Decke abgebröckelt waren, bedeckt war. Ruf irrte lange durch das Labyrinth. Wie viele Stunden es waren, wußte er nicht genau, aber an der erlöschenden Flamme erkannte er, daß das Öl ausging. Jetzt erwartete ihn das Schlimmste — die Finsternis — , in der er, kriechend und tastend, einen Weg nach draußen finden mußte, wenn er leben wollte… Aber ehe die Laterne erlosch, sah Ruf eine Wand aus verschiedenfarbigen Ziegeln vor sich.
,Die können nur Menschen erbaut haben! Vielleicht sind sie noch da und werden mich retten?' ging es Ruf durch den Kopf. Hinter der Wand hörte er, kaum vernehmbar, Stimmen. Er hatte sich also nicht geirrt. Ruf sah sich um und erblickte eine verrostete Hacke, die anscheinend die Maurer vergessen hatten. Mit der Kraft der Verzweiflung begann er eine Öffnung in die Ziegelwand zu schlagen.,Ich muß mich beeilen', dachte er, sonst gehen sie weg, und ich bleibe allein in dieser schrecklichen Finsternis.'
Der Docht flackerte zum letzten Mal auf und erlosch, aber im gleichen Augenblick stürzte die Wand unter Rufs heftigen Schlägen ein. Dann hörte er Wasser glucksen und gleich darauf Schreie. Ruf sah einen kleinen runden Raum vor sich, der von phosphoreszierenden Kugeln an der Decke schwach erleuchtet war. Auf dem Boden gewahrte er ein Wasserbecken, das sich schnell leerte. Auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich eine Tür, durch die drei Männer mit spitzen Hüten, an denen Leuchtkugeln befestigt waren, hereinstürzten. Die Männer hatten blasse Gesichter und große schwarze Augen, die Ruf entsetzt anstarrten. „O weh!" schrie einer der Männer. „Die heilige Quelle ist versiegt!" Ruf Bilan erschauerte. Noch wußte er nicht, was er da angerichtet hatte, aber seine Zähne klapperten. Es muß etwas sehr Schlimmes sein', ging es ihm durch den Kopf, und jetzt wird man mich bestrafen.' „Wer bist du, Mann, und wo kommst du her'?" fragte barsch einer der Eintretenden, dem gebieterischen Aussehen nach wohl der Anführer. „Ein Unglücklicher, ein Ausgestoßener aus der oberen Welt", antwortete Bilan zitternd. „Man hat mich verfolgt, mir drohte der Tod, und ich floh in diese Höhle."
„Wir wissen, daß die Oberen gerecht sind. Du hast wahrscheinlich eine Missetat begangen, daß dir Todesstrafe drohte", sagte der Anführer. „O weh, das stimmt!" rief Bilan und fiel auf die Knie. „Ich habe den Feinden geholfen, in die Stadt einzudringen, die sie belagert hatten." „Hu, ein Verräter!" rief der Anführer der Wache verächtlich. „Und zu diesem schändlichen Verbrechen hast du hier ein zweites hinzugefügt: Du hast das Becken mit dem Schlafwasser zerstört, als es sich gerade wieder füllte."
„Weh mir, weh mir", rief Bilan entsetzt. „Aber ich irre schon den zweiten Tag in diesem Labyrinth umher und hatte jede Hoffnung aufgegeben, als plötzlich eure Stimmen zu mir drangen. Da verlor ich den Kopf, ihr werdet es doch verstehen!"
„Ich fürchte, du wirst ihn jetzt für immer verlieren", entgegnete der Anführer der Wache finster. „Ich werde dich zu König Mentacho bringen, Fremder! Und ihr, Kameraden", wandte er sich an seine Untergebenen, „bewacht unterdessen die Quelle. Falls sich das Wasser wieder zeigt, schickt einen von euch sofort in die Stadt. Nur fürchte ich, daß dies nicht eintrifft…"
„Geh nur, Renjo, wir werden tun, wie du sagst", erwiderten die Zurückbleibenden.
Der Weg, durch den Renjo den Gefangenen führte, gabelte sich mehrmals. Ruf bemerkte, daß der Anführer der Wache bei jeder Gabelung Pfeilen folgte, die mit roter Farbe auf die Wände gemalt waren.,Hätte ich diese Zeichen gesehen, dann wäre ich vielleicht aus dem Labyrinth herausgekommen, ohne die verfluchte Wand zu zerstören', dachte Ruf Bilan. Doch warum sind die Leute so sehr um das Wasser besorgt?' Hätte Ruf gewußt, welche Bedeutung das Schlafwasser für das unterirdische Land hatte, so hätte er um sein Leben gezittert. Aber er wußte es nicht, und darum war er ziemlich ruhig, denn er hoffte, sich irgendwie aus der Angelegenheit herauswinden zu können.
,Für das, was ich oben angerichtet hab, können mich die unterirdischen Erzgräber nicht bestrafen, denn dazu haben sie kein Recht', dachte der Verräter. Und das zerstörte Becken… na ja… Das werde ich eben selber wieder instand setzen müssen.'
Der Weg war lang und führte steil hinab. Mehrmals ging es über steinerne Stufen, die in den Fels gehauen waren. Aber dann hörte der Abstieg auf, und der Weg wurde wieder waagerecht; die Wände traten auseinander, und das Licht auf dem Hut Renjos verblaßte. Vorn zeigte sich ein schwacher Schimmer, der an den Schein der Abenddämmerung erinnerte. Ruf Bilan sah eine riesige Höhle, beleuchtet von goldgelben, unter der Decke dahinschwebenden rauchenden Wolken. Verstreut standen kleine Dörfer auf kleinen Hügeln, und in der Ferne konnte man die Umrisse einer von einer Mauer umgebenen Stadt erkennen.
,Das ist also das sagenhafte unterirdische Land, von dem ich schon in meiner Kindheit so viele wunderbare Dinge gehört habe', dachte Bilan. „Sagen Sie mir, verehrter Renjo", wandte er sich an seinen Begleiter, „wie heißt die Stadt, in die Sie mich führen?" Statt einer Antwort erhielt er einen Stoß vor die Brust, daß er fast umfiel.
„Stelle mir keine Fragen, wenn dir dein Leben lieb ist!" sagte Renjo drohend. „In unserem Land haben die Leute vom niederen Stand kein Recht, denen vom oberen Fragen zu stellen!"
In Ruf Bilan regte sich der frühere Hochmut. Er wollte schon stolz erwidern, daß er in der oberen Welt eine hohe Stellung eingenommen habe, beherrschte sich aber und schwieg.
,Hier darf man sich allem Anschein nach nur auf die eigenen Augen und Ohren verlassen', dachte Bilan und begann aufmerksam die Umgebung zu betrachten. Er sah viel Interessantes. Der Weg führte durch Felder und an kleinen Hügeln vorbei und war von leuchtend grünen, hellblauen und silberfarbenen Pfählen gesäumt. Nach den düsteren Tönen der unterirdischen Gänge tat der Anblick dieser Pfähle dem Auge wohl. Auf einem Feld am Wegrand sah er ein sechsfüßiges Tier, das vor einen mächtigen Pflug gespannt war. Es setzte plump einen Fuß vor den anderen und zog mit Leichtigkeit den Pflug, dessen Schare breite Erdklumpen umlegten. Hinter dem Pflug ging ein barfüßiger Mann mit einem Leinenrock, hochgekrempelten Hosen und einem grünen Hut mit Quaste. Ein anderer Bauer führte das Tier am Zaum und zwang es jedesmal, wenn der Pflug am Rain anlangte, zu wenden. Der Anblick verblüffte Ruf Bilan — von diesen seltsamen Tieren hatte man ja in der oberen Welt keine Ahnung! Er wollte seinen Begleiter fragen, ob es hier viele Sechsfüßer gäbe, aber er erinnerte sich rechtzeitig, wie unwirsch der ihn angefahren hatte, und schwieg. Plötzlich erblickte er etwas, das ihm schier das Blut in den Adern erstarren ließ. Es war ein mächtiger Drache mit hautbespannten Flügeln, einem glatten weißen Bauch und gelben tellergroßen Augen, der rauschend herabstieg. Auf dem Rücken des Ungeheuers saß ein Mann in Lederkleidern mit einer grünen Mütze. Er trug einen großen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken, hielt eine Lanze in der Hand und hatte ein langes, blasses, hakennasiges Gesicht, das finster dreinblickte. Bilan begriff, daß es ein Aufseher war, denn bei seinem Auftauchen sprangen die zwei Bauern, die gerade ausruhten, auf und machten sich schleunigst an die Arbeit. Der Aufseher schimpfte sie wegen ihrer Faulheit und flog davon. In diesem Augenblick raste hoch in den Wolken ein anderer Drache vorbei. Auch er hatte einen Mann auf dem Rücken. Renjo führte seinen Gefangenen schon fast zwei Stunden durch die Höhle, aber die Dämmerung hielt an. Nach wie vor leuchteten oben die goldgelben Wolken, und die Umrisse der Stadt auf dem Hügel, dem sich die beiden Männer näherten, blieben unklar.
Die Felder gingen in eine felsige Landschaft über, die allmählich anstieg. Links zeigte sich eine Anlage, die aus kleinen und großen Rädern bestand. Ruf mußte trotz seiner schlechten Stimmung lächeln, als er zwei stapfende Sechsfüßer das komplizierte Räderwerk bewegen sah. Aus einem tiefen Schacht kamen Eimer zum Vorschein, aus denen Erz in einen großen Wagen polterte. Auch vor dem Wagen stand ein Sechsfüßer, der auf das Ende der Verladung wartete und dabei seinen großen runden Kopf auf und ab bewegte.
Die Stadt stand an einem großen See mit flachem Ufer. An vielen Dingen konnte man erkennen, wie erfinderisch die unterirdischen Menschen waren. Ein riesiges Wasserrad mit breiten Schaufeln drehte sich unter den Füßen eines Sechsfüßers. Das Tier war müde, sein Atem ging schwer, und aus dem weit geöffneten Maul flogen Schaumfetzen.
„Recht geschieht dir, Bösewicht!" rief Renjo wütend zum Tier hinüber. „Du hast deinen Antreiber überfallen, jetzt mußt du dafür das Wasser in die Stadt der sieben Könige pumpen!"
,So heißt also die Stadt! Hier kann man sicher viel erfahren, wenn man nur die Ohren spitzt', dachte Bilan. Jetzt weiß ich auch, ohne jemanden fragen zu müssen, daß sich das Land in sieben Teile gliedert, von denen jeder seinen eigenen König hat. Fürwahr, keine großen Königreiche, das muß man schon sagen!'
Vor dem Stadttor hielten sie. Die Festungsmauer bestand aus Ziegeln, die von der Zeit fast schwarz geworden waren. Renjo zog an einem Strick. Der Posten erkannte Renjo und öffnete die Pforte. Neugierig betrachtete er den Fremden, wagte aber nicht, Fragen zu stellen.
,Renjo hat, wie man sieht, einen höheren Rang als der Mann da', entschied Ruf Bilan. Die Stadt war nicht groß. Ruf Bilan sah gewundene Straßen und buntgestrichene Häuser mit hohen, schmalen Fenstern und festen Türen. Aus den Fenstern starrten Frauen mit grünen Hauben den Fremdling an. Die Straße mündete in einen Platz, auf dem ein Palast mit sieben Türmen stand. Vor Ruf Bilans Augen flimmerte es, als er drei Wände sah, deren hellblaue, dunkelblaue und violette Farbe von erstaunlicher Reinheit waren.
Jede Seite des Gebäudes hatte einen schmucken Eingang mit einer massiven Tür. Bilan wunderte sich, daß hier niemand ein und aus ging und die Türen verschlossen waren.
,Vielleicht lebt dort niemand?' dachte Ruf.
Über jeder Tür hing eine Sanduhr, wie sie Ruf Bilan in der oberen Welt niemals gesehen hatte. Freilich besaßen auch dort die reichen Leute Sanduhren, aber ihren Gang überwachte immer ein Diener, der, wenn der Sand aus dem oberen Glas in das untere gesickert war, die Uhr umdrehte und die Zeit ausrief. Hier aber waren es zwei miteinander verbundene Glastrichter, die senkrecht an einem großen runden Zifferblatt befestigt waren. Ruf Bilan hätte kaum erraten, wie diese Uhren funktionierten, aber als er gerade an einer blauen Tür vorbeiging, sickerten die letzten Sandkörnchen aus dem oberen Trichter in den unteren, und im gleichen Augenblick drehten sich beide von selbst um, während sich das Zifferblatt von rechts nach links um einen Teilstrich weiter bewegte, so daß die nächste Ziffer genau unter dem Zeiger stand. Aus dem Innern der Uhr erklang ein angenehmer Glockenschlag.
,Diese unterirdischen Menschen scheinen hervorragende Meister zu sein', dachte Bilan voller Achtung. Als sie den blauen Teil des Palastes passiert hatten, sagte Bilan zu sich:
,Jetzt kommt die violette Wand, dann die rote, dann eine orangefarbene, eine gelbe und zuletzt eine grüne, vor der wir wohl stehenbleiben werden. Mentacho, zu dem man mich führt, ist wahrscheinlich der grüne König, das errate ich an der Farbe der Hüte, die seine Leute tragen.' Ruf Bilan hatte sich nicht geirrt. Er wurde durch den grünen Eingang, an einem grüngekleideten Posten vorbei in einen grünen Empfangssaal geführt. Das war ein großer, fensterloser Raum, den Kugeln an der Decke hell erleuchteten. Im Saal wandelten Höflinge in grünen Prunkkleidern mit edelsteinbesetzten Hüten einher. Als sie den Mann erblickten, der sich im Aussehen von den Einwohnern des unterirdischen Landes so sehr unterschied, liefen sie auf Renjo zu und überschütteten ihn mit Fragen. Sie hatten das Recht dazu, denn sie standen rangmäßig höher als er. Der Hüter der Quelle wehrte sie jedoch mit den Worten ab: „Meine Herren, ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten, ich muß dem König sofort eine schreckliche Nachricht überbringen. Eben ist die Heilige Quelle zerstört worden und ihr Wasser versickert."
„Das kann nicht sein!" hörte man mehrere Stimmen. „Heute abend soll unser Hof schlafen gehen!" „Was fangen wir nun an?!"
Renjo wandte sich an einen der Hofleute, einen stattlichen Alten mit weißem Bart.
„Herr Minister Koriente, ich bitte Euch, bei Seiner Majestät unverzüglich um eine Audienz für mich nachzusuchen!" Koniente eilte fort, und bald tat sich am anderen Ende des Empfangssaales eine Tür auf, vor der ein stolzer Zeremonienmeister feierlich in den Saal rief:
„Seine Unterirdische Majestät, König Mentacho, befehlen, den gefangenen Fremdling in den Thronsaal des Regenbogenpalastes zu führen!"
Mit schlotternden Knien folgte Ruf Bilan dem Höfling. Bündel, Girlanden und Kronleuchter aus phosphoreszierenden Kugeln tauchten den Thronsaal in ein ungewöhnlich helles Licht, das dem Auge wohltat und den Schatten der Gegenstände verschlang. Diese Lampen gaben keine Wärme — sie strahlten kaltes Licht aus. Später erfuhr Ruf Bilan, daß jede Wohnung im unterirdischen Lande durch solche Kugeln beleuchtet wurde, denn das Licht, das durch die Fenster in die Häuser fiel, war sehr schwach. An der Anzahl der phosphoreszierenden Kugeln konnte man die Vermögenslage der Menschen erkennen. In den Häusern der Würdenträger gab es Dutzende solcher Leuchten, in den Hütten der Armen aber brannte nur eine einzige Kugel, die so groß wie eine Kirsche war. Bilan blickte wie gebannt zur gegenüberliegenden Seite des Saales, wo auf einer Erhöhung der Thron des Königs stand. In einem breiten Sessel mit zahlreichen geschnitzten Verzierungen saß ein großer, dicker Mann mit einem Strubbelkopf. Das war König Mentacho. Von seinen Schultern fiel ein weiter, mit grünen Blumen bestickter Umhang. Erschrocken starrte Bilan in das Gesicht des Königs. „Erzähle alles", befahl Mentacho streng, „ohne etwas zu verheimlichen." Zitternd und stockend erzählte Bilan, wer er in der Smaragdenstadt gewesen, wie er aus Angst vor Strafe in die unterirdische Welt geflohen sei, und was er im Labyrinth angerichtet habe. Mentachos Miene wurde immer finsterer. Dann dachte er lange nach. Im Saal war es mäuschenstill. Selbst die Höflinge hatten zu tuscheln aufgehört. Allen war klar, daß sich jetzt das Schicksal eines Menschen entschied.
„Hört meinen Spruch", sagte der König. „Du hast schändlich gegen deine Mitbürger gehandelt, aber uns gehen die Angelegenheiten der oberen Welt nichts an. Du hast aber die Heilige Quelle zerstört, und das ist ein schreckliches Unglück für unser Land, dessen Folgen gar nicht abzusehen sind. Für ein solches Verbrechen würde jeder Bewohner unseres Landes hingerichtet werden, du aber bist ein Fremder und hast deine böse Tat aus Unwissenheit und Todesangst begangen. Darum wäre es ungerecht, dir das Leben zu nehmen… "
Ruf Bilan hätte fast einen Freudenschrei ausgestoßen. „Ich will dir sogar ein Amt bei Hofe geben, damit du nicht umsonst dein Brot ißt", fuhr Mentacho fort. „Aber glaube nicht, daß du, weil du bei Urfin Juice Minister warst, hier ein hohes Amt bekommst. Ich ernenne dich lediglich zum Gehilfen des vierten Lakaien, und du wirst beim Hofgesinde leben. ." Der Verräter fiel dem König zu Füßen und begann seine smaragdenbesetzten Schuhe zu küssen. Mentacho zog angewidert die Füße zurück und brummte: „Dieser Mann hat die Seele eines Lakaien, beim Hofgesinde ist wahrhaftig der Platz, den er verdient."
Strahlend verließ Ruf Bilan den Thronsaal. Man hatte ihm das Leben geschenkt, und das war ihm das Wichtigste.
Jetzt werde ich mich um jeden Preis wieder hocharbeiten', sagte er zu sich.
An dem Tag, als die Quelle mit dem Schlafwasser versiegte, und an den folgenden Tagen herrschte in der Stadt der sieben Könige ein schreckliches Durcheinander. Es war die Zeit, da König Mentacho, seine Angehörigen und sein Hof schlafen gehen sollten, aber das Wasser hatte sich in die Tiefe des Felsens zurückgezogen. Es hatte den Anschein, daß es nie mehr wiederkommen würde. Die Kinder Mentachos hingen an den Schößen des Vaters und weinten: „Papa, Papa, wir wollen schlafen!"
„Dann schlaft doch!" sagte der Vater mürrisch. „Das Wasser ist ja nicht da… " „Schlaft ohne Wasser!" „Wir können nicht. ."
Ja, das konnten sie wirklich nicht, genauso wie ihre Eltern, die Hofleute und das Gesinde. Sie konnten nicht einschlafen wie andere Menschen, denn seit Jahrhunderten hatten sie nur den Zauberschlaf gekannt. Von Schlaflosigkeit geplagt, gingen die Leute in Scharen hinter dem Hüter der Zeit, Rushero, und seinen Gehilfen einher und flehten sie an, irgend etwas zu tun. Diese aber wehrten die Leute ab, denn es war gerade die Zeit, da man den eben erwachten König Eljan unterrichten mußte. Keine Stunde durfte versäumt werden, denn es war schon vorgekommen, daß die Erwachten, mit denen man sich in den ersten Tagen zu wenig abgegeben hatte, komplette Idioten blieben…
„Sind das Zeiten!" seufzte Rushero, während er den König Eljan die Worte Papa und Mama sprechen lehrte. Schließlich siegte doch die Natur. Nach vier schlaflosen Tagen und Nächten überkam den König Mentacho, seine Angehörigen und Höflinge allmählich der Schlaf. Da es aber in den Gemächern des Palastes keine Betten gab — man pflegte ja die Leute, die das Schlafwasser bekamen, in besondere Kammern zu legen — , überraschte sie der Schlaf dort, wo sie sich gerade befanden, und dabei nahmen sie die wunderlichsten Stellungen ein. Der eine schnarchte, auf einem Stuhl sitzend, mit hängendem Kopf, ein anderer stand, an die Wand gelehnt, ein dritter wieder lag zusammengerollt vor der Schwelle. Der grüne Teil des Palastes glich einem verzauberten Märchenreich. Als man das Rushero meldete, ging er selbst, sich das komische Schauspiel anzusehen. „Jetzt werden sie mich in Ruhe lassen!" schmunzelte der Hüter der Zeit. „Sie werden nun schlafen wie alle anderen Menschen. Nur befürchte ich…" Was er bef ürchtete, sprach der weise Rushero nicht zu Ende, denn er mußte zum Unterricht mit König Arbusto eilen. Die Könige Mentacho und Arbusto trafen sich, als Mentacho ausgeschlafen hatte und Arbusto gerade seinen Lehrgang beendete. Die beiden lebten nun schon fast 300 Jahre auf der Welt, waren aber nie zusammengekommen, denn jedesmal, wenn der eine einschlief, hatte der andere noch den Verstand eines Säuglings. Jetzt waren sie im Thronsaal in Anwesenheit zahlreicher Höflinge einander begegnet und beäugten sich neugierig.
„Guten Tag, Eure Majestät!" sprach Mentacho, der um etwa 30 Jahre jünger war.
„Guten Tag, Eure Majestät", murmelte Arbusto mit zahnlosem Mund. „Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen. Wir sind immerhin Verwandte, wenn auch nicht sehr nahe. Mir scheint, Ihr Großväterchen war ein Cousin vom Onkel meiner Mutter?"
„Nein, meine Großmutter war ein Enkel Eures Vaters. Aber wozu sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen?"
„Sehr recht", sagte Arbusto. „Dann wollen wir uns einfach Brüder nennen. Ihr seid ja wie ich ein Nachfahr des ruhmreichen Bofaro! Einverstanden, Bruder Mentacho?" „Einverstanden, Bruder Arbusto!" Die Könige reichten sich unter dem Beifall der Anwesenden die Hände. Aus diesem Anlaß wurde im Palast ein fröhliches Fest gegeben, an dem der Hof staat beider Könige teilnahm. Auch der Hüter der Zeit, Rushero, war dabei. Wie allen anderen reichte man ihm Becher mit Wein, aber der Alte schob sie beiseite und streichelte mürrisch seinen Bart…
Erst nach Monaten erfuhr man, warum der weise Rushero so besorgt war. Die Könige und ihre Höflinge erwachten einer nach dem anderen, und nach und nach kam Leben in die früher leeren und stummen Abteilungen des Regenbogenpalastes. Das Zauberwasser aber war verschwunden, und es gab kein Mittel, die Könige, deren Regierungszeit um war, einzuschläfern. Ruf Bilan, der die jahrhundertealte Ordnung im unterirdischen Lande gestört hatte, war jetzt Diener beim König Mentacho. Er hielt sich sehr bescheiden, versah eifrig seinen Dienst und bemühte sich, dem König und seinen Würdenträgern nicht unter die Augen zu kommen.,Es würde mir schlimm ergehen', dachte Bilan,wenn sie sich plötzlich erinnerten, daß ich die Schuld an diesem Wirrwarr trage. . ' Eines Morgens wurde Lassampo, der Leiter der Bäckereien, beim Minister für Lebensmittel des Königs Mentacho vorstellig. „Ich habe die Ehre, Eurer Exzellenz zu melden", sagte er mit gramvoller Stimme, „daß das Mehl in meinem Lager nur noch für drei Wochen reicht. Bleibt die Lieferung aus, werden wir die Brotläden und Konditoreien schließen müssen." „Was schwatzen Sie von Lieferungen!" unterbrach ihn gereizt der Minister. „Woher sollen sie kommen?"
„Ich dachte", brummte der Beamte, „wir könnten den Handelstag vor dem Termin abhalten. ."
„Sie sind verrückt!" brüllte der Minister. „Was kommen Sie mir mit dem Handelstag? Haben Sie vergessen, daß wir alle Vorratsbestände bereits eingetauscht haben und noch keine neuen Waren vorhanden sind?"_„Was befehlen also Eure Exzellenz?" „Daß Sie sich zum Kuckuck scheren!"
Kaum hatte sich der besorgte Beamte entfernt, trat der Auf seher der Lager ein, in denen die Milchprodukte aufbewahrt wurden.
„Exzellenz", sagte er verstört, „Butter und Käse in meinen Kellern reichen höchstens noch für zwei Wochen."
„Und was soll ich tun?"
„Vielleicht können… Eure Anweisungen…", stotterte erschrocken der Aufseher.
„Hier meine Anweisungen: Die Zuckerbäcker bekommen keine Butter mehr! Die Butterausgabe an die Militärköche wird eingestellt! Den Spionen ist die Ration überhaupt zu streichen!"
„Aber dann werden sie ja verhungern… Wer soll denn die Unzufriedenen überwachen, gerade jetzt, da es immer mehr werden!…"
„Hm, eine schwere Aufgabe… Schön, also sollen die Spione von heute an eine halbe Ration bekommen, damit sie sich auf den Beinen halten. Verstanden?"
„Jawohl, Exzellenz", erwiderte der Aufseher und zog sich, rückwärts gehend, zur Tür zurück, die gerade vom königlichen Mundschenk aufgestoßen wurde. Als der Minister das besorgte Gesicht des Mundschenks sah, fiel er in Ohnmacht.
„Ihr auch?" fragte leise der Aufseher der Milchprodukte. „Ja", flüsterte der Mundschenk. „Der Wein reicht höchstens noch für eine Woche." Als der Minister nach einer Weile das Bewußtsein wiedererlangte, rannte er sofort zu den Ministern der anderen Könige. Es erwies sich, daß die Lebensmittellage bei allen äußerst besorgniserregend war. Man beschloß, den Großen Rat einzuberufen, doch da dies seit Jahrhunderten nicht mehr geschehen war, wußte niemand, wie man dabei vorgehen müsse. Also zog man die alten Chroniken zu Rate. König Barbedo, der gerade regierte, gab Rushero, dem Hüter der Zeit, das Wort. Ein paar Minuten stand dieser schweigend da und betrachtete die Teilnehmer des Rates, deren Kleider in allen Farben des Regenbogens schillerten. Sein Gesicht war finster. Schließlich begann er: „Eure Majestäten, meine Herren Minister, Hofleute! Es ist Euch bekannt, in welch schwerer Lage sich unser Land befindet, seitdem das Schlafwasser verschwunden ist. Mit Bedauern muß ich der hohen Versammlung mitteilen, daß die Schürfungen danach ergebnislos geblieben sind. Die Heilige Quelle ist für immer versiegt." Der Redner hielt inne, um Atem zu holen. König Barbedo aber sagte: „Ihr sprecht da von den Dingen, die jeder weiß, sagt lieber etwas Neues." Rushero fuhr fort: „Unser Unglück ist, daß wir zu viele Esser und viel zuwenig Arbeiter haben. Ich habe in alten Chroniken nachgelesen, daß es vor dem Tag der ersten Einschläferung genauso war. Auch damals konnte das Volk die Könige und ihre Höfe nicht ernähren. Das Schlafwasser brachte die Rettung, denn es verringerte die Zahl der Esser auf ein Siebentel… "
„Und was schlagt Ihr jetzt vor? Alle Überzähligen zu töten?" fragte spöttisch Minister Koriente.
„Warum töten?" entgegnete ruhig der Hüter der Zeit. „Sie können sich ja selbst ernähren. Ein jeder unserer sieben Könige hält einen eigenen Hof mit Ministern, Räten, Hofleuten — das sind mindestens fünfzig Personen. Sie helfen ihrem Herrscher, den Staat im Verlaufe nur eines Monats von sieben zu regieren, die übrigen sechs Monate aber tun sie nichts. Können wir uns denn nicht auf einen Hof beschränken, der beim Regierungswechsel von einem König auf den anderen übergehen würde? Dadurch bekämen wir mit einem Schlag 300 Paar Arbeitshände, die wir auf unseren Feldern und in unseren Fabriken so sehr brauchen. ."
Der dreiste Vorschlag Rusheros befremdete die Ratsmitglieder. Viele sprangen auf, um ihren Unmut hinauszuschreien. Es erhob sich ein schrecklicher Lärm. Am meisten tobte die königliche Verwandtschaft, all die Oheime, Vettern und Neffen der Könige. Aber das Gesetz verbot es, einen Redner zu unterbrechen, ehe er zu Ende gesprochen hatte. König Mentacho stellte die Ordnung wieder her, und Rushero fuhr fort: „Nehmen die Könige meinen Vorschlag an, so können sie einen großen Teil ihres Hofgesindes entlassen, das den Palast überfüllt und weniger den Monarchen und ihren Familien als den Ministern und Höflingen dient. Ich glaube, daß dann weder Wachen noch Spione notwendig sein werden, denn das Volk wird keinen Anlaß zur Unzufriedenheit haben. Ich habe errechnet, daß mindestens sechshundert Nichtstuer nützliche Arbeit verrichten können. Und wenn alle diese Schmarotzer, die dem Volk auf dem Nacken sitzen, weg sind, wird das, was wir haben, für uns völlig ausreichen." Als Rushero seine flammende Rede beendete, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Minister und Hofleute brüllten und schüttelten die Fäuste. „Wir sollen hinter dem Pflug einherstapfen, wir, die Nachfahren des edlen Bofaro?" schrien sie. „Wir sollen an den Schmelzöfen vor Hitze vergehen? Wir sollen auf die Privilegien verzichten, die uns unsere Vorf ahren vererbt haben, und so sein wie das gemeine Volk? Hat der Hüter der Zeit den Verstand verloren?"
Nach Rushero ergriffen viele Minister und Räte das Wort. Sie wiesen den Plan des Hüters der Zeit zurück und sagten, man müsse die Handwerker und Bauern zwingen, mehr zu arbeiten. Wenn sich die Arbeiter mehr anstrengten, sagten sie, würden sie mehr Waren erzeugen, und man könnte dann mehr Lebensmittel bei den Bewohnern der oberen Welt eintauschen. Die Wachen und Spione aber dürfe man nicht entlassen, denn nur sie hielten das Volk in Botmäßigkeit. Der letzte Redner wurde unerwartet unterbrochen, als der Kommandant der Stadtwache in den Thronsaal stürzte und keuchend hervorstieß:
„Eure Majestäten! Soeben hat ein Eilbote die Meldung überbracht, daß sich zwei Fremde der Stadt der Sieben Könige nähern." Die Sitzung nahm ein jähes Ende. Könige und Hofleute stürzten schreiend und fluchend aus dem Palast. Allen voran rannte der feiste Mentacho. Die bunte Menge strömte aus dem Tor und blieb verwundert stehen. Auf die Stadt zu kamen ein hochgewachsener dunkelhaariger Junge und ein Mädchen, das ein wunderliches, zottiges Tierchen an die Brust drückte.