Dritter Teil. DAS ENDE DES UNTERIRDISCHEN LANDES

DER SCHEUCH UND DER HOLZFÄLLER GREIFEN EIN

Die Käuer staunten nicht wenig, als sie Toto sahen. Sie lachten vor Freude, und die Glöckchen an ihren blauen Hüten läuteten. „Das wunderbare Tierchen, Ellis Reisegefährte!" riefen sie. „Doch wo ist die Fee? Und wo der Riese von der anderen Seite der Berge?" „Verzeihung, ich habe keine Zeit für lange Gespräche", erwiderte das Hündchen mit wichtiger Miene. „Nur eins will ich euch sagen: Elli und ihr Cousin werden im unterirdischen Land gefangengehalten, und ich muß ihnen helfen."

Die Käuer waren über die traurige Nachricht so erschüttert, daß sie zu schluchzen anfingen, wodurch die Glöckchen an ihren Hüten wieder zu läuten begannen. Da nahmen die Menschlein ihre Hüte ab, damit sie sie beim Weinen nicht störten, und legten sie auf die Erde. „Was fangen wir nun an?" riefen sie verzweifelt.

„Laßt das unnütze Weinen und tragt mich schnell zu Prem Kokus!" befahl Toto. Prem Kokus war der Herrscher des Blauen Landes, und sein Anwesen war nicht weit entfernt. Mehrere junge schnellfüßige Käuer setzten sich in Trab, wobei sie abwechselnd Toto trugen. Vor Tagesanbruch erreichten sie das Haus des Herrschers.

„Ich muß sofort in die Smaragdenstadt zum Weisen Scheuch", sagte das Hündchen, nachdem es Kokus kurz von den Vorgängen im Land der unterirdischen Erzgräber berichtet hatte. Kokus erfaßte sofort die Lage. Tags zuvor hatte ihm ein schneller hölzerner Bote Anordnungen des Weisen Scheuchs zur Verwaltung des Blauen Landes überbracht. Diesem Boten befahl er nun, das Hündchen in die Smaragdenstadt zu tragen. Der Auftrag wurde sehr schnell ausgeführt: Der hölzerne Bote ermüdete ja nicht wie ein Mensch und konnte Tag und Nacht laufen, weil er bei Dunkelheit ebensogut sah wie bei Tageslicht. Zwei Tage später stand der Bote mit dem Hündchen vor dem Tor der Smaragdenstadt. Er mußte dreimal die Glocke ziehen, ehe sich die Pforte öffnete und an der Schwelle ein kleiner grüner Mann mit Brille erschien. Es war Faramant, der Hüter des Tores. An seiner Hüfte hing eine Tasche mit grünen Brillen aller Größen.

„Oh, Ihr seid es", sagte er ruhig. „Ich habe Euch erwartet. Und wo ist die Fee Elli?"

Bei der Kunde von Ellis Gefangenschaft machte Faramant ein trauriges Gesicht. Dann sagte er:

„Ich werde Euch zum Weisen Scheuch, dem Herrscher der Stadt, führen. Er wird ebenso aufrichtig betrübt sein wie ich. Aber Ihr müßt vorerst die grüne Brille aufsetzen, so lautet der Befehl Goodwins, des Großen und Schrecklichen. Einmal hatten wir ihn nicht befolgt und mußten dafür schwer büßen." Er nahm eine Brille aus der Tasche und sagte: „Das ist Eure, da steht noch das Zeichen darauf", setzte sie Toto auf die Nase und ließ das kleine Schloß hinten einschnappen. Im gleichen Augenblick begannen alle Gegenstände vor Toto grün zu funkeln. Kaum hatten Toto und sein Begleiter die Straße betreten, deren hohe Häuser sich oben fast berührten und kühle Schatten warfen, da sprach sich die traurige Geschichte Ellis auch schon in der ganzen Stadt herum. Die Einwohner beugten sich aus den Fenstern hinaus, um dem Hündchen ihr Mitgefühl auszusprechen; viele traten auf die Straße und folgten Toto und Faramant. Als der Zug sich dem Schloß näherte, hatte er schon eine stattliche Länge erreicht. Die vielen erregten Menschen mußten jedoch lange rufen und mit Stöcken an das Gitter klopfen, bis der Soldat Din Gior auf sie aufmerksam wurde. Er stand auf seinem kleinen Turm, hielt sich einen Spiegel vor das Gesicht und kämmte seinen langen, wallenden Bart. Als er den Lärm vernahm, ließ er die Zugbrücke herab, und im nächsten Augenblick schloß er das Hündchen, das er schon damals so liebgewonnen hatte, in seine Arme. Der Scheuch und die Krähe Kaggi-Karr, die gerade bei ihm zu Besuch weilte, waren erschüttert über die Nachricht, daß ihre geliebte Elli im unterirdischen Land festgehalten werde. Der Scheuch begann nachzudenken. Er dachte so lange nach, daß die Näh- und Stecknadeln, die Goodwin den Sägespänen seines Gehirns beigemischt hatte, hervortraten. Dann sagte er: „Wir müssen den Eisernen Holzfäller rufen. Ein kluges Gehirn ist gewiß das Wichtigste auf der Welt, aber ein liebendes Herz ist auch nicht zu verachten. Zu zweit wird uns eher etwas einfallen."

Kaggi-Karr flog sofort los, den Holzfäller holen. Nach vier Tagen traf der eiserne Mann in Begleitung des alten Lestar, des besten Handwerkers des Landes der Zwinkerer, ein. Er erzählte, daß die Krähe, die ihm die traurige Nachricht überbracht hatte, sogleich weitergeflogen sei in das Land des Tapferen Löwen, um auch ihn über das Vorgefallene zu unterrichten.

Der eiserne Mann war über Ellis Unglück so traurig, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen, wodurch seine Kiefer einrosteten. Bald konnte er kein Wort mehr sagen, sondern nur noch mit den Armen fuchteln. „Da haben wir die Bescherung! Wie oft hab ich dir gesagt, daß du nicht weinen darfst!" rief der Scheuch, der sofort die Ölkanne vom Gürtel seines Freundes löste und Öl in seinen Kiefer und Gelenke zu träufeln begann. „Ich k-k-konnte m-m-mich nicht b-b-beherrschen", stieß der Mann mühselig hervor. „S-s-sie t-t-tut m-m-mir so leid…" „Sieh, du stotterst ja schon", sagte der Scheuch mißbilligend, „früher ist dir das nicht passiert." „Ich w-w-werde alt, m-m-mein Freund", erwiderte der Holzfäller. „W-w-wenn mir die Tränen kommen, verschlägt es m-m-mir die Sprache." Toto mußte abermals ausführlich über die Abenteuer in der Höhle erzählen. Er lobte Ellis und Freds Tapferkeit über alle Maßen. Als Lestar vom Verschwinden des Schlafwassers hörte, räusperte er sich vielsagend. „Sie wollten etwas sagen?" fragte der Scheuch. „Nein, mir ist nur ein Gedanke gekommen, aber er ist wohl albern. ." Kaggi-Karr, die trotz ihrer Jahre noch sehr schnell war, ließ nicht lange auf sich warten. Sie brachte wichtige Nachrichten aus dem Reich des Löwen. „Der Löwe will gegen die unterirdischen Könige in den Krieg ziehen", erzählte sie. „Als er erfuhr, daß sie Elli gefangenhalten, begann er zu rasen. Wären sie ihm in diesem Augenblick unter die Hände, Verzeihung, unter die Tatzen gekommen, er hätte sie gewiß zerrissen. Ich glaube, Goodwin hat ihm eine zu große Portion Mut gegeben", schloß die Krähe ihren Bericht. „Was tut er jetzt?" fragte der Scheuch.

„Als ich fortflog, sandte er gerade Eilboten aus, die die allgemeine Mobilmachung verkünden sollten."

„Sollen wir ihm nachstehen?" rief der Scheuch, und seine Strohbrust blähte sich vor Kampfeslust. „Können wir denn nicht auch ein Heer aufstellen" Was meinst du, Holzfäller?"

„Für Elli gehe ich durchs Feuer", versicherte der eiserne Mann. „Wir Zwinkerer auch", sagte Lestar. Faramant mischte sich ins Gespräch: „Wir fassen da eine sehr wichtige Entscheidung", sagte er, „die müssen wir Elli wohl mitteilen." „Gewiß, aber wie?" fragte Din Gior. „Schreibt einen Brief, ich will ihn zu ihr bringen", schlug Toto vor.

„Lieber Toto, wir danken dir im voraus für diesen Dienst, aber wie willst du das anstellen?" fragte Faramant.

„Wer hat es fertiggebracht, aus der unterirdischen Welt herauszukommen? Außer mir niemand!" prahlte das Hündchen. „Und wieder hinzukommen ist für mich eine Kleinigkeit!"

Faramant und Din Gior setzten sich hin, den Brief zu schreiben.

TOTO ÜBERBRINGT DEN BRIEF

Nach dem Verschwinden Totos waren etwa zwei Wochen vergangen. Elli wurde von den Königen nicht verdächtigt, denn sie handelte klug. Sie wartete nämlich nicht ab, bis man sie ausfragen werde, sondern ging selbst zu Mentacho und beschuldigte die Spione, auf das Hündchen schlecht aufgepaßt zu haben.

„Mein armer, lieber, dummer Toto!" rief sie unter Tränen aus. „Oh, ich weiß, dich hat ein schrecklicher Sechsfüßer gefressen, weil die Leute des Königs nicht aufgepaßt haben!"

Es blieb Mentacho nichts übrig, als sich bei Elli für die Unachtsamkeit seiner Spione zu entschuldigen. Elli und Fred lebten in fiebriger Erwartung. Arrigo hatte ihnen mitgeteilt, daß Toto glücklich bei den Käuern angekommen sei. Jetzt blieb abzuwarten, was der Scheuch und der Eiserne Holzfäller unternehmen würden. Aber das Warten war eine furchtbare Qual. Am fünfzehnten Tag nach Totos Flucht gingen Elli und Fred am Ufer des Sees spazieren. Voller Wehmut blickten sie auf das bleigraue, im goldgelben Widerschein der Wolken schimmernde Wasser. In einiger Entfernung konnten sie die zwei Spione sehen, die kein Auge von den Gefangenen ließen. Elli und Fred konnten in letzter Zeit unbelauscht miteinander sprechen. Das Mädchen hatte durch eine List erwirkt, daß die lästigen Spione sie bei ihren Gesprächen mit dem Cousin nicht stören durften. Das kam so: Eine Woche nach Ellis Beschwörungen an der versiegten Quelle begannen die Könige ihr Vorwürfe wegen der Unwirksamkeit ihrer Zauberei zu machen. Darauf erwiderte ihnen das Mädchen:

„Ich hab Euch ja gesagt, daß der unterirdische Wassergeist sehr mächtig ist! Jetzt muß ich mir neue Beschwörungen ausdenken, unter den gegenwärtigen Umständen ist das aber unmöglich." „Und warum?" fragten die Könige.

„Ich muß mich mit meinem Cousin beraten. Er ist mein Gehilfe und versteht sich auf viele geheime Dinge. Wenn aber ein fremdes Ohr unsere Gespräche hört, bleibt der Zauber unwirksam."

Von diesem Tag an durften die Spitzel sie nicht mehr belauschen. Auf den See blickend, sagte Elli traurig:

„Wo ist jetzt mein liebes Totochen, was mag es wohl tun?" Da drang plötzlich eine dünne Stimme an ihr Ohr: „Da bin ich", und ein kleines zottiges Knäuel schmiegte sich an Ellis Füße.

„Toto", rief das Mädchen freudig und nahm das Hündchen in die Arme. „Mein Teurer, bist du es?"

Elli streichelte das Hündchen, und dabei stießen ihre Finger auf einen zusammengerollten Zettel unter seinem Halsband. Elli erriet, daß es ein Brief aus der oberen Welt war, doch sie zog ihn nicht hervor, denn die Spione, die sie zwar nicht hörten, konnten doch alles sehen. Als Elli wieder in ihrem Zimmer war, wo sie niemand beobachtete (auch das hatte sie sich ausgedungen!), entfaltete sie mit zitternden Händen den Zettel und las:

„Sei gegrüßt, hochverehrte Elli, Fee des Tötenden Häuschens, Fee des Rettenden Wassers!

Wir — der Weise Scheuch, der Eiserne Holzfäller, KaggiKarr, Din Gior, Faramant und Lestar — haben von Deiner verzweifelten Lage erfahren. Unser Kummer ist grenzenlos. Aber wir werden alles mögliche und selbst alles unmögliche tun, um Dir zu helfen. Sage den sieben unterirdischen Königen, falls sie Dich und Deinen Cousin nicht entlassen, werden wir ihnen den Krieg erklären. Der Löwe sammelt bereits ein Raubtierheer in seinem Reich, und wir werden eine Armee aus Zwinkerern und Bewohnern des Smaragdenlandes aufstellen. Mit großer Ungeduld erwarten wir Dich bei uns oben und umarmen Dich.

Im Auftrag aller anderen

Faramant."

Nachdem Elli den Brief vorgelesen hatte, sagte sie unter Tränen lächelnd: „Wie gut sie doch alle sind! Wie sie mich lieben!… Aber Krieg? O nein, ich will nicht, daß unsertwegen ein schrecklicher Krieg ausbricht!" Fred entgegnete: „Sollen wir vielleicht bis zu unserem Tode hier bleiben? Du hast zwar viel mit Zauberern und Feen zu tun gehabt, aber von Zauberei verstehst du nichts — du wirst die Heilige Quelle niemals hervorzaubern!" „Ich hoffe aber, daß die Könige uns freilassen, wenn sie einsehen, daß ich keine Fee bin und ihnen nicht helfen kann."

„So siehst du aus!" spottete Fred. „Die Könige sind ja stockdumm!" „Wie dem auch sei, ich will keinen Krieg!" rief Elli entschieden. „Aber ich werde den Königen trotzdem sagen, daß die Oberen meine Freilassung fordern und zu einem Krieg rüsten. Vielleicht werden sie Angst bekommen."

Fred nickte: „Versuch's doch!"

Die plötzliche Rückkehr Totos machte auf die unterirdischen Menschen einen starken Eindruck. Dabei war alles sehr einfach gewesen: Die Käuer hatten das Hündchen zum Handelstor gebracht und in ein Loch unterm Tor schlüpfen lassen, das die unterirdischen Wächter nicht beachteten. Dann war es Toto ein leichtes, sich unauffällig in die Stadt zu schleichen. Elli wurde zu Mentacho gerufen. Der König durchbohrte sie schier mit seinen Augen. „Ihr habt Euch beklagt", sagte er, „unsere Leute hätten nicht auf das Tier aufgepaßt. Wie erklärt Ihr's jetzt, daß es wieder da ist?" „Durch meine Zauberkunst, wenn's Euch beliebt!" erwiderte Elli unerschrocken. Mentacho murmelte verwirrt:

„Verzeiht mir. Wir einfachen Sterblichen sollten uns nicht in Zauberdinge einmischen. Aber es freut mich, daß ihr Euch nicht mehr verstellt. Jetzt werdet Ihr uns, ob Ihr's nun wollt oder nicht, das Schlafwasser wiedergeben müssen." Elli wurde rot vor Verlegenheit.

„Seht, Eure Majestät, das ist etwas ganz anderes", begann sie unsicher.

„Aber darüber wollen wir ein andermal sprechen. Jetzt muß ich Euch im Auftrag der oberen Welt etwas sehr Ernstes mitteilen."

„Geht es mich persönlich an?"

„Es geht alle sieben unterirdischen Könige an."

„Dann werden wir's uns alle gemeinsam im Großen Rat anhören!"

DER KRIEG

Bei ihrem zweiten Auftritt vor dem Großen Rat war Elli viel sicherer. Die Reihen der buntgekleideten Höflinge und die stolz dreinblickenden Könige machten auf sie keinen Eindruck mehr. Mit fester Stimme verkündete Elli das Ultimatum des Scheuchs. Zu ihrer großen Enttäuschung hatte es aber nicht die gewünschte Wirkung. Das war übrigens einfach zu erklären: Die Könige und ihre Höflinge, die mehrere Jahrhunderte geschlafen und niemals Krieg geführt hatten, konnten sich nicht vorstellen, was ein Krieg bedeutet und wie schrecklich er ist. Als erster nahm Fürst Gaerta das Wort. Er kannte den Krieg aus alten Chroniken, die vor tausend Jahren geschrieben worden waren.

„Krieg, ha-ha!" rief er von der Tribüne herab. „Krieg — das ist ein fröhliches Spiel: Märsche, Trommelwirbel, tram-tamtam! Wir zerschlagen den Feind und erbeuten Speicher mit Korn, Fässer mit Wein, Vieh und Geflügel! Und nach dem Krieg gibt es einen Schmaus, ho-ho!"

Die Augen der Ratsmitglieder begannen gierig zu funkeln. Da konnte Elli nicht an sich halten und schrie von ihrem Platz aus:

„Ihr habt keine Ahnung, was Krieg ist! Krieg bedeutet Blut, Qualen, Tod! Warum seid Ihr so sicher, daß Ihr siegen werdet?"

„Daran kann nicht gezweifelt werden", erwiderte Gaerta. „Wir besitzen Drachen und Raubtiere! Wenn wir hundert Sechsfüßern zwei Tage nichts zu fressen geben und sie gegen die Armee der Oberen loslassen, werden sie sie zerreißen!.." Gaerta stieg triumphierend von der Tribüne. Ellis Gesicht verdüsterte sich, denn sie sah ein, daß die unterirdischen Könige wirklich mächtige Kriegsmittel besaßen. Dann sprach Mentacho, der unter den unterirdischen Königen der Klügste war. Er stieß keine kriegerischen Schreie aus, sondern sagte schlicht:

„Der Krieg ist natürlich kein fröhlicher Spaziergang, wie ihn sich Fürst Gaerta ausmalt. Wenn wir uns in die obere Welt hinaufwagen, werden wir nichts sehen und von den Feinden mühelos überrumpelt werden. In der oberen Welt würden auch unsere Drachen und Sechsfüßer blind sein. Aber wir wollen ja nicht in die obere Welt gehen. Wozu auch? Nicht wir sinnen nach Krieg — er wird uns von dem Herrscher der Smaragdenstadt angedroht.

Sollen sie nur kommen! Wir werden dem Feind zu begegnen wissen, und darin muß ich Gaerta zustimmen!"

Elli erkannte mit Entsetzen, daß Mentacho recht hatte. Die Armeen der Oberen würden vernichtet werden, wenn sie sich in diese fremde, unbekannte Welt hinabwagten.

Die anderen Redner unterstützten Mentacho. Dann wurde der folgende Beschluß gefaßt: „Wir brauchen uns vor einem Überfall der Oberen nicht zu fürchten, müssen aber auf alle Fälle zur Abwehr rüsten. Die Fee Elli wird nicht freigelassen, solange sie die Heilige Quelle nicht entzaubert hat. Den Ausflüchten Ellis ist nicht zu glauben, denn durch die Herstellung von Verbindungen zu den Oberen hat sie bewiesen, daß sie Zauberkräfte besitzt."

Unterdessen wurden oben alle Vorbereitungen zu einem großen Krieg getroffen. Kaum hatte Kaggi-Karr dem Tapferen Löwen die Nachricht von Ellis Gefangenschaft überbracht, als die Hasen, die Botendienst versahen, nach allen Teilen des Waldes rannten und laut verkündeten, König Löwe habe die allgemeine Mobilmachung befohlen. Damit die Hasen nicht von Tigern und Leoparden gefressen werden, wurde eine große Waffenruhe angeordnet. Von jetzt an durften die Raubtiere den schutzlosen Bewohnern des Waldes kein Haar krümmen. Wenn es aber jemand vor Hunger nicht mehr aushält, solle er mit Gras und Obst vorliebnehmen, lautete der Befehl. Ein ernstliches Hindernis auf dem Weg in das Blaue Land war der Große Fluß, bei dessen Überfahrt Elli und ihre Gefährten einst fast verunglückt waren. Die Tiger, Leoparden, Panther und Luchse hatten Angst vor Wasser, und auch der Löwe schwamm nur sehr ungern. Aber da gab es ja die Biber, die sich hervorragend auf den Dammbau verstanden. Am gleichen Abend wurden alle Biber eingezogen und zu einem Bauregiment vereint, über das der Chefingenieur Scharfer Zahn das Kommando führte. Das Regiment erhielt Befehl, binnen 24 Stunden eine Schwimmbrücke über den Strom zu bauen, und setzte sich in Marsch. Den Bibern wurde ein Bataillon AffenSchimpansen, Makaken und Paviane — beigegeben, die mächtige Lianenbündel zum Zusammenfügen der Stämme herbeitrugen. Das Regiment machte sich, kaum daß es den Fluß erreicht hatte, sofort an die Arbeit. Die Biber nagten die Bäume am Ufer durch, stießen sie ins Wasser und legten sie nebeneinander, die Schimpansen und Makaken banden sie mit Lianen zusammen. Zum festgesetzten Termin war die Brücke fertig, und Papageien erhielten Auftrag, dies dem Oberbefehlshaber zu melden. Um 12 Uhr begann der große Auszug aus dem Wald. In Marschordnung gingen, eines nach dem anderen, Bataillone von Jaguaren, Kuguaren und Bären, Kompanien von Luchsen und Panthern. Es gab auch eine Sonderabteilung Brüllaffen, die nicht unmittelbar an den Kampfhandlungen teilnehmen, sondern durch ohrenbetäubendes Gebrüll dem Gegner Angst einflößen sollten. Den Troß bildeten mächtige Büffel und Wisente, die auf ihren Rücken Bündel von Bananen und anderen Früchten trugen, einen Proviant, der den Raubtieren nicht gerade schmeckte, ihren Hunger aber stillen konnte. Der Löwe nahm von Frau und Kindern Abschied und stellte sich an die Spitze einer Kompanie Tiger, seiner Leibgarde. Den Heerführer begleiteten Vögel, die Adjutanten- und Schreiberdienste versahen. Die Adjutanten hatten die Befehle des Heerführers weiterzugeben, die Schreiber die Chronik des Feldzuges zu führen und die Austeilung des Proviants zu überwachen. Der Löwe war stolz auf die kluge Ordnung, die er in den Truppen eingeführt hatte. Er kniff vor Vergnügen die Augen zu und schnurrte wie ein großer Kater. Im Violetten Land wurde gleichfalls zum Feldzug gerüstet. Die Zwinkerer besaßen bereits Kriegserfahrungen. Sie hatten gegen die Holzarmee Urfin Juices gekämpft und sie zerschlagen. Auch besaßen sie Waffen, z. B. die berühmte Kanone, die gleich nach dem ersten Schuß geplatzt war. Die Kanone war zwar wieder instand gesetzt worden, doch niemand wußte, wie man Schießpulver herstellt — in dieses Geheimnis hatte ja der Riese von der anderen Seite der Berge niemanden eingeweiht. Außer der Kanone besaß das Zwinkererheer auch Äxte und Eisenstöcke mit Dornen, die auf langen Stielen saßen. Auf den Straßen marschierten Zwinkererkompanien, die Feldmarschall Din Gior in der Kriegskunst ausgebildet hatte. Die Bewohner des Smaragdenlandes, die sich nicht gerade durch Kampfeslust auszeichneten, schickten sich gleichfalls an, mit Sensen, Sicheln, Spaten und Heugabeln in den Krieg zu ziehen. Das Signal zur Eröffnung der Kampfhandlungen sollte der Scheuch geben, der einstweilen auf die Ankunft der Raubtierarmee wartete.

FREDS RÄTSELHAFTES VERSCHWINDEN

Elli war verzweifelt. Die Könige hatten das Ultimatum des Scheuchs zurückgewiesen, folglich wird er den Krieg beginnen und Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen ins Verderben stürzen, um zwei Kinder aus der Gefangenschaft zu befreien. Der Scheuch mußte um jeden Preis von der Ausführung seines unvernünftigen Beschlusses abgehalten werden. Aber wie sollte man ihn benachrichtigen? Toto konnte nicht wieder zu ihm geschickt werden, denn nach seiner Rückkehr hatte man ihn auf Befehl König Mentachos in einen Käfig gesperrt, der Tag und Nacht bewacht wurde. Die Kinder dachten lange über die Lage nach, Toto war im Käfig eingesperrt, Elli wurde noch schärfer bewacht als bisher, nur um Fred kümmerte sich fast niemand. Würde Arrigo ihm seine Kleider geben, so könnte Fred das Handelstor erreichen und aus der Höhle fliehen. Dann würde er die Oberen vor der Gefahr warnen, die ihnen im Falle eines Krieges drohte. Es vergingen mehrere Tage, ehe sich Elli die Gelegenheit bot, mit Arrigo unter vier Augen zu reden. Nach einigem Zaudern erklärte sich der Chronist bereit, an der Ausführung des Plans teilzunehmen, obwohl der für ihn schlimme Folgen haben konnte, wenn jemand dahinterkam. In den letzten Monaten war Wein in der Höhle eine Seltenheit geworden, aber Arrigo besaß noch eine Flasche, die er sich aufgespart hatte. Nachts ging er in das Schloß und gab dem Wachsoldaten, der vor Freds Zimmer stand, einen Becher Wein zu trinken, in den er ein Schlafpulver getan hatte. Fred zog Arrigos Kleider an, die ihm gut paßten, setzte einen Hut mit einer Leuchtkugel auf, und Arrigo schminkte sein Gesicht so, daß er wie ein unterirdischer Bewohner aussah. So konnte er ungehindert entweichen. Freds rätselhaftes Verschwinden löste große Verwirrung aus. Der Wächter, der erst am Morgen aufwachte und eine strenge Strafe befürchtete, schwor, er habe die ganze Nacht vor der Tür des Gefangenen gestanden und kein Auge zugemacht. Den Wächtern am Handelstor sagte der Junge, er sei von König Mentacho mit einem wichtigen Auftrag in das Land der Käuer geschickt worden. Man ließ ihn durch, da man ihn für einen Bewohner des Unterirdischen Landes hielt. Als man später die Wächter verhörte, verheimlichten sie aus Furcht vor Strafe die Wahrheit.

Freds Verschwinden wurde Ellis Zauberkünsten zugeschrieben, und die Angst, die man vor ihr hatte, war jetzt noch größer. Aber auch die Aufsicht über sie wurde derart verschärft, daß sie es fast nicht mehr ertrug. Zwei Tanten des Königs wichen Tag und Nacht keinen Schritt von ihrer Seite, und fast ein Dutzend Spione schlichen ständig um sie herum. „Sollen sie nur", lächelte Elli. „Hauptsache, Fred ist oben." Fred konnte es nach der geglückten Flucht nicht fassen, daß er nach so vielen Wochen der Gefangenschaft wieder frei und dazu noch im Wunderland war. Über ihm breitete sich, wie in der Höhle, ein Gewölbe, nur war es nicht von goldgelben Wolken überzogen. Die dunkelblaue Himmelskuppel verlor sich in unendlicher Ferne, in der Myriaden Sterne funkelten. Es wurde Fred schwindlig, und er hielt sich kaum noch auf den Beinen. Süße Wohlgerüche und unbekannte Klänge umgaben ihn. Der Weg zu den Siedlungen der Käuer führte durch einen Wald. Zu beiden Seiten standen riesige Bäume mit großen weißrosa Blüten, die ein herbes Aroma ausströmten. Von den Zweigen flatterten grüne, rote und blaue Papageien auf, die dummes Zeug schwatzten. Aus dem Dickicht drangen geheimnisvolle Geräusche. Die taufrische, von Blumenduft erfüllte Luft berauschte den Wanderer, der so lange in der dumpfen Höhle hatte leben müssen. Ein Gefühl der Kraft und der Freude schwellte seine Brust. „Die unterirdischen Menschen müssen wahnsinnig gewesen sein, als sie freiwillig auf die Reize der oberen Welt verzichteten", murmelte der Junge. „Wüßten sie, wie schön es hier ist…"

Seitlich des Weges lag ein Dorf. Mit Wohlgefallen betrachtete Fred die

runden Häuser mit den spitzen Dächern. Er trat in den ersten Hof und klopfte an die Tür. Ihm öffnete ein verschlafener Mann, der erschrocken zurückwich, als er einen Menschen in bunten Kleidern mit einer Leuchtkugel auf dem Kopf erblickte.

„Wer bist du? Was wünschst du?" fragte der Käuer.

„Ich heiße Fred Cunning und komme aus dem unterirdischen Land. ."

„Wir haben mit den unterirdischen Erzgräbern erst unlängst unsere Waren ausgetauscht, bis zum nächsten Markttag ist es noch lange."

„Ich bin nicht deswegen hier", entgegnete Fred. „Ich bin aus der Gefangenschaft entflohen, aber meine Cousine Elli ist noch dort."

„Elli, die Fee des Tötenden Häuschens?"

Der Mann war wie verwandelt, als er erfuhr, wer vor ihm stand. Stürmisch begrüßte er den Jungen, der sich jedoch nach all den Aufregungen plötzlich sehr schwach fühlte. Außerdem hatte er seit mehr als 24 Stunden nichts gegessen. Kaum hörbar beantwortete er die Fragen des Käuers und ließ sich erschöpft auf der Schwelle nieder. Der bestürzte Käuer sagte seiner Frau, sie solle sich um den Gast kümmern, und lief seine Dorfgenossen wecken. Eine Viertelstunde später war Fred von einer Menge kleiner Männer und Frauen mit schellenbehangenen spitzen Hüten umringt. Nachdem er etwas Milch und Obst zu sich genommen hatte, sagte der Junge, er müsse schleunigst in die Smaragdenstadt aufbrechen.

„Ich muß den Scheuch und den Eisernen Holzfäller von einem Krieg abhalten."

Beim schrecklichen Wort „Krieg" begannen die weichherzigen Käuer zu weinen.

„Wir können und wollen nicht kämpfen", schluchzten sie. „In einem Krieg würden wir alle umkommen."

„Hört auf!" sagte Fred. „Ich bin ja eigens aus der Höhle geflohen, um den Frieden zu erhalten!"

Die Käuer beruhigten sich und sagten, der Frieden sei eine gute Sache. „Dann begleitet mich doch in die Smaragdenstadt", bat der Junge. „Dorthin führt eine Straße, die mit gelbem Backstein ausgelegt ist", erwiderten die Käuer. „Das ist ein sehr langer Weg. Wär es nicht besser, wenn Ihr Euch ein paar Stündchen ausruht?"

Fred sah ein, daß sie recht hatten, denn die Augen fielen ihm zu, und die Beine wollten nicht mehr gehorchen. Darauf legten ihn die Käuer in ein weiches Bett, und er schlief sofort ein.

DER FRIEDENSBOTE

Der Scheuch und seine Leute umarmten Fred stürmisch, als sie erfuhren, wer er war. Der Junge beobachtete staunend den Scheuch und den Eisernen Holzfäller: Solche seltsamen Geschöpfe konnte es nur im Wunderland geben! Vor zwei Monaten noch, als Elli ihm in Iowa ihre Geschichten erzählte, wollte er ihr nicht glauben — aber siehe, jetzt drückte er selbst die weiche Hand des Scheuchs und die rauhe Hand des eisernen Mannes. Vor ihm saßen der Scheuch, der beim Sprechen gedankenvoll seinen mit Sägespänen gefüllten Kopf wiegte, und der Eiserne Holzfäller, in dessen Brust ein aus Flicken zusammengenähtes Herz schlug! Und die Krähe KaggiKarr mit ihren pechschwarzen Äuglein saß auf der Lehne des Thronsessels und fragte mit klarer, leicht schnarrender Stimme, wie Elli sich fühle…

Der Junge glaubte zu träumen, und doch war alles Wirklichkeit; er stand im Thronsaal des Palastes, den Goodwin gebaut hatte, er sah die zahllosen Smaragden und trug nun selbst eine grüne Brille. Da erinnerte er sich an den Auftrag Ellis.

„Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, in welche Gefahr ihr euch begebt!" stieß Fred leidenschaftlich hervor. „Hättet ihr die Sechsfüßer gesehen! So ein Ungeheuer kann allein zwanzig Menschen zerreißen, und dort gibt es Hunderte dieser Bestien! Und erst die Drachen mit den gewaltigen zähnegespickten Rachen und den furchtbaren Krallen! Wie wollt ihr euch vor so einem gelbbäuchigen Ungeheuer schützen, wenn es pfeifend auf euch niedersaust? Und auf ihren Rücken sitzen Reiter mit Lanzen und Pfeilen!" Fred, der lange und überzeugend gesprochen hatte, freute sich, daß die Zuhörer einzusehen begannen, wie wahnwitzig ihr Vorhaben war. „Würden die unterirdischen Könige mit ihren Armeen heraufkommen, dann könnte man es mit ihnen noch aufnehmen", fuhr der Junge fort, „aber sie werden es nicht tun. Unten jedoch, in der ewigen Dämmerung, an die eure Augen nicht gewöhnt sind, werden euch die Höhlenbewohner weit überlegen sein." „Gut!" sagte der Scheuch entschieden. „Dann verzichten wir auf den Krieg!"

Alle Anwesenden waren mit ihm einverstanden.

„Aber was geschieht mit Elli?" fragte bedrückt der Eiserne Holzfäller, der schon wieder weinen wollte, sich aber rechtzeitig besann. Da sprach der kleine, sanfte Lestar, der beste Mechaniker aus dem Land der Zwinkerer.

„Habe ich Euch richtig verstanden, daß die unterirdischen Könige Elli freilassen würden, wenn sie ihnen die Heilige Quelle wiederherstellt?" fragte er.

„Ja", sagte Fred. „Aber Elli kann es nicht, sie ist doch keine Zauberin! Und das ist auch besser so, sonst würde sie ja die Nase noch höher tragen." „Das geht vielleicht auch ohne Zauberei", schmunzelte Lestar. „Sagt mal, junger Mann, wißt Ihr, was eine Wasserpumpe ist?" Freds Gesicht lief rot an.

„Bei uns auf der Farm benutzt jeder Junge zehnmal am Tag die Wasserpumpe", erwiderte er gekränkt. Aber Lestar fragte ruhig weiter:

„Habt Ihr in der Höhle Pumpen gesehen?" Fred dachte nach. „Nein. Wasserräder gibt es dort — am See, Sechsfüßer treten die Räder, aus deren Eimern das Wasser in Rinnen ausfließt, die es in die Stadt leiten." „Famos!" sagte der Mechaniker strahlend.

„Was soll diese Fragerei, Freund Lestar?" fragte Din Gior verwundert. „Seht", erwiderte der Alte, „mir ist da etwas eingefallen. Ich glaube, daß wir Elli auch ohne Krieg befreien können. Nur müssen wir den Königen das wunderbare Wasser geben, und das wird uns vielleicht gelingen." Ein Beifallssturm erschütterte den Thronsaal. Alle Anwesenden lobten Lestar, der nur bescheiden lächelte.

„Wir wollen nicht vorzeitig jubeln", sagte der Mechaniker. „Ist das Wasser nicht zu tief in die Erde abgeflossen, so werden wir es herauspumpen. Allerdings brauche ich dazu lange Bohrer, um den felsigen Boden durchstoßen zu können, und eine gute Ansaugpumpe." Lestar machte sich in das Land der Zwinkerer auf, denn nur dort konnte man solche Dinge anfertigen. Kaggi-Karr aber flog, dem Löwen mitzuteilen, daß er seine Heerscharen entlassen könne.

EINE SELTSAME BOTSCHAFT

Vor dem Handelstor war lautes Klopfen zu hören. Als der Wachhabende das kleine Fenster öffnete, sah er etwa ein Dutzend grinsender Holzmänner, die sich mit ihren riesigen Fäusten gegenseitig auf den Rücken schlugen. Der Lärm hätte einen Toten aufwecken können.

„Was treibt ihr da?" fragte der verwunderte Soldat. „Wir klopfen uns auf die

Rücken!"

„Wozu?"

„Damit ihr uns hört!"

„Ihr hättet ja an das Tor klopfen können!"

„Das soll ein Tor sein?" sagte einer der Holzmänner verächtlich. „Ihr hättet ja auf uns geschimpft, wenn es auseinandergefallen wäre!" „Wer seid ihr, und was wollt ihr hier?"

„Wir sind Holzköpfe und bringen eine Botschaft vom Herrscher der Smaragdenstadt, dem Weisen Scheuch, an eure Könige." Die Wachsoldaten berieten miteinander und entschieden, daß es sich hier nicht um eine List handeln könne. Zehn Holzmänner konnten ja nicht eine ganze Stadt erobern! Falls es aber Kundschafter sind, wird ihnen beim Anblick der Sechsfüßer und der Drachen die Lust an einem Krieg schnell vergehen. Die Boten wurden hereingelassen, erhielten einen Begleiter und stampften fröhlich zum Palast. Sie wurden im Thronsaal empfangen, wo sich die Könige und ihre Minister versammelt hatten. Auch Elli war da. Mentacho, der in diesem Monat regierte, nahm das Schreiben entgegen und verlas es:

„Wir, der Weise Scheuch und Herrscher der Smaragdenstadt, der Eiserne Holzfäller und Herrscher des Violetten Landes und der Tapfere Löwe, der König der Tiere, entbieten unseren Brüdern einen herzlichen Gruß… " Mentacho machte eine Pause und sagte:

„Wir danken unseren Brüdern in der oberen Welt für den Gruß und erwidern ihn. Wir bitten, ihnen das auszurichten!" Die Holzköpfe grinsten. Mentacho las weiter: „Wir grämen uns und staunen, daß Ihr, die Herrscher des unterirdischen Reiches, ohne Fug und Recht unsere heißgeliebte Fee Elli gefangenhaltet, die zufällig in Euer Land verschlagen wurde.

Aber in Anbetracht dessen, daß triftige Gründe Euch dazu bewogen haben, nämlich der Wunsch, das Schlafwasser wiederzubekommen und die jahrhundertealte Ordnung in Eurem Lande wiederherzustellen, geben wir unsere Absicht auf, Euch den Krieg zu erklären, und schlagen Euch vor, die Sache gütlich zu schlichten. ." („Ein sehr vernünftiger Vorschlag", bemerkte Mentacho.) „Wir, die Bewohner der oberen Welt, haben vom Großen Goodwin viele geheime Wissenschaften geerbt. Elli allein hat es nicht vermocht, die Wunderquelle zu entzaubern, doch glauben wir, daß es ihr mit unserem Beistand gelingen wird."

Ein Beifallssturm unterbrach Mentacho. Elli stand ganz verwirrt da.,Was erwarten sie denn?" dachte sie. Der Scheuch irrt sich ja gewaltig. Es wird ihnen nicht gelingen, und man wird auch sie noch gefangennehmen.' Der Beifall verstummte, und Mentacho las weiter. Die letzten Worte der Botschaft beruhigten Elli:

„Falls aber die bösen Kräfte sich als mächtiger erweisen und es uns nicht gelingt, das Schlafwasser wiederzugewinnen, dürft Ihr uns in Eurem Lande nicht zurückhalten. Über Ellis Schicksal soll dann ein gemeinsamer Rat entscheiden. Damit Ihr Euch von unseren guten Absichten überzeugt, schicken wir Euch ein Geschenk. In der Stunde, da Ihr unsere Botschaft lest, sind 500 starke Träger unterwegs zur Höhle. Sie bringen Euch Mehl, Butter, Käse, Eier, Obst, Honig und Wein…"

Die Decke des Saals drohte einzustürzen unter dem Beifall, den diese Worte auslösten. Das war auch nicht verwunderlich, denn die Lebensmittelvorräte in der Höhle reichten nur noch für einige Tage, und der Hunger bedrohte jetzt nicht nur das einfache Volk, sondern auch die königlichen Höfe. Bewegt las Mentacho die Unterschriften:

„Der Weise Scheuch. Der Eiserne Holzfäller. Der Tapfere Löwe." Am Ende stand: „Wegen Schreibunkundigkeit der Obengenannten gezeichnet von Faramant."

Ja, der Hüter des Tores verstand es, diplomatische Botschaften zu schreiben. Elli traten vor Freude Tränen in die Augen.

,Wie gut und großmütig meine Freunde sind!' dachte sie.,Selbst wenn ihr kühnes Unternehmen mißlingt, selbst wenn sie mich nicht befreien, werde ich sie doch zumindest sehen…'

Die Könige und ihre Würdenträger umringten die Holzköpfe, beäugten und betasteten sie, klopften ihnen auf die Schultern und Rücken. „Ja", sagte König Eljana tief sinnig. „Urfin muß wirklich ein großer Zauberer gewesen sein, daß er solche Klötzer beleben konnte!" „Aber Elli hat ihn besiegt", bemerkte König Mentacho, „also ist sie noch mächtiger, als er es war. Schade, daß sie einer Laune wegen die Heilige Quelle nicht entzaubern will!"

Den Holzköpfen wurde eine von den sieben Königen unterzeichnete Schutzurkunde für den Scheuch, den Holzfäller, den Löwen und alle ihre Begleiter eingehändigt. Man garantierte ihnen die völlige Sicherheit während ihres Aufenthaltes in der Höhle sowie eine ungehinderte Rückkehr. Unterdessen waren die Ernährungsminister aus dem Saal gestürzt, um Träger zu rufen, welche die von der oberen Welt so freigebig geschenkten Lebensmittel herbeischaffen sollten. Es versteht sich, daß Toto gleich nach dieser Versammlung freigelassen wurde.

ELLI SIEHT IHRE FREUNDE WIEDER

Etwa zwölf Tage später überbrachte ein Soldat auf einem fliegenden Drachen die Meldung, daß die Herrscher des Wunderlandes mit großem Gefolge das Handelstor passiert und das unterirdische Land betreten hätten. Sogleich wurden Herolde zu Fuß und auf Drachen in alle Teile des Landes ausgesandt. Sie verkündeten den folgenden Befehl der sieben Könige: „Die ganze Bevölkerung nimmt am festlichen Empfang der hohen Gäste teil. Alle Arbeiten auf den Feldern und in den Werken, mit Ausnahme der Metallgießereien, werden eingestellt. Die Bürger versammeln sich in Festtagstracht am Rande der Straße, die vom Handelstor in die Stadt führt. Alle Sechsfüßer sind in den Ställen einzusperren und sicherheitshalber fest anzubinden. Wächter auf Drachen ziehen Ehrenkreise über dem Festzug, ohne jedoch allzu tief zu fliegen. Es herrschte frohe Stimmung. Die Menschen zogen ihre besten Kleider an und setzten ihre neuesten Hüte auf, um die freigebigen Spender aus der oberen Welt geziemend zu empfangen. In der Stadt der Sieben Könige blieben nur Krüppel und Greise zurück. Die Könige, ihre Minister und Hofleute zogen in bunt schillernden Kleidern unter Orchestermusik und Trommelwirbel den Gästen entgegen. An der

Spitze schritt Elli mit Toto auf dem Arm. Tausende Zuschauer bildeten meilenlange Spaliere. Sie winkten, schwenkten die Hüte und schrien hurra! Dann zeigten sich die Gäste. An der Spitze marschierten im Stechschritt sechs Holzköpfe. Der erste trug einen Blumenstrauß. Vier andere trugen eine Bahre, auf der würdevoll der Scheuch saß, der sich freundlich nach rechts und links verbeugte. Der Bahre folgten dreißig anmutige Jungen und Mädchen, Schüler der Tanzschule, mit riesigen Blumensträußen in den Händen. Ihr Anführer war der ehemalige General und jetzige Tanzlehrer Lan Pirot. Tänzelnd nahm er, zum Entzücken der Zuschauer, reizvolle Posen ein. Dann kam majestätischen Schrittes der Löwe mit Fred Cunning auf dem Rücken daher. Fred war mächtig stolz auf seinen Platz, er hätte ihn für nichts auf der Welt gegen einen anderen vertauscht. Welcher Junge konnte sich auch rühmen, an einer solchen Prozession teilgenommen zu haben, und noch dazu. rittlings auf einem Löwen! Die Buberi in Iowa werden staunen, wenn er ihnen seine Abenteuer erzählt, und ihm gewiß nicht glauben wollen, genauso wie er einst Elli nicht geglaubt hatte! Der Eiserne Holzfäller war frisch poliert und geschmiert. Er trug eine goldene Ölkanne am Gürtel und eine funkelnde goldene Axt auf der Schulter. Auf seinem Kopf saß die Krähe Kaggi-Karr, deren Beine goldene Ringe schmückten. Kurzum, ein jeder hatte sich für den Besuch der unterirdischen Welt so schön ausstaffiert, wie er konnte. Weiter folgten Din Gior, Faramant und Lestar. Der Bart Din Giors, der zu einem Zopf geflochten war und bis zur Erde reichte, machte auf die Einwohner der Höhle einen überwältigenden Eindruck. Ein paar Dutzend Käuer trugen weitere Geschenke: Ballen mit Kleidern und Schuhen sowie Körbe mit Spielsachen. Viele schoben Kinderwagen vor sich her. Ihre blauen Spitzhüte bewegten sich im Takt ihrer Schritte, wobei die herabhängenden Glöckchen lieblich bimmelten. Den Zug beendeten Holzköpfe mit Hebeln, Rädern, Bohrern und Rohren unter der Auf sicht von Meistern aus dem Violetten Land. Einen solchen Zug hatte man im unterirdischen Land noch nie gesehen. Es war wie eine leuchtende Vision — als hätten die Bewohner der oberen Welt das Funkeln ihrer Sonnenstrahlen, die Durchsichtigkeit ihrer Luft und das azurne Blau ihres Himmels in die Höhle mitgebracht. Als sich die beiden Prozessionen trafen, erhob der hünenhafte König Mentacho die Hand zum Zeichen, daß er eine festliche Rede halten wolle. In diesem

Augenblick stieß Elli einen Freudenschrei aus, sprang aus der Reihe und stürzte auf den Scheuch zu. Die Holzköpfe bildeten im Nu eine lebendige Leiter, und schon lag Elli in den Armen ihres guten alten Gefährten. Sie streichelte das vertraute Gesicht des Strohmannes und küßte ihn auf die Wangen, und er rief in heller Begeisterung:

„0-ho-ho-ho! Ich bin wieder, wieder, wieder mit Elli zusammen! 0-ho-ho-ho!"

Er hielt jedoch sofort inne und legte die Hand vor den Mund, denn für eine so erlauchte Person, wie er es nun war, geziemte es sich nicht, seinen Gefühlen so laut Ausdruck zu verleihen. Unterdessen hatten auch der Eiserne Holzfäller, Fred Cunning, der Tapfere Löwe, Din Gior und Faramant den Scheuch umringt. Das war ein frohes Wiedersehen! Elli und Toto flogen aus einer Umarmung in die andere, und König Mentacho mußte betrübt von seiner Rede Abstand nehmen. Er murmelte nur ein paar liebenswürdige Worte, die der Scheuch, der Holzfäller und der Löwe dankend erwiderten. Dann vermischten sich die beiden Züge, und alles strömte in froher Stimmung in die Stadt der Sieben Könige. Elli ritt nun auf dem Löwen, und Fred, der an ihrer Seite schritt, erzählte seine Erlebnisse von dem Augenblick an, da er sich aus dem Palast geschlichen hatte. Er wurde jedoch immer wieder von dem Holzfäller unterbrochen, der darauf bestand, daß Elli ihr Ohr an sein Herz lege, um sich zu überzeugen, wie freudig es jetzt nach dem Wiedersehen mit ihr schlage. Auch der Löwe wandte immer wieder den Kopf, um zu erzählen, welch mächtiges Heer er aufgestellt und dann wieder entlassen hatte, Kaggi-Karr und Toto stritten sich, wer auf Ellis Armen sitzen werde. Kurzum, es war ein richtiger Tumult, und alle waren sehr zufrieden…

DAS MECHANISCHE WUNDER

Die sieben Könige gaben den Gästen zu Ehren einen großen Ball, bei dem die Jungen und Mädchen aus der Tanzschule Lan Pirots ein Ballett aufführten, das stürmischen Beifall fand. Aber schon am nächsten Tag schickte man die jungen Künstler nach Hause, da der Aufenthalt in der Höhle ihrer zarten Gesundheit schaden konnte. Mit ihnen zogen auch die Käuer fort, die die Geschenke für die unterirdischen Bewohner gebracht hatten.

Die kleinen Menschlein waren nur einen Tag in der Höhle gewesen, doch die Angst vor ihren unheimlichen Wundern blieb ihnen fürs ganze Leben in Erinnerung. Gäste und Wirte schliefen nach dem Ball sehr lange, mit Ausnahme des Eisernen Holzfällers und des Scheuchs, die, wie man weiß, niemals schliefen. Nur Lestar stand sehr früh auf und machte sich an die Arbeit. Schon am Vortag hatte er den Hüter der Zeit, Rushero, kennengelernt und ein langes Gespräch mit ihm geführt. Lestar und Rushero waren sich sympathisch und wurden sofort Freunde. Am Morgen nach dem Ball suchte der alte Meister den Hüter der Zeit auf und bat ihn, ihm den Weg zur Heiligen Quelle zu zeigen. Den beiden folgten Holzköpfe, die unter der Auf sicht von Meistern Rohre, Hebel und Flaschenzüge trugen. Nach dem Gespräch mit Rushero war es Lestar klar, daß der Hüter der Zeit nicht allzusehr daran glaubte, daß man das Schlafwasser durch Zauberei wiedergewinnen könne. Rushero blickte verschmitzt auf die mechanischen Dinge, die die Holzköpfe trugen, und sagte:

„Mit solchen Vorrichtungen wird's wohl besser gehen, gegen die ist der unterirdische Geist gewiß machtlos. Die arme Elli hatte ja nichts als Beschwörungen. Doch was sind schon Beschwörungen? Worte, die nichts vermögen!"

„Verehrter Rushero, ich sehe, Ihr seid ein scharf sinniger Mann", sagte Lestar, „doch glaube ich, man sollte den sieben Königen solche Gedanken lieber nicht einflüstern."

„Das ist auch meine Ansicht, verehrter Lestar", erwiderte der Hüter der Zeit. „Nicht alles, was zwischen Freunden gesprochen wird, ist für die Ohren Ihrer Majestäten gut." Zufrieden setzten die beiden Alten ihren Weg fort. In der Heiligen Höhle befahl Lestar den Holzköpfen, sich ruhig zu verhalten, und nahm seine Untersuchungen auf. Er legte an verschiedenen Stellen das Ohr an die Erde und horchte, ob vielleicht das Rauschen unterirdischer Gewässer zu hören sei, dann hielt er einen Handspiegel über die Spalten des Gesteins, um Spuren der Ausdünstungen aufzufangen. Geraume Zeit beschäftigte er sich damit, während sich Rushero auf einem Stein ausruhte. Als Lestar seine Nachforschungen beendete, fragte ihn Rushero: „Nun, wie steht's, lieber Freund?"

„Ich hab Hoffnung, aber die Zauberei wird wohl viel Zeit in Anspruch nehmen und mühselig sein", erwiderte der Meister vorsichtig.

Zunächst ebneten die Holzköpfe unter der Aufsicht des Meisters einen Platz neben dem Becken ein und legten das Fundament für die Bohranlage. Die Arbeit ging ihnen flott von der Hand — sie wälzten gewaltige Steine, als wären es Kiesel.

„Urfin hat euch ein gutes Erbe hinterlassen", bemerkte Rushero. ja, wir können uns nicht beklagen", gab Lestar zu. „Aber ich muß Euch sagen, daß sie erst dann folgsame Arbeiter wurden, als man ihnen neue Gesichter geschnitzt hatte. Das war ein glänzender Einfall des Scheuchs." Als man am Abend in die Stadt zurückkehrte, wurden dort wieder Vorbereitungen zu einem Fest getroffen. Der Scheuch bereitete, den Regeln der diplomatischen Etikette gemäß, seinerseits einen Schmaus für die sieben Könige vor. Binnen wenigen Tagen war zwischen der Stadt und der Heiligen Höhle ein reger Verkehr hergestellt. Holzköpfe, Zwinkerer und Metallarbeiter des unterirdischen Landes schleppten hurtig Maschinenteile und Material herbei. Den Königen, ihren Hofleuten und Spionen war der Zutritt zur Heiligen Höhle untersagt. Auf Anraten Lestars hatte Elli den sieben Königen gesagt, daß in der Höhle ein schrecklicher Geist mit dem Namen Großer Mechaniker hause, der nur durch mechanische Zauberei zu besiegen sei. Dabei dürften keine Fremden zugegen sein, denn das könne ihrem Verstand schaden. Ellis Anwesenheit bei der Vorbereitung der mechanischen Zauberei sei hingegen unerläßlich. Die Heilige Höhle durfte auch nicht durch Essen und Schlaf entweiht werden — darum wurde das Lager für die Arbeiter in einer Nachbarhöhle aufgeschlagen. Dort hatte man Pritschen aufgestellt und einen Herd gebaut, auf dem das Essen gekocht wurde. Für Elli als eine Fee wurde eine Ausnahme gemacht. Holzköpfe bauten für sie in der Heiligen Höhle ein leichtes Häuschen, in dem ein Bett, ein Tisch, ein kleiner Kleiderschrank (der Scheuch hatte ihr ein ganzes Dutzend Kleider mitgebracht!) und was sie sonst noch brauchte vorhanden war. Dort verbrachte das Mädchen, wenn es vom Lärm der Arbeit müde war, mit Toto ihre Ruhestunden. In der Höhle waren unterdessen die Arbeiten in vollem Gange. Unter den starken Händen der Holzköpfe fraßen sich die Bohrer heulend in das harte Gestein. Zwinkerer schraubten die Bohrgestänge zusammen und setzten die Ventile ein. Fred war überall dabei: Er gab die Befehle Lestars weiter, schleppte Arbeitsmaterial für die Schlosser herbei und ging den Bohrmeistern zur Hand. Die Freude des

Jungen war unbeschreiblich. Hätte er sich jemals vorstellen können, daß er solch spannende Abenteuer erleben würde? Der Scheuch, der Eiserne Holzfäller und der Löwe aber mieden das Labyrinth, denn die Feuchtigkeit war ihnen unerträglich. Ein paar Tage nach seiner Ankunft im unterirdischen Land fühlte sich der Scheuch sehr schlecht. Er bewegte sich nur mit Mühe, weil sein Stroh von der Nässe schwer geworden war und er sich nirgends trocknen konnte. Im unterirdischen Land kochte man nämlich das Essen auf winzigen Öfen, damit das Feuer die schwachen Augen der Einwohner nicht reize, und diese Öfen strahlten fast keine Wärme aus. Noch schlimmer stand es mit dem wunderbaren Gehirn des Scheuchs. Die Sägespäne in seinem Kopf waren feucht geworden, und die beigemischten Näh- und Stecknadeln rosteten. Der Scheuch hatte davon heftige Kopfschmerzen, und er begann die einfachsten Worte zu vergessen. Selbst sein Gesicht veränderte sich, denn die Wasserfarben, mit denen es bemalt war, lösten sich auf und zerrannen. Der besorgte Faramant holte den Arzt Boril, einen Nachf ahr des Doktor Boril, unter dem die erste Einschläferung stattgefunden hatte. Rundlich und selbstzufrieden wie sein Ururgroßvater untersuchte der Arzt den Patienten.

„Hm, hm", murmelte er schließlich. „Das ist eine sehr gefährliche Krankheit — die Wassersucht. Das beste Mittel dagegen ist Wärme und Licht." „I kann Elli dok ni zulücklassen", lallte der Scheuch mit schwerer Zunge. „Dann wird vielleicht', der Arzt dachte nach, „dann wird Euch vielleicht die Eisengießerei kurieren können. Ich glaube, daß Eure Hoheit dort in der warmen und trocknen Luft wieder gesund werden." Der Scheuch wurde in die Gießerei getragen. Er bekam ein Lager in einer Ecke, wo er niemanden störte und selber ungestört war. Faramant, der ihn betreute, überzeugte sich, daß kein Funke bis dorthin flog. Das wäre ja für den Strohmann sehr gefährlich gewesen! In der heißen Luft der Gießerei begann der Scheuch zunächst zu dampfen, dann besserte sich sein Gesundheitszustand zusehends. Arme und Beine kamen schnell zu Kräften, und der Kopf wurde wieder klar. Auch dem Holzfäller ging es nicht gut. Von der Feuchtigkeit begannen seine Gelenke zu rosten, und dieser Rost fraß sich so tief ein, daß selbst doppelte und dreifache Schmierung nichts half. Bald war die goldene Ölkanne leer, und wenn der eiserne Mann einen

Schritt machte, knarrten alle seine Gelenke. Seine Kiefer wurden steif und unbeweglich, und der Ärmste konnte kein Wort mehr hervorbringen. Doktor Robil, von Din Gior gerufen, sagte nach der Untersuchung: „Damit seine Hoheit nicht auseinanderfallen, was schon in den nächsten Tagen passieren kann, müßt Ihr ihn in ein Faß mit Öl stecken. Nur das kann ihn retten."

Zum Glück gab es im letzten Lebensmitteltransport eine ausreichende Menge Pflanzenöl, so daß man den Eisernen Holzfäller so weit darin versenken konnte, daß nur der Trichter, der ihm als Hut diente, herausragte. Damit er sich nicht langweile, setzte sich Din Gior zu ihm und erzählte allerlei unterhaltsame Geschichten aus der Zeit, da er noch bei Goodwin Hüter des Tores gewesen war. Hin und wieder verließ der eiserne Mann zur Erholung das Faß und verbrachte ein Stündchen oder zwei beim Scheuch oder beim Löwen. Auch dem mächtigen Löwen, dem freien Sohn der Wälder und König der Tiere, bekam der Aufenthalt in der Höhle schlecht. Er hustete, und Doktor Boril mußte ihm Pulver verschreiben. Doch bald war die Apotheke leer. Man kann sich ja leicht vorstellen, welche Mengen von Pulvern so ein Löwe braucht! Als er alle Pulver eingenommen hatte, begann er das Papier zu verschlingen, in dem sie eingewickelt waren. Mit Ellis Freunden stand es nicht zum besten, und das trieb Lestar zu größter Eile an.

WOZU BRILLANTEN GUT SEIN KÖNNEN

Aber nicht nur den Herrschern des Wunderlandes und dem König der Tiere, sondern auch ihren Begleitern erging es schlimm in der Höhle. Das ewige Halbdunkel, die herbstlichen Farben der Natur und die Feuchtigkeit bedrückten die Menschen. Sie hatten großes Heimweh und sehnten sich nach dem blauen Himmel und der strahlenden Sonne, dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel und dem Rascheln des Windes in den Blättern. Selbst die starken und zähen Holzköpfe fühlten, daß ihre Arme und Beine, von der Feuchtigkeit angeschwollen, ihnen nicht mehr recht gehorchen wollten. Lestar trieb seine Leute zur Eile an. Während der kurzen Ruhestunden, die er sich gönnte, lösten ihn seine Gehilfen ab. Die Bohrer, Flaschenzüge und Hämmer setzten keine Minute aus. Das Zauberwasser war tiefer in die Erde gesickert, als der alte Meister angenommen hatte, doch schließlich machten sich Anzeichen bemerkbar, die auf Wasser hindeuteten. Als man die stumpf gewordenen Bohrer, die durch neue ausgewechselt werden sollten, aus der Tiefe zog, waren sie feucht. Lestar verbot seinen Leuten strengstens, von diesem Wasser zu kosten. Als die Mannschaft einmal nach dem Mittagessen in die Heilige Höhle zurückkehrte, sah sie neben einem Bohrer etwa zwei Dutzend Mäuse reglos auf dem Rücken liegen. Die Tierchen hatten, wie sich herausstellte, Schlafwasser vom Bohrer geleckt. Die Mäuse erwachten erst nach mehreren Stunden, und die Menschen verdoppelten ihre Vorsicht bei der Arbeit. Dann kam der glückliche Augenblick, da das Zauberwasser als mächtiger Strahl aus der Erde hervorschoß und sich in das vorbereitete Becken ergoß. Lestar, seine Gehilfen, Elli und Fred standen da und bewunderten das schäumende, funkelnde und perlende Naß. Dann kehrte jeder zu seiner Arbeit zurück. Elli saß neben ihrem Häuschen und spielte mit einem Brillanten. Die funkelnden Steine, die sie mit Fred in der Grotte entdeckt hatte, gefielen ihr außerordentlich. Sie hielt den glitzernden Brillanten nahe vor die Augen und dann weit von sich, warf ihn in die Luft und fing ihn auf. Sie war so sehr in ihr Spiel vertieft, daß sie alles um sich vergaß. Plötzlich streckte sich Toto, der auf ihren Knien lag, gähnte tief und schlief ein. Elli bemerkte mit Staunen, daß auch Fred Cunning in einer sehr unbequemen Lage auf den Steinen eingeschlafen war, während Lestar und seine Gehilfen schlaftrunken zu Boden sanken. Ein Gedanke durchzuckte das Mädchen: Gefahr! Das kommt von den Ausdünstungen des Zauberwassers!' Elli stürzte auf die Holzköpfe zu, die blöde grinsten, und befahl ihnen: „Schafft sie weg, schnell, schnell!"

Alle Schlafenden wurden sofort in den Erholungsraum getragen und in Betten gelegt. Elli saß neben Fred und wußte nicht, wie sie ihm helfen sollte, bis sie selber vom Schlaf (zum Glück war es kein Zauberschlaf) übermannt wurde. Einen Tag und eine Nacht schliefen die Menschen, und als sie aufwachten, benahmen sie sich wie Säuglinge. Was fang ich jetzt bloß mit ihnen an?' fragte sich Elli. Sie schickte Arum, einen Vorarbeiter der Holzköpfe, in die Stadt nach Din Gior und Faramant. Dabei schärfte sie ihm ein, niemandem ein Wort zu sagen. Unterdessen nahm sie sich Freds an. Sie gab ihm Grießbrei mit einem Löffel und lehrte ihn sprechen. Die Ausdünstungen des Zauberwassers hatten wohl nur kurze Zeit auf Freds

Gehirn gewirkt, denn schon nach einer Stunde lächelte er und sagte „Mama", dann schnappte er einen Brillanten vom Nachttischchen und steckte ihn sich in den Mund.

„Pfui, du erstickst noch daran!" schrie Elli und nahm Fred das gefährliche Spielzeug weg. Wenige Stunden danach trafen, über die unerwartete Botschaft beunruhigt, Faramant und Din Gior ein. Als Elli ihnen den Vorfall schilderte, konnten sie nicht begreifen, warum nicht auch sie eingeschlafen war. Faramant bat, ihm ausführlich zu erzählen, was sie getan habe, als die anderen arbeiteten. Elli sagte, daß sie mit einem Brillanten gespielt habe. „Jetzt verstehe ich", sagte der Hüter des Tors erleichtert, „der Brillant war der Talisman, der dich geschützt hat." „Was ist das, ein Talisman?" fragte Elli.

„Das ist ein Ding, das Menschen vor Unglück bewahrt", belehrte sie Faramant. Alle drei freuten sich, daß Elli gerade damals mit dem Brillanten gespielt hatte. Wäre sie wie die anderen eingeschlafen, dann hätten wohl alle sehr lange warten müssen, daß die dummen Holzköpfe etwas unternehmen. Faramant und Din Gior machten sich an die Erziehung Lestars und der anderen Zwinkerer, während sich Elli um Fred und Toto kümmerte. Es gelang, den Vorfall vor den sieben Königen geheimzuhalten. Als Lestar wieder zu sich kam, befahl er den Holzköpfen, das Zauberwasser aus dem Becken abzulassen. Dann ging er, dem Scheuch Bericht zu erstatten. Die trockene Luft der Gießerei behagte dem Herrscher der Smaragdenstadt, und in seinem Kopf regten sich geniale Gedanken. Von manchen sprach er zu niemandem, denn nur er allein konnte sie verstehen. Während Lestar seinen Bericht erstattete, kam dem klugen Scheuch ein so famoser Gedanke, daß er vor Freude einen Luftsprung machte und dem Meister befahl, sofort den Hüter der Zeit, Rushero, zu rufen. Diesen fragte nun der Scheuch:

„Sagt, mein Freund, braucht Ihr denn wirklich die sieben Könige und das ganze Pack, das sie umgibt und das Ihr ernähren müßt?" Nach kurzem Nachdenken erwiderte Rushero

„Aufrichtig gesagt, brauchen wir sie nicht. Aber das Volk hat sich gewöhnt… Außerdem hat ja jeder König mit seinem Hof sechs Monate von sieben geschlafen."

„Um dann im siebenten auf Kosten der Bürger zu prassen?" „Das stimmt allerdings", gab Rushero zu.

„Könnt Ihr denn nicht die ganze saubere Gesellschaft einschläfern?" fragte der Scheuch.

„Alle sieben Könige auf einmal?" fragte Rushero. „Oh, das ist ein glänzender Einfall! Aber was tun wir, wenn sie unsere Absicht erraten und nicht schlafen wollen?"

„Könnt Ihr es nicht so anstellen, daß sie keinen Verdacht schöpfen?" „Das wird kaum gehen", entgegnete Rushero. „Jetzt regiert Mentacho, der sehr klug und scharfsinnig ist."

„Oh, wir werden schon dafür sorgen, daß ihm seine Klugheit nichts hilft! Freund Lestar, erzähl mal, was Euch in der Höhle passiert ist!" Als Rushero hörte, daß die Menschen unter den Ausdünstungen des Zauberwassers eingeschlafen waren, rief er aus:

„Das ändert ja die Sache! Dann versammeln wir eben die ganze Gesellschaft in der Höhle und überlassen sie dem Zauberschlaf. Nur fürchte ich, daß wir, die das ganze zu bewerkstelligen haben, auch einschlafen werden. Gehen wir aber nicht hin, so werden sie Verdacht schöpfen."

„Keine Sorge", entgegnete Lestar. „Für diesen Fall haben wir Talismane", und er erzählte dem Hüter der Zeit von dem Brillanten.

„Oh, das ist ja großartig!" rief Rushero. „Wir schläfern die Tagediebe ein, und das Land ist sie los."

„Und was geschieht danach?" fragte der Scheuch. „Wieso danach?" „Ich meine, wenn sie wieder aufwachen?"

„Wenn sie bei der Quelle bleiben, werden sie nicht mehr aufwachen", sagte Rushero.

„Mit Verlaub, mein Freund", entgegnete der Scheuch bedächtig, „das wäre ja der reinste Mord!"

„Verzeiht, Majestät, daran hab ich nicht gedacht. Dann werden wir sie wohl in den Regenbogenpalast tragen und in die Kammern legen müssen." „Und was geschieht danach?" fragte der Scheuch wieder. „Ich versteh Euch nicht", sagte Rushero, der allmählich die Geduld verlor. „Einmal werden sie ja aufwachen!"

„Dann werden wir ihnen wieder Wasser geben", erwiderte der Hüter der Zeit unsicher.

„Vielleicht lassen wir sie lieber in der Heiligen Höhle sterben?" fragte der Scheuch verschmitzt. „Das geht wohl schneller und erspart euch viele Scherereien."

„Majestät, drückt Euch doch bitte klarer aus!" bat Rushero. „Eure Gedanken sind mir zu tief. Nicht umsonst nennen Euch die Einwohner der Smaragdenstadt den Dreimalklugen!"

„Oh, auch das ist Euch bekannt?" lächelte der Scheuch freundlich. „Gut, dann will ich Euch meine Idee erklären: Nach dem Zauberschlaf benehmen sich die Menschen wie Säuglinge, nicht wahr?" „Ja!"

„Man muß sie von neuem erziehen und ihnen in wenigen Tagen alles wieder ins Gedächtnis zurückrufen, was sie einst wußten und im Schlaf vergessen haben." „Ja!"

„Was hindert Euch denn, dem König Mentacho zum Beispiel nach seinem Erwachen einzuflüstern, daß er früher nicht König, sondern Hufschmied, Schlosser oder Ackerbauer war?"

Hätte in diesem Augenblick ein Blitz vor Rusheros Füßen eingeschlagen, er wäre nicht so verblüfft gewesen wie nach dieser Eröffnung. Strahlenden Angesichts rief er:

„Eure Majestät, Ihr seid wahrhaftig der klügste Mensch auf der Welt!" „Das ist ja längst bekannt!" wehrte der Scheuch bescheiden ab.

SIEBEN SCHLAUE PLÄNE

Die Freude Rusheros verflog jedoch, als einer der Hofleute ihm die Botschaft überbrachte, daß König Mentacho ihn zu sehen wünsche. Als er sich beim König meldete, führte ihn dieser in ein kleines Zimmer und verschloß sorgfältig die Tür hinter sich. Daran erkannte Rushero, daß das Gespräch vertraulich sein werde. Mentacho bot ihm einen weichen Sessel an und nahm ihm gegenüber Platz.

„Wie geht es Euch, mein lieber Freund?" begann der König liebenswürdig. „Ihr seid, sagt man, sehr überlastet?" „Ja", gab Rushero zu.

„Oh, Ihr müßt Eure kostbare Gesundheit schonen und einen Teil Eurer Sorgen anderen überlassen", fuhr Mentacho in salbigem Ton fort. Der Hüter der Zeit stutzte — Mentacho hatte ja noch nie so liebenswürdig mit ihm gesprochen.

,Sei auf der Hut, Rushero', dachte er. Der König will da etwas von dir, das für ihn sehr wichtig ist!'

„Übrigens", sagte Mentacho nebenbei, „ich habe gehört, daß die Entzauberung der Heiligen Quelle zu Ende geht?" „Das stimmt, Majestät!" „Mir ist ein komischer Gedanke gekommen", kicherte Mentacho. „Werdet Ihr ihn billigen, mein teurer Freund?" „Was meinen Eure Majestät?" „Nun denn: Ich bin als erster an der Reihe, zu schlafen. Aber aufrichtig gesagt, hab ich mich in den letzten Monaten überzeugt, daß der Zauberschlaf gar nicht so angenehm ist, wie es scheint. Das Leben ist doch viel interessanter, besonders, wenn man König ist!" „Das bleibt Ihr doch!" sagte Rushero.

„Gewiß, aber ein regierender König und ein König, der darauf wartet, die Herrschaft anzutreten, sind doch verschiedene Dinge!" „Ich verstehe Eure Gedanken nicht, Majestät!" Da sagte Mentacho ohne Umschweife:

„Ich will ein Festessen für alle meine Brüder und ihre Hofleute geben. Wir tun Schlafwasser (je mehr, desto besser!) in ihren Wein, und dann wird die ganze Gesellschaft in den Zauberschlaf fallen!"

Da Rushero ein erstauntes Gesicht machte, fragte der König trocken:

„Mein Plan gefällt Euch nicht? Vielleicht glaubt Ihr, daß ein anderer König den Staat besser regieren würde als ich?" Rushero überlegte: Wenn ich den Vorschlag ablehne, wird Mentacho andere Helfer finden, und wir alle haben dann ausgespielt.'

Darauf sagte er, daß er den Plan des Königs vorbehaltlos billige. Mentacho strahlte übers ganze Gesicht.

„Oh", rief er aus, „das will ich Euch reichlich vergelten. Ihr sollt nach mir der erste Mann im Lande sein, ich werde Euch ein Haus bauen, so prächtig wie der Regenbogenpalast."

„Ich brauche keine Belohnung, Majestät", sagte Rushero. „Ihr könnt Euch auf mich verlassen, es wird alles nach Eurem Wunsch geschehen! Ihr dürft aber kein Wort verlauten lassen. Besonders Elli und die anderen aus der oberen Welt dürfen nichts erfahren."

„Ich werde schweigen wie das Grab!" versicherte Rushero. „Aber auch Ihr sollt nichts unternehmen, denn das könnte unser Vorhaben gefährden. Wenn die Zeit zum Handeln kommt, werde ich Euch verständigen." Damit verabschiedete sich der Hüter der Zeit von Mentacho. Am nächsten Tag wurde er zu König Barbedo gerufen. Der dicke, kahlköpfige Barbedo sah ganz anders aus als der stattliche Mentacho, der ein schönes, lächelndes Gesicht hatte. Als er aber den Hüter der Zeit in sein Zimmer führte und sorgfältig die Tür hinter sich verschloß, sah er Mentacho verblüffend ähnlich. Das konnte dem scharfsinnigen Rushero natürlich nicht entgehen.

,Da ist etwas faul…' dachte er.

Der König begann das Gespräch von weitem, aber Rushero begriff sofort, wo er hinaus wollte. Er wunderte sich daher nicht, als Barbedo ihm schließlich vorschlug, alle anderen Könige einzuschläfern, damit er, Barbedo, sein ganzes Leben lang regiere. Nach ihm, sagte er, möge dann sein ältester Sohn den Thron besteigen. Und die anderen? Die würden eben friedlich schlafen und aller Sorgen enthoben sein.

„Ihr werdet doch zugeben, teurer Freund", flötete Barbedo, „daß der ewige Königwechsel für unser Land eine Plage ist. Wie unser braves Volk darunter leidet!" (Bei diesen Worten verlor der Dickwanst sogar eine Träne.) „Wer als erster auf den glücklichen Gedanken kam, diesem jammervollen Zustand ein Ende zu machen, verdient es doch, der einzige König im Lande zu sein!" (,Als ob du als erster darauf gekommen bist!' dachte Rushero spöttisch.) „Euch aber, mein lieber Hüter der Zeit, will ich mit Brillanten und Smaragden überschütten, Ihr sollt der reichste Mann im Lande sein!" Natürlich versprach der Hüter der Zeit auch Barbedo seine Hilfe. Doch bat er ihn, ohne sein Wissen nichts zu unternehmen. Auf dem Heimweg dachte Rushero: Was wird wohl weiter geschehen? Sollte es nur zwei Schlauköpfe unter den unterirdischen Königen geben! Wird die Sache damit ihr Bewenden haben?'

Aber bald ließen auch die anderen Könige — Eljana, Karoto, Lamente — den Hüter der Zeit rufen und führten geheime Unterredungen mit ihm. Selbst der altersschwache Arbusto hatte es sich in den Kopf gesetzt, seine Rivalen zu beseitigen, um Alleinherrscher zu sein.

„Mir verbleibt nicht mehr viel Zeit", sagte der Neunzigjährige mit zahnlosem Mund, „darum darf ich sie nicht verschlafen. Selbst wenn es nur ein paar Jährchen sind, will ich doch allein das Land regieren!" Der zehnjährige Bubala wiederholte die Worte seines Erziehers: „Ich bin jünger als alle anderen, also werde ich das Land sehr lange regieren und viele glorreiche Taten vollbringen." Rushero sagte allen Königen seinen Beistand zu, und alle versprachen, ihn reich zu belohnen. Er unterrichtete natürlich den Scheuch und Elli über die tückischen Pläne der Könige. Dem Holzfäller in seinem Ölfaß stand der Sinn nicht danach, gegen die Verschwörer etwas zu unternehmen, und der kranke Löwe war des Lebens müde, und nur aus Liebe zu Elli blieb er in der Höhle. Gleich nach der Unterredung mit König Mentacho begab sich Rushero zum Herrscher der Smaragdenstadt. Dieser lobte seine Findigkeit und riet ihm abzuwarten, bis die Arbeiten in der Heiligen Höhle zu Ende sein würden. Als Rushero nach der Unterredung mit Barbedo erneut zu ihm kam, wunderte sich der Scheuch schon weniger, und als er ihm dann von den Absichten der anderen Könige erzählte, war der Strohmann überhaupt nicht mehr verwundert.

„Alle Könige — ob unter der Erde oder auf ihr — sind tückisch und grausam", sagte der Scheuch. „Alle, von dem Grünschnabel Bubala bis zum greisen Arbusto, sind auf den gleichen Gedanken verfallen: ihre Rivalen zu beseitigen, um die ganze Macht an sich zu reißen. Wißt Ihr, verehrter Rushero, ich zweifle nicht daran, daß ein jeder von ihnen seine ganze Verwandtschaft umbringen würde, ohne mit der Wimper zu zucken." „Ich bin ganz Eurer Meinung", sagte Rushero.

„Aber warum haben sie alle den gleichen Wunsch?" fuhr der Scheuch fort. „Weil sie von der königlichen Macht berauscht sind und sie mit niemandem teilen wollen. Ich freue mich, daß mir der Gedanke gekommen ist, sie umzuerziehen, und ich bin sicher, daß sie sich dann in anständige Menschen verwandeln werden."

DIE GROSSE EINSCHLÄFERUNG

Die ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, daß Elli und ihre Freunde mit ihren Zaubermitteln den Großen Mechaniker bald besiegen würden. Die sieben Könige jubelten, hoffte doch ein jeder, seine Rivalen zu beseitigen und Alleinherrscher zu werden. Bald darauf wurden Tag und Stunde der Beschwörung festgesetzt. Die Festordner, Rushero und Arrigo, verkündeten, daß jeder dem Ereignis beiwohnen dürfe, der jemals eingeschläfert worden sei. Darauf sollte streng aufgepaßt werden, denn ein Verstoß gegen dieses Gebot könnte das ganze Unternehmen gefährden. Es wurde auch verkündet, daß Verspätungen nicht geduldet würden. Wer zu spät komme, bleibe draußen. Nach dieser Warnung fanden sich selbstverständlich alle Neugierigen lange vor der festgesetzten Stunde ein. Es kamen die Könige mit ihren Gattinnen und Kindern, die Minister und Räte, die hohen und untergeordneten Beamten, die Diener aller Rangstufen, die königlichen Wachen und Spione. Holzköpfe hatten um das Becken Steinbänke errichtet, die nun ein weites Amphitheater bildeten. In der vordersten Reihe nahmen die Könige mit ihren Angehörigen Platz, hinter ihnen die Minister und Räte. Das Hofgesinde mußte sich mit Stehplätzen im Hintergrund zufriedengeben. Hunderte Leuchtkugeln an den Hüten der Eingeladenen strahlten ein mildes Licht aus, das selbst die entferntesten Winkel der Höhle erleuchtete. Hart am Rande des Beckens stand die Rednertribüne. Noch nie hatte es unter der Erde ein so eindrucksvolles Schauspiel gegeben. Die königlichen Höfe waren nach Sektoren geordnet wie bei den Sitzungen des Großen Rates. Es war, als sei ein strahlender Regenbogen vom Himmel herabgestiegen, um dem Fest besonderen Glanz zu verleihen. Um das Becken standen in gleicher Entfernung voneinander Holzköpfe, die zum Fest frisch bemalt worden waren. Elli stieg, einen weißen Stab in der Hand, auf die Tribüne. Toto war diesmal nicht bei ihr — man hatte ihn unter der Obhut eines Zwinkerers im Erholungsraum gelassen. Hinter Elli standen Fred Cunning, Lestar, der Chronist Arrigo und der Hüter der Zeit, Rushero, die ebenso wie Elli etwas in der Faust hielten, das man nicht sehen konnte. Das Mädchen begann mit klarer, weithin hallender Stimme zu sprechen: „Eure Majestäten, Bürger des unterirdischen Landes! Um das verschwundene Schlafwasser wiederzugewinnen, mußten wir eine lange, mühselige und gefährliche Arbeit verrichten. Sie war gefährlich, weil das geringste Versehen unsererseits den Geist der Höhle, der schon durch das Vergehen Ruf Bilans sehr gereizt war, dazu bringen konnte, uns zu vernichten." (Diese Worte lösten ein Raunen des Entsetzens in den Zuschauerreihen aus.) „Aber wir sind mit Bedacht und Methode vorgegangen."

Niemand unter den Anwesenden wußte, was Methode bedeutet. Auch Elli hatte keine Ahnung davon. Sie gebrauchte das Wort nur, weil Lestar es sie gelehrt hatte, und machte damit einen großen Eindruck auf die Zuhörer. Elli fuhr fort:

„Jetzt sind wir unseres Erfolgs sicher." Bei diesen Worten schwang sie den Stab und begann eine Beschwörung zu murmeln: „Barrambä, marrambä, täriki, wäriki, vitriöl, zitriöl, büreki, kügelki! Schrecklicher Geist des Großen Mechanikers, geh in den Schoß der Erde zurück und gib uns das Schlafwasser wieder!"

Das Mädchen stampfte dreimal mit dem Fuß, worauf es in der Tiefe dumpf dröhnte (diese Wirkung hatte Meister Lestar geschickt vorbereitet). Die Zuschauer fielen vor Entsetzen fast in Ohnmacht, und im gleichen Augenblick schoß aus einem großen Rohr ein mächtiger Wasserstrahl in das Becken. Ein vielstimmiger Schrei erschütterte die Höhle. „Das Zauberwasser!" jubelten die Zuschauer. „Ich erkenne es am blauen Glanz!" — „Und ich am Zischen der Bläschen!" — „Oh, ich erkenne es am Geruch", hallte es durcheinander. Als sich die Erregung legte, trat Rushero auf die Tribüne. In einer fast halbstündigen Rede erzählte er, wie das Zauberwasser entdeckt worden und der Hüter der Zeit, Bellino, auf den Gedanken gekommen war, die Könige für die Zeit, da sie nicht regierten, einzuschläfern, und wie dann dieser Brauch jahrhundertelang befolgt wurde. Es war eine langweilige Rede, bei der manche Zuhörer einschliefen und sogar zu schnarchen begannen. Am Ende wurden sie jedoch hellwach, denn Rushero sagte:

„Früher trat das Schlafwasser nur einmal im Monat aus der Erde hervor und verschwand gleich wieder, denn das war der Wille des Großen Mechanikers. Aber die Zauberkunst der Fee Elli und ihrer Freunde hat den Großen Geist gebannt. Jetzt steht uns das Zauberwasser ständig zur Verfügung, und wir können

jedermann, der es wünscht, jederzeit in einen beliebig langen Schlaf versetzen!"

Jeder König dachte, das sei eine Anspielung, die ihm allein gelte, und blinzelte schlau. Rushero stieg von der Tribüne, die nun König Mentacho betrat. Die Zuschauer, die seine Redseligkeit kannten, machten saure Mienen. Es kam wie erwartet. Mentacho begrüßte ehrerbietig die hohen Gäste und begann dann ausführlich die Geschichte des Scheuchs zu erzählen, die er von diesem persönlich gehört hatte, und ging dann zur Geschichte des Eisernen Holzfällers über. Als er gerade dabei war, die Geschichte des Löwen vorzutragen, begann er zu gähnen. Er konnte gerade noch zu seinem Platz zurückkehren, da überkam ihn der Zauberschlaf. Fast zu gleicher Zeit schliefen auch alle anderen ein, mit Ausnahme Ellis, Freds, Lestars, Rusheros und Arrigos, die Brillanten in den Fäusten hielten, welche sie vor der Wirkung der Schlafwasserausdünstungen bewahrten. Natürlich blieben auch die Holzköpfe wach. Glotzend standen sie da und begriffen nichts. So gingen alle sieben Könige in die Falle, die sie sich gegenseitig gestellt hatten. Die Zuschauer in den Rängen des Amphitheaters hatten es bequem, denn sie konnten sich aneinander lehnen und den Kopf auf die Schulter oder die Brust des Nachbarn legen. Die Diener, Soldaten und Spione jedoch, die ganz hinten standen, fielen einfach um. Elli und ihre vier Freunde verließen eiligst die Heilige Höhle. Obwohl sie Brillanten in den Fäusten hielten, fühlten sie eine Müdigkeit wie vor dem Einschlafen. Im Freien verflog sie aber bald. In der Höhle blieben nur die Holzköpfe, denen das Schlafwasser nichts anhaben konnte. Ihre Anführer, Arum und Befar, sorgten dafür, daß die Eingeschlafenen in den Regenbogenpalast geschafft wurden. Der Scheuch und Lestar hatten Order gegeben, daß die Schlafenden nicht alle auf einmal weggetragen werden, sondern schubweise in einem Zeitabstand von 24 Stunden. Sie würden dann auch schubweise innerhalb von 14 Tagen aufwachen, so daß die Erzieher sich nicht mit allen gleichzeitig abzugeben brauchten, denn das wäre ja eine zu große Belastung! So vollzog sich im Land der unterirdischen Erzgräber die größte Umwälzung, die es dort jemals gegeben hatte.

DIE UMERZIEHUNG

Im Land der Käuer standen unweit vom Höhleneingang auf einer schönen Wiese mehrere Zelte vor einem silberklaren Bach. In ihnen wohnten nun, nach ihrer Rückkehr aus dem unterirdischen Land, Elli mit ihren Freunden. In den Zelten verbrachten sie aber nur die Nacht, am Tag lagen sie auf der Wiese im Schatten der Obstbäume.

„In der Gießerei ist es warm und trocken, man fühlt sich wohl dort", schwatzte der Scheuch, die Sonnenwärme genießend, „aber zu Hause ist es doch besser. Die Farm, von der ich komme, ist ja nicht weit von hier. Es ist gar nicht so lange her, daß ich sie verließ, aber mir scheint, als wären schon Jahrhunderte vergangen."

„Hier ist es beinahe so angenehm wie in meinem heimatlichen Wald", sagte der Löwe, dessen Husten in der oberen Welt sofort vergangen war, „und doch fehlt mir etwas."

„Ich weiß, was dir fehlt", lachte Elli, die mit seinen rauhen Schnurrbartborsten spielte und ihm ins Gesicht pustete, so daß er blinzeln und niesen mußte. „Dir fehlen die königlichen Ehrungen, du ehrsüchtiger Gesell!"

Fred Cunning half den Zwinkerern, den Eisernen Holzfäller zu reparieren. Während des langen Aufenthalts im Faß hatte sich der eiserne Mann mit Öl vollgesogen, das dick geworden war und nun die Beweglichkeit seiner Gelenke behinderte. Lestar und seine Gehilfen nahmen ihren Herrscher auseinander, putzten sorgfältig alle seine Teile und legten sie in die Sonne zum Trocknen. Fred paßte auf, daß keine diebische Elster ein wichtiges Schräubchen klaute. Toto lief am Ufer hin und her und bellte die Fischchen an, die sich im Wasser tummelten. Es fehlten nur Kaggi-Karr, Faramant und Din Gior. Die Krähe war in die Smaragdenstadt geflogen, um den Einwohnern anzukündigen, daß ihr geliebter Herrscher nach seinen neuen Heldentaten in der unterirdischen Welt bald zurückkehren werde. Ihr waren der Langbärtige Soldat und der Hüter des Tores gefolgt, die einen festlichen Empfang für den Scheuch vorbereiten wollten. Alle fühlten sich wohl. Nachdem die sieben Könige und ihre Lakaien eingeschlafen waren, hatten die Gäste aus der oberen Welt mit Elli die Höhle verlassen. Dabei brauchten sie sich nicht einmal auf die Schutzurkunde zu berufen, denn niemand fragte sie danach. Es kam wie von selbst, daß die unterirdischen Menschen den Hüter der Zeit als ihren Herrscher anerkannten. Arrigo wurde Rusheros erster Gehilfe. Die beiden versammelten das Volk und erklärten ihm, welches Schicksal der Könige, ihrer Hofleute und Diener harre. Die Menschen jubelten, als sie erfuhren, daß diese famose Idee vom Scheuch stamme. Alle versprachen, den Königen und ihrem Gefolge beim Aufwachen nichts von deren Vergangenheit zu erzählen, denn das konnte ja ihrer Umerziehung schaden. Das Versprechen wurde gehalten. Es war ja auch niemand da, der es hätte brechen können, denn der einzige Verräter im Lande, Ruf Bilan, war vom Volk zur Einschläferung verurteilt und für 10 Jahre in die Heilige Höhle geschafft worden. Damit niemand zufällig vom Schlafwasser trinke, wurde die Höhle vermauert. Der erste Teil der Schlafenden mit König Mentacho erwachte eine Woche nach der großen Einschläferung. Rushero ließ, wie versprochen, Elli davon benachrichtigen, die sich mit ihrem Cousin sofort in die Stadt der Sieben Könige aufmachte, denn sie wollte sehen, wie die Umerziehung vor sich gehen werde. Als sie die Höhle betraten (das Handelstor war auf Rusheros Befehl beseitigt worden), fuhren sie entsetzt zurück. Auf dem Weg lag ein gewaltiger Drache, der sie aus seinen gelben Augen anstarrte und mit dem sägeartigen Schwanz die Erde schlug.

„Was sucht dieses Ungeheuer hier?" schrie Elli und wollte schon davonlaufen.

„Das ist ja Oicho", sagte der Mann, der ihnen die Botschaft Rusheros überbracht hatte, „der klügste und folgsamste unserer Drachen. Oicho, mach eine Verbeugung vor den Gästen!"

Der Drache nickte dreimal mit seinem häßlichen Kopf, worüber Elli und Fred unwillkürlich lachen mußten.

„Ihr dürft ihn streicheln", fuhr der Mann fort, „das gefällt ihm." Elli berührte den runzligen Hals der Echse, die vor Vergnügen mit dem Schwanz zu klopfen begann.

„Jetzt setzt euch da hinein", sagte Rusheros Bote und wies auf die Sänfte, die der Drache auf seinem Rücken trug. „Wozu? Wir gehen lieber zu Fuß", sagte Elli. Der Bote duldete aber keine Widerrede. „Das geschieht auf Befehl unseres Herrschers Rushero, außerdem ist es auch für euch besser so."

Obwohl die Kinder die letzten Worte nicht verstanden, taten sie, wie ihnen geheißen. Der Mann nahm vorne Platz, ergriff die Zügel, und der Drache flog. Elli und Fred setzte fast das Herz aus, sie klammerten sich krampfhaft aneinander, denn die Erde raste unter ihnen blitzschnell hinweg. Aber nach ein paar Minuten gefiel ihnen der schnelle Flug, und als sie am Ziel anlangten, tat es ihnen leid, daß die Reise schon zu Ende war und sie aussteigen mußten. Die Umerziehung machte den Zuschauern viel Spaß, aber auf Befehl Rusheros durfte niemand lachen. Mentacho, der erste der aufgewachten Könige, war auch der Hochmütigste unter ihnen. Er war furchtbar stolz auf seine Abstammung vom legendären Bofaro und verachtete das einfache Volk. Ihm flüsterte nun Rushero ein, daß er Weber sei. Ein Werkmeister unterwies den ehemaligen König in den Grundlagen des Gewerbes, und bald setzte er sich an den Webstuhl und begann das Schiffchen hin und her zu bewegen. Dabei summte er leise:,Wie hab ich mich nach meiner Arbeit gesehnt!"

Elli und Fred platzten beinahe vor Lachen, doch Rushero warf ihnen einen wütenden Blick zu, worauf sie schnell aus dem Zimmer gingen. Der Plan der Umerziehung gelang. Die Könige, ihre Minister und Räte wurden nun Erzgräber, Gießer, Schlosser, Schneider und Köche; die Lakaien, Soldaten und Spione wurden Bauern, Gärtner, Tierfänger und Fischer…

Das Gespenst des Hungers war für immer aus dem unterirdischen Land verbannt.

DER VOLKSRAT

Aber das unterirdische Land sollte bald aufhören zu bestehen. Der Herrscher Rushero und der neugebildete Altestenrat (dem jetzt auch zwei ehemalige Könige angehörten) verkündeten nämlich:

„Wer die Höhle verlassen und in die obere Welt ziehen will, darf dies unangefochten tun. Der Ältestenrat hat schon eine Übereinkunft mit den Käuern erzielt. Ihr Blaues Land ist groß genug, unsere Menschen werden dort Land bekommen, das sie bestellen können."

Zur Entscheidung dieser außerordentlich wichtigen Frage wurde eine große Volksversammlung einberufen. Als erster nahm Arrigo das Wort.

„Unsere Vorfahren sind vor tausend Jahren aus der oberen Welt vertrieben worden wegen eines Verbrechens, das Prinz Bofaro begangen hat", sagte er. „Ob das Urteil gerecht war oder nicht — darüber zu streiten hat heute keinen Sinn. Jedenfalls blieben die Menschen in der Höhle. Aber wie leben wir da? Schaut, wie blaß eure Gesichter, wie dünn eure Arme und Beine sind! Und wie kränklich sehen unsere Kinder aus, wie viele sterben schon im ersten Lebensjahr!"

„Richtig! Er sagt die Wahrheit!" riefen viele Stimmen. „Natürlich kann man in der Höhle leben, das haben wir ja bewiesen", fuhr Arrigo fort. „Aber wer will es abstreiten, daß das Klima hier sehr schädlich ist? Die Doktoren Bord und Robil werden es bestätigen, daß das Leben bei uns viel kürzer ist als oben."

„Ja, ja!" riefen Bord und Robil.

„Selbst Zauberwesen wie der Scheuch und der Eiserne Holzfäller sind bei uns beinahe gestorben, und der König der Tiere hat die Apotheke leergefressen. Der Apotheker selber hätte beinahe daran glauben müssen, weil ihm ein so starker Arzneigeruch anhaftete. Die Menge lachte.

„Ihr werdet zugeben, Freunde", schloß Arrigo, „daß wir jetzt, da uns niemand zwingt, in der Höhle zu leben, der tausendjährigen Verbannung ein Ende machen und in die obere Welt umsiedeln müssen." „Eine Frage!" rief der Doktor Robil, der, groß und mager, die Tribüne bestieg. „Der verehrte Arrigo hat sehr gut gesprochen, jetzt soll er mir aber sagen, wie wir mit unseren schwachen Augen in der oberen Welt leben werden!"

„Mit Verlaub!" rief der dicke Doktor Boril, der wie ein Ball aus der Menge hervorrollte. „Durch diese Frage hat der verehrte Doktor Robil seine völlige Unwissenheit in medizinischen Dingen verraten." Robil schnaubte vor Wut, als er dies hörte. Die Rivalität, die vor Jahrhunderten zwischen den Ahnen der beiden Ärzte bestanden hatte, hatte sich auf ihre Nachfahren vererbt. „Meine Unwissenheit, sagt Ihr? Wollt Ihr es mir auch beweisen?" schrie Robil.

„Jawohl, das will ich!" erwiderte Boril. „Die Augen unserer Vorfahren haben sich an das Halbdunkel der Höhle gewöhnt, und auch unsere Augen

werden sich an das Licht der oberen Welt gewöhnen. Das kann ich beweisen. Bürger Wenjeno, tretet bitte vor!"

Ein Mann in mittleren Jahren in bäuerlicher Kleidung trat vor.

„Seht, dieser Bürger lebt seit zwei Wochen oben", fuhr Doktor Boril fort.

„Am Tag hält er sich in einem verdunkelten Zelt auf, nachts verläßt er es und bleibt bis zum Morgengrauen draußen. Darin besteht der Versuch, den ich mir ausgedacht habe. So, und jetzt erzählt, Freund Wenjeno, wie es Euch geht!"

„Ich gewöhne mich allmählich an das Licht", erwiderte schüchtern Wenjeno. „Gestern blieb ich fast bis zum Sonnenaufgang draußen, es hat mir nicht geschadet."

Donnernder Beifall war die Belohnung für den tapferen Bauern.

Auf der Versammlung wurde noch eine andere wichtige Frage aufgeworfen.

Die Höhle war reich an Erzen, die es in der oberen Welt nicht gab. Woher sollte man es nun nehmen?

Ein Erzgräber meldete sich zu Wort.

„Kumpel", sagte er, „sollen wir gerade jetzt zu arbeiten aufhören, wo wir's endlich zu unserem eigenen Wohl tun? Früher war das anders, da mußten wir uns für die Könige schinden. ." Ein Gezisch unterbrach den Redner, der sofort innehielt. Er hatte ja vergessen, daß auch die ehemaligen Könige zugegen waren. „Ich wollte nur vorschlagen", verbesserte er sich, „daß wir bereit sind, der Reihe nach zu arbeiten. Wenn wir zwei Monate im Jahr in der Grube arbeiten, wird es uns gewiß nichts schaden, dafür wird unsere Erholung oben um so angenehmer sein!"

„Sehr richtig! Auch wir werden der Reihe nach arbeiten!" riefen die Gießer. So entschied das Volk selbst alle wichtigen Fragen, und die Höhle begann sich allmählich zu leeren. Die Arbeiter und Bauern des unterirdischen Reiches fühlten sich von der schönen Sonne, dem blauen Himmel und der klaren Luft angezogen — dankbar dachten sie an die Ereignisse, die ihnen die Befreiung aus dem düsteren unterirdischen Reich gebracht hatten.

DIE RÜCKKEHR

Elli und Fred warteten natürlich nicht, bis die Umerziehung aller Eingeschläferten und die allgemeine Umsiedlung zu Ende gingen. Es war höchste Zeit, nach Hause zurückzukehren, zu den Angehörigen, die über ihren vermeintlichen Tod trauerten. Vor der Abreise wollte Elli noch die Königin der Feldmäuse, die gute Ramina, sehen, nach der sie große Sehnsucht verspürte. Sie bat ihren Cousin, das Hündchen an einen Baum zu binden und blies in die Silberpfeife. Im gleichen Augenblick raschelte es im Gras, und vor Elli stand Ramina mit einer goldenen Krone auf dem Kopf. Hofdamen begleiteten sie. Toto begann zu bellen und zerrte an der Leine, während Fred mit weit aufgerissenen Augen dastand. Er wußte, daß dies eines der letzten Wunder der seltsamen Welt war, in die ihn das Schicksal verschlagen hatte. Die Mäusekönigin piepste: „Ihr habt mich gerufen, meine liebe Fee?" ja, Majestät! Ich sehnte mich nach Euch und wollte Euch noch einmal sehen, bevor ich das Wunderland verlasse." „Ich danke Euch für die Güte", sagte die Königin, „es ist ja auch unsere letzte Begegnung!" „Ich werde also nie mehr in dieses Land zurückkehren?" „Es ist uns Feldmäusen gegeben, die Zukunft vorauszuahnen. Diese Vorahnung sagt mir, daß Euch ein langes und schönes Leben in der Heimat erwarte. Eure hiesigen Freunde aber werdet Ihr nie wiedersehen." Elli brach in Tränen aus: „Ich werde mich so sehr nach ihnen sehnen… " „Das menschliche Gedächtnis ist barmherzig", sagte Ramina. „Zuerst werdet Ihr Euch grämen und bittere Tränen weinen, aber dann wird das Vergessen Euch zu Hilfe kommen. Ein Schleier wird sich über die Vergangenheit breiten, und Ihr werdet Euch an sie wie an einen dunklen Traum, wie an ein liebes altes Märchen erinnern." Das Mädchen fragte:

„Soll ich dem Scheuch, dem Holzfäller und dem Löwen sagen, daß ich sie für immer verlasse?"

„Nein", erwiderte die Mäusekönigin. „Sie sind so gut und weichherzig, daß Ihr besser tut, sie nicht zu betrüben. Laßt ihnen die Hoffnung, sie ist eine große Trösterin."

Die kluge Maus hätte Elli vielleicht noch viele gute Worte gesagt, aber in diesem Augenblick riß sich Toto los, und Ramina verschwand mit ihrem Gefolge, als hätte sie die Erde verschlungen. Fred stand wie vom Donner gerührt.

„Weißt du, Elli", sagte er nach einer Weile, „von allen seltsamen Wundern dieser seltsamen Welt ist das, was ich eben gesehen hab, das allerseltsamste.

Du mußt mir verzeihen", fügte er verlegen hinzu, „daß ich dich ein bißchen gehänselt habe."

Elli hatte keine Lust, wieder in die Smaragdenstadt zu gehen, denn, sagte sie, die Wunder dieser Stadt habe sie doch mehr als einmal gesehen, und Fred sei ja auch schon dort gewesen.

„Vom Blauen Land, in dem wir uns jetzt befinden, ist der Weg in das Tal des herrlichen Weins kürzer", erklärte sie ihrem Cousin. „Die Käuer werden uns begleiten und uns helfen, ein Wüstenschiff zu bauen." „Oh, ich bin schon auf Jachten gefahren und weiß, wie man mit einem Segel umgeht", stimmte ihr Fred zu. Als Rushero von diesem Plan hörte, runzelte er die Stirn. „Was ihr euch vorgenommen habt, ist nicht nur überflüssig, sondern auch gefährlich", sagte er. „Die Große Wüste lässt selten jemanden hinaus, der sich hineingewagt hat. Der Seemann Charlie, der sie zweimal durchqueren konnte, hat eben Glück gehabt, aber das kommt nicht alle Tage vor. Es wäre heller Wahnsinn, sich auf Freds Geschicklichkeit zu verlassen, er ist doch noch ein Junge! Wir, eure Freunde, können es nicht gestatten, daß Ihr ins Verderben geht."

„Aber wie sollen wir nach Hause kommen?" fragte Elli. „Ich kenne ein Mittel", erwiderte Rushero, verschmitzt lächelnd. „Sagt, wann ihr aufbrechen wollt, alles andere laßt nur meine Sorge sein." Der Scheuch, der Holzfäller und der Löwe wollten, daß Elli noch lange bei ihnen lebe, aber sie sagte, sie könne höchstens noch eine Woche bleiben. Die Nachricht von der baldigen Abreise Ellis wurde durch eine Vogelstafette der Smaragdenstadt überbracht. Von dort traf als erste Kaggi-Karr ein, der bald der langbärtige Soldat Din Gior, der Hüter des Tores Faramant und der Mechaniker Lestar folgten. Viele Einwohner der Smaragdenstadt scheuten nicht den langen Weg auf der gelben Backsteinstraße, die jetzt allerdings nicht mehr gefährlich war, um die liebe kleine Fee, die ihnen so viel Gutes getan hatte, noch einmal zu sehen. Zum Abschied versammelte sich die ganze Bevölkerung des Blauen Landes mit ihrem Herrscher Prem Kokus an der Spitze, und natürlich kamen auch die ehemaligen Einwohner der Höhle, die mittlerweile in die obere Welt übergesiedelt waren. Viele trugen schwarze Binden vor den Augen, um sie gegen das Sonnenlicht zu schützen.

Niemand wusste, wie Elli das Wunderland verlassen werde, aber alle glaubten an ihre Macht. „Wenn Elli sich etwas vorgenommen hat, so wird sie es auch schaffen", sagten die Leute.

Um die Wiese, auf der Elli in einem Zelt wohnte, war ein geräuschvolles Lager entstanden. Die sanften kleinen Käuer weinten vor Kummer darüber, daß die Fee des Tötenden Häuschens sie verlasse, und jauchzten vor Freude, daß sie den zahllosen Gefahren in der unterirdischen Welt entronnen war. Diese Menschlein fielen unwahrscheinlich schnell aus einer Stimmung in die andere. Aber, ob sie nun lachten oder weinten, die Schellen an ihren Hüten läuteten immer gleich lieblich. Fred Cunning war tief gerührt über die Ehre, die man seiner Cousine erwies, diesem einfachen Mädchen aus Kansas, das mit seinem guten Herzen so viel für die Einwohner des Wunderlandes getan hatte. Selbst er, Fred, ein gewöhnlicher Junge aus den Staaten, wurde so geehrt, als hätte er etwas besonders Schönes und Edles vollbracht.

„Weißt du, Elli", sagte er, „ich hab in den Zeitungen gelesen, wie man gekrönte Häupter, Sultane, Schahs und Kaiser, zu verabschieden pflegt. Aber mein Ehrenwort, solch aufrichtige Begeisterung ist dort unbekannt." Dann kam der Tag des Abschieds. Unter Tränen küßte Elli das liebe bemalte Gesicht des Scheuchs, umarmte den Eisernen Holzfäller, streichelte lange die rauhe Mähne des Löwen, drückte die gerührte Kaggi-Karr an ihr Herz und schüttelte Din Gior, Faramant, Lestar und Prem Kokus die Hände. „Wir werden uns wiedersehen, meine teuren, lieben, ungewöhnlichen Freunde!" sagte sie mit bebender Stimme.

Da trat durch die Menge, die ehrerbietig den Weg freigab, Rushero auf die Wiese. Obwohl Elli vom Abschied ganz er griffen war, sah sie den Alten erstaunt an. Wo ist das Mittel', fragte sie sich, mit dem er mich in die Heimat zu befördern versprach?'

Rushero hob die Augen zum Himmel, wo sich ein schwarzer Punkt zeigte, der immer näher kam. Bald konnte man einen riesigen Drachen mit einem Menschen auf dem Rücken erkennen. Er landete auf der Wiese. Der Drache hielt seine tellergroßen Augen freundlich auf Elli gerichtet. Die Käuer aber, die noch nie ein solches Ungeheuer gesehen hatten, wichen entsetzt zurück.

„Oicho!" riefen Elli und Fred wie aus einem Munde. Der Drache wedelte mit dem Schwanz.

„Oicho wird euch mit Leichtigkeit über die Weltumspannenden Berge und die Große Wüste tragen", sagte Rushero. „Er ist sehr zäh, man hat ihn an das Tageslicht gewöhnt. Bis zu den Bergen wird euch Rachis, der Drachenführer, begleiten, weiter werdet ihr allein reisen."

Erst jetzt begriffen die Kinder, warum Rushero seinerzeit darauf bestanden hatte, daß sie auf dem Drachen flogen. Der kluge Hüter der Zeit wollte, daß Fred es lerne, den Drachen zu lenken.

„Und was sollen wir mit ihm tun, wenn wir wieder zu Hause sind?" fragte Elli.

„Wenn ihr ihn in der Wirtschaft nicht brauchen könnt", erwiderte Rushero schmunzelnd, „so laßt ihn laufen, er wird den Heimweg schon finden." Elli küßte zum letztenmal die Freunde, Fred sagte ihnen Lebewohl, und Toto ging der Reihe nach durch aller Arme. Der Scheuch und der Holzfäller tätschelten ihn liebevoll, und der Löwe drückte ihm sanft die Pfote. Dann schwang sich der Führer auf den Hals der Echse, während Elli und Fred auf einer Leiter in die Sänfte stiegen und der tausendköpfigen Menge zuwinkten.

„Lebe wohl, Elli", rief der Holzfäller unter Tränen. „Mein Herz fühlt, daß du uns für immer verläßt!"

Das liebende Herz, das in seiner Brust schlug, sagte ihm die Zukunft voraus.

Aber der Löwe und der Scheuch wollten dies nicht wahrhaben.

„Nein", sagte der Scheuch, „unsere Elli wird wiederkommen!"

Der Löwe nickte zustimmend mit seinem großen zottigen Kopf.

Der Drache erhob sich brausend in die Lüfte, und bald war er in der blauen Ferne verschwunden.


Ende


Загрузка...