Zweiter Teil. EINE LANGE IRRFAHRT

DER BRIEF

Nach dem Sieg über den bösen und tückischen Urfin Juice hatte Elli von ihren treuen Gefährten — dem Scheuch, dem Eisernen Holzfäller und dem Löwen — Abschied genommen und mit Onkel Charlie das Wüstenschiff bestiegen, das startklar am schwarzen Stein Gingemas stand. Die Rückreise durch die Große Wüste verlief ohne Zwischenfälle, denn die schwarzen Steine hielten ja nur den auf, der in das Wunderland zog, nicht aber, wer wieder zurückkehrte. Frau Anna umarmte ihr Kind und sagte: „Mein Töchterchen, jetzt wirst du uns doch nicht mehr verlassen? Wir haben so um dich gebangt. ."

John Smith, der Vater, brummte, an seiner Pfeife ziehend: „Ich glaube, du hast jetzt der wunderlichen Abenteuer genug! Zwei Meilen von hier ist eine Schule eröffnet worden die wirst du besuchen. Freundschaften mit Feen und anderen Zauberwesen mögen wohl angenehm sein, aber Bildung können sie nicht ersetzen."

Am festlich gedeckten Tisch zeigte der einbeinige Charlie seinen Verwandten stolz einen großen Smaragd, den der Weise Scheuch ihm geschenkt hatte.

„Was meinst du, John, wieviel ist das Ding wert?" fragte er seinen Schwager. Dieser schaute sich den Stein von allen Seiten an, wog ihn in der Hand und sagte:

„Ich glaube, der Juwelier wird dafür ein hübsches Sümmchen zahlen." „Oh, endlich wird mein Traum in Erfüllung gehen", strahlte der Seemann. „Ich kaufe mir einen Schoner und fahre zu meinen alten Freunden nach Kuru-Kusu. Bei allen Wettern — das sind Prachtkerle, sage ich euch! Leider werde ich mich von Elli trennen müssen. Schade, daß Mädchen nicht auf Schiffen arbeiten, sonst würde ich sie mitnehmen. ." Ellis Augen glänzten, aber Frau Anna unterbrach ihren Bruder unwirsch: „Du hast dir schon wieder was ausgedacht!"

„Laß es gut sein, Schwester, reg dich nicht auf! In einer Woche seid ihr mich los!"

Es vergingen aber viele Wochen, bis Charlie Black die Smiths verließ. Die Nichte, die ihn auf der gefährlichen Reise in das Wunderland so liebgewonnen hatte, ließ ihn einfach nicht fort. Aber dann kam doch der Tag des Abschieds, und die verweinte Elli geleitete ihren Onkel zur nächsten Postkutschenstation. Mehrere Monate ging Elli in die Schule, wo sie in Arithmetik und Grammatik unterrichtet wurde. Als die Ferien begannen, brachte der Postbote einen Brief auf die Farm. Die Smiths bekamen selten Briefe, und darum war jeder für sie ein Ereignis. John drehte den Brief lange in den Händen, bevor er den Umschlag aufbrach. Als er die Unterschrift erblickte, rief er freudig:

„Sieh da, von Bill Cunning, meinem Vetter! Der hat aber lange nichts von sich hören lassen!"

„Lies doch, was schreibt er denn?" fragte neugierig Frau Anna. Bill schrieb, daß er mit seiner Familie lange im Lande umhergeirrt sei. Er hatte als Erzgräber gearbeitet und in Kalifornien Obst gepflückt, dann war er Straßenbauarbeiter gewesen, und jetzt hat er sich als Hirte auf einer Farm im Staate Iowa verdungen. Elli achtete nicht auf diese Einzelheiten, aber das Ende des Briefes ließ sie aufhorchen.

„Schick Deine kleine Elli in den Ferien zu uns", schrieb Bill Cunning. „Ich glaube, sie hat meinen Jungen, den langen Fred, nicht vergessen. Erinnert sie sich noch, wie sie mit ihm gespielt hat? Unsere Umgebung ist sehr schön, die Kinder werden die Zeit angenehm verbringen. ." Natürlich konnte sich Elli an Fred erinnern. Sie hatte ihn vor fünf Jahren kennengelernt, als die Cunnings, die gerade wieder einmal umzogen, fast drei Wochen Gäste der Smiths waren. Der blauäugige Junge, der zwei Jahre älter war als sie, dachte sich allerlei Spiele aus — Jäger, Räuber, Indianer — , bei denen Elli bald die Nase zerschrammt, bald das Kleid zerrissen wurde, aber sie hatte niemals geweint und auch nicht gepetzt. „Laßt mich doch zu den Cunnings fahren!" bat das Mädchen die Eltern. „Fred ist ein so guter und lustiger Junge!. ."

„Ach, Töchterchen, warum hält es dich nur nicht zu Hause?" fragte John. Die Eltern brummten, aber schließlich ließen sie Elli doch nach Iowa fahren. Ihre Reisevorbereitungen dauerten nicht lange. In den Rucksack — es war derselbe, mit dem sie in das Wunderland gezogen war — legte sie zwei, drei Kleider, Wäsche, ein Handtuch, ein Stück Seife und ein paar Bilderbücher…

Die Mutter gab ihr Brot, ein gekochtes Huhn, Pasteten, eine Flasche mit gesüßtem Tee und selbstverständlich auch Knochen für Toto mit auf den

Weg, der natürlich nicht zu Hause bleiben konnte, wenn seine Herrin eine weite Reise unternahm…

John Smith brachte Elli zur Postkutschenstation, übergab sie der Obhut des Kutschers und nahm von beiden Abschied. In einem Monat sollte das Mädchen wieder zurück sein.

BEI DEN VERWANDTEN

Der Kutscher war so freundlich, einen Umweg von drei Meilen zu machen, um Elli auf die Farm zu bringen. Aus einem Häuschen mit Strohdach und zwei kleinen Fensterchen kam ein Junge in kurzen Hosen und kariertem Hemd dem Wagen entgegengelaufen. Es war Fred Cunning. Er eilte auf die Kutsche zu und half Elli, die von der dreitägigen Reise ganz benommen war, beim Aussteigen.

„Meine liebe Cousine!" rief Fred freudig. „Wie groß du bist! Ich dachte schon, du würdest nicht von Zuhause wegwollen!" Der Junge nahm Ellis Gepäck und ging zum Häuschen. Das Mädchen bedankte sich schön beim Kutscher und folgte dem Cousin, während Toto munter umhersprang. Fred sagte:

„Elli, fein, daß du gekommen bist! Sag, du warst wohl noch nirgends, außer vielleicht auf dem Jahrmarkt?" Elli entgegnete lächelnd:

„Da irrst du aber, Fred. Ich war zweimal in einem fernen Wunderland!" „Waaas?!"

Der Junge blieb stehen und setzte das Gepäck ab. Sein Gesicht lief so rot an, daß man die großen Sommersprossen nicht mehr erkennen konnte. Mit geballten Fäusten ging er auf Elli zu.

„Weißt du, ich mag nicht, wenn man schwindelt!" schrie er. „Wenn du auch ein Mädchen bist — dafür muß ich dich verprügeln!" „Ich schwindele nicht", erwiderte Elli. „Ich habe für Onkel Bill einen Brief von Papa, da steht alles drin."

Fred warf ihr einen verwunderten Blick zu und sagte leise:

„Dann bist du wohl der glücklichste Mensch auf der Welt… Wirst du mir

auch alles erzählen?" „Gewiß. Aber dazu werde ich eine ganze Woche brauchen. Es gibt ja so viel zu erzählen. Da war ein Menschenfresser zum Beispiel, der mich fast aufgegessen hätte, wären mir der Scheuch und der Eiserne Holzfäller nicht zu Hilfe gekommen. Und erst die Säbelzahntiger! Und die Verwandlungen Goodwins, des Großen und Schrecklichen! Und die fliegenden Affen!… " Fred war verblüfft. Sieh da, er hatte sich für einen großen Reisenden gehalten, und plötzlich kommt so ein kleines Mädchen und weiß solche Abenteuer zu erzählen. Bill Cunning war bei der Herde, aber Tante Cat, eine kleine, hagere Frau, hieß Elli sehr herzlich willkommen. Sie goß warmes Wasser in einen großen Trog, damit Elli sich nach der Reise waschen konnte. Fred stand hinter der Tür und konnte es gar nicht abwarten, die Geschichte von den seltsamen Abenteuern seiner Cousine zu hören. Der Sonnenschein malte auf das Gras unter der Eiche Tausende Kringel. Elli erzählte Fred von ihren Reisen im Wunderland. In den Zweigen hüpften Vögel, die sich mit einem Eichhörnchen zankten. Toto machte Jagd auf Schmetterlinge. Fred war begeistert. Hin und wieder stieß er einen Ruf des Staunens und Entzückens aus, denn etwas Schöneres hatte er sein Lebtag nicht gehört.

„Und das alles mußtest ausgerechnet du erleben!" rief er aus. „Eine ganz einfache Göre, verzeih, Mädchen wollte ich sagen. Oh, warum habe ich nicht das Glück gehabt, so etwas zu erleben!" „Das ist doch klar", sagte Elli. „Bei euch in Iowa gibt es keine solchen Stürme wie bei uns in Kansas. Und was hätte es auch genutzt, wenn der Sturm bis zu euch gekommen wäre? Er hätte euer Häuschen doch nicht ins Wunderland tragen können!"

„Ja, da hast du recht", seufzte der Junge. „Aber erzähl weiter, Elli! Du warst gerade dabei, wie die Zauberwölfe Bastindas euch überfielen… " „Ihnen hat's der Eiserne Holzfäller aber gegeben", sagte das Mädchen. „Es waren vierzig Wölfe, und genau vierzigmal hat der Holzfäller seine mächtige Axt geschwungen. Ja, das war eine Axt, kann ich dir sagen!" Elli erzählte, und Fred verging fast vor Neid. Er hätte sein halbes Leben hingegeben, um auch nur einen kleinen Teil von den Abenteuern Ellis zu erleben. Mehrere Tage erzählte Elli, und als sie fertig war, zeigte ihr Fred die Umgebung. Die Farm lag in einer sehr schönen Gegend. Nichts erinnerte hier an die glühende, trockene Steppe von Kansas. Das war eine herrliche

Landschaft mit bewaldeten Hügeln, heiteren Tälern und tiefen Schluchten, in denen kalte Bäche rauschten…

Elli und Fred fingen Fische in einem winzigen See, den buschige Weiden überschatteten, sie wanderten über Hänge und Hügel auf Pfaden, die von Schafen ausgetreten worden waren, und erforschten die Wege namenloser Wasserläufe — es waren Tage, einer schöner als der andere.

DER AUSFLUG IN DIE HÖHLE

Fred redete Elli zu, reiten zu lernen.

„Hör, Cousine", sagte er zu ihr und krauste dabei seine von der Sonne ausgeblichenen Augenbrauen, „es wär ja eine Schande, wenn du bei uns nicht das Reiten erlerntest! Ein Mädchen, das so weit in der Welt herumgekommen ist… "

Elli ließ sich leicht überreden. Bill Cunning wählte f ür seine Nichte ein zahmes Pferdchen aus, während Fred, der sich hervorragend im Sattel hielt und seinen Vater schon oft bei der Arbeit vertreten hatte, einen feurigen Rappen ritt. Die ersten Tage waren sehr anstrengend. Am Abend fiel Elli das Sitzen schwer, der Rücken und alle Glieder schmerzten, und nachts schlief sie schlecht. Aber Geduld bricht Eisen, sagt man. Das Reiten wurde für Elli aus einer Qual zu einem Vergnügen, und sie machte jetzt mit ihrem Cousin ausgedehnte Spazierritte, bei denen sie sich manchmal ein Dutzend Meilen vom Hause entfernten. Einmal fragte Fred seine Cousine: „Hast du schon von der Mammuthöhle gehört?" „Gewiß", erwiderte Elli. „Die Lehrerin hat uns von ihr erzählt." „Das ist die größte Höhle der Welt."

„Du würdest das nicht sagen, hättest du das Land der unterirdischen Erzgräber gesehen", lachte Elli. „Ja, das ist eine Höhle!" Fred verzog das Gesicht — das tat er immer, wenn Elli auf ihre Erlebnisse anspielte. Freilich konnte auch er von vielen Abenteuern erzählen. Einmal hatte er sich in einem Schneegestöber in den Kordilleren verirrt und wäre fast erfroren. Ein andermal jagten ihm Wölfe nach, denen er nur dank den schnellen Beinen seines Pferdes entrann. Ein andermal wieder stürzte er von einem Baum und brach sich ein Bein. Solcher Erlebnisse konnten sich andere Jungen nicht rühmen, aber was war das schon im Vergleich zu den

Abenteuern Ellis! Fred suchte nach etwas, womit er auf seine Cousine Eindruck machen konnte. Deshalb hatte er das Gespräch von der Höhle begonnen. In einer tiefen Schlucht, etwa 20 Meilen von der Farm entfernt, befand sich nämlich eine Höhle, die noch keine Touristen besucht hatten, in der noch niemand Tropfsteinstücke zum Andenken mitgenommen oder seinen Namen mit Kerzenruß an die Wand gemalt hatte. „Laß uns die Höhle aufsuchen, Elli", sagte Fred. „Das ist ein weiter Weg, aber jetzt, wo du so gut reiten kannst, wird es dir nichts ausmachen." Elli war einverstanden.

„Wir werden die Eltern um Erlaubnis bitten, einen ganzen Tag wegbleiben zu dürfen", fuhr der Junge fort, „und alles mitnehmen, was für eine Höhlenwanderung nötig ist."

Am nächsten Tag brachen die Kinder früh auf. Elli hatte von Tante Cat eine volle Tasche mit Mundvorrat mitbekommen, der wohl für drei Tage reichen würde. Toto saß vor ihr auf dem Pferd. Fred hatte einen großen Koffer an seinen Sattel geschnallt. „Was ist da drin?" fragte das Mädchen.

„Das ist ein Kofferboot", sagte Fred stolz. „Vater hat es gebaut. In der Höhle, sagt man, soll es einen unterirdischen See geben. Weißt du, wie interessant es ist, bei Fackellicht Boot zu fahren?"

Die Kinder beeilten sich nicht. Als sie die Höhle erreichten, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Es war ein schöner, warmer Tag, aber aus der Höhle wehte es kühl. Elli fröstelte. Sie warf ihr warmes Wolltuch um die Schultern.

„Weißt du, Fred", sagte sie, „ich erinnerte mich gerade, wie ich mit Onkel Charlie, dem Löwen, Toto und der Krähe Kaggi Karr vor dem Höhleneingang stand, von dem uns die Königin der Feldmäuse erzählt hatte… "

„Hör mal", sagte der Junge gereizt, „das ist eine Gemeinheit…" „Was denn?" fragte Elli mit unschuldiger Miene. „Immer wieder sagst du: Als ich und der Scheuch… Als der Menschenfresser… Als die Mäusekönigin. .' Ist es vielleicht meine Schuld, daß ich nicht dabei war?"

Fred hätte vor Verdruß am liebsten losgeweint. „Verzeih, Fred, ich will es nie mehr tun", versprach Elli. Fred schnitt harzige Tannenzweige ab und schnürte sie zu einem großen Bündel zusammen. Sie sollten in der Höhle als Fackeln dienen. Streichhölzer befanden sich in einer Blechbüchse in der Brusttasche seines Cowboyhemdes. Dann holte er eine Rolle Bindfaden hervor und band das Ende an einen Stein.

„Ich hab an alles gedacht', sagte Fred. „In solchen Höhlen kann man sich leicht verirren."

„Nicht mit unserem Hund", entgegnete Elli. „Toto wird uns nach der Spur jederzeit wieder hinausführen. Nicht wahr, Totochen?" Das Hündchen bellte zustimmend. Sie betraten die Höhle. Fred trug das Kofferboot und die Fackeln. Elli hielt in einer Hand die Provianttasche, in der anderen die Rolle Bindfaden. Toto schnupperte und knurrte — die Höhle schien ihm nicht zu gefallen.

DER EINSTURZ

Am Abend kehrten die Kinder nicht zurück. Unruhe befiel die Cunnings. Frau Cat äußerte schreckliche Befürchtungen, die Bill ihr auszureden suchte.

„Vom Weg sind sie nicht abgekommen, denn die Pferde kennen ihn ja", sagte er. „Von wilden Tieren hat man in unserer Gegend schon lange nichts gehört. Wahrscheinlich hat die Nacht die Kinder überrascht, und jetzt schlafen sie irgendwo in den Hügeln. Mundvorrat haben sie ja genug und Streichhölzer auch."

„Und wenn sie sich in der Höhle verirrt haben?" sagte Frau Cat. „Es soll dort viele verworrene Gänge geben."

„Ich habe dem Jungen eine große Rolle Bindfaden mitgegeben", sagte Bill, „und ihm eingeschärft, daß er nur so weit gehen soll, wie der Faden reicht." Die Eltern verbrachten eine unruhige Nacht. Am Morgen wuchs ihre Unruhe noch mehr, als Freds Pferd mit abgerissenem Halfter auf der Farm ankam. Den Kindern mußte ein Unglück zugestoßen sein. Alle Leute, die gerade nicht beschäftigt waren und reiten konnten, machten sich unter Bills Führung zur Höhle auf. Die Schnellsten legten die zwanzig Meilen in zwei Stunden zurück. Ihre Pferde waren in Schweiß gebadet. Unweit der Höhle stand, an einen Baum angebunden, Ellis Pferd. Doch die Kinder waren nirgends zu sehen. Der Bindfaden, dessen Ende um einen Stein gewickelt war, führte in die Höhle. Man äußerte allerlei Vermutungen: „Sie haben sich sicher verirrt. Vielleicht sind sie durch unterirdisches Gas umgekommen. Oder ist eines der Kinder verletzt und kann nicht weiter?" Die Menschen stürzten mit brennenden Kerzen und Laternen in die Höhle, allen voran Bill. Der niedrige, schmale Gang wurde allmählich breiter und mündete in eine große Tropfsteingrotte. Vom Ende der Grotte führten drei Gänge weiter. Die Leute gingen dem Faden nach in den mittleren. Der Gang war schmal und niedrig. An manchen Stellen mußte man sich tief bücken. Plötzlich stieß Bill, der immer voranging, einen heiseren Schrei aus: „Die Decke ist eingestürzt!"

Eine undurchdringliche Mauer aus kleinen und großen Steinen, auf die der Millionen Tonnen schwere Berg drückte, versperrte den Weg. Da hinein führte der Faden. Bill brach in Tränen aus:

„Fred, mein teurer Sohn! Elli, meine liebe kleine Elli! O weh, welch schreckliches Ende!" schluchzte er.

Die Gefährten versuchten, ihn zu beruhigen.

„Laß das", sagten sie, „noch ist nicht alles verloren! Vielleicht sind sie auf der anderen Seite. ."

Bill sprang auf „Ja, ja!" rief er. „Wir müssen hindurch. Laßt uns graben! Jede Sekunde ist kostbar!"

Immer mehr freiwillige Helfer fanden sich vor der Höhle ein. Die Schlucht sah jetzt wie ein Lager aus! Feuer wurden entfacht, über denen die Frauen Essen für die Männer kochten. Auch Tante Cat, die plötzlich um viele Jahre älter aussah, war da. Männer schafften Spaten, Brecheisen und Hacken herbei; andere fällten im nahen Wald Bäume, um die Decke abzustützen. Man arbeitete fieberhaft. Der Gang war so schmal, daß jeweils immer nur drei Männer arbeiten konnten, aber man löste sich jede Viertelstunde ab. Die herausgebrochenen Steine gingen von Hand zu Hand über die lange Menschenreihe hinaus ins Freie. Andere Männer untersuchten sorgfältig den rechten und den linken Gang der Grotte. Es war ja möglich, daß einer dieser Gänge an der Einsturzstelle vorbei in denjenigen führte, wo die Kinder vielleicht auf ihre Retter warteten. Leider zeigte es sich bald, daß der eine Gang in einem Bogen zur Grotte zurückkehrte, während der andere an einer Blindwand endete. Bill bat, die Smiths durch ein Telegramm über das

Unglück zu benachrichtigen. Am dritten Tag trafen Ellis Eltern ein. Sie waren verzweifelt. John schaltete sich sogleich in die Arbeit ein, aber bei den Rettern zeigten sich schon die ersten Zweifel. Die Arbeit war sehr schwierig in den schmalen, niedrigen Stollen — in acht Tagen war man nur um 150 Fuß vorwärtsgekommen. Durch Abklopfen und Bohrungen mit langen Bohrern war man zu der Einsicht gekommen, daß die Einsturzstelle sich sehr weit, vielleicht über viele Hunderte Fuß, hinziehe. Außerdem hatte es in der Decke zu knacken begonnen, so daß ein neuer Einsturz zu befürchten war, der viele Menschen begraben konnte. John Smith und Bill Cunning waren die ersten, die vorschlugen, die Rettungsarbeiten einzustellen.

„Unsere Kinder sind wohl nicht mehr zu retten", sagte Bill traurig. „Wenn sie nicht erdrückt worden sind, sind sie vor Hunger umgekommen.." Am zwölften Tag verließen sie die Höhle.

NACH DEM EINSTURZ

Fred, Elli und Toto waren aber nicht umgekommen. Als die Decke einstürzte, hatten sie die gefährliche Stelle längst passiert. Aber die schreckliche Bodenerschütterung warf sie um, von der Decke bröckelten kleine Steine ab, dann hörten sie ein ohrenbetäubendes Dröhnen, und ein Windstoß blies ihre Fackeln aus. Toto winselte. Elli und Fred waren vor Schreck wie gelähmt. Als das Grollen verhallt war, sagte das Mädchen: „Nicht umsonst hat sich Toto so gesträubt, uns zu folgen. Toto, mein Hündchen, du warst klüger als wir!"

Toto zitterte vor Angst, und den Kindern ging es nicht besser. Fred zündete eine Fackel an.

„Wir wollen mal nachsehen. .", sagte er.

Sie gingen vorsichtig zurück und betrachteten aufmerksam die Decke und die Wände. Zum Glück war dieser Teil der Höhle sehr fest, nur da und dort waren kleine Sprünge zu sehen. Aber nach dreihundert Schritt blieben sie wie angewurzelt vor einem gewaltigen Trümmerhaufen stehen. „Da hätten wir unser Grab gefunden, ein Glück, daß wir rechtzeitig weitergingen", flüsterte Fred entsetzt. Obwohl es in der Höhle kalt war, trat ihm der Schweiß auf die Stirn.

„Was fangen wir nur an?" fragte Elli, die zusammengesunken auf dem Boden saß.

„Was, ja was?… Vielleicht finden wir einen anderen Ausgang", sagte Fred unsicher.

Dabei durchzuckte ihn der schreckliche Gedanke: Wir sind verloren!' Elli erhob sich von der feuchten Erde.

„Dann wollen wir gehen", sagte sie. „Ich bin aber sehr hungrig. Wir haben ja seit dem Morgen nichts gegessen." „Famose Idee", sagte Fred mit gespielter Lebhaftigkeit. „Vor einem schweren Weg soll man sich immer stärken."

Sie aßen und gaben auch Toto zu essen, dann tranken sie kalten Tee aus der Feldflasche.

„Die schweren Sachen lassen wir lieber hier", sagte Fred. Außer vier Fackeln, die Elli tragen sollte, nahmen sie nichts mit. Sie beschlossen, Toto beim Proviant zurückzulassen, denn in der Höhle konnte es ja Ratten geben, die den Proviant auffressen würden, was für Elli und Fred ein schreckliches Unglück wäre. Das Hündchen knurrte zwar, doch Fred band es mit einem Riemen an den Koffer an. Die Kinder machten sich auf die Suche nach einem Ausgang. Fred achtete beim Abrollen des Fadens darauf, daß er nicht riß. Dieser dünne weiße Faden, den Frau Cat selber gesponnen hatte, war vielleicht ihre einzige Rettung. „Aus der großen Grotte führten drei Gänge", sagte Fred, „wir sind den mittleren gegangen. Wenn wir einen der Seitengänge finden, sind wir gerettet.. "

Ihr Gang war aber durch keine Quergänge mit den seitlichen verbunden, solche gab es nicht, und so mußten die Kinder eben immer geradeaus gehen. Nach einiger Zeit wurde der Gang breiter und mündete in eine große runde Höhle, in der mehrere Öffnungen zu sehen waren. Welche von ihnen führte aber ins Freie? Fred ging auf eine Öffnung zu und nahm ein Stück Kreide aus der Tasche.

„Ich werde jeden Gang, in dem wir waren, mit Kreide markieren", sagte er und zeichnete ein Kreuz an die Wand.

Ihre Suche führte zu nichts. Mehrere Stunden lang irrten die Kinder durch das Labyrinth der Gänge. Die einen endeten in Sackgassen, andere waren so eng, daß man nicht hindurchkam, wieder andere führten in die Tiefe…

Ohne den Faden und die vielen Kreidezeichen an den Wänden hätten sich die Kinder längst in dem furchtbaren Labyrinth verirrt. Jedesmal, wenn sie zum Ausgangspunkt zurückkehrten, rollten sie den Faden wieder sorgfältig auf. Erschöpft gingen sie nun den Gang zurück, in dem sie ihr Gepäck gelassen hatten. Plötzlich hörten sie ein lautes Bellen. „Toto ist etwas zugestoßen!" schrie Elli.

Als die Kinder keuchend herbeistürzten, bot sich ihnen ein schrecklicher Anblick. Toto verteidigte verzweifelt den Proviant gegen ein Dutzend Ratten. Einige lagen schon tot auf dem Boden. Als sich die Kinder mit den Fackeln zeigten, stoben die Ratten auseinander.

„Wie gut, daß wir den Hund beiden Sachen gelassen haben", sagte Fred.

ja, wir wären sonst Hungers gestorben. .", sagte Elli zitternd. Sie ließ sich auf den Koffer nieder, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Du weinst?" rief Fred und drückte Elli zärtlich an sich. „Das hätte ich von einem so tapferen Mädchen nicht erwartet! Nur Mut, wir werden schon wieder herauskommen… Noch haben wir den Hauptausgang der Höhle nicht untersucht, er ist bestimmt der richtige… Komm, laß uns gehen…"

Elli konnte aber keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, so müde war sie.

„Schön, dann wollen wir eben hier übernachten", sagte Fred.

Er nahm die Hülle vom Koffer ab, klappte ihn auf, befestigte die Wände mit Schrauben, und siehe — aus dem Koffer wurde ein langes, rechteckiges Boot.

„Das geht nicht unter!" sagte Fred stolz und klopfte auf die Luftkissen am Bug- und Heckteil des Bootes. „Das wird dein Lager sein. Der Mundvorrat und der Hund kommen ins Boot. Toto wird dich wärmen und den Proviant bewachen." „Und du?"

„Ich wickle mich in die Hülle ein, sie ist dicht und warm." Die Kinder wußten nicht, wie lange sie geschlafen hatten, als Toto sie durch sein Gebell weckte. Es galt den Ratten, die sich wieder herangeschlichen hatten. Zum Frühstück verringerte Fred die Ration auf die Hälfte. Er selber trank keinen Schluck Tee, Elli aber bekam einen vollen und Toto einen halben Feldflaschendeckel eingeschenkt. Dann spaltete er jede Fackel mit seinem Messer der Länge nach in zwei gleiche Teile und band alle zu einem Bündel zusammen.

„Weißt du, Elli", sagte Fred entschuldigend, „ich bin sicher, daß man uns retten wird, wir müssen nur ausharren."

Den Tag verbrachten die Kinder an der Einsturzstelle. Sie lauschten gespannt, ob nicht Stimmen von der anderen Seite kämen, aber leider blieb alles stumm. Mehrmals riefen und klopften sie, doch niemand erwiderte. Nach mehreren Stunden sagte Fred entschieden. „Nein, Elli, wir können nicht dasitzen und auf Hilfe warten, wenn uns das Leben lieb ist. Die Steinwand ist wahrscheinlich zu dick, darum hören wir die Hacken und Brecheisen nicht, mit denen der Vater und seine Kameraden auf der anderen Seite arbeiten… Ich bin ganz sicher, daß sie dort sind…" Die Stimme des Jungen zitterte, doch er fuhr tapfer fort: „Auch wenn unsere Chance nur eins zu hundert steht, dürfen wir sie nicht versäumen… Komm, laß uns weitersuchen!"

„Gut", sagte Elli. „Aber was fangen wir mit dem Koffer an? Sollen wir ihn wieder zurücklassen?"

Fred dachte nach. „Wir werden ihn wohl mitnehmen müssen", entschied er schließlich. „Er ist zwar schwer, aber er ersetzt uns ja das Bett, ohne ihn würden wir in der Höhle nicht schlafen können. Außerdem ist es möglich, daß wir heute weit vorwärts kommen und nicht mehr hierher zurückkehren. Ich werde den Koffer und den Proviant tragen, und du wirst den Faden abrollen." „Wozu brauchen wir den Faden, wo doch Toto bei uns ist?" „Vater hat gesagt, wir sollen mit dem Faden gehen. Und so wird's gemacht!" erwiderte Fred. Wieder machten sich unsere Freunde auf den Weg. Diesmal wählten sie den breitesten Gang, denn Fred hatte eine schwache Hoffnung, daß dieser irgendwo abbiegen und zur Oberfläche führen werde, wenn auch nicht unbedingt zu der Stelle, wo sie eingestiegen waren. Aber sie legten Meile um Meile zurück, ohne daß der Weg sich krümmte. Bald weitete er sich, bald wieder wurde er so schmal, daß man befürchten mußte, mit dem großen Koffer steckenzubleiben, dann ging es wieder durch große und kleine Grotten…

Plötzlich merkten die Kinder mit Schrecken, daß der Faden zu Ende war. Es war ein dünner, starker Faden, ein Andenken an Zuhause, und solange sie ihn hielten, fühlten sie sich mit der Außenwelt verbunden. Nun aber war auch dieses letzte Band zerrissen. Was war da zu tun? „Es wäre dumm, umzukehren", sagte Fred, „wir werden wohl die Kreide zu Hilfe nehmen müssen." „Hast du denn noch viel Kreide?" fragte das Mädchen. „Ich habe gestern die Zeichen zu groß gemalt", gestand Fred. „Aber jetzt werde ich mit der Kreide sparsam umgehen und die Zeichen so klein machen, daß man sie gerade noch erkennt."

Der Gang führte immer tiefer hinab, und es wurde jetzt viel wärmer in der Höhle. Elli hüllte sich nicht mehr in ihr Tuch, und auch Fred hatte zu frösteln aufgehört. Nur Toto merkte keinen Unterschied, denn er hatte ja immer seinen Pelz. Die Luft wurde feuchter, von den Wänden tropfte es, und auf dem Boden wurde ein Bächlein sichtbar. Jetzt brauchten die Kinder nicht mehr zu fürchten, daß sie verdursten würden. Sie tranken gierig aus dem Bach, dessen Wasser im Becher sprudelte und wie Mineralwasser schmeckte.

DAS BOOT KOMMT DEN KINDERN ZUSTATTEN

Nach weiteren drei Wegstunden reichte unseren Wanderern das Wasser schon bis zum Knöchel. Für Toto war das Wasser zu tief, und Elli nahm ihn auf den Arm. Der Bach wurde immer tiefer. Schon reichte das Wasser bis an die Knie, dann stieg es bis zu den Hüften…

„Halt!" sagte Fred. „Ich bin ja schrecklich dumm. Da trag ich nun den Koffer, anstatt daß er uns trägt."

„Du willst das Boot wieder aufbauen?" rief Elli freudig, die sich nicht anmerken ließ, wie müde sie von dem langen Weg war. „Gewiß!" erwiderte der Junge. „Da, halte die Fackel." Es war sehr schwer und sogar gefährlich, in dieser Lage das Boot aufzubauen. Wenn auch nur eine Schraube ins Wasser fiel, war alles verloren. Zum Glück war da ein Vorsprung an der Wand, auf den man Toto und den Proviant absetzen konnte. Elli ging ihrem Cousin zur Hand, und bald darauf war das Boot fertig. Fred nahm mit dem Ruder am Heck Platz, während Elli sich mit Toto und den Sachen in die Mitte setzte. Sie sollte vorausleuchten, soweit das mit der rauchenden Fackel möglich war. Jetzt war die Reise viel bequemer. Man brauchte nicht mehr im Wasser zu waten und mit dem Fuß den schlüpfrigen Boden nach Löchern abzutasten. Das Boot trieb schnell dahin, doch wohin? Fred und Elli gaben sich Mühe, nicht daran zu denken. Der Bach reichte jetzt von einer Wand zur anderen.

Er war zu einem Fluß angeschwollen, in den sich aus den Nebengängen Bäche ergossen. Plötzlich erblickten die Kinder eine Höhle vor sich. Wie groß sie war, konnten sie beim schwachen Fackellicht nicht erkennen.

„Wir werden nicht weiterfahren, sondern hier übernachten", sagte Fred.

An einer flachen Stelle des Ufers zogen sie das Boot aus dem Wasser, und nach einem bescheidenen Imbiß legten sie sich schlafen. Es war warm in der Höhle und wohlig zu schlafen. Aber Fred erwachte mitten in der Nacht und sann lange über die Lage nach, in der sie sich nun befanden.

,Was kann man da unternehmen?' fragte er sich. Wir können umkehren und an der Einsturzstelle abwarten, bis man uns findet, oder die Fahrt mit dem Boot fortsetzen. Umkehren hieße verzagen, schon ganz zu schweigen davon, daß es schrecklich ist, einfach dazusitzen und zu warten. Weiterfahren bedeutet Kampf. Nun denn, ich wähle den Kampf!' Mit diesem Gedanken schlief Fred wieder ein. Die Kinder erwachten nicht vom Morgengrauen, das es in der Höhle nicht gab, und auch nicht vor Kälte, denn es war ja warm in der Höhle, sondern vom Winseln des hungrigen Toto. Fred zündete kopf schüttelnd eine Fackel an — es waren nur noch wenige Streichhölzer da, und das machte ihm Sorge. Das hat uns noch gefehlt', dachte er…

Die Ration wurde noch mehr eingeschränkt, und nach einem kargen Frühstück zog die kleine Schar weiter. An diesem Tag legten sie nach Freds Berechnungen mindestens 50 Meilen zurück. Der Fluß war jetzt breit, tief und reißend. Um die Mitte des Tages wurde die Lage wiederum gefährlich. An mehreren Stellen schon hatte die Decke über dem Fluß so niedrig gehangen, daß Fred und Elli sich tief bücken mußten. Diese Stellen waren aber schnell passiert. Jetzt senkte sich plötzlich die Decke so tief, daß nur noch ein kleiner Spalt über dem Wasser zu sehen war. Der Fluß schäumte und toste in dem engen Bett. Blaß vor Schreck fragte Elli: „Was tun wir jetzt?"

Fred hielt, die Hände an einen Felsvorsprung geklammert, das Boot fest. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. „Wir müssen durch!" entschied er.

Da die Worte im Getose untergingen, deutete er Elli durch Zeichen an, mit Toto und dem Gepäck in den Bug zu kriechen, der sich gut verschließen ließ. Durch eine Geste fragte Elli:,Und du?'

Fred wies auf das Heck. Elli schlüpfte mit dem Hund in den Vorderteil des Boots. Für Fred jedoch war der Heckteil zu kurz. Er schlug sich die Zeltbahn um den Kopf, schöpfte tief Luft und legte sich flach auf den Boden des Boots. Im nächsten Augenblick erlosch die Fackel. Finsternis hüllte das Boot ein, das, von der Strömung gepackt, krachend durch den Felsspalt gepreßt wurde. Es blieb aber unversehrt, denn Bill Cunning hatte es sehr solide gebaut. Fred glaubte zu ersticken und wollte schon den Mund öffnen, um Atem zu holen, da gewahrte er, daß das Boot ruhig dahinglitt. Luft drang unter die Zeltbahn in seine Lungen, und obwohl es feuchte Höhlenluft war, fühlte er sich wie neugeboren.

Jetzt ist uns der Rückweg abgeschnitten', durchzuckte es ihn. Obwohl er von diesem Gang nichts Gutes erwartet hatte, krampfte sich ihm doch das Herz zusammen. Elli kroch aus ihrem Unterschlupf. Sie streichelte den zitternden Toto und versicherte, daß sie sich überhaupt nicht gefürchtet hätte. Beim Licht der Fackel sah sie den durchnäßten Fred und viel Wasser im Boot. Der Junge begann das Wasser auszuschöpfen.

DIE BRILLANTENHÖHLE

Wieder vergingen drei Tage, das unterirdische Reich aber wollte kein Ende nehmen. Grotten und Gänge, Flüsse und Seen lösten einander in endloser Reihenfolge ab, und unsere Wanderer wußten gar nicht mehr, wie viele es waren. Glücklicherweise blieben ihnen Stromschnellen wie jene, in der sie fast erstickt wären, erspart. Zwar gab es Stromschnellen und kleine Wasserfälle, aber das Boot flog darüber hinweg, und wenn auch Wasser eindrang, so war es nicht viel, und Elli schöpfte es mit dem Becher wieder aus. Schlimm war, daß der Proviant schnell dahinschwand. Wie oft dachten die Kinder dankbar an die weise Vorsorge Frau Cats, die das volkstümliche Sprichwort befolgt hatte: „Fährst du für einen Tag weg, so nimm Brot für eine Woche mit." Sie hatten nur noch wenige Streichhölzer. Deshalb spaltete Fred die übriggebliebenen Fackelhölzchen in mehrere Teile, und jetzt besaßen die Kinder Kienspäne, die, wenn sie auch nur ein schwaches

Licht gaben, so doch den Weg erhellten. Nachts löschten sie die Fackeln nicht mehr aus, um Streichhölzer zu sparen. Elli und Fred hielten abwechselnd Wache und zündeten an der verlöschenden Fackel jedesmal eine neue an. Zum Glück war ihr Kienspanvorrat noch groß. Eines Nachts erwachte Elli in völliger Finsternis. Sie war während ihrer Wache eingeschlafen und hatte nicht gemerkt, wie der Span zu Ende brannte und erlosch. Schreckensbleich weckte sie Fred. „Fred, es ist etwas Furchtbares passiert!"

„Ach Elli, Elli!" sagte nur der Junge, aber er sagte es mit einer Stimme, daß das Mädchen zu schluchzen begann. „Schon gut, laß uns jetzt schlafen", beschwichtigte Fred. „Wir werden ja sowieso ein Streichholz anzünden müssen, wenn wir aufstehen." Danach schliefen sie sehr lange. Es war der sechste oder der siebente Tag ihrer unterirdischen Wanderung — die Kinder wußten es nicht mehr genau, denn sie hatten keine Uhr, und für sie begann die Nacht, wenn sie müde waren. Sie hatten eben einen langen, weiten Gang passiert und befanden sich nun wieder auf einem See, als die Felswände eigentümlich zu glitzern begannen. An das Glitzern des Tropfsteines hatten sie sich schon gewöhnt — sie achteten kaum noch auf die Säulen, die bald glatt, bald mit bizarren Tropfmustern bedeckt waren. Was Elli und Fred in dieser Höhle verwunderte, war etwas anderes. Es schien, als umgäben nicht steinerne Wände den See, sondern als hinge ein gewölbter dunkler Himmel mit funkelnden Sternen über ihnen, die rot, grün und blau leuchteten.

Elli fragte leise: „Fred, was ist das?"

„Ich weiß es nicht", erwiderte der Junge ebenso leise. „Vielleicht Edelsteine?"

Sie fuhren dicht an eine steil aus dem Wasser aufragende Wand heran und sahen große in den Fels gesprenkelte Splitter im Licht der Fackel funkeln. Elli, die einst im herrlichen Palast Goodwins gewesen war, erriet sogleich, was da funkelte.

„Fred, das sind Brillanten!" „Schwindelst du schon wieder?" „Aber nein, glaub mir, es sind Brillanten!"

„Wären es lieber Käsestücke", sagte der Junge mürrisch. „Aber versteh doch, Fred, das sind ganz teure Steine… und schön sind sie auch", fuhr das Mädchen fort. „Was nutzt uns das?" „Ach, das verstehst du nicht. Fred, sei doch so lieb und brich ein paar Steine heraus. Wenn wir einmal hinauskommen, ich wollte sagen, sobald wir wieder draußen sind, lasse ich mir beim Juwelier eine schöne Spange und ein Armband damit besetzen. Fred begann lustlos im Fels zu stochern. Er löste einige Steine heraus, doch als ihm das Messer beinahe ins Wasser fiel, wurde er so zornig, daß er die Steine in den See werfen wollte. Er besann sich aber, warf sie Elli vor die Füße und begann zu rudern. Als die Brillantenhöhle hinter ihnen lag, sagte das Mädchen nachdenklich: „Weißt du, Fred, ich glaube, hier beginnen die Wunder." „Na und?" entgegnete Fred mürrisch. „Du wirst jetzt wohl überall Wunder sehen!" „Und ich sag dir, dieser Weg führt bestimmt ins Wunderland." Fred erwiderte nichts, aber seinem Gesicht konnte man ablesen, daß dies sein sehnlichster Wunsch war.

DER FISCHFANG

Am neunten Tag der Reise ging der Proviant zu Ende. Elli war vom Hunger schon ganz schwach, auch um Toto stand es schlecht, nur Fred hielt sich noch gut auf den Beinen. Sie fuhren auf einem langen schmalen See, als Fred auf der steilen Uferwand plötzlich etwas Seltsames erblickte. „Schnecken!" rief der Junge aus. „Da haben wir etwas zu essen!" Dabei fiel ihm jedoch ein, daß der Vater ihm bei Wanderungen durch die Prärie oft gesagt hatte: „Du sollst von einer Nahrung, die du nicht kennst, nicht viel auf einmal essen, mein Junge! Sie kann schädlich sein!" Deshalb wollte Fred die Schnecken zuerst selbst einmal probieren. Mit Widerwillen schluckte er ein kleines Stück herunter — es hatte einen unangenehmen, scharfen Geschmack.,Das ist nichts für Elli', entschied er und spie den unzerkauten Rest aus. Das war richtig so, denn bald verspürte er ein Brennen im Magen, es wurde ihm schwindlig, und er verlor das Bewußtsein. Bestürzt eilte Elli ihrem Cousin zu Hilfe. Sie steckte den brennenden Span in einen Spalt am Bug des Bootes, spritzte Fred Wasser ins Gesicht und gab ihm aus der Feldflasche zu trinken. Nach einigen Minuten schlug der Junge die Augen auf, aber da zischte es plötzlich, und die Fackel erlosch.

„Das kostet uns wieder ein Streichholz", seufzte Fred. „Aber die Späne sind ja auch schon fast zu Ende…"

Die Schnecken waren also ungenießbar, und wieder erhob sich das Gespenst des Hungers drohend vor unseren Wanderern. Fred zündete einen Span an, und man fuhr schweigend weiter. Plötzlich blitzte etwas auf. Eben war eine Schnecke von der Wand gerutscht und ins Wasser gefallen, und im gleichen Augenblick hatte sie ein großer Fisch, der aus dem Wasser schnellte, geschnappt. Auf der Oberfläche bildeten sich ein paar Kreise… „Bin ich aber dumm!" rief Fred. „Wie lange werde ich noch wachsen müssen, um ein richtiger Mann zu werden? Alle unsere Mißgeschicke kommen von meiner Dummheit! Warum hab ich nicht an die Fische gedacht?" „Aber Fred, wie willst du sie denn fangen?" „Ha, ha, ha", lachte Fred, „das laß meine Sorge sein!" Fred nahm aus dem Futter seiner Mütze eine Angelschnur mit einem Haken heraus, löste dann eine Schnecke von der feuchten Wand, schnitt ein Stück davon ab, spießte es auf den Haken auf und warf ihn über Bord. Es verging nur kurze Zeit, da straffte sich die Angelschnur, Fred riß sie an sich, und schon lag auf dem Boden des Bootes ein kurzer dicker Fisch mit grauen Schuppen und blaßrosa Flossen. Anstelle der Augen hatte er zwei kurze runde Auswüchse: Der Fisch war blind.

„Vielleicht ist der Fisch giftig?" sagte Fred nachdenklich. „Lieber Fred, laß mich ihn probieren!" bat Elli.

„Nein", entgegnete Fred entschieden. „Das soll Toto tun. Ich werde ihm aber nur ein ganz kleines Stückchen geben."

Der Junge schlug dem zuckenden Fisch das Ruder auf den Kopf, schabte die Schuppen ab und gab ein Stückchen dem Hund. Toto verschlang es gierig, beleckte sich das Maul und wollte mehr.

„Nein, Freundchen, das geht nicht", sagte Fred sanft. „Du mußt dich ein bißchen gedulden!"

Eine Stunde verging. Toto fühlte sich gut und blickte gierig auf die Fische,

die der Junge mittlerweile gefangen hatte.

„Schade, daß wir sie nicht braten können", sagte Elli bedauernd.

„Wir werden sie eben roh essen, aber nur stückchenweise, sonst wird uns

noch übel."

Die Kinder aßen kleine Stückchen, aber in kurzen Abständen, und in wenigen Stunden waren sie satt. Obwohl ihnen nicht mehr der Hungertod drohte, wünschten sie doch sehnlichst, daß ihre unfreiwillige Reise recht bald ein Ende nehme.

DIE GEHEIMNISVOLLE STADT

Das Kienspanbündel wurde immer kleiner, und dann kam der Augenblick, da das zitternde Flämmchen des letzten Spans noch einmal aufflackerte und erlosch. Sekundenlang war noch der glimmende Kohlenrest zu sehen, dann verschwand auch er. Fred und Elli glaubten, sich in völliger Finsternis zu befinden, denn kein Lichtstrahl konnte ja durch die dicke Erdschicht dringen, die sie von Himmel und Sonne trennte. Aber, o Wunder! Während sich die Augen der Kinder langsam an die Finsternis gewöhnten, begannen sie einiges zu unterscheiden.

„Fred, was ist das?" rief Elli freudig aus. „Oh, ich sehe meine Finger… da, auch Toto, und dich sehe ich auch!"

„Komisch, auch ich sehe jetzt! Ich erkenne deine rote Jacke. Ich sehe, wie du die Arme bewegst! Hurra, ich sehe!"

So unglaublich es schien — aber sie sahen wirklich. Unsere Wanderer trieben jetzt auf einem breiten, ruhigen Fluß dahin, vor ihnen lag ein Felsvorsprung, an dem der Strom nach rechts abbog. Die Uferfelsen und die Decke schimmerten in einem schwachen, gleichmäßigen, unverkennbar goldigrosigen Licht. Natürlich waren jetzt weder Kienspan noch Fackel nötig. Aber woher kam nur das Licht? Elli sagte überzeugt:

„Fred, hier muß irgendwo das Land der unterirdischen Erzgräber liegen!" Zum erstenmal nach dem Unglück lachte sie.

„Oh, welch ein Glück! Ich werde meinen lieben Scheuch, den Holzfäller und den Löwen wiedersehen!. ." Fred entgegnete bedachtsam:

„Irrst du dich auch nicht? Vielleicht kommen wir in einganz anderes unterirdisches Reich?"

„Wie viele kann es denn hier schon geben? Ich habe im Land der Erzgräber genauso ein goldgelbes Licht gesehen, nur war es viel heller, und man konnte darin auch ferne Gegenstände unterscheiden." „Na, wenn dem so ist, so sind unsere Leiden zu Ende!" rief Fred frohlockend. „Und auch deine Prahlerei hat aufgehört", fügte er schmunzelnd hinzu. „Dann werde auch ich das Wunderland sehen." „Ja, das wohl, nur werde ich es zum drittenmal sehen und du zum erstenmal!"

Bald kamen sie in eine riesige Grotte, deren Ende selbst in dem goldigen Licht nicht zu erkennen war. Die Grotte war zwar sehr groß, aber mit dem Land der unterirdischen Erzgräber doch nicht zu vergleichen. Hier gab es keine Hügel, keine Wälder, und auch eine Stadt war nicht zu sehen… Und doch war eine Stadt da! Weit vom Ufer entfernt sahen Elli und Fred etwas, das an Häuser erinnerte.

„Eine Stadt, eine Stadt!" rief Elli lebhaft. „Fred, lieber Fred, gehen wir sie uns ansehen. ."

Jetzt, da sie nicht mehr um ihr Leben bangten und auf ein gutes Ende ihrer Reise hofften, kamen den beiden Wünsche, die sie noch vor wenigen Tagen nicht für möglich gehalten hätten. Fred hatte Bedenken, das Boot am Ufer zurückzulassen. „Aber Toto kann es ja bewachen", sagte das Mädchen. Fred ließ sich leicht überreden, denn er brannte ja darauf, die geheimnisvolle Stadt zu sehen. Die beiden zogen das Boot auf das Ufer, beschwerten es mit Steinen und banden Toto daran fest. „Wenn was passiert, bellst du!" befahl Elli dem Hündchen. Die Stadt schien etwa eine halbe Meile entfernt zu sein. Der Weg führte über eine Ebene, auf der kleine und große Steine umherlagen, über die die Kinder viele Male stolperten. Je näher sie kamen, desto klarer wurde ihnen, daß es sich um eine von Menschen erbaute Stadt handelte. Die vielen Gebäude standen wahrscheinlich auf einem Hügel, denn sie stiegen terrassenartig an. Die Stadt erinnerte an ein riesiges Nest. Die Häuser waren rund und von Kuppeln gekrönt. Sie hatten keine Fenster, aber in den Wänden waren runde Öffnungen zu sehen, die wohl zur Belüftung dienten. Manche Häuser sahen verfallen aus, und man hatte den Eindruck, daß in der Stadt schon lange niemand mehr lebte. Als sie ganz nahe herangekommen waren, sahen Fred und Elli eine Festungsmauer von vierfacher Mannshöhe.

Mit Staunen gewahrten sie, daß die Mauer mit ungewöhnlich grellen Bildern bedeckt war, die unter der unterirdischen Feuchtigkeit nicht gelitten hatten, obwohl sie gewiß schon jahrhundertealt waren. Das waren nämlich Mosaikbilder aus winzigen farbigen Glasstücken, denen die Zeit nichts anhaben konnte. Eines stellte einen König dar, der über seine Untertanen Gericht hielt. Er saß in prächtigem Gewande auf einem Thron, vor dem die Angeklagten, jeder mit einem Strick am Hals, knieten. Ein anderes zeigte ein Festgelage, ein drittes Sportspiele. Die Gesichter und Figuren kamen Elli bekannt vor. Sie hatte diese kleinen, dicken Menschlein mit den großen Köpfen auf dicken Nacken und mit mächtigen Fäusten schon irgendwo gesehen…

„Die Springer!" rief Elli aus und duckte sich, als erwarte sie einen Schlag. „Erinnerst du dich, Fred, ich hab dir von Goodwin erzählt, der mit einem Luftballon fortflog? Als wir zu Stella zogen, um uns bei ihr Rat zu holen, versperrte uns der Berg der Springer den Weg, über den uns dann die Fliegenden Affen trugen… Die Bilder zeigen genau diese Springer. Wenn sie noch da sind, müßten wir das Schlimmste befürchten!" „Aber Elli, siehst du denn nicht, daß hier seit Jahrhunderten niemand mehr lebt? Gehen wir weiter!" Plötzlich fing Elli zu lachen an.

„Sieh, eine Sechsfüßerjagd! Glaubst du auch jetzt noch, daß das Land der unterirdischen Erzgräber noch sehr weit ist?"

Eine der Wandmalereien stellte dar, wie zahlreiche dicke Menschlein, mit Lanzen in den Händen, einen Sechsfüßer angriffen, der, auf den Hinterbeinen stehend, mit den Vordertatzen die Feinde abwehrte. Da hörten sie im Rücken ein lautes Bellen. Fred wandte sich um und rief „Schau, da sind sie ja!"

WAS MIT DEM BOOT GESCHAH

Dem Ufer zu trabte — wohl zur Tränke — eine Herde Sechsfüßer. Schwerfällig stapften die Tiere mit ihren kurzen, kräftigen Beinen. An Totos Gebell hatte Fred erkannt, daß Unheil im Anzug war. Wenn so ein Ungetüm aus Versehen in das Boot trat, würde es in Trümmer gehen. Fred rannte, mit den Armen fuchtelnd und schreiend, zum Fluß hin. Elli folgte ihm. Da sie aber nicht so schnell laufen konnte, blieb sie weit zurück… Das Gebell und die Schreie erschreckten die Sechsfüßer, die kehrtmachten und in den Gang zurücktrabten, aus dem sie aufgetaucht waren. Ein Tier aber, das seitlich abgekommen war, trat unversehens auf das Heck des Bootes. Es gab einen Knack, und das Heck zerbrach. Zum Glück war Toto an den Bugring angebunden und blieb unversehrt. Kreidebleich blickten sich die Kinder an.

„Das ist meine Schuld!" rief Elli weinend. „Was hat mich nur zu dieser

Stadt getrieben?"

Fred tröstete seine Cousine:

„Ich glaube, unsere Irrfahrt ist bald zu Ende. Den Rest des Weges werden wir auch zu Fuß schaffen."

„Und wenn der Fluß die ganze Breite der Höhle einnimmt? Was tue ich dann, wo ich doch so schlecht schwimme?"

„Da werde ich dir eben helfen, ich bin ja ein guter Schwimmer", sagte Fred so, als wollte er sich selbst Mut machen. Mit dem Boot war nichts mehr anzufangen. Die Kinder lasen zusammen, was heil geblieben war, und zogen traurig weiter. Toto, der sogleich vergaß, welche Todesgefahr ihm eben gedroht hatte, rannte schnuppernd am Ufer hin und her, und niemand hätte sagen können, was für eine Beute er sich da erhoffte. Sie legten etwa eine halbe Meile zurück. Über die schlüpfrigen Ufersteine zu gehen und dazu noch das Gepäck zu tragen war natürlich weit ermüdender, als im Boot zu sitzen und gemächlich dahinzugleiten. Erst jetzt begriff Elli, was ihnen das Boot gewesen war…

Toto, der sich ein ganzes Stück vom Wasser entfernt hatte, begann laut zu bellen. Aber das war nicht ein unruhiges, sondern ein frohes Bellen. Elli und Fred liefen schnell zu der Stelle hin und erblickten da zu ihrer großen

Freude auf einer steinernen Erhöhung ein umgestülptes Boot, dessen Haut aus Sechsffüßerleder und die Versteifungen aus Tierknochen bestanden. „Mir geht ein Licht auf", sagte Fred. „Diese Springer, wie du sie nennst, haben wohl vor langer Zeit hier gelebt, dann mußten sie aus irgendeinem Grunde in die obere Welt ziehen. Hier kommt man aber nur auf dem Wasser hinaus, deshalb bauten sie sich Boote aus Leder und Knochen von Sechsfüßern. Eines war zuviel, und sie ließen es zurück. Vielleicht dachten sie, es später einmal abzuholen. Weil sie die Gewohnheiten dieser Tiere kannten, legten sie das Boot auf die Erhöhung, damit es nicht beschädigt werde. Und so ist es zu unserem Glück erhalten geblieben." „Gewiß, nur so kann es gewesen sein", sagte das Mädchen. „Ich hol mal schnell das Ruder!" rief Fred.

„Laß mich nicht allein, ich fürchte mich", rief Elli. Da hob Fred sie empor und setzte sie auf den gewölbten Boden des Bootes. Er kam schnell zurück. Beide schleppten nun das Boot, das viel größer und schwerer war als ihr Kofferboot, mit großer Mühe zum Wasser. Das Leder der Sechsfüßer mußte wohl von hervorragender Qualität sein, denn das Boot war sehr gut erhalten, außerdem war es geräumig und stabil. Fred setzte sich ans Heck, ergriff das Ruder, und das kleine Fahrzeug trieb schnell auf den Wellen dahin.

IM LAND DER UNTERIRDISCHEN ERZGRÄBER

Kurz nach dem aufregenden Zwischenfall mit den Sechsfüßern befiel die Kinder eine bleierne Müdigkeit. Jetzt hätten sie es nicht mehr gewagt, am Ufer zu übernachten — die Tiere konnten ja wiederkommen! Bald entdeckte Fred eine kleine Bucht mit steilen Ufern, die niemand hätte überwinden können, und legte an.

„Ich hoffe, das ist unser letztes Nachtlager hier. Morgen werden wir gewiß schon bei den Erzgräbern sein", sagte Elli nach dem Essen, das aus rohem Fisch bestand, und machte es sich auf dem Boden des Bootes bequem. „Fürchtest du nicht, daß man uns schlecht aufnehmen könnte?" fragte Fred besorgt.

„Aufrichtig gesagt, ja", gestand Elli. „Ramina hat gesagt, daß die Erzgräber keine Fremden mögen. Ich kann es auch nicht vergessen, wie grimmig das Gesicht des Kriegers war, der seinen Pfeil auf mich abschoß… Jetzt hoffe

ich nur, daß sie uns nichts tun werden, wenn sie erfahren, daß wir noch Kinder sind, die nur ein Zufall in ihr Land verschlagen hat. ." „Das wäre gut so", beendete Fred das Gespräch. Am Morgen ging die Reise weiter. Es wäre ja auch sinnlos gewesen, das Unvermeidliche hinauszögern zu wollen. Es vergingen mehrere Stunden, das Licht war jetzt heller, das Gewölbe breiter und höher, und vor unseren Reisenden tat sich das Land der unterirdischen Erzgräber auf. Das war selbst für Elli ein ungewöhnlicher Anblick, obwohl sie doch schon zum zweiten Male hier war. Fred stand wie gebannt da: Die gewaltige Höhe der Höhle mit den goldgelben Wolken, die schwermütige herbstliche Landschaft mit den bewaldeten Hügeln und eingestreuten kleinen Dörfern, die Stadt, die in der Ferne schimmerte, machten auf ihn einen gewaltigen Eindruck. Schon allein dieser Anblick war die weite und gefährliche Reise wert. Es fragte sich nur, ob die Herren dieses wunderbaren Landes unseren Freunden nichts Böses zufügen würden. Plötzlich fing Toto zu sprechen an. Elli wunderte sich nicht darüber — die Höhle gehörte ja zum Wunderland, in dem alle Tiere sprachen. Allein Fred war verblüfft und konnte es nicht fassen. „Toto, du sprichst ja wie ein Mensch!" rief er aus. „Was ist da schon Besonderes dran, wau, wau?" erwiderte das Hündchen. „Ein Wunderland ist ja gerade der rechte Ort f ür unsereins, denn nur hier können wir unsere Fähigkeiten wirklich zeigen. ." Fred mußte herzlich lachen.

„Sieh da, du sprichst wie ein Schönredner. Das sollte sich unsere Lehrerin, Frau Brown, anhören! Ich wette, sie würde dir eine Eins geben!" Toto sagte selbstgefällig:

„Ich würde nicht schlechter lernen als ihr Jungen!" Unterdessen war der Fluß seichter geworden, und plötzlich gab es ihn nicht mehr. Man konnte sehen, wie das Wasser zischend und schäumend zwischen die Felsen hindurch in der Erde verschwand. Unsere Wanderer trennten sich vom Boot und gingen zu Fuß weiter. Sie waren unbeschwert, denn von den mitgenommenen Sachen war fast nichts mehr da. Bedrückt von der ungewöhnlichen Umgebung, legten sie schweigend ein paar Meilen zurück. Nur Toto brummte etwas vor sich hin, anscheinend, um sich in seiner neuerworbenen Fähigkeit zu üben. Bis zur Stadt war es nicht mehr weit. „Was ist das?" rief Elli plötzlich aus.

Toto heulte markerschütternd, denn was er da sah, verschlug ihm die Sprache. In den Wolken war nämlich ein Pünktchen aufgetaucht, das schnell größer wurde und plötzlich einen ungeheuren Drachen mit einem Reiter auf dem Rücken erkennen ließ. Der Drache stieg tief hinab und zog ein paar Kreise um die Wanderer. Sein gelbweißer Bauch glänzte, die hautbespannten Flügel rauschten. Der Reiter, einen Bogen in den Händen und einen Köcher mit Pfeilen am Rücken, beobachtete die Kinder. Sein blasses Gesicht mit der Hakennase war reglos. Dann wendete er den Drachen und flog auf die Stadt zu.

„Nur keine Angst!" sagte Fred, der wieder Mut gefaßt hatte. „Auf die erste Begegnung kommt es an. Jetzt wird er unsere Ankunft melden. Elli, ordne dein Haar, du bist ja ganz zerzaust…"

Nach ein paar Hundert Schritt sahen Fred und Elli eine bunte Menschenmenge aus dem Stadttor strömen. Elli erbleichte, doch als die Menge näher kam, faßte sie sich ein Herz und ging auf eine Gruppe Männer zu, die sich durch ihr würdiges Aussehen von den anderen unterschieden. „Wir begrüßen euch von Herzen, meine Herren Bewohner des unterirdischen Landes."

Elli und Fred machten eine tiefe Verbeugung, doch Toto begann zu bellen, was in den vordersten Reihen Verwirrung auslöste. Als der Hund sich beruhigte, fuhr Elli fort:

„Glaubt nicht, daß wir Feinde oder Spione sind. Ein Zufall hat mich und meinen Cousin in euer Land verschlagen. Wir haben in unserer Heimat eine Höhle untersucht, und dann…", Ellis Stimme zitterte, „und dann schnitt uns ein Erdsturz den Rückweg ab. Um uns zu retten, gingen wir immer weiter, dann fuhren wir viele Tage mit einem Boot, wir wissen gar nicht mehr, wie lange schon. ."

Während sie so sprach, ging wieder ein Krieger mit einem Drachen in der Nähe nieder. Er sprang behende ab und trat auf einen Mann zu, der in würdiger Haltung in vorderster Reihe stand. Vor diesem machte er eine tiefe Verbeugung und sagte etwas. Darauf sprach der Mann, der kein anderer war als König Mentacho: „Mädchen, du lügst. Eben wurde mir gemeldet, daß euer Boot aus der Haut und den Rippen eines Sechsfüßers besteht. Bei euch oben kann es solche Boote nicht geben, die werden nur hier, unter der Erde, hergestellt." „Verzeiht, mein Herr", entgegnete Elli tapfer, doch ein Höfling wies sie zurecht: „Du sollst Eure Majestät sagen!" — „Ich bitte um Verzeihung, Eure Majestät", fuhr Elli fort, „unser Boot war aus Holz und Zeltbahn gebaut, aber ein Sechsfüßer hat es bei der verlassenen Stadt der Springer zertrampelt. Am Ufer haben wir dann diesen Lederkahn entdeckt, der sicher aus alten Zeiten stammt."

Die schlichten Worte Ellis machten auf die Zuhörer Eindruck, und ihre Gesichter hellten sich auf. König Mentacho sagte: „Du sprichst wohl die Wahrheit. Aber jetzt sag uns, wie du heißt, wer du bist, wer dieser Knabe ist und was für ein wunderliches Tier du auf dem Arm hältst."

Elli beantwortete die Fragen in umgekehrter Reihenf olge: „Dieses Tierchen ist mein Hund:. "

„Ich hab die Ehre, mich vorzustellen: Toto!" fiel ihr das Hündchen ins Wort. „Bei näherer Bekanntschaft dürft Ihr mich Totochen nennen." „Schweig, du Unverschämter!" fuhr Elli das Hündchen an und zog es am Ohr. „Seht, das ist ein sehr kluger und treuer Hund, nur etwas geschwätzig und vorlaut. Und der Junge, über den ihr mich fragtet, ist mein Cousin Fred Cunning aus Iowa. Er ist tapfer und gewandt und auch ein guter Reiter. Er kommt jetzt in die vierte Klasse. Was soll ich Euch von mir sagen? Ich heiße Elli Smith und bin ein ganz gewöhnliches kleines Mädchen aus der Steppe von Kansas."

Da kam aus der Menge eine giftige Stimme:

„Glaubt ihr kein Wort! Dieses ganz gewöhnliche kleine Mädchen hat zwei mächtige Zauberinnen, Gingema und Bastinda, umgebracht und den mächtigen Urfin Juice mit seinen grimmigen Holzsoldaten besiegt. Ich bitte Eure Majestäten um Verzeihung, daß ich ohne Erlaubnis zu sprechen wagte, aber ich konnte nicht an mich halten."

„Wer spricht da? Ach so, Ruf Bilan", rief der kleine feiste König Barbedo aus. „Na, tritt vor, versteck dich nicht. Du erzählst ja interessante Dinge." Die Anwesenden gaben den Weg frei. Ein Mann in Dienertracht trat hervor. Er blickte aus kleinen, verschwollenen Augen mit unverhohlener Feindschaft auf Elli. Toto bellte wütend, das Mädchen aber lachte. „Oh, das ist ja der Verräter Ruf Bilan, der ehemalige erste Minister seiner Majestät Urfin Juice. Ihr lebt, wie ich sehe? Und wir oben dachten schon, die Sechsfüßer hätten Euch zerrissen in der Höhle, in die Ihr vor dem Zorn des Volkes geflüchtet seid. Aber hier scheint es Euch ja auch nicht glänzend zu gehen?" Die Menge kicherte, und selbst die sieben Könige mußten lächeln. Diese Worte wirkten, und das dicke Gesicht Ruf Bilans lief rot an. König Mentacho verschlug es fast die Sprache vor Staunen. „Alle Achtung, Elli!" sagte er schließlich. „Dem Tagedieb da habt Ihr es aber gegeben! Doch wisset, nach Eurem Auftreten ist es kaum zu glauben, daß Ihr wirklich nur ein einfaches kleines Mädchen seid." „Gewiß nicht, Eure Majestät!" mischte sich Ruf Bilan wieder ein. „Sie ist eine Fee, und nicht umsonst kommt sie schon zum dritten Mal in unser Land. Sie hat von einem Einsturz geschwatzt, aber kann denn ein Einsturz eine Fee verschütten?"

„Hättet Ihr den Einsturz gesehen, würdet Ihr nicht so sprechen", rief Elli empört. „Das vorige Mal bin ich mit meinem Onkel Charlie in das Wunderland gekommen, weil der Scheuch und der Eiserne Holzfäller uns darum gebeten hatten, aber diesmal ist es gegen unseren Willen geschehen. Und jetzt haben Fred und ich nur den Wunsch, so schnell wie möglich heimzukehren zu unseren Eltern, die um uns trauern. Hab ich recht, Fred?" „Gewiß", brachte Fred mit Mühe hervor. Es war das erste Wort, das er zu den unterirdischen Menschen sagte.

„Laßt uns ziehen, Eure Majestäten", bat Elli. „Wir werden unsere Freunde wiedersehen und bestimmt ein Mittel finden, das Wunderland zu verlassen." „Euch ziehen lassen?" sagte Mentacho kopfschüttelnd. „Das müssen wir uns erst mal überlegen."

„Laßt sie nicht fort, Eure Majestäten", kreischte Ruf Bilan. „Ich hab, freilich ohne böse Absicht, Euch des Schlafwassers beraubt, aber ich will Euch ein Mittel zeigen, es wiederzugewinnen. Elli ist eine mächtige Fee, sie hat es schon oft bewiesen, und ihre Zauberkunst vermag vieles. ." In die Gesichter der sieben Könige trat ein Ausdruck lebhaften Interesses. „Jetzt versteh ich", rief König Barbedo, „die Heilige Quelle wiederherstellen — ja, das wäre eine Sache!" „Was fällt Euch ein?" rief Elli mit tränenerstickter Stimme. „Was für eine Heilige Quelle? Was für Zauberkunst? Ich verstehe überhaupt nichts!"

„Bald werdet Ihr alles verstehen", sagte mit der größten Liebenswürdigkeit König Mentacho. „In unserer bitteren Lage dürfen wir nichts unversucht lassen. Weder Euch noch Euren Gefährten soll ein Haar gekrümmt werden,

wir werden Euch die größten Ehren erweisen, aber daß Ihr in die obere Welt zieht, das kommt vorläufig nicht in Frage. ."

Dann wurden unsere verstörten Reisenden in den Regenbogenpalast abgeführt.

IN BEDRÄNGNIS

Fred, Elli und Toto bekamen prächtige Zimmer im organgefarbenen Teil des Palastes zugewiesen, und man gab ihnen gut zu essen, obwohl die Lebensmittel im Lande sehr knapp waren. Sie durften auch spazierengehen, allerdings nur in Begleitung von zwei Spionen. Zweimal fuhren die Kinder sogar mit einem Segelboot auf dem See. Ein leichter Wind trieb den Kahn über die leicht gekräuselte Wasserfläche, und Elli und Fred hatten fast das Gefühl, wieder in Freiheit zu sein. Aber am Segel saß ein schweigsamer Spion mit finsterem Gesicht und am Steuer ein anderer. Die Könige befürchteten nämlich, daß Elli und ihr Cousin auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren, das unterirdische Land verlassen könnten. Schon am zweiten Tag ihres unfreiwilligen Aufenthalts in der Stadt der Sieben Könige erfuhren unsere Freunde, was es mit dem Schlafwasser auf sich hatte. Der Chronist Arrigo, ein kleiner hagerer Mann in mittleren Jahren mit klugem Gesicht und ernsten grauen Augen, erzählte ihnen die Geschichte. Sie erfuhren, wie der königliche Jäger Ortego vor Jahrhunderten zufällig die Quelle mit dem Zauberwasser entdeckte und wie dann der Hüter der Zeit, Bellino, auf die Idee kam, die Könige und ihren Hof einzuschläfern für die Zeit, in der sie nicht regierten.

„Das war gut so", sagte Arrigo mit angenehmer Stimme. „Das Volk brauchte nur einen königlichen Hof zu ernähren, während die sechs anderen friedlich in den Ablagekammern schliefen und man nur darauf achtzugeben hatte, daß die Mäuse sie nicht benagten und die Motten ihre Kleider nicht fraßen."

„Und was wäre geschehen, wenn die Mäuse sie benagt hätten?" fragte Elli verschmitzt. Der Chronist schlug die Hände über dem Kopf zusammen: „Wie könnt Ihr so etwas sagen! Sie lebten doch, es war ja nur ein Zauberschlaf!"

Elli schwieg eine Weile. Dann fragte sie:

„Sagen Sie, verehrter Arrigo, denkt Ihr Volk nicht darüber nach, wie es die Könige stürzen und ohne sie leben könnte?"

Arrigo wehrte entsetzt ab: „Ohne Könige leben?! Die königliche Macht haben ja unsere Vorfahren begründet! Und außerdem haben wir ihnen die Treue geschworen!"

Elli und Fred blickten sich an. Bei diesen Unterirdischen war die Achtung vor den Königen noch groß, und es würde schwer sein, dies zu ändern. Am Abend (die Zeit in der Höhle wurde nach der Sanduhr bestimmt) rief man die Kinder in die orangefarbenen Gemächer König Barbedos. Der König saß auf dem Thron, sein großer kahler Kopf leuchtete schwach im Schein der phosphoreszierenden Kugeln.

„Wie seid Ihr untergebracht?" fragte er. „Wie ist das Essen? Habt Ihr vielleicht irgendwelche Wünsche?"

„Wir haben nur einen Wunsch", erwiderte Elli, „daß Ihr uns heimziehen laßt." „Das geht nicht", sagte Barbedo, „erst wenn Ihr uns das Schlafwasser wiedergebracht habt, können wir Euch ziehen lassen." „Dann schickt einen Boten zu den Oberen, damit er dem Scheuch mitteilt, wo wir sind."

„Das werden wir nicht tun", lächelte der König. „Wenn die Oberen erfahren, daß wir Euch zurückhalten, werden sie Euch befreien wollen, was große Unannehmlichkeiten zur Folge haben würde."

Elli und Fred blickten sich traurig an. Barbedo aber fuhr in bittendem Ton fort: „Liebe Fee, was macht Euch schon eine kleine Zauberei aus, wo Ihr doch so viele große vollbracht habt? Ihr seid mit dem Tötenden Häuschen aus der oberen Welt geflogen gekommen und — krak! krak! — auf dem Kopf der bösen Gingema niedergegangen. Ihr habt die mächtige Zauberin Bastinda vernichtet, die Gebieterin der Zauberwölfe und der Fliegenden Affen. ." — Oh, das hat kein anderer als der garstige Ruf Bilan den Königen hinterbracht', dachte Elli. „Und jetzt sollen wir Euch glauben, Ihr könntet uns das Schlafwasser nicht wiederbringen?"

Alle Worte Barbedos waren aber vergeblich, und verärgert entließ er die Kinder. Wieder allein in ihrem Zimmer, beschloß Elli:,Ich werde Ramina rufen, die Mäusekönigin. Sie ist eine kluge Fee, sie wird mir einen guten Rat geben.'

Das Mädchen blies in die Silberpfeife, die ihr Ramina einst gegeben hatte. Sie blies wieder und wieder, aber niemand erschien.,Die Zauberkraft der Pfeife reicht wohl nicht bis in das unterirdische Land, deshalb kann die kleine Fee im Mäusefell auch nicht zu uns kommen', sagte sich Elli. Jetzt wurde sie fast jeden Tag bald zu dem einen, bald zu dem anderen König gerufen. Manchmal mußte sie zwei, drei oder sogar vier Königen auf einmal Rede stehen. Eines Morgens wurde ihr angekündigt, daß der Große Rat sie vernehmen werde. Diese Nachricht erfüllte sie mit Furcht, und sie begann zu weinen.

„Hör mal, Elli", sagte Fred, „du kannst ihnen ja ein Schnippchen schlagen. Sag ihnen, du willst es versuchen, ihren Wunsch zu erfüllen, doch könntest du dich für den Erfolg nicht verbürgen. Schon darüber werden sie sich gewiß freuen. Natürlich wirst du dir die Quelle ansehen müssen; du nimmst mich und Toto mit, und dann gelingt es uns vielleicht zu fliehen." „Das hat sich Fred fein ausgedacht", sagte Toto, „ich bin ganz entschieden für seinen Plan."

Elli trocknete sich die Tränen und sagte, das scheine kein übler Plan zu sein.

TOTOS FLUCHT

Vor der prunkvollen Versammlung der Könige und ihrer Hofleute sagte Elli schüchtern, sie wolle versuchen, den Auftrag zu erfüllen, doch befürchte sie, daß es mißlingen werde. Dennoch lösten Ellis Worte stürmische Begeisterung aus. „Endlich!" „Höchste Zeit!"

„Eine so mächtige Fee sollte es nicht schaffen? Unmöglich!" Wie betäubt verließen Elli und Fred die Versammlung. Am folgenden Tag machte sich eine große Expedition zu der zerstörten Quelle auf. Für den Fall, daß Elli ermüden würde, nahm man eine Sänfte mit. Die phosphoreszierenden Kugeln auf den Hüten der Höhlenbewohner erleuchteten den Weg. Auch Fred Cunning trug jetzt eine Kugel auf seiner Mütze. Von Zeit zu Zeit nahm er sie ab und bestaunte die wunderbare Leuchte. Der Chronist Arrigo, der gleichfalls der Expedition angehörte (er sollte einen Bericht über sie schreiben), erzählte Fred, wie die leuchtenden Kugeln hergestellt werden.

„Der Leuchtstoff wird aus dem Fell von Sechsfüßern gewonnen", sagte Arrigo. „Die Tiere werden geschoren, wobei sie aus Mißbehagen schrecklich brüllen. Dann gibt man die Wolle zum Weichen in einen großen Trog mit Wasser, und wenn sie im Dunkeln nicht mehr leuchtet, so weiß man, daß ihr ganzer Leuchtstoff sich im Wasser aufgelöst hat." „Dann wird das Wasser verdampft, nicht wahr?" fragte Fred. „Ganz richtig. Auf dem Boden und auf den Wänden des Trogs setzt sich ein Kristallpulver ab, das wie feines Salz aussieht. Wenn man die Hände damit einreibt, leuchten sie. Das Pulver wird mit Fischleim vermischt und auf Hartholzkugeln aufgetragen, die dann viele Jahrhunderte lang leuchten. Diese Kugeln stehen unter der strengen Kontrolle des Staates." „Das ist alles schrecklich interessant", sagte Fred. „In eurem Land gibt es viele wunderbare und schöne Dinge, aber das bringt euch doch keinen Nutzen, solange die Könige über euch befehlen."

Arrigo blickte sich um, ob kein Spion in der Nähe sei, und flüsterte Fred ins Ohr: „Wißt Ihr, ich hab lange über Ellis Worte nachgedacht und glaube, daß vieles, was sie gesagt hat, richtig ist. ."

Jetzt haben wir einen Bundesgenossen mehr', dachte Fred erfreut. Einen Teil des langen Weges legte Elli in der Sänfte zurück. In der Heiligen Höhle konnte man erkennen, dass hier hart gearbeitet worden war: Überall war der Boden aufgewühlt. Elli stellte sich vor das leere Becken und befahl allen Anwesenden mit Ausnahme von Fred und Toto, sich zu entfernen, denn ihre Beschwörungen, so erklärte sie, könnten den Bewohnern des unterirdischen Reiches Schaden zufügen. Alle Begleiter stoben entsetzt auseinander. Elli führte mit den Armen seltsame Bewegungen aus und sagte: „Bei dieser Bewachung können wir nicht entkommen, aber wir haben wenigstens die Möglichkeit, miteinander zu sprechen, ohne daß man uns hört."

Sie hatte nur zu recht: Am Tage waren unsere Freunde ständig von Spionen umgeben, und nachts führte man sie in verschiedene Zimmer. Elli fuhr fort:

„Einer von uns muß in die obere Welt fliehen. Dafür kommt natürlich nur Toto in Frage, denn er wird nicht so streng überwacht wie wir. Ich hab mir folgenden Plan ausgedacht. Als ich mit Arrigo unter vier Augen sprach — ich tat es unter dem Vorwand, daß ich Einzelheiten über das Schlafwasser

erfahren müsse — , sagte er mir, daß morgen der Markttag ist, an dem die Erzgräber mit den Käuern ihren Handel treiben. Dreihundert Mann werden die Tauschwaren zum Handelstor tragen, und drei Schreiber werden die Einkäufe aufschreiben. Einer dieser Schreiber wird Arrigo sein, der uns wohlgesinnt ist…"

„Ich weiß, ich weiß", unterbrach sie Fred, aber Elli gebot ihm durch eine Handbewegung zu schweigen.

„Stör mich nicht bei meinen Beschwörungen! Turabo, furabo, botalo, motalö!…"

Sie sagte es so laut, daß ihre Worte bis zum König Mentacho und seinem Gefolge drangen, die ängstlich zurückwichen.

„Hör, Toto! Arrigo wird dich heimlich unter seinen Kleidern mitnehmen und dann im Trubel des Marktes freilassen. Bist du einmal oben, so wirst du schon wissen, was du zu tun hast."

„Kannst ruhig sein", sagte der Hund stolz, „auf Toto ist Verlaß." „Schon gut, schon gut, du Prahlhans!" lächelte Elli. „Wenn du bei den Käuern bist, werden sie dich in die Smaragdenstadt führen, und dort wird der kluge Scheuch gewiß eine Möglichkeit finden, uns zu helfen." Laut fuhr sie fort: „Bambarä, tschufarä, sköriki, möriki, pikapü, trikapü, läriki, jöriki!" und zu Fred gewandt, flüsterte sie: „Das sind die Zauberworte Willinas, aber ich zweifle sehr, ob sie, von mir gesprochen, wirken werden…" Elli beschrieb mit den Händen mehrere Kreise um den Kopf, stampfte dreimal mit dem Fuß und ging dann rasch auf die erschrockenen Zuschauer zu. „Eure Majestät", sagte sie feierlich zu Mentacho, „ich hab getan, was ich konnte. Das Ergebnis wird sich erst in einer Woche zeigen. Es kann auch ausbleiben", fügte sie vorsichtig hinzu, „wenn der mächtige unterirdische Geist sich aus Zorn über die sinnlose Tat Ruf Bilans gegen meinen Zauber erhebt." Schadenfroh sah Elli, wie der Verräter, der sich unter dem Gefolge Mentachos befand, erblaßte.

„Dann werde ich eben neue, wirksamere Beschwörungen finden müssen", schloß Elli. Totos Flucht gelang. Niemand sah, wie Arrigo vor Aufbruch der Karawane den Hund unter seinem Rock versteckte, wo sich dieser zusammenkauerte und kaum zu atmen wagte. Als die Schreiber nachts aus dem Tor traten, um die Waren der Käuer zu zählen und zu registrieren, ging Arrigo ein wenig zur Seite und ließ das Hündchen laufen.

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