Die Sportler sammeln sich bei Turnieren wie Glühwürmchen und zerstreuen sich nach dem Spiel. Sie leben einen ewigen Sommer, bis der Winter jeden einzelnen von ihnen einholt. Da die Spezies rituell mit neuen Anwärtern aufgefüllt wird, vermißt man die gefallenen Kameraden kaum. Wenn ein As sich aus dem aktiven Sport zurückzieht, bleibt diese Nachricht für einen Tag, höchstens für zwei, im Gedächtnis, dann geht sie unter wie ein Stein.
Als Wimbledon vorbei war, packten die strahlenden Gestalten ihre Koffer und eilten zum nächsten Turnier oder für eine Woche nach Hause. Bald würden die Städteturniere wieder beginnen, jedes von ihnen durch ein Konsortium von Banken, Autohändlern und anderen Firmen des Ortes gesponsert. Lavinia würde im eigenen Land wieder das Kommando über die Damenturniere bis hin zu den offenen amerikanischen Meisterschaften haben, einem weiteren Schauplatz ihrer einstigen Größe.
Die Spielerinnen zogen in eine Richtung davon, die Spieler in eine andere. Jeder, der Phantasien von endlosem Sex zwischen Tennisspielerinnen und -spielern nachhängt, muß wohl Opium rauchen. Die Spieler verschmähen die Spielerinnen. Diese Burschen wollen Starlets und Modelle, keine Sportlerinnen. Nur wenige von den Mädchen finden bei ihnen Billigung. Die Spieler halten die Spielerinnen für abgründig häßlich. Die Spielerinnen halten die Spieler für blöde Säcke. Soviel zu den Liebesspielen im Tennis.
Wimbledon haute jeden um: Spieler und Spielerinnen, das Publikum, sogar die Linienrichter. Es ist eine zweiwöchige Gartenparty, an die - wie an allen Gartenparties - man sich lieber erinnert, als sie mitzuerleben. Die Briten wenden zu Recht ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kricket zu. Die Tennisspieler und -spielerinnen, weniger beeindruckend in Straßenkleidung, verblaßten, wie Sonnenschein in Zwielicht übergeht - bis zum nächsten Jahr, zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, überwiegend mit den gleichen Gesichtern.
Wenn heute ein Spieler verschwindet, so bedeutet das wenigstens gewöhnlich, daß er sich aus dem aktiven Sport zurückgezogen hat. Manche Fans erinnerten sich noch an Männer wie Joseph Hunt aus den Vereinigten Staaten oder Henner Henkel aus Deutschland, kommende Stars, die im Zweiten Weltkrieg umkamen. Andere erinnerten sich an die blonde Erscheinung Karel Koseluths, des großen tschechischen Stars der dreißiger Jahre. Er war im falschen Land zur falschen Zeit geboren. Und dann war da vor allem Anthony Wilding, der goldene Gott von Wimbledon, der im Ersten Weltkrieg fiel. Maria Bueno spielte zwar noch immer im Doppel, aber ein Autounfall hatte ihrer erstaunlichen Karriere ein Ende gesetzt. Sie war die schönste Spielerin, die man seit den frühen zwanziger Jahren, den Tagen von Susan Lenglen, gesehen hatte. So graziöse, strahlende Erscheinungen wie diese beiden Frauen gibt es alle vierzig oder fünfzig Jahre nur einmal. Maureen Connolly, die als die große alte Dame des Tennis hätte Hof halten sollen, war an Krebs gestorben. Andere mit großen Namen, die man am besten nicht erwähnte, waren dem Alkohol oder Drogen verfallen, gehörten nicht mehr zu Wimbledon, nicht einmal mehr zum funktionierenden Teil der Menschheit.
Ein weiteres Jahr. 365 Tage. Den Sportlern, die auf ihrem Höhepunkt standen, erschien das so lang. Für die, die den Höhepunkt hinter sich hatten, würde das nächstjährige Wimbledon im Nu da sein, und die Erinnerung würde sich wieder einmal mit den Geistern all jener erfüllen, die einst jung, schön und stark gewesen waren. Jede Generation erhebt Anspruch auf ihre eigenen Geister. Die Medusa der Zeit zwingt ihren Willen uns allen auf.
Carmen liebte chinesisches Essen. Harriet arrangierte in ihrem gemieteten Haus ein üppiges Festmahl, das vom besten chinesischen Restaurant Londons geliefert wurde. Der Chef des Restaurants deckte den Tisch und stellte das Essen auf Rechauds bereit. Als er zur Tür hinausging, kam Carmen herein.
«Meine Heldin.» Harriet stürzte zu ihr und küßte sie.
Carmen war in der Ekstase des Sieges. «Was ist das?»
«Das Dinner ist angerichtet. Hast du etwa keinen Hunger?»
«Ist das toll.» Carmen setzte sich.
Während sie das köstliche Mahl verspeisten, sagte Harriet Carmen, wie stolz sie auf ihren Sieg sei, daß sie den Slam nun halb geschafft habe, und wie sehr sie sie liebe. Carmen gab ihren Kommentar zum Essen ab und zu einigen denkwürdigen Punkten des Matches.
«Ist es nicht komisch, in England chinesisch zu essen?» sagte Harriet versonnen.
«Ja.»
«Heute dachte ich plötzlich, daß die Gesellschaft wie eine chinesische Vase ist, eine dieser Riesenvasen. Jede Generation überzieht sie mit einer Lackschicht. Je älter die Gesellschaft, desto tiefer, reicher und berückender ist die Struktur der Vase, wenn aber kleine Haarrisse nicht ausgebessert werden, bricht eines Tages das ganze Gebilde zusammen.»
Da Carmen nicht wußte, wie sie die Rede daraufbringen soll, platzte sie abrupt damit heraus: «Ich will kein Coming-Out.»
«Ich habe dich nicht darum gebeten.»
Harriets Stolz auf Carmens Sieg schwand. Was eigentlich ein herrliches Essen sein sollte, verwandelte sich in saure Trauben. «Ich kann dir nur sagen, daß ich mir selbst Rechenschaft ablegen muß. Ich bin nicht dazu geboren, eine Lügnerin zu sein.»
«Ach. Und ich bin es?»
«Mit einem Wort, ja.»
«Warum, zum Teufel, sollte ich das Risiko eingehen? Warum meinen Kopf auf den Klotz legen? Ich will ein schönes Haus, viel Spaß, keine Probleme. Ich habe niemandem geschadet, und ich will nicht, daß man mir schadet.»
«Manchmal müssen einige von uns große Risiken eingehen, damit viele von uns kleine Risiken auf sich nehmen.»
«Du hast es leicht, den Messias zu spielen. Und wenn du deinen Job verlierst, ist es nicht so wichtig, als wenn ich meinen verliere! Du und dein Wahrheitsfimmel. Wie ich mein Leben lebe, geht keinen was an.»
«Was die Wahrheit angeht, herrscht momentan das Gefühl, daß keine Seite mehr als 55 Prozent daran besitzen sollte.»
«Ich dachte, du hast sie ganz gepachtet.»
«Hör zu, Schlaumeier, du gewinnst Wimbledon und kommst nach Hause, um einen Streit vom Zaun zu brechen. Ich versuche dir die Wahrheit zu sagen, so gut ich kann, freilich überblickt niemand die ganze Sache, nicht mal die totale Wahrheit über sich selbst.»
«Ich mache mir Sorgen um meine Karriere. Ich kann nicht zulassen, daß mir irgendwas den Slam vermasselt. Kannst du nicht für sechs Monate den Mund halten?»
«Der Schaden, wie du es nennen magst, ist bereits passiert. Ich kann nicht zurücknehmen, was ich gesagt habe.»
«Du mußt es ja nicht wiederholen.»
«Nein, das nicht.» Harriet konnte nichts essen. Sie spielte mit dem Besteck.
«Vielleicht solltest du heimfahren und es dir überlegen. Ich gehe allein nach Los Angeles.»
«Ich muß mir nichts überlegen, Carmen. Ich will meine Beziehungen zu anderen Menschen nicht auf Lügen aufbauen. Ich habe mein ganzes Leben gebraucht, um zu diesem Entschluß zu gelangen. Ich werde nicht sagen, daß du lesbisch bist. Ich werde gar nichts sagen, aber über mich kann ich nicht lügen. Ich wünsche zu Gott, wir alle würden aufhören zu lügen. Ich wünschte, alle Schwulen und Bisexuellen in Amerika hätten einen blauen Punkt mitten auf der Stirn, damit sie sich nicht mehr vor Heuchelei und Angst verzehren könnten - das wünsche ich mir!»
«Du spinnst.»
«Vielleicht. Ich finde, daß Menschen ihr Leben so leben sollten, wie sie es für richtig halten. Will ich etwa für etwas geliebt werden, das ich nicht bin, und gehaßt werden für das, was ich bin? Habe ich keine andere Wahl? Es muß doch ein paar Heterosexuelle geben, die uns nicht hassen.»
«Hier geht's nicht um Philosophie, hier geht's ums Überleben», höhnte Carmen.
«Überleben ist eine Philosophie.»
«Du bist so raffiniert, Harriet. Du kannst alles so drehen, wie es dir paßt. Ich hab's satt.»
«Du hast mich satt.»
«Erzähl mir nicht, was ich fühle. Ich brauche dich nicht dazu, daß du mir alles auseinandertüftelst, besten Dank.»
«Du hast ja Bonnie Marie Bishop.»
Carmens Gesicht erstarrte. «Wie hast du das rausgekriegt?»
«Du hast eine heimliche Spur von schlechtem Gewissen hinterlassen. Du hast die letzten zwei Wochen rumgebumst. Und weiß Gott nicht mit mir.»
Carmen faßte sich. «Sie ist sehr nett.»
«Es ist nicht meine Sache, deine Geliebte zu billigen. Du kannst nicht von mir erwarten, daß ich im Augenblick viel Freundlichkeit für sie oder dich aufbringe.»
«Wenn ich mit jemand anders zusammen bin, ist das deine Schuld.»
«Das hoffe ich nicht.»
«Man sucht sich nur jemand, wenn die Sache zu Hause nicht gut läuft.»
Dies verletzte Harriet tief. Zunächst einmal glaubte sie es nicht. Menschen brauchen verschiedene Dinge zu verschiedenen Zeiten. Wenn Geliebte als Waffen benutzt werden, ist das etwas anderes, als wenn ein Mensch einen anderen braucht. Im Augenblick war alles völlig durcheinander. Harriet gab nicht auf. Sie schwankte zwischen Wut und furchtbarem Schmerz, und sie wollte beides nicht herauslassen.
Carmen nahm die Schultern zurück und setzte sich aufrecht. «Übrigens, ich wollte dir von Lavinias Plan erzählen.»
«Was?» «Sie hat einen Mann gefunden, den ich heiraten kann.»
Schockiert griff Harriet nach der Tischkante. «Das kann nicht dein Ernst sein.»
«Das ist mein Ernst.» Ihr dunkles Gesicht verriet keine Emotion.
«Ist er schwul?»
«Weiß ich nicht. Er heißt Timothy Meeker. Ich lerne ihn nächste Woche kennen. Er lebt in Los Angeles.»
«Es ist grausam, einem heterosexuellen Mann etwas vorzumachen. Er hat auch ein Herz.»
«Es ist ein reines Geschäft. Er bekommt ein Gehalt.» Carmen hatte sich bereits auf diese Handlungsweise festgelegt. Sie war nicht mehr umzustimmen. Sie würde vor sich selbst rechtfertigen müssen, was sie da tat. «Das ist verrückt.»
«Es ist vollkommen vernünftig.»
Eine enorme Fülle von Neuigkeiten war gerade auf Harriets Haupt niedergeprasselt, allesamt schlechte. «Und was ist mit deiner neuen Freundin?» Sie sagte dies mit ebensoviel Herausforderung wie Neugier.
«Sie findet es großartig. Sie möchte auch nicht, daß jemand etwas über sie erfährt.»
«Zwei Lügnerinnen sind besser als eine, schätze ich.»
«Das ist nicht fair!»
«Bei aller Phantasie läßt sich das, was du da tust, nicht als fair bezeichnen», konterte Harriet. «Was tust du denn? Du verstrickst dich in ein Netz von Betrug.»
«Die Leute wollen sich ein bestimmtes Bild von mir machen. Sie werden glauben, was ich ihnen erzähle. Das weißt du. Die Leute sind doof.» Ein bitterer Unterton kam in ihre Stimme. «Jedenfalls tun Filmstars das dauernd.»
«Dadurch wird es nicht richtig.»
«Hör endlich auf! Du bist doch nicht mein Gewissen. Nach meiner Karriere kann ich tun, was mir gefällt.»
«Hiernach wirst du nicht mehr dieselbe sein.»
«Wie meinst du das?» Ein Schimmer von Verständnis flackerte in Carmens Augen auf und verschwand wieder.
«Jede Handlung, die ein Mensch in seinem Leben tut, prägt ihn. Was du tust, trägst du mit dir herum. Wie einen Fleck auf der Seele.»
«Ach, Scheiße.»
«Handlungen haben Folgen, Carmen, wenn auch vielleicht erst Jahre oder Jahrzehnte später. Was du tust, wird dich für den Rest deines Lebens verfolgen, und es ist mir scheißegal, wie viele Autos, Pelze, Brillanten, Häuser oder Frauen du kaufst.»
«Was du brauchst, ist eine Kanzel», höhnte Carmen.
«Du hast dir ein Preisschild aufgeklebt. Du hast dich schlicht und ergreifend verkauft. Wofür, Carmen? Für die gute Meinung von Leuten, die du nicht mögen würdest, wenn sie in deine Nähe kämen? Für Geld? Selbst wenn es um Millionen von Dollars geht, ist doch deine Integrität mehr wert, als dir irgendwer zahlen kann. Wie wirst du dich im Spiegel ansehen, nachdem du das getan hast? Du hast deine Integrität verplempert.»
«Du bist ja so weg von allem. Du bist eine alberne Idealistin. Mein Leben wird wunderbar sein! Ich kann tun, was ich will. Und ich kann's mit einer tun, die mich zu schätzen weiß. Du hast immer versucht, mich zu etwas zu machen, das ich nicht bin.»
«Ich habe dir zu helfen versucht, zu dir selbst zu finden. Die Carmen, die ich liebe, würde nie lügen.»
«Ich wußte ja, daß du mich nie wirklich verstanden hast.»
«Was für ein Mensch würde dich auch dazu auffordern, deine Selbstachtung zu untergraben?»
Ein verlegenes Schweigen legte sich über den üppig gedeckten Tisch.
Was keine von ihnen aussprach, war, daß Carmen panische Angst vor dem Alleinsein hatte. Ihre Karrieresorgen waren eine Tarnung für tiefere Dinge. Ein Mensch kann nur dann weiterkommen, wenn er das, was er am meisten fürchtet, annimmt. Carmen war weit davon entfernt, sich ihrer Einsamkeit zu stellen, die dann zu Alleinsein, schließlich zu Selbstkenntnis werden würde. Sie brauchte es, daß ihre Persönlichkeit ihr widergespiegelt wurde, wie sie es brauchte, daß der Ball von der anderen Seite des Feldes zurückgeschlagen wurde.
«Warum tust du das?» Eine Träne lief seitlich an Harriets Nase herab.
«Weil ich kein Vertrauen mehr zu dir habe. Wenn du mich liebtest, hättest du nicht allen erzählt, daß du lesbisch bist. Dir liegt nichts an mir oder meiner Karriere. Dir liegt nur an dir selbst.»
«Ich habe meine Karriere verpfuscht. Ich bin von einem Land zum anderen mitgezogen, von einem öden Ort zum nächsten öden Ort.»
«Ich habe dich nicht darum gebeten.»
«Warum hast du dann geweint und mir gesagt, ich soll meine Stellung aufgeben? Warum hast du mich fünfmal am Tag angerufen und geweint, wenn wir getrennt waren? War das etwa kein Bitten?»
Carmen bekam einen roten Kopf. «Jetzt bitte ich dich nicht.»
«Aber du hast es getan, und ich bin 36 Jahre alt, und mein Leben zu diesem Zeitpunkt zu ändern ist verdammt beängstigend. Mit 24 glaubst du, du kannst jederzeit neu anfangen. Das Leben ist eine einzige Einladung zu Neuanfängen. Ich stehe in meinem Leben an einem anderen Punkt als du, und du spielst schnell und locker, nicht nur mit meinem Kopf, sondern auch mit meiner Karriere. Gott, war ich ein Dummkopf zu glauben, daß du meinst, was du sagst. Du hast gesagt, du würdest für mich sorgen.»
«Ich zahle schließlich die Rechnungen.»
«Wie kannst du es wagen, das gegen mich auszuspielen, nachdem du mich gebeten hast, meine Arbeit aufzugeben!»
Carmen wußte, daß sie ihr Wort brach, und sie haßte es. «Ich habe keine Gewalt über mein Herz. Mir ist ja wohl noch ein Irrtum gestattet.»
«Aber wer von uns ist der Irrtum? Und was ist mit den anderen Frauen, die vor mir deine Geliebten waren?»
Carmen konnte das nicht ertragen. Sie wollte, daß alles einfach war. Gestern war gestern, und Gestriges galt heute nicht mehr. Frühere Geliebte wurden vergessen, oder man erinnerte sich gelegentlich liebevoll an sie. Carmen wechselte das Thema. «Miguel ist in großen Schwierigkeiten. Er schuldet Amalgamated-Banks über 600000 Dollar.»
«Was?»
«Er hat einen Kredit von 600000 Dollar plus Zinsen aufgenommen und meine Unterschrift als Mitunterzeichnerin gefälscht.»
«Was hat denn das mit uns zu tun?»
«Ich werde eine Menge Geld verlieren, wenn ich nicht hetero werde. Miguel hat sich auf ein Geschäft mit nachgemachter Designermode eingelassen. Ach, frag bloß nichts. Der Punkt, auf den es ankommt, ist: wenn die Umsätze fallen und er den Kredit nicht zurückzahlen kann, muß ich das Geld aufbringen.»
«Carmen, ich mochte dich lieber, als du dir noch um dein Herz Sorgen gemacht hast.»
«Ich und meine Karriere sind dir völlig schnuppe. Jede andere wäre außer sich. Bonnie Marie macht Miguels Scheiße ganz krank.»
Harriet knallte ihr eine. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.
Carmen rieb sich das Gesicht und sagte: «Ich habe dir nie getraut.»
«Warum hältst du nicht einfach die Klappe?» Harriet stand auf, ging aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Carmen raste ganz hysterisch zum Telefon. «Bonnie Marie, ich hab's ihr erzählt. Sie hat mich geschlagen. Ich hasse sie!»
Worauf das Gespräch die erwartbare Wende nahm. Bonnie Marie liebe sie. Ja, Harriet sei eine fürchterliche Person. Innerhalb von 24 Stunden würden sie zusammen sein, und alles wäre gut. Es mußte einfach gut werden.
Ricky massierte Harriet die Füße. Das war sein Allheilmittel.
«Ich begreife nicht, warum es mir so elend geht. Ich habe doch schon Freundinnen so was durchmachen sehen.»
«Für dich ist es neu.» Ricky wies sie auf das Offensichtliche hin.
«Hier, trink das.» Jane reichte ihr einen Wodkacocktail.
«Ich trinke nicht.»
«Das wissen wir doch, aber es gibt für alles ein erstes Mal. Du bleibst heute nacht hier. Morgen früh komme ich mit und helfe dir, deine Sachen zu packen, und dann können wir alle nach New York zurückfliegen.»
«Es war einfach zuviel für sie.» Harriet trank den Cocktail tatsächlich.
«Schatz, du hast den Preis der Liebe gezahlt. Jetzt zahlst du die Steuern darauf. Je schneller du es vergißt, desto besser geht es dir.»
«Mein Gott, Jane, wir haben ein Haus zusammen. Wir haben zusammen gelebt.»
«Das haben viele andere auch. Trennung ist nun mal kein Zuckerschlecken.»
«Was soll das heißen?» Harriet sah Jane fragend an.
«Bloß daß es eine miese Kiste ist. Es ist auch für sie eine miese Kiste, aber das wird Carmen erst in ein paar Jahren herausfinden.»
«Lavinia hat noch einmal in Wimbledon gewonnen.» Ricky brachte Kissen und Decken für Harriet herein, die von dem Wodka schon ganz schläfrig war. «Hoffentlich ist das Sofa bequem.»
«Es ist prima.»
Jane deckte sie zu. «Nacht.»
«Nacht, ihr beide. Vielen Dank auch.»
«Na, komm.» Ricky küßte sie auf die Wange.
Ehe sie wegsackte, sagte Harriet: «In Gottes Armee habe ich Latrinendienst.»
Die Insel Mount Desert vor der Küste von Maine war ein kristallklares Mekka. Das Wasser war rein, die Luft flimmerte, die wilde Landschaft reinigte die Seele. Die Menschen, ob nur im Sommer oder das ganze Jahr über dort ansässig, waren solide. Susan Reilly und Alicia Brinker fuhren nach Wimbledon dort hin.
Die zwei Wochen nach Wimbledon waren die einzigen zwei Wochen im Jahr, in denen Susan ihr besessenes Training unterbrach. Sie ließ das World Team-Tennis aus, obwohl es gutes Geld einbrachte. Diese Ferien gönnte sie sich.
Während sie in einem kleinen Segelboot durch das tiefblaue Wasser glitten, plauderten die beiden freundschaftlich miteinander. Das Wetter war prächtig und Alicia eine gute Seglerin. Susan hatte vor, Alicia fallenzulassen, wenn sie einen passenden Ersatz finden konnte. Alicia war etwas zu passiv. Was hatte sie da in Gary Shorters Zimmer zu suchen gehabt? Und außerdem, Susans innere Uhr sagte ihr, daß es Zeit für etwas Neues war.
«Toller Tag. Ich liebe Maine.»
«Ich auch.»
«Susan?»
«Ja?»
«Ich muß dir etwas sagen.»
Jetzt kommt's, dachte Susan. «Was?»
«Ich glaube, du hast Carmen Semana und Harriet Rawls die Presse auf den Hals gehetzt.»
«Wieso glaubst du das?» Susan lag flach auf dem Rücken und sog die köstliche Sonne in sich ein.
«Die Geschichte von der Hochzeit. Die war so unerhört, daß sie nur dir einfallen konnte.»
Susans aufgeblähtes Selbstbewußtsein gewann die Oberhand. «Sei nicht albern.»
«So schlau sind Reporter nämlich nicht. Du hast das ausgekocht. Du kannst die Vorstellung nicht ertragen, daß Carmen den Grand Slam gewinnt.»
Susan knirschte leicht mit den Zähnen. «Sie wird ihn nicht gewinnen. Niemand wird ihn je wieder gewinnen.»
«Sie hat ihn schon halb. Wart's nur ab.»
«Was bedeutet dir das schon?»
«Ich bin einfach neugierig. Du wirst mich immer faszinieren.» Alicias sanfte Stimme schwebte über dem Wasser.
«Hm-m-m.»
«Das zu machen war gemein, Susan, gemein, aber in gewisser Weise witzig.»
Ein heimliches Lächeln stahl sich auf Susans Lippen.
«Das andere, was ich dir sagen wollte -» Alicia lavierte das Segelboot - «ist, daß ich schwanger bin.»
«Du bist was?» Susan setzte sich auf.
«Ich bin schwanger.»
Susan wurde fleckig im Gesicht. «Wie konntest du nur?»
«Ich möchte ein Baby.»
«Ich habe ein Kind.»
«Weshalb kann dann ich keines haben?»
«Alicia, ewig liest du in dieser Bibel. Du zermarterst dich unseretwegen. Wie kannst du da hingehen und dich schwängern lassen?»
«Ich möchte ein Baby. Ich möchte eine Sache oder einen Menschen, den ich lieben kann, und ich möchte nicht mein Leben damit zubringen, mich zu verstecken.»
«Du kannst mich lieben.»
«Nicht wirklich. Ich glaube nicht, daß du jemanden nahe genug an dich heranläßt.»
Das war nun nicht das Gespräch, auf das Susan gefaßt gewesen war. Sie hatte auf ein tränenreiches Geständnis gehofft. Sie hätte Alicia getröstet und ihr den einen nächtlichen Ausflug mit den Jungs verziehen. Dann hätte sie sich völlig gerechtfertigt gefühlt, sich schnellstens eine neue Geliebte zu suchen. «Das ist doch absurd.»
«Ich werde nicht heiraten. Ich weiß, das wird meine Eltern umbringen, aber es ist etwas, das ich tun muß.»
«Du mußt überhaupt nichts, außer sterben», ereiferte sich Susan.
«Es gibt noch etwas, das ich tun muß.»
«Was?»
«Dich verlassen.» Alicia machte einen Kopfsprung vom Boot and schwamm zur Küste. Die unerfahrene Susan brauchte zwei Stunden, um die Jolle wieder in den Hafen zu manövrieren. Als sie im Zimmer ankam, war Alicia ausgezogen. Susan setzte sich aufs Bett. Es war das erste Mal in ihren 30 Jahren, daß sie von einer Geliebten verlassen wurde.
Auch Lavinia Sibley Archer wurde verlassen. Howard Dominick wurde gefeuert. Tomahawk wollte einen neuen Boss, und das Damentennis ließ man sang- und klanglos in den Konzernpapierkorb fallen.
«Ich habe nie geglaubt, daß das passieren könnte.»
«Zwölf Jahre lang ist alles nach deiner Nase gegangen. Ich würde sagen, du bist gut davongekommen.»
Lavinia sah Siggy an. «Was hast du gesagt?»
«Ich sagte, du hast die Show zwölf Jahre dirigiert. Vielleicht ist es Zeit für neue Konzepte und neue Leute.»
Violett vor Wut brüllte sie: «Willst du damit sagen, daß ich hinterm Berg bin?»
«Hinterm Berg? Du solltest unterm Rasen sein.»
«Du bist gefeuert!»
«Großartig. Ich kündige. Aber bevor ich gehe, will ich dir noch sagen, wie scheißegal es mir ist, daß du Wimbledon gewonnen hast. Allen ist es scheißegal, daß du Wimbledon gewonnen hast oder das US Open. Die Welt dreht sich nicht um Lavinia Sibley Archer und das Damentennis.»
Sie war gelähmt vor Wut. Wie angewurzelt stand Lavinia da. Jetzt aller Hemmung beraubt, schlug Siggy weiter zu: «Das Damenspiel wird nie solche Einnahmen bringen wie das Spiel der Herren, und beim Herrentennis sieht es auch nicht gerade rosig aus. Wenn du überleben willst, faßt du besser deinen Markt ins Auge, Baby. Hänschen Müller kannst du vergessen - wenn er sich Frauen ansehen möchte, will er weder Kinder unter dreizehn noch schwitzende, kesse Väter sehen. Dein Markt ist die verheiratete Frau mittleren Alters, die Clubspielerin und ihr Mann, wenn sie ihn zu den Turnieren mitschleift. Und sie ist von den kessen Vätern auch nicht hingerissen. Wenn sie kommt, will sie gutes Tennis sehen, heimgehen und eine Rückhand wie Susan Reilly schlagen. Sie will nicht Susan Reilly sein. Kapiert?»
«Hinaus!»
«Ich überlasse dir uneingeschränkt das Feld. Ich gehe mit Vergnügen.»
«Du irrst dich, was den Tennismarkt angeht!» schrie sie hinterher.
Siggy war unterwegs zum Fahrstuhl.
Lavinia erkannte eine Krise, wenn sie eine sah. Sie schluckte ihren Stolz hinunter und rannte Siggy nach. «Warte eine Minute, warte eine Minute. Ich habe den Kopf verloren. Komm zurück and laß uns darüber reden.»
Gelassen trat Siggy von der aufgehenden Fahrstuhltür zurück.
Dann redeten sie fünf Stunden lang. Siggy Wayne schlug eine Neuorganisation des Profitennis vor. Alles würde heruntergeschraubt werden. Außerdem versprach er, einen neuen Sponsor beizuschaffen, einen, den man nicht speziell mit Weiblichkeit oder weiblichen Produkten gleichsetzte. Und schließlich, wenn sie ihn nicht zum gleichberechtigten Partner machte, ginge er.
Lavinia zögerte dies hinaus, bis er einen neuen Sponsor präsentieren konnte. Das tat er. Ein Schnapsfabrikant wollte einen neuen Drink auf den Markt bringen, einen alkoholischen Milchshake namens «Avalanche». Sie beschlossen, es ein Jahr lang auszuprobieren. Der Vertrag konnte gelöst werden, falls ein Skandal losbrach. Avalanche war für die neuen Konsumenten gedacht, die Achtzehn- bis Vierundzwanzigjährigen; im übrigen warb die Firma für ihr Hauptprodukt, Gin.
Siggy war nun gleichberechtigter Partner. Das Damentennis würde unter seiner Regie Zukunft haben. Veranstaltern, die früher ohne weiteres Turniere bekamen, wurden jetzt eine Reihe von Bestimmungen auferlegt, die Siggy Wayne ausarbeitete. Die Tennisveranstaltungen wurden unter Siggys Regie leicht an Zahl verringert und zentralisiert. Es war nun wirklich ein Geschäft und steuerte durch das Fahrwasser der Wirtschaft wie jede andere stabile Firma. Auf seine Weise war Siggy von größerer Bedeutung als Wimbledon.
Carmens Hochzeit, ein gesellschaftliches Spitzenereignis in Los Angeles, füllte alle Zeitungen und Sportblätter. Auch wenn sie sich ihrer Mediennutten nicht mehr sicher war, wußte Lavinia doch, daß niemand dieser Hochzeit widerstehen könnte. Der Witz war, daß Bonnie Marie Bishop als Carmens Brautjungfer fungierte. Arturo Semana übergab seine Tochter, während Theresa, ihre Mutter, in der ersten Reihe in Tränen zerfloß. Auch Miguel weinte. Er wußte, daß dieser hübsche Schauspieler sich früher oder später auf einen Machtkampf mit ihm einlassen würde. Miguel und Carmen kitteten ihr Verhältnis zueinander, so gut sie konnten. Sie liebte ihn noch immer, aber sie würde ihm nie mehr trauen. Sie würde nie wieder jemandem wirklich trauen, außer Bonnie Marie - und derjenigen, die nach Bonnie Marie kam.
Die Hochzeit sollte zwar ursprünglich Weihnachten stattfinden, aber die mittsommerlichen Ereignisse erschütterten Lavinia zutiefst. Dies war eine Notheirat, und das Damentennis war das Baby.
Vor der Hochzeit organisierte Happy Straker, zusammen mit den meisten anderen Mädchen im Profitennis, einen Polterabend. Filmkameras en masse waren dabei. Anschließend legten die lesbischen Spielerinnen ein Schweigegelübde ab. Keine würde je zugeben, daß sie lesbisch war, und keine würde sich je mit einer öffentlich bekannten Lesbierin sehen lassen. Damit war natürlich Harriet gemeint. Lavinia sorgte dafür. In all ihren Presseverlautbarungen war nur von «jener unglückseligen Freundschaft» die Rede. Nach Carmens Heirat, wenn ihre Mädchen in Sicherheit waren, würde sie aufhören, auf Harriet herumzuhacken.
Susan Reilly glänzte durch Abwesenheit. Alicia ebenfalls. Diese Geschichte flüsterte man sich nur hinter geschlossenen Türen zu. Happy überwachte jetzt das Schweigen. Es war eine Rolle, die ihr auf den Leib geschrieben war.
Mit einem verständnisvollen Timothy verheiratet, war Carmen nun in Sicherheit und mit Bonnie Marie wahnsinnig glücklich. Bonnie Marie wurde in einem hübschen Haus in Westwood versteckt, während Tim und Carmen in ihrem neuen, riesigen Anwesen mit Tennisplatz in Bel Air wohnten.
Carmens einzige Sorge galt dem Sieg im US Open. Sie trainierte inbrünstig mit Miguel. Sie würde den Grand Slam gewinnen, und allein darauf kam es an.
So fieberhaft Carmens Training auch war, an die Intensität desjenigen von Susan Reilly reichte es nicht heran. Susan begab sich in die Obhut von Marvin Wheelwright, einem der größten Trainer in dieser Sportart. Er war in den fünfziger Jahren ein guter Spieler im Doppel gewesen, aber seine wahre Rolle war die eines Trainers. Marvin konnte eine Spieltechnik genauer und schneller ändern als irgend jemand sonst im Sport. Er war teuer, und seine Schützlinge arbeiteten täglich acht Stunden.
Susan stand morgens um sechs auf. Da Marvin in Florida lebte, arbeiteten sie von sieben bis elf Uhr, machten eine Mittagspause, an die sich Krafttraining und Strategiestunden anschlossen, und waren dann wieder von vier bis acht Uhr abends auf dem Platz.
Marvin drillte sie auf Kunstrasen, dem Belag des US Open, und für das Australian Open auf Rasen. Er war einer der wenigen Profis in Amerika, die einen Rasenplatz besaßen.
Marvin war sich seiner Sache nicht sicher, was Susan und das US Open anging. Ihre Ungeduld mit dem Kunstbelag konnte ihr schaden; auf Rasen hingegen - wenn sie sich an das hielt, was er ihr einbleute, vor allem hinsichtlich ihrer Spurts ans Netz - auf Rasen würde sie mörderisch sein.
Auf ihre Weise war Susan bereits jetzt mörderisch. In Ermangelung von Liebe - dessen, was sie von der Liebe kannte - trat Susans manische Veranlagung offen zutage. Nach acht Uhr abends sich selbst überlassen, stürzte sie in den Kraftraum, um ihren Körper weiter zu traktieren. Sie war eine Besessene.
Harriet machte schlimme Zeiten durch. Sie konnte es sich nicht leisten, das Haus in Cazenovia zu halten, aber alle ihre Ersparnisse steckten darin. Sie hatte Carmen nie für kleinlich gehalten, wurde nun aber eines Besseren belehrt. Wahrscheinlich gibt es so was wie eine gute Trennung nicht, dennoch war das Gerangel mit Carmens ausgefuchsten Anwälten über das Haus keine beglückende Sommerbeschäftigung für eine Frau, die von ihrer Geliebten ohne Geld sitzengelassen worden war. Die schönen Geschenke, die Carmen ihr gemacht hatte, waren in dieser Situation nutzlos. Sie hatten nur dazu gedient, daß Harriet noch mehr zu einer Geisel von Carmens Reichtum wurde.
Schließlich wurde das Haus verkauft. Die Auszahlung wurde verzögert, da Carmens Anwälte erklärten, Harriet hätte nicht die Hälfte des Kaufpreises beigesteuert. Sie hatte das auch nie behauptet, denn schließlich war Geld nicht die Basis ihrer Beziehung mit Carmen gewesen. Sie waren Geliebte, keine Buchhalter. Trennung ist die einzige menschliche Tragödie, die alles auf Geld reduziert. Harriet haßte das. Carmen, wenn sie sich überhaupt dafür interessierte, bot nie an, diese Misere zu erleichtern. Als endlich alles geregelt war, schäumte Carmen, wie sehr sie von Harriet, dieser Lesbe, ausgebeutet worden sei. Harriet nahm ihre Hälfte des Hauserlöses, legte sie in hochverzinslichen Wertpapieren an und mietete ein Haus in der Stadt. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken.
Außer dem Geld aus dem Haus hatte sie keine Einkünfte. Freunde am College von Cazenovia und der Universität von Syracuse verschafften ihr Arbeit als Tutorin für Doktoranden. Damit konnte sie knapp die Miete und das Essen bezahlen. Harriet kam dahinter, daß Lesbischsein eine sehr kostspielige Sache war. Sie bedauerte, daß Carmen sie verlassen hatte, und sie bedauerte Lavinias Schmutzkampagne. Aber sie bedauerte nicht, daß sie die Wahrheit gesagt hatte.
Zu Lavinias und Siggys neuer Strategie für die Damentennisliga gehörte, daß sie wie ein Tornado in die Reihen der Angestellten fuhren. Alle kessen Väter waren draußen. Alle weiblichen Angestellten mußten Nagellack, Perlonstrümpfe, Parfüm und Röcke tragen. Eine Spielerin mußte nicht einmal lesbisch sein, sie brauchte dessen nur verdächtigt zu werden, um ihnen zum Opfer zu fallen. Es war die McCarthy-Ära im Tennis. Leider waren die Homosexuellen an Verfolgungswahn gewöhnt. Nur die Heteros beschwerten sich.