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Madison Square Garden ist eine gute Arena für Spieler wie für Zuschauer, und solche Stadien sind selten. Harriet schlängelte sich durch die Menge, ein ansehnliches Publikum für einen Er­öffnungsabend, und setzte sich neben Miguel, der heute abend blendend aussah. Er hatte das Geld von Dennis Parrys Amalga­mated Interstate Banks erhalten und fühlte sich der ganzen Welt überlegen. Harriet winkte Ricky und Jane oben in der Presseka­bine zu; Ricky streckte ihr die Zunge raus. Die beste (und die recht gute) Gesellschaft war zahlreich vertreten. Ein Typ in Harriets Loge hatte so viele Pillen eingeworfen, daß er sich, hätte man ihn geschüttelt, wie eine Babyrassel angehört hätte. Rainey Rogers war im ersten Match. Sie stolzierte auf den Platz wie ein ausgebildetes Paradegirl. Lavinia Sibley Archer, die schon wieder in einem anderen gelben Kleid glänzte, hielt die Eröffnungsrede. Sie brachte sie in weniger als zehn Minuten hinter sich, phänomenal für Lavinia.

Harriet sah sich im allgemeinen nur Carmens Spiele an. Man konnte das Tennis mehr als satt bekommen, selbst wenn es auf diesem Spitzenniveau gespielt wurde. Mitten im Match verduf­tete sie, denn Miguel versuchte, bei einem Sponsor mit seiner Allwissenheit Eindruck zu schinden. Sich das noch einmal an­zuhören, schaffte sie nicht.


Harriet trat in den Umkleideraum.

«Hast du den Steuerberater angerufen?» fragte Carmen zwi­schen ihren Lockerungsübungen.

«Ja.»

«Ich finde es unglaublich, daß sie schon wieder eine Steuer­prüfung bei mir machen. Ich kann von Glück sagen, daß dein Staat und meiner mir überhaupt noch etwas übriglassen.» Car­men war geladen, doch das war vor einem Match nichts Neues.

«Das Passahfest ist Mitte April. Vielleicht können wir den Todesengel dazu bringen, mal für die Gegenseite zu arbeiten. Laß uns diesmal die Erstgeborenen vergessen und uns auf die Finanzbeamten konzentrieren.»

«Ja.» Carmen ließ ihr Knie kreisen. «Weißt du, was Ricky mir heute erzählt hat? Er sagt, Bill Tilden hat sein Geld mit Theater­inszenierungen verschleudert, damit er darin die Hauptrolle spielen konnte. Außerdem vergaß er, sich die Zähne zu putzen. Es gibt Leute, die schwören, daß er sich nie die Zähne putzte.» Sie massierte ihre Schulter. «Ist das nicht verrückt? Er war der größte Tennisspieler der Welt, wollte aber etwas anderes sein.»

«Da besteht doch ein Zusammenhang. Er wollte im Rampen­licht stehen, ob auf dem Platz oder auf der Bühne. Er hatte Talent für das eine, aber nicht für das andere. So was kommt oft vor.»

«Meinst du die ganzen Baseballstars, die bei ABC als Kom­mentatoren auftreten und sich dann zwei Sendungen lang hal­ten?» Carmen grunzte.

«Es ist eine harte Umstellung. Wenn du erst mal all diese künstliche Aufmerksamkeit hast, was nicht heißt, daß du sie nicht verdient hättest, lebt es sich schwer ohne.»

«Meinst du das ganz generell oder denkst du da an jemanden bestimmten?»

Harriet dachte darüber nach. «Beides, schätze ich.»

«Ich trete noch längst nicht ab», erklärte Carmen rasch und nachdrücklich.

«Das habe ich auch nie gesagt.»

«Du kannst noch bis an dein Lebensende unterrichten.»

Harriet seufzte. Manchmal machte das Herumtouren sogar Carmen mürbe, die ewige Zigeunerin. «Diese Diskussion hatten wir bereits.»

Carmen schnaubte. «Ich habe heute Seth Quintard samt Ath­letes Unlimited gefeuert.»

Diese Neuigkeit traf Harriet überraschend. «Warum?»

«Miguel hat mir erklärt, daß sie mein Geld so lange zurück­halten, um darauf Zinsen zu kassieren. Und, woran ich nie gedacht habe, ich bin für sie nur eine von vielen.»

«Wohl kaum. Du bist die beste Spielerin der Welt.»

Dies quittierte Carmen mit einem Lächeln. «Jedenfalls nimmt Miguel die Sache in die Hand. Bei ihm werde immer ich Num­mer eins sein.»

Beunruhigt sagte Harriet nur: «Ja.» Sie griff nach einem eselohrigen Kartenspiel und teilte sich geistesabwesend die Kar­ten für eine Partie Solitaire zu.

Nachdem sie eine Runde lang zugeschaut hatte, hielt Carmen das Schweigen nicht mehr aus. «Was denkst du?»

Wie immer, wenn Harriet beunruhigt war, flüchtete sie sich in einen Scherz. «Ach, ich habe mich nur eben mal aufgeregt.» Sie schob die Karten zusammen und mischte neu. «Die Löhne sinken, Preise und Arbeitslosigkeit steigen. Ich kann keine marmeladegefüllten Krapfen mehr auftreiben. Die Tankstellen verschenken keine Gläser mehr. Die Telefonvermittlung ver­sucht, Gespräche abzulauschen, entdeckt aber, daß der Staat bereits drinhängt.»

Carmen, deren gute Laune wiederhergestellt war, lachte. Sie liebte Harriet, wenn sie sie zum Lachen brachte.


Rainey Rogers' Spielweise kannte Miguel so genau wie seine eigene. Im Analysieren von Stärken und Schwächen anderer war er exzellent. Rainey hatte keine auffallenden Schwächen. Wenn auch nicht gerade die Schnellste, so war sie doch spritzig. Wenn auch nicht die Kräftigste, so war sie doch zäh. Ihre einzige echte Schwäche war ihre Tendenz, nicht ans Netz zu gehen; mit einer Spur von Ballscheu zwinkerte sie einmal zu oft, wenn die Bälle auf sie abgefeuert wurden. Nicht daß sie sich am Netz verzettelte, aber im allgemeinen nützte sie nicht mit Macht einen Vorteil aus, indem sie für einen Ball nach vorn spurtete. Sie zog es vor, von der Grundlinie aus auf den langsamen Tod hinzu­arbeiten.

Miguel blieb in seiner Feldrandloge, denn er wollte Seth Quintard meiden. Doch Seth stapfte herein, setzte sich neben ihn und wartete kalt das Ende von Raineys Match ab. Ihre Spiele schienen immer ewig zu dauern, aber irgendwann nahmen sie doch ein Ende.

Rainey hatte kaum über das Netz gereicht, um ihrer besiegten Gegnerin die Hand zu schütteln, als Seth schon loslegte. «Mr. Semana, ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie Ihre Schwe­ster dazu bewegt haben, ihre Beziehung mit Athletes Unlimited zu beenden.»

Miguel heuchelte Überraschung: «Ich stehe meiner Schwester sehr nahe, gewiß, aber sie trifft ihre Entscheidungen selbst.»

Seth lehnte sich hinüber. «Sie macht einen großen Fehler. Wir wissen, was jede andere Sportlerin für Werbeverträge bekommt. Niemand kann ihre Leistungen unter Wert einkaufen, weil wir auf den Cent genau wissen, welchen Marktwert jede hat.»

«Sicher.» Miguel nickte.

«Sie gehört zu uns.»

«Sie ist anderer Meinung.»

«Hören Sie, Miguel, lassen Sie den Quatsch. Sie haben ihr erzählt, daß wir ihr Honorar investieren und die Auszahlung um die Drei- oder Vier-Monats-Frist solcher Anlagen verzögern.»

Miguel schätzte es nicht, wenn jemand Tacheles redete. «Es gibt da allerdings einige Verzögerung bei der Auszahlung, Mr. Quintard.»

«Selbst wenn das stimmte, und ich sage nicht, daß es so ist, können wir für Ihre Schwester mehr tun als sonst wer in diesem Geschäft.»

«Vielleicht, aber von jetzt an manage ich ihre finanziellen und vertraglichen Angelegenheiten.»

Wütend über den Provisionsverlust explodierte Seth Quin­tard: «Ich weiß zwar nicht, wie man die brüderliche Entspre­chung zu einem Gigolo nennt, Semana, aber das sind Sie, verflucht noch mal.»

Miguels Gesicht loderte vor Zorn. Er packte Seth bei der Krawatte. «Raus hier.»

Unbeeindruckt fuhr Seth Quintard fort: «Und im übrigen, Sie Pomadenheini, ich weiß Bescheid über das Kokain in den Schlä­gergriffen.» Ohne Quintards Schlips loszulassen, sprang Miguel auf und zog Seth mit hoch. Er schleifte ihn hinaus und stieß ihn die Treppe der Loge runter.

Seth rieb sich den Nacken. Er rappelte sich auf und krächzte: «Dafür werden Sie bezahlen. Und wenn es mich zehn ver­dammte Jahre kostet, das werden Sie mir blechen.»

Miguel hatte ihm bereits den Rücken gekehrt und ging da­von. Erstaunlicherweise hatten nur wenige das unerquickliche Schauspiel beobachtet. Die, die es taten, waren naive Fans, die annahmen, zwei Typen hätten ein bißchen zuviel getrunken.

Miguel stürmte an den Sicherheitsposten vorbei nach drau­ßen. Woher, in Gottes Namen, wußte Seth von dem Kokain?

Miguel war ein Gelegenheitsschmuggler. Er konnte leicht an erstklassiges Koks herankommen, wenn er zu Hause war. Er bohrte Schlägergriffe auf und brachte den Stoff durch den Zoll. Wenn er Carmen begleitete, wurde er nie durchsucht. Er machte es sich nicht zur Gewohnheit; es war ein gelegentlicher Neben­erwerb. Miguel wußte immer, wen er kontaktierte, wenn die richtigen Kunden drauf aus waren. Aber er hatte nicht den Ehrgeiz, ein Berufsdealer zu werden. Tatsächlich hatte er nur zwei feste Kunden.

Einer seiner Kunden, Ronnie Baldwin, ein gutaussehender Tennisspieler, füllte das Koks in eine Gelatinekapsel und führte sie sich in den Hintern ein. Den ersten Satz spielte er ziemlich redlich, während seine Körperwärme die Kapsel zum Schmel­zen brachte. Im zweiten und teilweise dritten Satz spielte er wie ein Wahnsinniger. Wenn sein Spiel über vier oder fünf Sätze ging, saß er natürlich in der Patsche, deshalb hatte er für Not­fälle immer etwas Koks in einem Becher auf der Seitenbank.

Dann ging Miguel ein Licht auf. Baldwin, dieses Schwein, gehörte zum Stall von Athletes Unlimited. Er mußte gesungen haben. Die Gründe dafür konnte sich Miguel nicht zusammen­reimen. Zum Teufel, er hatte diesem Typen einen Gefallen getan, indem er ihm solch erstklassigen Stoff beschaffte. Jemand mußte ihn in die Mangel genommen haben. Er war als Spieler auf dem absteigenden Ast. Vielleicht war ihm ein Vertrag ge­platzt und er brauchte einen Sündenbock.

Von Miguels anderer Kundin konnte Seth es nicht herausbe­kommen haben. Sie war eine Dame der New Yorker Gesell­schaft von tadelloser Herkunft. Solche Leute kannte Seth nicht.

Miguel bekam das Flattern. Er wußte, Seth würde Carmen keine Kokssache anhängen; sie wußte ja von nichts. Er konnte auch Miguel die Kokssache nicht anhängen, ohne das Herren­Tennis in Gefahr zu bringen. Wenn Seth auf Rache erpicht war, mußte er sich etwas einfallen lassen. Und da er Carmens Ver­träge geprüft hatte, fürchtete er, daß es Seth an Einfallen nicht mangeln würde.


In der Wohnung eines Freundes hoch über dem Central Park lauschte Susan ihrem Anwalt. Sie hatte ihr Match mühelos gewonnen, was sie in gute Laune versetzte. Er versetzte sie in noch bessere Laune.

«Du bist ja noch so spät im Büro. Ich dachte, nach Sonnen­untergang sind in San Francisco alle auf Parties.»

«Immer nur Arbeit und kein Vergnügen macht Jerry zur trüben Tasse», erklärte Jerry Hammer. «Ich habe in deiner Sache nachgeforscht. In manchen Städten, in denen du spielst, ist Homosexualität strafbar. Eine Ausländerin mit einer Aufent­haltserlaubnis muß sich sowohl an die Gesetze des Staates hal­ten, in dem sie wohnt, als auch an die Bundesgesetze.»

«Und was bedeutet das?»

«Es bedeutet, wenn deine Freundin bei einer homosexuellen Handlung in - sagen wir - New Hampshire ertappt und ihre Homosexualität den Gesetzeshütern bekannt wird, wäre es denkbar, daß sie nach Argentinien abgeschoben wird. Natürlich ist Homosexualität auch dort nicht wohlgelitten. Sie sind in diesem Punkt ganz übel. Sie sitzt in der Klemme.»

«Sie sitzt nur in der Klemme, wenn man es erfährt. Gibt es eine Möglichkeit, um eine Auseinandersetzung herumzukom­men, falls» - Susan stockte - «falls es sie unglücklich treffen sollte?» «Sie könnte juristisch Einspruch erheben, aber ihre Chancen, in diesem Land zu bleiben, wären ernstlich gefährdet.»

«Das ist ja schlimm.» Susan triefte vor Betroffenheit.

«Susan, ich helfe ihr gern heraus, wenn das Dilemma eintref­fen sollte. Ist sie eine enge Freundin?»

«Eine alte Freundin.»

«Sag ihr, sie soll vorsichtig sein», riet Jerry.

«Das werde ich tun. Danke. Jerry. Ich weiß deinen Rat sehr zu schätzen.» Susan machte eine Pause. «Möchtest du einen Schläger mit Autogramm für Tiffany? Ich werde ihn gleich morgen zur Post geben.»

«Sie ist sicher ganz aus dem Häuschen», sagte Jerry. «Bis demnächst also, wenn du wieder zu Hause bist.»

«Nochmals danke schön.»

«Wiedersehen.»

«Auf Wiedersehen.»


Jane und Ricky hatten einen Krach, in dessen Verlauf er die Frauenbewegung als Altersheim für Pfadfinderinnen bezeich­nete und sie ihm erklärte, daß Männer nur alt, aber nicht erwach­sen werden. Jane rief Harriet an. «Wenn's gewittert, gehen die Gewitterhexen einkaufen.»

Harriet, die wohlweislich nicht nach den Details fragte, ver­abredete sich mit ihr um halb zwei an der Ecke 57. Straße und Fifth Avenue.

Jane begrüßte sie: «Er ist ein solches Arschloch.»

«Und du bist natürlich die Unschuld vom Lande.»

«Sei bloß nicht so vernünftig. Ich kann's nicht ausstehen,

wenn du vernünftig bist. Er wird langsam wie die Spieler, weißt

du. Diese Leute nehmen nie Klopapier. Alle küssen ihnen den

Arsch!» Jane hob die Hand. «Sag bloß nichts. Was können wir

machen?»

«Wir können uns zum Beispiel 23 Möglichkeiten ausdenken, unsere Uteruswände zu tapezieren.»

Jetzt hatte Jane Mühe, an ihrer schlechten Laune festzuhal­ten. «Na, ich jedenfalls will Geld ausgeben. Hier, mal sehen, was wir da haben.» Jane zog einen ganzen Fächer von Kreditkarten aus ihrer Tasche. «American Express, wir reisen nie ohne sie. Master-Card, Visa, Playboy. Er ist so beschissen. Sears und Roebuck, nicht zu gebrauchen. Saks Fifth Avenue, prima. Magnin - falsche Küste, Garfinckel, nee. Aha! B. Altman. Unsere Komfortables-kaufen-Karte. Und hier der Schlager, Bloomingdale! Laß uns erst mal Tiffany ansteuern. Wir haben da ein Konto.»

«All dieses bunte Plastik erinnert mich an die Bonbontheken im Kino. Solche Karten sind Jujube-Drops für Erwachsene.»

«Samstagmorgen imRitz.» Jane wirbelte durch Tiffanys Drehtüren. Harriet kreiste gleich zweimal herum. Jane zog sie heraus. «Wetten, daß mir mehr Süßigkeiten einfallen als dir?»

«Ich wette, das schaffst du nicht.»

«Also, worum wetten wir?« Janes Laune hob sich augenblick­lich.

«Eine Tiffany-Anstecknadel.»

«Los, du bist dran, Rawls. Da ist so ein goldener Knoten, den ich ums Verrecken gern hätte.»

«Ich will den goldenen Würfel, und wehe, du zählst die Piepen.»

«Fertig?»

«Fertig.»

Jane leierte die Naschereien ihrer Kinderzeit herunter: «Al­mond Cluster, Almond Joy, Baby Ruth, Malted Milk Balls, Butterfinger, Butternut, - mampf. Charleston Chew - Mann, hab ich das Zeug gemocht. Hershey's Kisses. Fifth Avenue Bar, Clark Bar, Big Ben Jellies, Mary Jane, Milky Way, Payday.» Sie wurde langsamer. «Raisinets!»

«Mir fällt auf, daß du im Vorteil bist, weil du angefangen hast. Das ist wie der erste Aufschlag.»

«Das hättest du vorher sagen sollen. Du hast schließlich einen Mund.»

«Jane Fulton, du bist ein Pferdehändler. Jetzt bin ich dran. Auf wieviel hast du's gebracht? Ich habe fünfzehn gezählt. Zähl du für mich.»

Harriet schloß vor der Schreibwarenvitrine die Augen und stellte sich den Glastresen neben dem schmierigen Popcorn­automaten in dem Kino ihrer Kindheit vor. «Also los. Tootsie Roll.»

«Wie konnte ich das bloß vergessen!»

«Jane, du störst meine Konzentration!»

«Entschuldige.»

«Na gut. Three Musketeers.»

Jane seufzte.

«Hörst du wohl auf? Ich habe erst zwei. Also, Sugar Daddy, Sugar Babies, Sugar Mama.»

«Harriet, das ist Beschiß.»

«O nein, ist es nicht. Das waren alles verschiedene Sorten.»

Jane stützte den Ellbogen auf die Schreibwarenvitrine und runzelte die Stirn. «Weißt du, ich habe dich ja immer respektiert, Harriet.»

«Halt den Mund, Jane. Ich verbiete dir, mich noch einmal zu unterbrechen. Zähl weiter! Snickers, Red Hot Dollars.»

Jane jaulte auf.

Harriet hielt ihr den Mund zu und fuhr fort: «North Pole, Nutty Crunch, Necco Wafers, Mr. Goodbar.»

Jane biß Harriet in die Hand, damit sie losließ. «Das ist ein Romantitel.» Jane wischte sich über den Mund.

«Das ist ein Schokoriegel, und das weißt du. Baffle Bars und Bit-O-Honey, Black Crows, Pearson's Coffee Nips, Diamond Drops, Whirligigs und Jube Jels. Wie viele sind das?»

«Achtzehn.» Jane sprang auf. «Milk Maid. Sechzehn. Eagle Bar und Poppycock. Wir stehen gleich! Ich muß mir noch eins einfallen lassen. Ich hab's! M & M's.»

«Also fehlen mir zwei zum Gewinnen.»

«Wenn mir nicht noch mehr einfällt.»

Harriet stützte das Kinn in die Hand. «Liberty Mints, Sour Balls und Horehound Drops.»

«Horehound Drops. Furchtbar.» Jane grübelte nach. «Also gut. Virginia Nut Roll.»

«Chunky.» «Das hast du schon gesagt.»

«Jane, das hab ich nicht.»

«Hast du wohl.»

«Verdammt noch mal, kein Wunder, daß Ricky stinksauer wurde. Also gut, du Klugscheißer. Krackel Bar.» Sie stieß die Luft aus. «Oranges Slices.»

«Safe-T-Pops!» brüllte Jane. Die Leute im Geschäft taten, als hörten sie nichts. Der Mann hinter der Schreibwarenvitrine, mit einem älteren Kunden beschäftigt, der zwischen blaßblauem und knallrosa Papier schwankte, irgnorierte versnobt die beiden Frauen.

«Fruit n' Nut Bar und Starlight Mints.»

«Jujubes.» Jane lächelte.

«Unfair. Damit habe ich das ganze ins Rollen gebracht.»

«Du hast es aber nicht gesagt, als wir loslegten.»

«Du bist ein hinterfotziges Schwein.»

«Ißt du etwa mit diesem Mund?»

«Wir alle wissen schon wen.»

«Ach, Harriet, müssen wir denn in sexuelle Anzüglichkeiten abgleiten? Entweder fallen dir noch mehr Süßigkeiten ein oder nicht.»

«Wie ist der Stand?»

Jane rollte naiv mit den Augen. «Ich hab's vergessen.»

«Ich nicht.» Harriet zählte die Striche in ihrem kleinen Adreß­buch zusammen. «Du hast 22, und ich habe 26.»

«Bist du eine Streberin.» Jane konzentrierte sich. «Pom­Poms, warte, dräng mich doch nicht. Merrimints.»

«York Peppermint Patties.» Harriet war wie Ming, der Gna­denlose.

Jane dachte nach. Sie dachte angestrengt nach. Sie umkreiste einmal die Schreibwarenvitrine. «Du gewinnst.»

«Gut! Ich nehme diese Anstecknadel auf der Stelle mit. Ich danke dir sehr.»

Jane murrte, als die Dame hinter der Vitrine Harriet die heißbegehrte Nadel gab. «Ich bitte um eine Schweigeminute im Gedenken an mein dahinscheidendes Geld.»

Eine Flut von Federn und Tulpen ergoß sich über den unteren Raum des noblen Restaurants. Howard Dominick präsentierte ein neues Tomahawk-Sortiment: Pocahontas. Dosen mit Tal­kumpuder, geformt wie Indianerzelte, stiegen aus den Tulpen und Federn empor. Darüber schwebten kleine Pocahontas- Parfumproben, jede Probe an einem kleinen gelben Luftballon. Intimpuder mit derselben Duftnote war dezent in einer Ecke ausgestellt. Der mit seinem neuen Sortiment nicht zufriedene Howard dekorierte eine ganze Wand mit anderen Tomahawk­Produkten. Der Nagellack «Autumn Plum» glänzte mit dem Lippenstift «Mocha Maid» um die Wette.

Lavinia trug Gelb. Solange sie sich nicht rührte, hätte sie als überdimensionale Tulpe durchgehen können. Die Skulptur aus Eis, ein großer Tomahawk, schmolz langsam dahin.

Howard warf jedes Jahr während der Meisterschaften in New York eine riesige Party. Auch wenn das Turnier in Washington, D. C., hinsichtlich der Spielergebnisse der Höhe­punkt der Turnierrunde war, galt es in geschäftlicher Hinsicht nur als kleiner Fisch. In New York tätigte Howard seine Ab­schlüsse, leitete seinen Firmenzweig und beeindruckte oder bedrückte seine Konkurrenz. Natürlich lud er sie zu jeder Party ein.

Miguels weiße Zähne blitzten unter seinem pechschwarzen Bart hervor. Tatiana Mandelstam, Herrscherin über die stärkste Konkurrenz von Tomahawk, hörte ihm mit verzückter Auf­merksamkeit zu.

«Senora, wie machen Sie das nur? Sie haben das Geheimnis ewiger Jugend entdeckt.»

Die ältere Lady schüttelte den Kopf. Sie war Bewunderung gewöhnt. «Ganz und gar nicht, Mr. Semana. Ich praktiziere nur, was ich predige - Bewegung, gutes Essen und gewissenhafteste Anwendung meiner Kosmetika.»

«Wenn dem so ist, werde ich Ihre Zaubertränke kistenweise kaufen.»

«Diesen Herbst bringe ich ein Kosmetiksortiment für Män­ner heraus.» Ihre dunklen Augen strahlten.

«Ich bin im rechten Moment geboren.» Er reichte zum Ta­blett eines Kellners hinüber, ergriff ein Glas Champagner und bot es der Herrscherin an. «Warum auch Tomahawk den ganzen Spaß überlassen?»

Lässig setzte sie das Glas an die Lippen und lächelte. Sie war interessiert.

«Tomahawk kann nach Belieben über die Mädchen verfügen. Jugend, Gesundheit, Frische. Aber keine von ihnen wird mit einem speziellen Sortiment identifiziert. Rainey Rogers reprä­sentiert zum Beispiel nicht Pocahontas.»

Tatiana hörte zu. Sie kannte die Branche, und - noch wichti­ger - sie kannte ihren Kundenkreis. «Reden Sie weiter.»

«Wäre es nicht wunderbar, wenn meine Schwester Carmen ein neues Sportparfum repräsentierte, das aus Ihrer Produktion käme?»

Tatiana schien sich das zu überlegen, dann sah sie direkt in Miguels hübsches Gesicht. «Wunderbar für Ihre Schwester, aber nicht für uns.»

Perplex lächelte Miguel noch immer.

Sie fuhr fort: «Sehen Sie, Carmen hat nicht das richtige Image für uns.»

«Aber sie ist jung und die Verkörperung von Gesundheit. Kleine Mädchen und Teenager schicken ihr bergeweise Fan­post.»

«In bezug auf Tennis zweifellos.» Sie setzte ihren leeren Kelch auf dem Tablett eines anderen Kellners ab. «Tennis und Gla­mour sind einander widersprechende Geschäfte, mein guter Mann. Ihre vollkommene Schwester mag die Verkörperung von Gesundheit sein, aber sie ist nicht die Verkörperung von Weib­lichkeit. Tatiana-Kosmetik proklamiert die Frau als das uner­gründliche Mysterium. Sie könnten Carmen die Fingernägel anmalen, ihr das Haar färben, die Locken herausziehen oder drinlassen, ihr den besten Maskenbildner New Yorks schicken und ihr schmeichelhafte Kleider anziehen ...» Sie hielt inne. Miguel hing ihr an den Lippen. «Und sie sähe noch immer wie ein kesser Vater aus.» Damit wandte sich Tatiana distinguiert ab, um sich mit einem anderen Bauern zu unterhalten, ihre Sma­ragde und Diamanten funkelten im Licht. Nicht umsonst nannte man sie die Herrscherin.


Gary Shorter verbreitete Munterkeit wie andere Tripper. Rainey hatte in zwanzig Minuten gegen Susan Reilly anzutreten - eine schwere Partie. Rainey hörte sich seine Ratschläge an: Halte Susan innen, direkt in der Mitte, und dann treibst du sie mit einem scharfen kurzen Cross weit aus dem Platz hinaus. Da Susan weite Winkel von Rainey erwartete, konnte sie nach Garys Schätzung Susans Spielrhythmus knacken. Rainey hatte Susan schon früher auf dem Platz gegenübergestanden und wußte, daß nichts Susans Spielrhythmus knacken konnte, wenn sie in der richtigen Verfas­sung war. Falls sie in der falschen Verfassung war, würden sie bereits die Ansagen der Linienrichter fertigmachen. Wie alle Spielerinnen haßte es Susan, sich für einen Punkt die Seele aus dem Leib zu ackern und dann erleben zu müssen, wie so eine fette Kröte in einer Tomahawk-Jacke den Ball entschied.

«Tief. Placier die Augschlagsreturns tief. Selbst beim zweiten Aufschlag ist sie mörderisch.» Gary tätschelte seinem Schütz­ling die Schulter.

«Ich spiele jetzt seit fünf Jahren gegen sie», fauchte Rainey. Bloß weil sie achtzehn war, behandelte sie jeder wie ein Kind. Auf dem Platz war sie eine Veteranin; Gary Shorter konnte sich den Schmus schenken. Ihre Mutter glaubte jedoch, daß er ihr Spiel verbesserte.

Rainey war bewundernswert, aber nicht liebenswert. Sie war nicht arrogant, erwartete aber, daß es nach ihrer Nase ging. Sie be­fahl nie etwas, wiederholte allerdings ihre Forderungen so oft, bis sie erfüllt wurden. Ihre Mutter machte die Schmutzarbeit; sie war keine bestechliche, ausbeuterische Kuh. Sie liebte Rainey und lebte, wie viele Mütter, durch ihre Tochter. Daß sie ihr Kind in die enge, von Konkurrenz zerfressene Tenniswelt drängte, konnte nur bedeuten, daß sie entweder von der Existenz einer größeren Welt nichts wußte oder aber von jener Welt enttäuscht war.

Tomahawk warb mit Rainey öfter als mit anderen Mädchen, weil sie anerkannt war, und weil sie heterosexuell war. Tatiana Mandelstam hatte auf ihre überspannte Weise recht. Rainey war keine große Schönheit, aber als ganz normale Frau zu propagie­ren. Howard Dominick beabsichtigte, Rainey einen Vertrag als Modell für eine Teenager-Kosmetikserie anzubieten, die noch in den Labors von Clark & Clark entwickelt wurde und in etwa einem Jahr auf den Markt kommen würde.

Rainey tat für Geld alles, und doch war sie nicht habgierig. Ihre Familie war groß, und sie hatte die Opfer, die ihre Eltern, Schwestern und ihr Bruder ihretwegen auf sich genommen hatten, noch in lebhafter Erinnerung. Selbst wenn sie dabei draufging - sie würde sie dafür entschädigen, indem sie die größte Tennisspielerin der Welt wurde. Sie würde den Grand Slam gewinnen. Nicht dieses Jahr, aber bald. Sie wußte, daß sie es schaffen konnte, selbst wenn es nur vier Spielerinnen und Spieler je gelungen war. Sie konnten nicht ihre Motivation gehabt haben oder ihre Schuldgefühle.

Rainey stand in dem Ruf, kalt und reserviert zu sein. Sie war nichts von beidem. Sie war zielstrebig und hatte für oberfläch­liche Freundschaften keine Zeit.

Sie fürchtete die Lesbierinnen auf den Turnierreisen; sie hielt sie für nicht gesund. Sie beobachtete ihre flüchtigen Romanzen, ihre nackte Angst, daß man dahinterkommen könnte, ihre Tren­nungen. Manchmal stanken die Umkleideräume förmlich vor dumpfen Gefühlen. Rainey wollte nichts von alldem. Sie haßte es, wenn gleichsam automatisch angenommen wurde, sie sei wohl ebenfalls lesbisch, und in einem verborgenen Winkel ihrer Seele haßte sie die Lesbierinnen für ihre Verlogenheit. Warum etwas sein, wofür man sich schämte?

Was ihre eigene seelische Gesundheit betraf, so war sie ge­scheit genug, sich auf das von Seth Quintard geschaffene Image einzulassen und sich als das nette Mädchen von nebenan zu geben. Page Bartlett Campbell köderte den Markt als Amerikas süßes Herzchen, also war Rainey die junge Dame. Auch das haßte sie. Daß sie inSeventeen gewesen war, ärgerte sie. Sie wäre lieber inVogue gewesen.

Ihr stand eine sagenhafte Zukunft bevor. Ihre Hand lag fest auf dem Schaltknüppel des Lebens, glaubte Rainey.


Harriet, Ricky und Jane quetschten sich in die TV-Kabine. In fünfzehn Minuten würden die beiden Einzelspiele und die bei­den Doppel des Abends beginnen.

«Howard Dominick ist so niveaulos. Er hat sämtliche Tulpen und Federn von dem Empfang gestern in den Clubraum der Gäste hinaufverfrachtet. Man braucht eine Machete, um zur Bar zu kommen.» Jane kochte.

«Ich komme einfach nicht über den Anblick von Tatiana Mandelstam hinweg. Eine lebende Legende.» Ricky spielte mit dem Gastgeschenk der gestrigen Party, einem Tomahawk an einem Schlüsselanhänger.

«Eine lebende Schlange. Sie ist zwei Jahre älter als Gott», bemerkte Harriet.

«Möchte wissen, was sie zu Miguel gesagt hat. Hast du sein Gesicht gesehen?« fragte Jane.

Harriet schüttelte den Kopf. «Nein, Miguel redet eigentlich nie über das, was wer zu wem oder ihm gesagt hat, wenn ich es mir recht überlege.»

«Carmen hat gestern abend deine alte Selbstmordtaktik ange­wendet: kurzer Lob und Spurt ans Netz. Trixie Wescott war so verdattert, daß sie den Return verpatzte.» Ricky warf Jane den Schlüsselanhänger zu.

«Wie alt ist Trixie?»

«Dreizehn. Harriet, ich dachte, solche Fakten seien in deinem Herzen eingraviert.»

Ricky bemerkter die goldene Würfelnadel an Harriets Man­telrevers. «Sehr schick. Ich habe alles über dem filmreifen Bon­bonkampf gehört.»

«Bei Tiffany sind sie noch nicht drüber hinweg.» Jane rieb ihren Puls. «Diese verdammten Kopfschmerzen. Ich kriege sie einfach nicht los.»

«Möchtest du ein B.C.?» Harriet suchte in ihrer Tasche nach dem Wunderpulver.

«Nein. Erstens sieht dieses Zeug wie Kokain aus, und zwei­tens schmeckt es hundsmiserabel.»

«Es hilft.»

Jane brummte vor sich hin und machte sich dann auf die Suche nach Aspirintabletten.

«Wer wird deiner Meinung nach gewinnen?»

Ricky lehnte sich in seinem Sessel zurück. «Rainey müßte eigentlich gewinnen. Natürlich kann Susan da draußen brutal werden, aber Rainey Rogers ist so methodisch. Sie ist für Mrs. Reilly die härteste aller Gegnerinnen.»

Harriet blickte in das höhlenhaft wirkende Stadion hinab. Seth Quintard schlängelte sich durch die Menge. Miguel, bereits in seiner Loge, folgte ihm mit einem Blick schlechtverhohlener Verachtung. «Seth kümmert es nicht, wer gewinnt, nicht wahr?»

«Nein», antwortete Ricky.

Da Athletes Unilimited sowohl Rainey Rogers als auch Susan Reilly unter Vertrag hatte, konnte Seth nichts verlieren.

«Ist dir je der Gedanke gekommen, daß man irgendwann eines Tages, sagen wir im Falle einer horrenden Vertragssumme, ausgesetzt für Spieler X, wobei Athletes Unilimited Spieler X und Spieler Y repräsentiert, Spieler Y überreden könnte, das Match von vornherein aufzustecken?»

«Dieser Gedanke ist mir durchaus gekommen.» Ricky seufzte. «Aber ich hoffe, das ist noch nicht passiert, und wahr­scheinlich, hoffe ich, es wird nie passieren.»

«

Harriet kicherte: «Das wird was werden.»

Jane kam wieder in die Kabine gefegt. «Ich hätte nie gedacht, daß ich es noch einmal erleben würde, wie der Madison Square Garden mit Intimpuder berieselt wurde. Howard ist schon ein rühriger Knabe. Überall sind Berge von Pocahontas.» Sie nahm Ricky den Kaffee aus der Hand, schluckte zwei Aspirin und trank.

Ricky nahm Jane mit besorgter Miene den Kaffee ab. Er legte ihr die Hand auf die Stirn.

«Meine Temperatur ist normal. Es sind bloß elend lange dauernde Kopfschmerzen, Schatz.»


Lavinia erblühte bei der jährlichen Ligaversammlung zu voller Pracht. Sie saß vor den zusammengetrommelten Spielerinnen. Siggy Wayne, Vorsitzender des vergangenen Jahres, saß zu ihrer Rechten, Rainey Rogers zu ihrer Linken. Rainey wurde nicht etwa gewählt, weil sie beliebt war. Sie wurde gewählt, weil Lavinia es so wollte.

Die Spielerinnenliga war ein Marionettentheater, gelenkt durch freundliche Empfehlungen von Lavinia Sibley Archer. Sie wollte auf gar keinen Fall eine Gewerkschaft entstehen sehen, also hörte sich das Management einmal im Jahr Be­schwerden und Vorschläge an. Eine Kandidatinnenliste wurde den Spielerinnen vorgelegt, obwohl Nominierungen auch di­rekt auf der Versammlung erfolgen konnten, falls sich jemand traute.

Siggy verlas den Rechenschaftsbericht. Natürlich sei das Ver­sicherungskonzept der Liga das beste. Die Liga - was in diesem Fall Siggy bedeutete - sei dabei, ein Rentenkonzept auszuarbei­ten. Er berichtete auch, daß auf den Wunsch der Mitglieder hin eine weitere Masseuse angestellt werden würde. Dies fand Bei­fall. Diese Mädchen sind so einfach zu manipulieren, dachte Siggy. Wir zahlen der Masseuse einen Hungerlohn und über­nehmen ihre Reisekosten. Jede Spielerin hat weiterhin 25 Dollar für eine Ganzkörpermassage zu bezahlen.

Die Liga sammelte Mitgliedsbeiträge und bestritt Auslagen aus diesen Beiträgen. Siggy berichtete, die Finanzlage sei solide.

Die Liga, der Hunderte von hoffnungsvollen Profis angehör­ten, existierte eher zum Wohl der Spitzenspielerinnen als zu dem des Fußvolks. Wenngleich die 40 besten Spielerinnen das Herz und die Seele des Tennissports waren, wurde mit ihnen kurzer Prozeß gemacht. Lavinia fand, daß es im Tennis lediglich auf die Stars ankam. Wenn eine Spielerin sich nicht zu solchen Höhen aufschwingen konnte, sollte sie eben dankbar in deren Wind­schatten folgen.

Höflicher Applaus begrüßte Lavinia. Sie ging aufs Podium, breitete ihre Notizen aus und begann. Zwar variierten ihre Reden von Jahr zu Jahr, doch ihr Tenor war stets derselbe: Hört auf mich.

«Letztes Jahr zahlten 45 Millionen Amerikaner Eintritt, um ein Baseballstadion besuchen zu können. Die jährliche Besu­cherzahl bei sämtlichen Tennisturnieren, der Damen wie Her­ren, beträgt ganze anderthalb Millionen. Sogar Wimbledon zieht in zwei Wochen lediglich 318000 Besucher an. Tennis ist für einen Veranstalter kein gutes Geschäft. Aus diesem Grunde sind wir in höchstem Maße auf lokale Sponsoren angewiesen, und hinsichtlich des Preisgeldes natürlich auf Tomahawk. Siggy ist es zu verdanken», - sie nickte ihm zu - «daß die Presse unsere Besucherzahlen steigerte, aber trotzdem muß euch klar sein, daß wir nie in der Lage sein werden, ein Stadion so zu füllen wie ein Baseballteam. 50000 Leute können sich die Dodgers ansehen. Eine derartige Masse bekommen wir nur während der letzten Woche der offenen amerikanischen Meisterschaften herein, wenn wir mit den Herren zusammen spielen. Außerdem zieht ein Einzelsport einfach nicht die Anzahl von Fans an wie Mann­schaftssport.

Ohne Stars geht ein Veranstalter pleite. Das Preisgeld macht nur die Hälfte der Kosten aus. Der Veranstalter muß die Sport­stätte mieten, Strom und Heizkosten für diese Stätte tragen, die Kosten für Telefon, Werbung, Druck und Verkauf der Eintritts­karten. Er muß belegte Brote und Getränke in den Umkleide­kabinen zur Verfügung stellen sowie den Clubraum für eure Angehörigen und Freunde. Neben dem Preisgeld muß der Veranstalter 150000 Dollar lockermachen, um ein einfaches Mittelklasseturnier, einen Wettkampf mit 32 Spielerinnen auf die Beine zu stellen. Und sofern überhaupt Geld dabei verdient wird, geschieht dies nur am Abend des Halbfinales und des Fina­les.» Sie holte tief Luft. «Ihr seht also, daß Sponsoren im Tennis der Damen von absoluter Wichtigkeit sind. Wir müssen ihren Bedürfnissen Rechnung tragen, denn ohne sie wird niemand ein Turnier veranstalten, und wir alle hier wären arbeitslos. Ich weiß, daß es manchmal ermüdend ist, sich bei Turnieren mit Sponsoren zu unterhalten, aber das ist eure Pflicht. Wir können nicht davon ausgehen, daß Tomahawk uns ewig fördert. Wir müssen ihnen zumindest auf halbem Weg entgegenkommen.»

Dann dankte sie allen, prophezeite ein gutes Jahr und gab zu verstehen, daß Rainey Rogers gewählt werden sollte. Hätte sie Klartext geredet, hätte sie nicht deutlicher sein können: Der Sponsor gibt den Ton an. Ihr tanzt.


«Verdammt, Lavinia hätte uns Rainey glatt in den Rachen ge­rammt.» Carmen tobte in ihrem Hotelzimmer.

«Rainey ist Amerikanerin», sagte Harriet.

«Und hetero!»

«Das auch.»

«Sie gibt mir nie eine Chance. Was ich haben sollte, ist mehr .» Carmen kam nicht auf das Wort.

«Macht.»

«Ja!»

«Eigentlich solltest du die ganze Liga anführen, aber ich glaube, es ist ein Segen, daß du es nicht mußt.»

«Wie meinst du das?» Carmen strich sich mit den Fingern durch die Locken.

«Möchtest du denn wirklich Vorstand der Liga sein und dir von jeder die läppischen Beschwerden anhören, mal ganz abge­sehen von Lavinias Ansichten zu allem und jedem? Und Lavinia hat vielleicht Ansichten. So brauchst du dich um nichts zu kümmern als um Tennis. Und da du den Grand Slam gewinnen wirst, können sie sich alle zum Teufel scheren. Stimmt's?»

«Stimmt.» Carmen wurde merklich heiterer. «Wie fändest du jetzt ein Geschenk?»

«Das ist doch meine Schwäche! Spitze.»

Die impulsiv großzügige Carmen überschüttete ihre Gelieb­ten mit Geschenken. Sie kaufte der einen Frau einen Corvette und einer anderen einen schokoladebraunen Mercedes. Außer­dem setzte sie ihre Geliebten auf die Gehaltsliste, indem sie sich Berufstitel für sie ausdachte: Sekretärin, Trainerin - sogar Managerin, bis Athletes Unilimited aufkreuzte. Da jetzt Miguel diesen Titel ergattert hatte, mußte sie sich schon mehr einfallen lassen. Anfangs wollte Harriet keine Angestellte sein. Selbst nach einer erschöpfenden Predigt von Carmens Steuerberater wollte Harriet noch immer nicht angestellt werden. Das Pro­blem war gelöst, als sie als Geschäftspartnerinnen eine kleine Maklerfirma gründeten. Harriet nahm diese Firma tatsächlich ernst, aber Carmen brachte sie davon ab. Es wurmte sie nie, Geld für ihre Geliebten auszugeben - oder besser gesagt, es wurmte sie erst, sie auszuhalten, wenn die Affäre zu Ende war. Dann schwor sie Stein und Bein, ihre letzte Geliebte sei nur auf das Geld ausgewesen, und doch marschierte sie davon und sorgte dafür, daß sich alles wiederholte.

So jung soviel Geld zu haben, ist kein Segen. Alle sagen ja. Anwälte, Steuerberater, Schmarotzer - sie alle sagen ja, weil sie aufs Geld aus sind. Aber Harriet sagte nicht immer ja, und das ärgerte Carmen zwar, gab ihr jedoch manchmal auch zu denken.

«Also, was wünschst du dir?»

Harriet stützte ihr Kinn in die Hand. «Ich möchte imElephant and Castle essen.»

«Ist das alles?» Carmen umarmte sie.

Als sie später am Abend ins Bett krochen, fand Harriet ein herrliches Paar einkarätiger Diamantohrringe unter ihrem Kis­sen. Carmen konnte schon atemberaubend sein.


In derselben Nacht lagen Ricky und Jane unter weniger glück­lichen Umständen im Bett.

«Ich muß zurück und Tests machen lassen.» Jane knipste mit der Fernbedienung den Fernseher aus.

«Vielleicht ist es nur die Nebenhöhle, Schatz.»

«Hoffentlich.»

Ricky legte ihr den Arm um die Schultern. «Ich komme mit. Wir können beide ohnehin eine freie Woche gebrauchen. War­ten bringt nichts. Wir fahren gleich nach dem Finale heim.»

«Gut.»

Jane weinte nicht. Da gab es nichts zu weinen. Noch hatte sie keine schlechte Nachricht bekommen. Vor zwei Jahren hatte sie Knochenkrebs im Kiefer gehabt. Damals stand sie eine neue Behandlungsmethode durch. Die Ärzte spritzten ihr eine Flüs­sigkeit in den Kiefer, und dann saß sie unter einem Punktbe­strahlungsapparat, der «Wunderschüsse» auf ihren befallenen Kiefer abfeuerte. Die Ärzte, nicht Jane, nannten diese Behand­lung «Wunderschüsse». Sie verlor kaum Haare und mußte sich nicht erbrechen, aber die Behandlung machte sie ziemlich müde. Sie bekam dreimal je zwölf Behandlungen. Am Ende dieser Serie erklärte man sie für geheilt.

Jane erzählte niemandem außer Ricky von der Krankheit. Sie wußte, daß niemand frei war von Vorurteilen und Ängsten vor Krebs. Einem Arbeitgeber hätte sie zu allerletzt davon erzählt. Sie wollte nicht als Risikomitarbeiter betrachtet werden.

Routinemäßig ging sie zu Nachuntersuchungen. Die letzte war völlig einwandfrei gewesen. Doch diese ständigen Kopf­schmerzen beunruhigten sie. Die Angst, daß die Krankheit wiederkommt, ist eine Angst, die nur Krebsopfer verstehen. Sie versuchte, sich keine Sorgen zu machen, aber sie überfielen sie. Vielleicht hatte es mit den Kopfschmerzen gar nichts auf sich, doch sie wußte, angesichts ihrer Vorgeschichte würde sie sich einer Reihe widerwärtiger Tests unterziehen müssen. Zum zwei­tenmal in ihrem Leben empfand sie den eigenen Körper als Feind.


Eine weiße Schachtel Balkan Sobranie-Zigaretten aus feinstem Yenidje-Tabak lag auf Miguels Schoß. Er hatte bereits fünf davon gepafft. Miguel hatte 20000 Dollar auf dieses Spiel ge­wettet, und natürlich wußte seine Schwester nichts davon.

Carmen und Rainey Rogers hatten je einen Satz gewonnen, und Carmen hatte ihr gerade den Aufschlag abgenommen. Es stand jetzt vier zu drei für Rogers. Teppich war zwar Carmens Belag, doch Raineys Rückhand kam peitschend. In ihrer Ent­schlossenheit war sie nicht zu irritieren. Wenn Carmen beim ersten Aufschlag nach vorn lief, antwortete Rainey mit einem harten Passierschlag die Linie entlang.

Carmen war kraftvoller. Sie war schneller. Heute hielt sie ihren Spielaufbau nicht besonders flexibel. Carmen änderte ihre Taktik nur ungern, obwohl sie das konnte, wenn sie mußte. Rainey scheuchte sie an der Grundlinie von einer Seite zur anderen. Carmen hielt sich im Hinterfeld, um die haarscharf placierten Passierbälle zu vermeiden, aber das Grundlinienduell war Raineys Spiel. Carmen war auf roten Ascheplätzen groß geworden. Sie konnte im hinteren Feld physisch gewinnen; das Grundlinienspiel langweilte sie total. Das Problem bei Carmen lag heute in ihrem Kopf, nicht auf dem Platz. Bei ihrem Tempe­rament spiegelte das eine ziemlich oft das andere wider.

Rogers gewann mit jedem Ballwechsel an Selbstsicherheit. Carmen gab nicht auf, hatte allerdings keinen Spaß. Carmen war eine Frau, die dauernd das eigene Stimmungsbarometer ablas. Das Aushalten von Unannehmlichkeiten oder Leiden um eines großen Zieles willen war ihr fremd, vor allem emotional. Manchmal konnte sie auf dem Tennisplatz ihre spontanen Wün­sche zurückstellen, war sie aber nicht auf dem Platz, wollte sie, wenn sie etwas wollte, dies hier und jetzt. Es kümmerte sie nicht, wieviel es kostete, es kümmerte sie nicht, wem sie dabei auf die Zehen stieg. Nicht daß sie absichtlich über jemanden hinwegstampfte, aber Carmen sprang erst und schaute erst dann, wohin. Bis jetzt war sie immer auf ihren Füßen gelandet.

Rainey war im Begriff, all das zu ändern, selbst als Carmen einen weiteren Aufschlag schmetterte, einen Aufschlag, der von Raineys Schläger abprallte. Die Achtzehnjährige hatte sich täg­lich sechs Stunden darauf gedrillt, Carmens Aufschlag zu parie­ren. Sie lenkte Carmen gegen sie zurück wie ein erfahrerer Judoka, der einen größeren Mann fällt. Mit wachsender Frustra­tion schwankte Carmen, ob sie wie der Teufel auf den Ball dreschen oder hinten bleiben und die Langeweile durchstehen sollte. So gewann man kein Tennismatch.

Rainey blies ihr mit 6:4 im dritten Satz die Lichter aus. Harriet spendete höflichen Beifall. Miguel zündete sich eine neue Zigarette an und lächelte dünn. Was waren schon 20000 Dollar? Das Bekleidungssortiment würde ihm Millionen einbringen! Lavinia, Howard und ein Rudel Fotografen fielen auf den Platz ein. Den Kopf in ein Handtuch gewickelt, ging Car­men ihren privaten Gedanken nach und riß sich zusammen.

Als sie schließlich allein in der Dusche stand, weinte sie. Warum ins Finale kommen, um dann zu verlieren? «Ich werde den Slam gewinnen», schwor sie sich. «Ich muß an meinem ersten Aufschlag arbeiten. Ich muß an meinen zweiten Auf­schlag arbeiten. Ich werde an allem arbeiten. Ich will diesen Slam gewinnen. Danach kann mich niemand mehr abschrei­ben!» Sie wollte schon auf die Wand einschlagen und überlegte es sich dann anders. Keine Verletzungen. Nicht jetzt.

Das French Open würde in der letzten Maiwoche bis zur ersten Juniwoche stattfinden. Es wurde auf Asche gespielt, zermürbender roter Asche - ein so mörderischer Belag, daß er selbst einen stahlharten Mann wie Guillermo Vilas schaffte. Ein vierstündiges Match war auf Aschebelag an der Tagesordnung. Krämpfe kamen wie Fliegen. Spieler mußten ihr Match drange­ben, wie sie Geliebte drangaben. Das French Open, die Spezia­lität von Page Bartlett Campbell, würde das am schwersten zu gewinnende Turnier werden. Rainey wartete im Hintergrund. Wenn Page versagte - auf Asche kaum vorstellbar -, wäre Rainey auf der Stelle da, ein Barrakuda, der Blut witterte. Irgendwie, irgendwie mußte Carmen mehr Geduld entwickeln und sich auf eine langsamere Gangart einstellen, auf die endlo­sen Punkte und das French selbst. In Anbetracht der beleidigen­den Art der Pariser wunderte sich Carmen, wieso eigentlich nicht mehr von ihnen in ihren Betten von wütenden Amerika­nern ermordet worden waren.

«Ich muß es gewinnen. Ich will es gewinnen. Ich werde es gewinnen!» flüsterte Carmen vor sich hin. Wenn sie das French gewann, würde sie niemand von den drei anderen Siegen abhal­ten, das wußte sie. Rasen war ihr bester Belag. Beim US Open machten sie den Belag langsamer, um längere Kämpfe aus dem Spiel der Herren herauszuholen. Für die Damen war das ein Desaster, aber wenn Carmen das French gewänne, wäre das Open immer noch schneller als diese Ascheschicht. Sie würde das US Open, Wimbledon und das Australian Open auf Rasen spielen und den Grand Slam gewinnen.


Während sie sich ein Glas kalten Weißweins schmecken ließ, besprach sich Susan mit Martin Kuzirian, einem Reporter und langjährigen Bekannten. Sie hatte ihm im Laufe der Jahre Ex­klusivinterviews gegeben, ihn mit anderen Leuten im Sport zusammengebracht und sich ganz besonders bemüht, ihn sich warmzuhalten. Für die, die sie mochten, war dies eine symbio­tische Beziehung, für die, die sie nicht mochten, eine parasitäre.

Mit gefräßigem Lächeln sagte Martin: «Tolle Aussicht.»

«Ja, die Simpsons wissen zu leben.»

«Wo sind sie eigentlich?»

«In Tortola. Sie kommen erst im April zurück.»

«Kann ich ihnen nicht verdenken. Nach einer Weile schafft einen das Wetter, und wenn dich das Wetter nicht fertigmacht, dann tun es bestimmt die Leute.»

«Dafür siehst du aber noch gut aus.»

«Das Leben ist ganz nett zu mir.» Er lächelte.

«Ich habe eine Geschichte für dich.»

«Susan, du bist eine ständige Quelle der Inspiration. Viel­leicht werde ich mal wieder befördert, obwohl mir eine Gehalts­erhöhung lieber wäre.»

«Geht das nicht Hand in Hand?»

«Heute nicht mehr. Hast du noch nichts davon gehört? Wir haben eine tragfähige Wirtschaft. Die Inflation hält sie über Wasser.»

Susan drapierte ihren Arm über die Lehne des avantgardisti­schen Sofas; die Simpsons waren sehrau courant. «Die Ge­schichte ist, daß Carmen Semana und Harriet Thorn Rawls im nächsten Monat heiraten.»

«Was?» Er blickte ungläubig drein.

»Ja, sie werden heiraten. Ich habe es von Carmen selbst. Sie hat mich zur Hochzeit eingeladen.»

«Warum in aller Welt würden sie so etwas machen?»

«Genau das habe ich auch gesagt. Wenn Leute drei Jahre zusammenleben, ist das doch ein prima Ergebnis. Was soll schon dieser ganze Hokuspokus vor einem Mann in einer Kutte?»

«Ich erinnere mich dumpf, daß du es auch mal getan hast», stichelte Martin.

«Da war ich noch jung.»

«So jung nun auch wieder nicht.»

«Martin, wenigstens habe ich mir einen Mann zum Heiraten ausgesucht.»

Er lächelte und sagte dann: «Also noch immer glücklich verheiratet mit Craig?»

«Natürlich.»

«Warum gibst du mir diese Geschichte? Ich dachte, du und Carmen wäret Freundinnen.»

«Wir waren Freundinnen, bis sie Harriet kennenlernte. In Wahrheit stand sie auf mich. Ich glaube, sie hatte sich in mich verliebt, als sie sechzehn war, das arme Ding.»

Martin bemühte sich, nicht zu lachen. Hielt Susan ihn etwa für so blöde? «Ja, Kinder machen so ihre Phasen durch.»

«Ich erzähl dir das, weil ich weiß, daß du die Geschichte nicht unproportional aufbläst. Wenn diese beiden Naivlinge es durch­blicken lassen und die Klatschgeier sich darauf stürzen, könnte das uns allen schaden.» «Und du glaubst nicht, daß eine einzelne Geschichte über zwei Frauen dem Damentennis schadet?»

«Sie wird ein bißchen Staub aufwirbeln, aber das Damenten­nis ist zu bedeutend, als daß sie ihm schaden könnte.»

«Ja.» Er rieb sich das Kinn.

«Carmen ist ein Esel. Ich habe ihr gesagt, daß sie nicht heiraten soll, aber ich habe ihr auch mal gesagt, daß sie mit dieser Lehrerin nie eine Liebesgeschichte anfangen soll.»

«Durch Schaden wird man klug.»

«Wenn du Carmen fragst, ob sie heiratet, wird sie natürlich lügen. Das ist keine Geschichte, es sei denn, du erwischt sie auf frischer Tat.» Susan hatte alles wohl durchdacht. Die Hochzeits­feier war ein völliges Hirngespinst, das Kuzirians Gier nach einer großen Geschichte entflammen sollte. «Die Person, an die du dich halten solltest, ist Harriet. Oh, ich würde sie nicht fragen, ob sie heiratet. Das ist zu weit hergeholt. Ich würde sie nur fragen, ob sie eine Lesbe ist.»

«Warum?»

«Sie ist ein noch größerer Esel als Carmen.»

«Was meinst du damit genau?»

«Ich meine, daß Harriet nicht lügen könnte, selbst wenn ihr Leben davon abhinge.»

Martin wieherte nervös. Diese Geschichte konnte einen gro­ßen Karrieresprung bedeuten. Pech, daß Leute dabei zu Scha­den kamen, aber so ist es eben im Leben.

«Irgendeine Idee, wie man sie festnageln könnte?«

«Nimm sie auf einer Pressekonferenz beiseite. Sie hängt viel bei Ricky Cooper und Jane Fulton herum. Sie sind die einzigen Leute, die was mit ihr zu tun haben wollen.»

«Warum haßt du sie eigentlich? Ich bin neugierig.»

«Ich hasse sie nicht.»

Martin war gescheit genug, sie nicht zu bedrängen. «Was ist eine günstige Zeit, sie mir vorzuknöpfen?»

«In Hilton Head. Das Turnier dort fängt am 6. April an. Die Atmosphäre ist entspannt, locker, die Leute schlendern herum. Übrigens, die beste Art, Harriet zu provozieren, ist, sie in Carmens Beisein abzufangen und Carmen irgendwie zu attackie­ren. Harriet hat keinen Funken Verstand, wenn's um ihre Ge­liebte geht.»

«M-m-m.»

«Albern, nicht?»

«Die Liebe?»

Sie schnappte: «Ich würde es nicht so bezeichnen. Ich glaube nicht, daß Frauen sich wirklich lieben können. Ich verstehe die Lesbierinnen nicht. Ich verurteile sie nicht; ich verstehe sie bloß nicht, das ist alles.»

«Natürlich.» Martin stand auf, um zu gehen.

Als Susan die Tür schloß, lächelte sie. Was machte es schon, daß sie die Geschichte über eine Hochzeit erfunden hatte. Ku­zirian brauchte es ja nicht zu erfahren. Er mußte lediglich genug motiviert sein, um Carmen und Harriet zu provozieren.

Susan konnte sich den wahren Grund, weshalb sie höllisch scharf drauf war, Carmen zu vernichten, nicht eingestehen. Carmen war die einzige Spielerin, die ihre Leistungen in den Schatten stellen konnte. Carmen war die einzige Spielerin, die den Grand Slam gewinnen konnte. Bei der Gefährdung ihrer Aufenthaltserlaubnis und dem weltweiten Aufruhr über ihr Lesbischsein sollte sie es mal versuchen, sich auf Tennis zu konzentrieren!

Susan war nicht stolz auf sich. Unter diesem Aspekt sah sie es nicht. Sie handelte unter dem Aspekt des Überlebens. Sie kämpfte um sich selbst, um ihre Leistungen. Sie hatte sich mit ihrem ganzen Sein dem Tennis verschrieben, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß es womöglich vorbei wäre, daß sie älter würde, daß sie vielleicht bald vergessen wäre. Wer sie war, wußte sie nur, wenn sie den Applaus hörte. Wie konnte sie dies aufgeben? Wie konnte sie beiseite treten zugunsten einer, die noch vor wenigen Jahren ein Kind mit gebrochenen Eng­lischkenntnissen gewesen war? Wie Susan es sah, war Carmen sprunghaft, überemotional und simpel gewesen, als Susan sie unter ihre Fittiche nahm. Sie hatte dieser jungen Spielerin gehol­fen, ihre Größe zu erreichen. Als Geliebte, nun, da war Carmen ein Fehler gewesen.

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