13

Jane sagte niemandem etwas über ihren Zustand. Ende September stand es sehr schlecht um sie. Die Chemotherapie griff sie furchtbar an. Sie erholte sich zwar, reiste aber nicht mehr herum. Harriet, die nichts davon wußte, rief jeden zweiten Tag an. Jane erklärte die Tatsache, daß sie nicht unterwegs war, damit, daß sie an ihrem seit langem angekün­digten Roman schriebe. Sie versprach, Harriet bald zu be­suchen.

Sie wurde in der zweiten Oktoberwoche in die Klinik einge­liefert. Ricky brachte Harriet die Nachricht bei. Jane schwor, sie würde wieder gesund, doch er wußte, daß sie das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen würde. Als Harriet durch die Tür kam, warf Jane ein Glas nach Ricky. Ihr Zorn verrauchte so rasch, wie er gekommen war. Ricky ließ sie allein.

«Ich habe meine Reiseschreibmaschine mitgebracht. Dachte, du möchtest mir vielleicht diktieren.»

«Später.» Jane seufzte. «Ich wollte nicht, daß mich jemand so sieht.»

Sie sah schrecklich aus. In den letzten drei Wochen hatte sie gefährlich an Gewicht verloren. Ihr Blick war glasig, und die Kopfschmerzen waren schlimmer geworden. Medikamente stillten die Schmerzen, betäubten sie aber auch.

«Mir ist es egal, wie du aussiehst.»

«Reichlich mies.»

Harriet zuckte die Achseln. «Es tut mir leid, wenn ich dich durch mein Kommen aufgeregt habe. Ich wünschte, du hättest es mir gesagt.»

«Es ist nicht deinetwegen. Ich habe es niemandem gesagt. Du verstehst das, oder?»

«Ja.»

«Ich habe viel nachgedacht. Du wärst erstaunt, was du alles denkst, wenn du krank bist. Freilich, die halbe Zeit bin ich so gedopt, daß ich überhaupt nicht denken kann.»

«Kann ich irgend etwas für dich tun?»

«Gib auf Ricky acht.»

Ein krampfhafter Schauder durchzuckte Harriets Körper. «Jane .»

Jane winkte ab. «Krieg dich wieder ein. Vielleicht geht's mir ja morgen wieder gut.»

«Natürlich wird es das!»

«Ja, na, kann auch sein, daß ich die Pfadfinderin zum Kosmos werde.»

«Und himmlische Lagerfeuer entfachst.» Harriet lächelte. Sie fühlte sich entsetzlich.

Jane lehnte sich hinüber und nahm Harriets Hand. «Tut mir leid, daß du so viel Kummer hast.»

«Mein Gott, Jane, mein Kummer ist gar nichts!»

«Ich halte nichts von Leidensvergleichen. Du machst eine miese Zeit durch. Jetzt, wo Carmen verheiratet ist, probieren sie vielleicht die lesbische Witwenverbrennung an dir aus.»

«Nach einer Weile bist du dagegen abgestumpft.»

«Weißt du, worüber ich nachgedacht habe?» Jane hielt weiter Harriets Hand. «Ich bin christlich erzogen worden.»

«Ich auch.»

«Na ja, ich glaube wirklich, daß Christus für meine Sünden gestorben ist, sag das Baby Jesus. Aber, weißt du, im Laufe der Geschichte waren da Tausende von Söhnen und Töchtern Got­tes, namenlose Seelen, die ebenso für uns gelitten haben und gestorben sind. Wiedergeburt ist ein kollektiver Prozeß. Wir haben ein Individuum ausgewählt, um das zu symbolisieren, doch in Wahrheit müssen wir es zusammen tun. Verstehst du?»

«Ich versuch's.»

Das war das letzte Gespräch, das die beiden Freundinnen führten. Jane Fulton starb plötzlich am nächsten Abend. Sie sprach gerade mit Ricky, als sie starb.

Während sie einen Korridor langer Dunkelheit durcheilte, stürzte Jane dem Unbekannten entgegen und vereinigte sich schließlich mit blendendem Licht. Vielleicht war dies eine Erin­nerung an die Reise durch den Geburtskanal und in die Welt. Vielleicht steckt diese Erinnerung in jedem Menschen, und der Tod weckt sie wieder wie eine abgelegte Kassette, um das Sterben zu mildern. Oder vielleicht war es wahre Wiedergeburt. Was auch immer, Jane Fulton lächelte am Ende.


«Ich habe die Berichterstattung von den Olympischen Spielen in Melbourne verpaßt. Ich hatte gerade das Studium abgeschlos­sen und arbeitete für eine winzige Zeitung in Charleston, West Virginia.» Ricky und Harriet spazierten durch den Olympia­park, dicht bei Fitzroy Gardens in Melbourne, Australien.

«Ich las die Ergebnisse in den Zeitungen und träumte davon, einmal Speerwerferin zu werden.»

«Würstchen.» Ricky schirmte die Augen ab und sah auf die Namen, die außen in die Stadionmauern gemeißelt waren. «Danke, daß du mitgekommen bist. Ich weiß, es ist hart für dich, Carmen zu sehen und unter den Tennisleuten zu sein, aber ich konnte dieses Turnier nicht allein durchstehen. Es ist mein erstes großes Turnier, über das ich ohne Jane berichte.» Ihm versagte die Stimme.

«Nicht ich tue dir einen Gefallen, du tust mir einen. Ich liebe Australien, und es war sehr großzügig von dir, mir die Reise zu bezahlen.»

Ricky las weiter die in das weiße, etwas bröcklige Stadionge­mäuer verewigten Namen. «Kaum zu glauben, daß dieser Park vor weniger als 30 Jahren voll mit Menschen aus aller Welt war. Für zwei Wochen war hier der Mittelpunkt des Sports.»


Das Kooyong-Stadion, ein smaragdgrünes Juwel, liegt außer­halb von Melbourne. Lastwagenfahrer, die auf dem hoch gele­genen Highway vorbeirasten, drückten aus purem Spaß am Krach auf die Hupe. Mehr als ein Spieler wurde von dem fröhlichen Gehupe aus dem Rhythmus gebracht.

Der Rasen glitzerte in diesem Jahr. Weil die Jahreszeiten auf der anderen Seite des Äquators umgekehrt sind, machte Harriet ihre Weihnachtseinkäufe im rückenfreien Oberteil.

Die Wolken über dem Stadion wirkten wie Thors geballte Fäuste. Ein Regenguß ließ die Leute schutzsuchend flüchten. Ebenso plötzlich kam wieder die Sonne hervor, die Schulkinder in Uniform saßen als erste wieder auf ihren Plätzen, und dann watschelten die Melbourner Matronen zu ihren Clubsesseln.

Eine viktorianisch angehauchte Dame beobachtete eine junge Frau im Bikini. Sie schnaubte: «Was bleibt denn da für ihren Ehemann?»

Bunte Zelte, die draußen vor dem Stadion aufgestellt waren, beherbergten die verschiedensten Wohltätigkeitsvereine. Jeden Tag wurde für irgendeinen ehrenwerten Zweck Geld gesam­melt, und die Sammelnden hatten das Vergnügen, ihr frommes Tun mit einem Schwätzchen hier und da verbinden zu können.

Sponsoren buhlten um Aufmerksamkeit. Ein gigantischer Tennisball in Ballongröße schwebte über dem Tennisgelände. Der Ballfabrikant hatte sich das ausgedacht. Alle beklagten seine Phantasielosigkeit, aber alle bemerkten ihn.

In dieser Woche wurde gutes Tennis geboten. Schmettie Kittredge schaffte es bis ins Halbfinale und legte einen fabelhaf­ten Kampf gegen Susan Reilly hin. Susan besiegte sie, aber es dauerte eine Weile. Susan war beim US Open mit einer Strafe von 500 Dollar belegt worden. Sie zahlte, entschuldigte sich wortreich und war nun darauf aus, unter Beweis zu stellen, daß sie sich auf dem Platz benehmen konnte. Carmens Halbfinale verlief weniger dramatisch, aber für sie zufriedenstellend. Sie warf Rainey Rogers in zwei Sätzen aus dem Rennen.

Die Medien machten viel Wirbel um die Konfrontation zwi­schen Carmen und Susan - ehemalige Teampartnerinnen, heute erbitterte Gegnerinnen. Niemand erfuhr je, warum sie erbitterte Gegnerinnen waren, wenngleich die Spekulationen in Austra­lien wie überall wilde Blüten trieben.

Susan becircte ein hübsches Mädchen mit rotgelocktem Haar. Sie hätte ein gutes Maskottchen abgegeben. Für Susan war sie ideal, weil sie Susan für ideal hielt. Sie planten, gemeinsam in den Sonnenuntergang zu entschweben.

Ricky vergrub sich in seine Arbeit. Manchmal leistete Harriet ihm in der Kabine Gesellschaft, freilich nicht bei Carmens Matches.

Harriet entdeckte, daß sie die amerikanische Tenniscrew ver­mißte. Miranda Mexata war nicht da. Sie war nur in den Verei­nigten Staaten befugt und in keinem anderen Land. Zu schade, denn die Funktionäre hätten etwas Hilfe brauchen können. Dagegen vermißte Harriet weder Seth Quintard noch Siggy Wayne. Aber was soll's, ging es Harriet einmal zu ihrer eigenen Überraschung durch den Kopf, sie müssen schließlich auch essen.

Besonders vermißte sie Lavinia Sibley Archer und ihre An­sprachen, die so atemberaubend irrelevant waren. Lavinia legt von Connecticut aus organisatorisch letzte Hand an die neube­lebte Damenturnierrunde, die wie immer in Washington, D. C., ihren Höhepunkt haben würde.

Am Morgen des Finales kam Harriet nur mit Mühe aus dem Bett. Sie hatte es bereits bis zu einer Zeitzone irgendwo im Pazifik geschafft, war aber noch nicht bis Australien gelangt. Sie zog die Schreibtischschublade auf und griff nach ihrer Flasche mit Vitaminpillen. Darunter lag eine Bibel. Ein früherer Gast hatte ein rotes Band zwischen die Seiten gelegt. Neugierig schlug Harriet das Buch auf und las die folgende Korinther- Stelle:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle.

Wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetze, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.

Ricky pochte an die Tür. «Kommst du mit zum Finale?» «Gerade habe ich mich entschlossen hinzugehen, dank der Bibel.»

Er klopfte mit dem Knöchel an die Tür zwischen ihren Zimmern. «Also kommst du schließlich doch noch auf Noahs Arche.»

«Warum glaubst du, es wird Regen geben?»

«Nein, ich fragte mich bloß, wie lange du widerstehen könn­test, Carmen spielen zu sehen.»

«Ich komme mit auf die Arche, als Einhorn, als schwarzes Einhorn.»

Er lachte. «Na, dann los.»


Als Carmen und Susan den Platz betraten, begrüßte sie herzli­cher Applaus. Inzwischen war die Sportwelt über den Grand Slam in heller Aufregung. Man hätte denken können, es handle sich um das Jüngste Gericht.

Harriet sah Carmen seit August zum erstenmal wieder. Mein Leben lag einmal in ihren Armen, dachte sie. Wie konnten Menschen, die einander so gut kannten, sich derart fremd wer­den?

Timothy lümmelte sich in einem Stuhl direkt hinter der Grundlinie. Bonnie Marie war diskret in einer Sponsorenloge versteckt. Miguel war daheim in Argentinien, wieder einmal in Ungnade gefallen. Vor einem Monat war Carmen ein Stein aus einer Halskette gebrochen. Als sie sie zum Reparieren brachte, sagte ihr der Juwelier, sie sei aus Strass und künstlichen Dia­manten. Miguel hatte ihren Schmuck nicht im Safe deponiert, wie er sagte. Er hatte das Zeug kopieren lassen und den echten Schmuck verkauft.

Carmen lief sich warm. Jede Frau schlug mit Macht. Die Returns wurden zur Grundlinie zurückgepeitscht. Beide wirk­ten locker. Jedesmal wenn Susan einen Ball traf, blies ihr neuer Schatz ihr Küsse herüber.

Carmens Blick schweifte über die Tribünen. Automatisch suchte sie oben nach Ricky. Natürlich hatte sie gehört, daß Harriet da war. Sie hatte sie nicht gesehen. Als sie jetzt hochschaute, sah Carmen sie. Einen Moment lang war es, als hätte sich nichts geän­dert - Harriet lehnte an der Wand, außerhalb des Kamerabildfelds, Ricky hatte seine Kopfhörer auf und ... keine Jane. Carmen blinzelte und sah rasch zu Bonnie Marie hinüber, um sich zu vergewis­sern. Sie verdrängte ihre Gedanken und fixierte ihre, wenn sie von sich selbst einmal absah, älteste Gegnerin auf der anderen Seite des Netzes. Susan hatte einen Adlerblick.

Der erste Satz, schwer erkämpft, ging an Carmen. Im zweiten Satz brachte es Susan, sie spielte wie eine Wahnsinnige, bis zum Tie-Break und hatte ihn in der Tasche. Jeder folgende, haßer­füllte Punkt erregte die Menge. Die Australier waren wie die Italiener, in jeder Situation erfaßten sie sofort das Drama. Sie gingen zwar anders damit um, vibrierten aber wie Stimmgabeln. Carmen donnerte einen so harten Vorhand-Cross, daß ihr Schlä­ger wie ein geschleuderter Speer zitterte.

Wäre Qualm vom Platz aufgestiegen, hätte sich kein Zu­schauer gewundert. Diese beiden verabscheuten einander mit verbissener Intensität. Jeder Punkt war eine Herausforderung, ein Duell. In diesem Match gab es keine Defensive, es bestand nur aus Angriff und Gegenangriff. Es schien, als wären selbst die Fehlpässe aus Gehässigkeit gefeuert.

Keine Frau konnte den Aufschlag der anderen durchbrechen. Sicher mußte eine von ihnen irgendwann langsamer, erschöpft, ungenau werden. Aber mit jedem Punkt, ob sie ihn gewann oder verlor, wurde Susan auf manische Weise stärker. Falls sie die Menge überhaupt hörte, merkte man es ihr doch niemals an. Carmen preßte die Lippen über den Zähnen zusammen. Tiefe Falten zogen sich an ihrem Mund entlang. Sie wirkte zehn Jahre älter als 24. Die Anspannung verdoppelte noch ihre Konzentra­tion.

Im Krieg gibt es einen Todesstreifen. Auch Tennis hat einen: Niemandsland. Auf jeder Seite dieses Todesstreifens, auf halbem Weg ans Netz, kann eine Spielerin überleben. In der Mitte erwartet sie freilich der Tod. Schnelligkeit und ein stahlharter Halbvolley retten sie vielleicht. Andernfalls gehen die Lichter aus.

Der dritte Satz raste dahin, wenngleich die Punkte lang wa­ren. Susan attackierte bewußt Carmens solide, aber unspektaku­läre Rückhand. Sie war die einzige Schwäche in ihrem Repertoire. Im Tennis gibt es zwei Theorien, und nur diese zwei: entweder durchbricht man die Schwächen des Gegners, oder man durchbricht seine Stärken. Die Stärken zu durchbrechen ist schwerer, doch ist das geschafft, werden die Resultate schneller erreicht, weil das gegnerische Spielkonzept rasch in sich zusam­menbricht. Susan entschied sich für den längeren, aber sichere­ren Weg. Die Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers nimmt über 25 pro Jahr um 1 Prozent ab. Susan war um den Bruchteil einer Sekunde langsamer als zu ihrer Bestzeit - das wußte sie, dafür ging sie berechnend genug mit ihren Fähigkei­ten um. Zu ihrer Bestzeit Mitte Zwanzig hätte sie versucht, Carmens Vorhand zu durchbrechen. Jetzt nutzte sie ihre Jahre auf dem Platz und plante jeden Punkt. Sie fegte Carmen nicht weg, sie nahm sie auseinander.

Carmen, physisch in Höchstform, war überall. Selbst die mitleidlose australische Hitze konnte sie nicht fertigmachen. Susans Genage an ihrer Rückhand machte ihr keine angst. Sie unterschnitt die Bälle und hielt sie tief. Da sie auf Rasen spielten, prallte der Ball oft mit einem Drall auf. Carmen konnte ohne einen superscharfen Vorhand-Topspin leben.

Von hoch droben sah Harriet, was sie und alle anderen wuß­ten: dies würde als eines der größten Spiele in die Geschichte des Tennis eingehen. Es war ein Vergnügen, zwei gleich gut spielen­den Gegnerinnen zuzuschauen. Die heroische Dimension des Kampfes machte den Mangel an Tiefe im Damentennis wett. Die langweiligen, ungleichen Anfangsrunden vergaß man bei der Brillanz des Finales.

Carmen wirkte auf dem Platz so stark. Eigenartig, für wie psychisch stark Sportler auf Grund ihrer physischen Leistung gehalten werden. In Wahrheit sind sie im allgemeinen Menschen, die der Außenwelt nicht gewachsen sind. Physische Stärke und psychische Stärke haben noch nie bei einem Menschen überein­gestimmt. Vielleicht hatte Harriet von Carmen zuviel erwartet. Wie konnte die Argentinierin denn erwachsen sein, wenn sie von Kindern umgeben war, die das Ziel von Jugendlichen verfolg­ten? Spiele sind wunderbar, aber sie sind für Kinder. Carmen konnte nur sein, was sie war - im Grunde eine gute Person mit einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne, unfähig, sich mit emotio­nalen Konflikten oder Enttäuschungen auseinanderzusetzen; ein Mensch, der nichts anderes wollte, als glücklich sein.

Die Menschen in Carmens Umgebung wollten ganz ent­schieden nicht, daß sie sich über irgend etwas anderes als Ten­nis Gedanken machte. Sie füllte ihnen die Taschen. Wie konnte sie denn erwachsen werden, wenn fünfzigjährige Veranstalter mit infolge kosmetischer Chirurgie maskenhaften Gesichtern und Haartransplantaten ständig von demselben kindischen Ziel plapperten - glücklich zu sein. Warum war denn nicht jeden Tag Weihnachten? So sollte es eigentlich sein; jedenfalls dachten sie das jedesmal, wenn sie ihr einen weiteren Vertrag vorlegten.

Es bedarf einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, um den Verlockungen des Profisports standzuhalten. Carmens Talent war außergewöhnlich. Ihre Persönlichkeit war es nicht.

Im letzten Spiel des dritten Satzes hielt Susan ihren Aufschlag formgetreu. Jeder Punkt war ein Marathon. Susan schloß ihren Aufschlag mit einem mörderischen Vorhand-Cross ab, der die Ecklinie traf und über den Rasen zischte. Magischerweise war Carmen da und schickte mit einer Drehung ihres Handgelenks einen Passierball hinüber. Susan, die überrumpelt war, wurde weit zurückgetrieben. Carmen spurtete mutig ans Netz. Wütend über das, was sie für einen unerreichbaren Ball gehalten hatte, legte Susan ihren ganzen Körper in den Schlag und folgte dem Ball gleichfalls ans Netz. Niemand konnte glauben, was doch alle sahen. Beide Frauen waren plötzlich im Niemandsland. Wacker hielt jede ihre Stellung und prügelte den Ball auf Teufel komm raus. Keine wich und keine konnte vorwärts. Wie ein Punkt im Doppel am Netz wurde dieser Punkt gespielt. Die Leute saßen bewegungslos auf ihren Sitzen, von Ehrfurcht ergriffen.

Carmen feuerte den Ball in scharfem Winkel unerreichbar über Susan hinweg, aber Susan war da und schlug den Ball Carmen vor die Füße. Carmen zog ihn etwas zu hoch, und Susans Return zischte um Armeslänge an Carmens Rückhand vorbei. Susan hielt ihren Aufschlag.

Nun mußte der Tie-Break die Entscheidung bringen. Keine der Frauen verlor ihren Aufschlag im Tie-Break. Der «plötzli­che Tod» wurde zum schleichenden Tod. Eine der beiden mußte mit zwei Punkten Vorsprung gewinnen. Carmen durchbrach Susans Aufschlag. Die Menge raste. Susan, die bis zum Berg Olympus reichte, durchbrach ihren ebenfalls. Wieder war Gleichstand erreicht.

Carmen hatte noch einen Aufschlag. Wenn es ihr nur gelänge, noch einmal den Aufschlag zu brechen. Sie donnerte einen Aufschlag wie eine Spirale auf Susans Körper. Es war ein ungeheurer Kraftakt. Susan schlug ihn zurück, als wäre er ein Wattebausch. Dieser Punkt knisterte weitere zwei Minuten lang in hämmerndem Spiel, bis Carmen von Susans Rückhand nie­dergesäbelt wurde.

Sie ging zurück, um Susans Aufschlag anzunehmen. Als folge sie einem Instinkt, sah sie zu Harriet hoch. Sie schirmte einen Moment lang ihre Augen ab, als hätte sie ein Insekt hineinbe­kommen oder als blende sie die Sonne. Sie sammelte sich. Susan schlug den Ball so hart, daß man ihn noch in Brisbane vorbeiflie­gen sah. Mit einigem Glück erwischte ihn Carmen. Der Ball flog über das Netz zurück. Susan drückte aufs Tempo. Sie warf sich in den Ball, verrenkte ihren Körper und schmetterte eine ver­nichtende Vorhand zur Linie. Carmen schlug eine zurück, aber sie war nicht sonderlich tief. Susan lief vor und trieb den Ball zurück. Carmen konterte mit einem Lob. Susan feuerte einen zermalmenden Überkopf-Schmetterball direkt auf Carmens Körper. Der Ball traf Carmen. Susan hatte soeben das Australian Open gewonnen.

Vom Match emotional erschöpft, brach die Menge los. Sie johlte und schrie, einige versuchten gar, auf den Platz zu klet­tern. Susan, die Siegerin der offenen australischen Meisterschaf­ten, wartete am Netz. Carmen war auf die Knie gesunken, ihr Kopf berührte sie fast. Sie lag direkt auf der Grundlinie. Die Menge schrie weiter. Susan blickte zufrieden zu Carmen, drehte sich dann um und ging zur Schiedsrichterin und schüttelte ihr die Hand. Die Schiedsrichterin schwang sich rasch von ihrem Sitz und ging wortlos zu Carmen hinüber.

«Nun, Miss Semana, lassen Sie uns vom Platz gehen, ja?» Sie faßte Carmen unter den Ellbogen, und Carmen stand folgsam auf. Die Menge brüllte wieder. Die Schiedsrichterin führte sie zu ihrem Stuhl zurück und sagte dem Ansager, er solle Carmen Zeit geben, sich zu fangen.

Das Australian Open war der Anfang von Susans Reillys Ende und das Ende von Carmens Anfang. Susan würde nie wieder einen so großen Augenblick erleben. Da sie ihre Persön­lichkeit um den sportlichen Sieg herumgebaut hatte, bedeutete das letztlich, daß ihre psychische Gesundheit auf dem Spiel stand.

In einem schmerzlichen Moment entdeckte Carmen, daß An­fänge leicht sind - das Schwierige ist die Kontinuität. Sie konnte nicht Schritt halten. Susan wollte diesen Sieg mehr, als sie ihn wollte. Sportliche Unsterblichkeit lag in ihrer Reichweite, und sie ließ sie fahren. Was blitzte vor ihren Augen auf, als sie Harriet dort oben sah? Ein mörderischer Lichtstrahl? Ein konturloser Schatten von Schuld? Vielleicht nichts.

Carmen saß in ihrem Stuhl, das Handtuch über dem Kopf, und schluchzte. War diese Niederlage Karma oder statistische Wahrscheinlichkeit? War diese Niederlage ein geringer Schmerz, verglichen mit der unbarmherzigen Zukunft? Carmen dämmerte es schwach, daß sie hier die erste Rate des Preises für das Erwachsen werden gezahlt hatte.

Hoch über Carmens Kopf saß Harriet und weinte mit ihr. Ricky legte den Kopfhörer vorsichtig auf seinen Skriptblock.

«Liebst sie noch immer?»

«Ich wollte, daß sie gewinnt! Es gibt nicht so massenhaft andere Möglichkeiten in ihrem Geschäft.»

«Nein, aber wie wunderbar, daß sie so weit gekommen ist.»

Harriet hörte auf zu weinen und sagte leise: «Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, möchte ich gern glauben, daß wir alle uns wiederfinden. Ich möchte gern glauben, daß das Schlechte, das wir getan haben, vergeben sein wird. Ich möchte gern glauben, daß Gott die Liebe zwischen uns stärkt. Ist das denn solch ein alberner Traum? Gibt es denn nie eine Zeit, da Men­schen durch mehr als Narbengewebe verbunden sind? Ricky, ich weiß nicht, aber ich möchte so gern glauben, daß solch eine Liebe bestehen kann, wenn nicht hier auf Erden, dann im Himmel.»

Ricky umarmte sie. «Liebe ist nie verloren, nur die Men­schen.»

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