Kapitel zwölf

Als Adelia früh am nächsten Morgen die Fenster aufstieß, um das Licht des Stephanstages hereinzulassen, merkte sie, dass sich die Aussicht vom Gästehaus irgendwie verändert hatte. Ja natürlich, ein neuer Pfad führte hinunter zum Ufer – man hatte grobe Stufen hineingeschlagen –, aber das war es nicht allein. Das Gefühl von Abgeschiedenheit war verschwunden, und an seine Stelle war gespannte Erwartung getreten.

Es war schwer zu sagen, woran das lag. Die Morgendämmerung segnete die menschenleere Landschaft mit ihrem üblichen kurzlebigen, apricotfarbenen Hauch. Der Schnee war so kompakt wie eh und je und wies, soweit das Auge reichte, keine menschlichen Spuren auf.

Und doch schien der weiße Wald am gegenüberliegenden Ufer weniger abweisend …

»Sie sind da.«

Mansur trat zu ihr ans Fenster. »Ich sehe nichts.«

»Ich dachte, ich hätte da drüben zwischen den Bäumen was gesehen.«

Sie spähten hinüber. Adelias Begeisterung erstarb. Die gespannte Erwartung war in ihr, nicht in der Aussicht.

»Wahrscheinlich bloß Wölfe«, sagte Gyltha, die im hinteren Teil des Zimmers vor sich hin litt und das Licht mied. »Ich hab sie letzte Nacht gehört, die waren schrecklich nah.«

»Als du dich in den Nachttopf erbrochen hast?«, fragte Adelia interessiert.

Gyltha überging sie. »Direkt an den Mauern waren die. Ich schätze, die haben das Pferd von dem jungen Talbot gefunden, das im Wald liegengeblieben is.«

Adelia hatte nichts gehört – im Schlaf war sie von Bären heimgesucht worden. Aber Gyltha hatte vermutlich recht. Zwischen den Bäumen waren Wölfe unterwegs, und die waren weniger gefährlich als die im Innern der Abtei.

Dennoch wollte sie die jäh aufgekeimte Hoffnung, dass Rowley noch lebte und den König mit seinen Männern hergeführt hatte, noch nicht gänzlich fallenlassen. »Trotzdem, da draußen könnte sich ein Heer versteckt haben«, sagte sie. »Aber die würden nicht angreifen, ohne zu wissen, wie stark der Gegner ist – die Gefahr für die Schwestern wäre zu groß. Er würde warten, Henry würde warten.«

»Worauf?«, fragte Mansur.

»Genau, worauf denn?« Gyltha war ausgesprochen redselig, um zu zeigen, dass sie nicht litt. »Der würde doch kein Heer brauchen, um den Laden hier einzunehmen – den könnten ich und die kleine Allie ja allein stürmen. Und wie soll der König hergekommen sein? Nee, der alte Wolf weiß, dass er bis zur Schneeschmelze sicher ist. Der hat ja nich mal Wachposten aufgestellt.«

»Inzwischen doch«, sagte Mansur.

Adelia beugte sich aus dem Fenster. Gyltha ebenso. Direkt unter ihnen patrouillierte ein Mann in Wolvercotes blausilbernem Waffenrock auf dem Weg, der an den hoffnungslos unzureichenden Befestigungen der Klostermauer entlangführte. Sein Morgenschatten fiel rhythmisch auf die Mauerzacken und verschwand bei jeder Schießscharte. Er hielt eine Pike in der einen Hand und eine Klapper in der anderen.

»Wonach hält der denn Ausschau?«, fragte Gyltha, »Elstern? Da draußen is kein Heer. Kein Mensch kämpft im Winter.«

»Henry schon«, sagte Adelia.

Sie hörte Rowleys Stimme, die vor fast ungläubiger Freude bebte, wenn er von den Heldentaten seines Königs schwärmte und die Geschichte von dem jungen Plantagenet erzählte, der im Krieg gegen Stephen um das Recht seiner Mutter auf den englischen Thron gekämpft und während eines bitteren Weihnachtssturms mit einem kleinen Heer den Ärmelkanal überquert hatte, um seine Feinde im Winterlager zu überrumpeln – und zu besiegen.

Bis jetzt hatte Wolvercote darauf vertraut, dass der englische Winter seine Feinde ebenso zur Tatenlosigkeit verdammt hatte wie ihn selbst. Aber ob es nun daran lag, dass die Nabelschnur des Pfades durch den Schnee die Abtei jetzt mit der Außenwelt verband, oder ob wirklich heute am Stephanstag etwas in der Luft lag, er hatte Wachen aufgestellt …

»Er hat Angst.« Adelias eigene Stimme bebte. »Er denkt, Henry kommt. Und er könnte kommen, Mansur, der König könnte kommen. Seine Männer könnten auf Schlittknochen den Fluss herauf bis zu uns gelangen.« Ihr kam ein anderer Gedanke: »Ich vermute, Wolvercote könnte seine Männer auf dieselbe Art nach Oxford führen und dort zu den Rebellen stoßen. Wieso hat er das nicht getan?«

»Dieser Schwyz hat schon daran gedacht. Er ist der bessere Taktiker«, sagte Mansur. »Er hat Fitchet gefragt, ob das möglich wäre. Aber weiter unten ist die Themse tiefer und hat mehr Zuflüsse, deshalb hält das Eis dort nicht, und es wäre zu gefährlich. Auf diesem Weg kann keiner kommen oder gehen.« Mansur breitete entschuldigend die Hände aus, weil er Adelia enttäuschen musste. »Die Einheimischen wissen so was. Bis der Schnee schmilzt, bleibt jeder, wo er ist.«

»Und mach das verdammte Fenster zu«, sagte Gyltha. »Sonst erfriert Klein Allie noch.«

Dann fügte sie sanfter hinzu: »Da draußen weiß keiner, dass wir hier sind, mein Täubchen.«

»Die Frau hat recht«, sagte Mansur.

Sie haben die Hoffnung verloren, dachte sie, sie haben Rowley endlich aufgegeben, halten ihn für tot. Godstow faulte wie eine heimliche Pestbeule im weißen Fleisch der Welt und wartete darauf, sein Gift verbreiten zu können. Nur die Vögel am Himmel konnten wissen, dass hier die Flagge einer Rebellenkönigin wehte – und die Vögel würden es wahrscheinlich keinem weitersagen.

Doch trotz aller gegenteiligen Beweise flüsterte die Hoffnung Adelia heute ein, dass dort vor den Fensterläden etwas war … zumindest gab es Stufen, die zum Fluss führten, und der Fluss, so heimtückisch er auch sein mochte, führte in die Außenwelt … die Sonne schien, und es lag ein unbestimmbares Gefühl in der Luft. Sie wurde schon zu lange von Angst gepeinigt, war zu lange eingeschlossen und bedroht worden, tagsüber in dunkle Räume eingesperrt wie eine Geisel. Und das galt für sie alle.

Als sie draußen Stimmen und Lachen hörte, stieß sie die Fensterläden so heftig auf, dass sie gegen die Wand schlugen, und beugte sich erneut hinaus.

Weiter weg wurde das Klostertor geöffnet, und eine Schar von angeregt plaudernden Männern und Frauen versammelte sich davor. In ihrer Mitte war eine schlanke elegante Gestalt, deren schimmernde Pelze in der Sonne leuchteten.

»Die Königin geht eislaufen«, sagte Adelia. Sie drehte sich um. »Und wir auch. Wir drei, und Allie kommt mit.«

Alle gingen eislaufen. Schließlich war Stephanstag, der traditionell der Tag der Diener war, die nicht nach Hause in ihre Dörfer konnten und ihn daher vor Ort feiern mussten. Heute Abend würden sie mit den Resten vom gestrigen Abend ihr eigenes Fest feiern.

Fast alle Bediensteten stolperten hinaus aufs Eis, manche ohne Schlittknochen, doch alle mit dem traditionellen Tonkästchen in Händen, das den Gästen mit einem auffordernden Klappern unter die Nase gehalten wurde.

Nachdem Adelia ihre Gabe gespendet hatte, entzückte sie ihre Tochter, indem sie ihren Gürtel an der Wiege befestigte und sie beim Eislaufen hinter sich herzog. Andere mit Schlittknochen halfen auf die gleiche Weise denjenigen, die keine hatten, und so verwandelte sich der breite Themsebogen schon bald in einen bunten Reigen aus zahllosen Schlitten und dazu umfunktionierten Tabletts, atemlosen Scherzen und rosa Wangen, durch den eine lächelnde Königin mit schwanengleicher Anmut segelte, während ihr die Höflinge aufgeregt plappernd folgten.

Nach den Laudes gesellten sich auch die Nonnen dazu. Die jüngeren kreischten fröhlich und wetteiferten mit Schwester Havis, die schneller lief als alle anderen, obwohl es bei ihr immer irgendwie vornehm aussah.

Ein Kohlenbecken wurde in Ufernähe aufs Eis gesetzt und ein Stuhl herbeigetragen, damit Mutter Edyve im Warmen sitzen konnte. Bei ihr waren die gehfähigen Verwundeten, die Schwester Jennet aus dem Hospital hergeführt hatte. Wächter, dessen Versuche, hinter Adelia herzulaufen, unvermeidlich damit endeten, dass er alle viere von sich gestreckt übers Eis schlitterte, gab den Kampf verloren und ließ sich schmollend auf dem Stück Teppich unter dem Stuhl der Äbtissin nieder.

Adelia erkannte ihren Patienten und glitt zu ihm hinüber, die Wiege im Schlepptau. »Geht Eure Genesung voran?«

Poyns’ junges Gesicht strahlte. »Sehr gut, Mistress, danke. Und die Äbtissin will mir Arbeit geben, als Helfer von Master Fitchet, dem Torwächter. Dafür braucht man keine zwei Arme.«

Adelia lächelte ihn an. Es war wirklich eine liebenswerte Abtei.

»Und dankt Master Man … Manum … ich mein den Doktor, von mir, Gott und die Heiligen mögen ihn segnen.«

»Das werde ich.«

Tische wurden aufgestellt und einige Reste vom Weihnachtsmahl aufgetragen.

Adelia und Gyltha setzten sich auf irgendeinen fremden Schlitten am anderen Ufer, wo Wächter sich zu ihnen gesellte, kauten Allies Essen für sie vor und aßen ihr eigenes, ohne auf das unaufhörliche »Bäär, bäär« des Kindes zu achten, das wieder aufs Eis wollte.

»Sie meint ›mehr‹«, sagte Adelia stolz. »Das ist ihr erstes Wort.«

»Das is ihr erster Befehl«, sagte Gyltha. »Was bist du bloß für ein kleiner Tyrann!« Sie überließ Wächter ihr Lammkotelett, nahm den Gürtel und glitt davon, wobei die Wiege einen kleinen Eisregen hinter sich versprühte.

Adelia und ihr Hund blieben sitzen. Von hier aus hatte sie einen unverstellten Blick auf die Klostermauer. Inzwischen patrouillierten dort zwei von Wolvercotes Männern, und beide hielten den Blick auf die Bäume hinter ihr gerichtet. An einem der Fenster im Gästehaus der Männer war eine Silhouette zu sehen – sie meinte, Master Warin zu erkennen.

Der Abt war nicht zu sehen, Gott sei Dank. Er war ihr ein Greuel geworden, so wie sie ihm ein Greuel geworden sein musste, weil sie ihn abgewiesen hatte – und dafür würde sie bestraft werden.

Die Brücke war geschlossen worden, was sie daran merkte, dass einige Dorfbewohner von Wolvercote sich auf der anderen Seite drängten und sehnsüchtig das muntere Treiben auf dem Eis beobachteten. Andere waren dabei, einen eigenen Pfad zum Fluss zu graben.

Hinter ihr in dem Wald, der, wie sie hoffte, Henry Plantagenet und sein Heer versteckte, konnte sie die Rufe der jüngeren Männer aus der Abtei hören, die ohne Furcht vor den Wölfen auf der Suche nach einem Zaunkönig das Unterholz durchstöberten, und ihrem Lärm nach zu urteilen, waren sie bisher auf nichts Nennenswertes gestoßen.

Sie drehte sich um und sah die Männer zwischen den Bäumen hindurchlaufen. Nach altem Brauch hatten sie sich die Gesichter geschwärzt. Wieso es unbedingt nötig war, am Stephanstag einen Zaunkönig zu fangen, wusste sie nicht. Englische Sitten waren und blieben ihr ein Rätsel. Die meisten davon stammten aus heidnischer Zeit.

Sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Szene auf dem Eis.

Wolvercote sprach mit Eleanor an einem der Esstische. Wo war Emma?

Adelia überlegte, was den Mann dazu bewogen hatte, ausgerechnet jetzt Wachen aufzustellen, wo er so lange auf diese Vorsichtsmaßnahme verzichtet hatte. Vielleicht hatte er dasselbe Erwachen in der Luft gespürt, das sie so belebt hatte – oder er hatte nur eine weitere Gelegenheit gesehen, seine Macht zu demonstrieren. So oder so, er war nicht nur ein Rohling, sondern auch ein Dummkopf. Was nützte es, die Abtei zu bewachen und sie anscheinend auf eine Belagerung vorzubereiten, wenn deren Bewohner nahezu vollzählig außerhalb der Mauern herumtollten und dem Feind verrieten, wie viele sie waren?

Aber sie war heilfroh darüber – über diese Befreiung. Sie wäre versucht gewesen, auf ihren Schlittknochen davonzugleiten und selbst nach Henry zu suchen, wenn sie dafür nicht die Menschen, die ihr auf der Welt am liebsten waren, hätte zurücklassen müssen.

Gerade aber war Schwyz aus dem Klostertor getreten und betrachtete den disziplinlosen Trubel unter ihm wie ein Mann, der Dinge besser organisieren konnte. Und, verflucht sollte er sein, er würde sie besser organisieren. Nun kam er die Stufen herab, ging auf Wolvercote zu, fluchte los …

Kurz darauf hatten seine Söldner an beiden Enden der Flussbiegung Stellung bezogen. Jetzt würde sich niemand mehr auf und davon machen. Er schimpfte sogar mit Eleanor, zeigte auf das Klostertor … sie schüttelte bloß den Kopf, amüsierte sich einfach zu gut und glitt davon.

Sie würden bald wieder zurück in die Abtei müssen. Die Sonne sank tiefer und nahm die Helligkeit und das bisschen Wärme mit, das sie verbreitet hatte. Endlich war Eleanors deutliche Aussprache zu vernehmen, wie sie Mutter Edyve für die Kurzweil dankte. »So erfrischend …« Die Ersten stiegen schon die Stufen des Pfades hinauf.

»Mistress«, sagte eine schneidende Stimme hinter Adelia. Es war Pater Paton.

Die Schlittknochen sahen an Rowleys kleinem Sekretär irgendwie unpassend aus, aber er hielt sich recht ordentlich darauf, die behandschuhten Hände auf der Brust verschränkt, als müsste er sich vor der Unwürdigen schützen. »Ich habe es«, sagte er.

Sie starrte ihn an. »Ihr habt es … gefunden? Nicht zu fassen … es war so unwahrscheinlich.« Sie musste sich zusammenreißen. »Und sind sie gleich?«

»Ja«, sagte er, »ich muss leider sagen, dass die Ähnlichkeit mit demjenigen, das Ihr mir gegeben habt, unbestreitbar ist.«

»Hätte der Vergleich vor einem ordentlichen Gericht Bestand?«

»Ja. Bestimmte Eigenarten, die bei beiden gleichermaßen festzustellen sind, würde auch ein Ungebildeter sofort erkennen. Ich habe es hier, ich habe sie beide …« Er begann, die große Tasche an seinem Gürtel zu öffnen.

Adelia bremste ihn. »Nein, nein, ich will sie nicht haben. Behaltet Ihr sie und meine eidliche Erklärung dazu. Bewahrt alles sicher auf, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist … und im Namen Jesu erzählt niemandem, dass Ihr sie habt.«

Pater Paton spitzte die Lippen. »Ich habe meine eigene Darstellung der Angelegenheit niedergeschrieben, in der ich erkläre, dass ich getan habe, was ich getan habe, weil ich glaube, dass es der Wille meines Herrn gewesen wäre, des verstorbenen Bischofs von St. Albans …«

Eis spritzte auf, als der Bote des Bischofs sie einmal umkreiste und dann schwungvoll vor ihnen zum Stehen kam. Jacques’ Gesicht war gerötet vor Anstrengung. Er sah beinahe gut aus, obwohl der Bischof die kunstvolle und von einer zierlichen Handdrehung begleitete höchst aquitanische Verbeugung vor Adelia missbilligt hätte. »Es ist erledigt, Mistress. Mit etwas Glück werden sie sich nach der Vesper in der Kirche treffen. Ihr und dieser Gentleman solltet frühzeitig Posten beziehen.«

»Was ist das für ein Unsinn?« Pater Paton missbilligte Jacques nur unwesentlich weniger als Adelia. »Jacques hat zwei Einladungen ausgetragen, die ich geschrieben habe, Pater«, erklärte sie ihm. »Wir werden lauschen, wir werden beweisen, wer den Tod von Talbot aus Kidlington verschuldet hat.«

»Ich will nichts mit all Euren vermeintlichen Morden zu tun haben. Ihr erwartet von mir, dass ich andere belausche? Lächerlich, kommt gar nicht in Frage.«

»Welche vermeintlichen Morde?«, fragte Jacques verwundert.

»Wir werden dort sein«, sagte Adelia zu dem Priester und unterband seinen Widerspruch. »Ja, auch Ihr werdet dort sein. Wir brauchen einen unabhängigen Zeugen. Gott im Himmel, Pater, ein junger Mann wurde getötet.«

Eine gereizte Gestalt mit einer noch gereizteren Stimme war zu ihnen getreten. »Rein mit euch, allesamt, und zwar flott.« Cross hielt die Arme gespreizt, um die drei Richtung Stufen zu scheuchen.

Froh, endlich wegzukommen, glitt Pater Paton davon.

»Kann er uns auch in Bezug auf Berthas Tod helfen?«, wollte Jacques wissen.

»Ich sag’s nich noch mal«, blaffte Cross. »Der Hauptmann hat gesagt, rein mit euch, also macht, dass ihr reinkommt.«

Jacques gehorchte. Adelia trödelte.

»Kommt schon, Mistress. Es wird kalt.« Der Söldner ergriff recht behutsam ihren Arm. »Na bitte, Ihr zittert ja schon.«

»Ich will nicht wieder da rein.« Die Klostermauern würden sie und den Mörder erneut gemeinsam gefangen halten. Sie wurde zurück in einen Käfig gezwungen, in dem ein Ungeheuer mit Blut an den Klauen steckte.

»Ihr bleibt nich die ganze Nacht hier.« Während er sie übers Eis zog, rief Cross über die Schulter den Zaunkönigjägern im Wald zu: »Rein mit euch, Jungs.«

Als sie die Stufen erreichten, musste er Adelia hinaufhieven, wie ein Henker einem Gefangenen aufs Schafott hilft.

Hinter ihnen kam eine lärmende Gruppe Männer aus dem Wald am gegenüberliegenden Ufer, die sich triumphierend um einen kleinen aus Korbweide geflochtenen Käfig drängelten, in dem ein verängstigter Zaunkönig flatterte. Sie trugen Kapuzen, waren mit Schnee bedeckt, und ihre geschwärzten Gesichter machten sie unkenntlich.

Und wenn mit der johlenden und herumalbernden Meute einer mehr durchs Klostertor hineinging, als zuvor herausgekommen waren, so bemerkte das niemand.

In der Marienkapelle der großen Kirche hatte der Zimmermann der Abtei Bretter quer über die äußersten Dachsparren gelegt, um einige angefaulte Streben leichter austauschen zu können. Dadurch war ein kleiner provisorischer Teildachboden entstanden, wo die zwei Menschen, die sich dort versteckt hatten, zwar gut hören, aber nichts sehen konnten. Adelia und Pater Paton waren ganz auf ihre Ohren angewiesen.

Sie hatte den Priester heftig drängen müssen, mit ihr unters Dach zu klettern. Er hatte sich gegen die Heimlichkeiten, das Risiko, die Würdelosigkeit gewehrt.

Auch Adelia war nicht wohl dabei. Das war nicht ihr Stil, es war hinterlistig, unwissenschaftlich. Noch schlimmer war, dass die Angst, die sie befallen hatte, sobald sie wieder in der Abtei war, ihr die Energie raubte und ein lähmendes Gefühl der Sinnlosigkeit zurückließ.

Aber als sie durch die Tür in die Seitenkapelle getreten war, hatte ein Luftzug die Kerzen vor dem Altar der Jungfrau aufflackern lassen, darunter eine, die Emma für Talbot aus Kidlington entzündet hatte, und daher hatte sie den Priester unter Druck gesetzt, ihn angefleht und gelockt. »Wir haben eine Pflicht den Toten gegenüber, Pater.« Das war der Fels, auf dem ihr Glaube ruhte, eine Überzeugung, die für sie so fundamental war wie das Athanasianische Glaubensbekenntnis für die westliche Liturgie, und vielleicht hatte der Priester dessen Bedeutung erkannt, denn er hatte aufgehört zu widersprechen und war die Leiter hinaufgestiegen, die Jacques für sie bereitgestellt hatte.

Jetzt war die Vesper vorbei, der schwache Gesang vom Kloster her verstummt. Die Kirche war leer. Seitdem die Söldner immer wieder Radau gemacht hatten, hielten die Nonnen die Totenwache für ihre Toten in ihrer eigenen Kapelle.

Irgendwo bellte ein Hund. Wahrscheinlich Fitchets Köter – ein stichelhaariges Ungetüm, bei dessen Nahen sich Wächter, der nicht gerade für seinen Mut berühmt war, immer gleich hinlegte und auf den Rücken rollte.

Sie waren zu weit hinten im Dachboden, um unten irgendwas sehen zu können, nur der Lichtschein von den Altarkerzen im Hauptschiff reichte schwach bis zu ihnen herauf, so dass sie zumindest das halbrunde Dach über sich erahnen konnten. Adelia kam es so vor, als lägen sie und der Priester auf den Ruderbänken eines umgedrehten Bootes. Und zwar ziemlich unbequem.

Die Augen der Fledermäuse, die an den Latten über ihnen hingen, funkelten zu ihnen herunter wie wütende kleine Perlen.

Als es in der Nähe raschelte, piepste Pater Paton: »Ich hasse Ratten.«

»Seid still«, befahl sie.

»Das ist Tollheit.«

Vielleicht war es das, aber jetzt konnten sie nicht mehr zurück – Jacques hatte die Leiter weggenommen und zurück in den Glockenturm nebenan getragen, wo sie hingehörte. Er selbst hatte sich in der Dunkelheit oben im Turm versteckt.

Ein Schloss klickte. Die ungeölten Angeln der Seitentür in die Kapelle protestierten quietschend. Irgendwer zischte ungehalten ob des Geräusches. Die Tür schloss sich. Stille.

Warin. Das musste der Advokat sein. Wolvercote würde nicht so schleichen wie die Person da unten.

Adelia empfand eine eigenartige Niedergeschlagenheit. Es war eine Sache, über die Schuld eines Menschen zu theoretisieren, aber etwas gänzlich anderes, sie bestätigt zu sehen. Irgendwo unter ihr stand ein Mann, der seinen einzigen Verwandten verraten hatte, einen Jungen, der in seine Obhut gegeben worden war, einen Jungen, der ihm vertraut hatte und dafür mit dem Leben bezahlen musste.

Wieder das Kreischen der Türangeln, doch diesmal wurde es von stampfenden Stiefelschritten begleitet. Man spürte förmlich die vibrierende Energie.

»Hast du mir das geschickt?« Wolvercotes Stimme. Wütend. Falls Master Warin verneinte, so konnten es die Lauscher nicht hören, weil Wolvercote gleich weiterredete. »Jawohl, das hast du, du Hurensohn, du eklige Eiterbeule, du stinkender Scheißkerl, du kriegst nicht noch mehr Geld von mir, du dämlicher Drecksack …«

Die Tirade, deren gelungene Alliterationen aus diesem Munde recht verblüffend waren, wurde von klatschenden Schlägen vermutlich in Master Warins Gesicht begleitet, die wie das Knallen von Peitschenhieben an den Wänden widerhallten. Pater Paton fuhr jedes Mal zusammen, so dass Adelia, die direkt neben ihm lag, gleichzeitig mitzuckte. Der Advokat verlor nicht den Kopf, obwohl der ihm sicherlich dröhnte. Dann seine Stimme: »Seht, seht, Mylord. Im Namen Christi, seht doch.« Die Schläge hörten auf.

Jetzt zeigt er ihm seinen Brief.

Abgesehen von Ort und Zeitpunkt des vorgeschlagenen Treffens, war die Botschaft, die sie jedem der beiden geschrieben hatte, knapp gehalten: Wir sind entdeckt.

Langes Schweigen trat ein, während Wolvercote – kein geübter Leser – die Nachricht entzifferte, die Warin erhalten hatte. Der Advokat sagte leise: »Das ist eine Falle. Irgendwer ist hier.«

Hastige, leise Schritte waren zu hören, während Warin herumsuchte, das Öffnen von Schränken – ein dumpfer Laut, als ein Stapel Betkissen umgestoßen wurde. »Irgendwer ist hier.«

»Wer soll hier sein? Was für eine Falle?« Wolvercote blieb, wo er war, und rief hinter Warin her, während der kleine Mann ins Hauptschiff der Kirche lief, um auch dort nachzusehen. »Hast du mir das geschickt?«

»Was ist da oben?« Master Warin war zurückgekommen. »Wir müssen da oben nachsehen.«

Jetzt spähte er nach oben. Das Gefühl, dass die Augen des Mannes durch die Bretter sehen konnten, ließ Adelias Muskeln erstarren. Pater Paton rührte sich nicht.

»Da oben ist keiner. Wie soll denn da einer hochkommen? Was für eine Falle?«

»Mylord, irgendwer weiß Bescheid.« Master Warin hatte sich ein wenig beruhigt. »Mylord, Ihr hättet die beiden Schurken nicht aufhängen sollen. Das war nicht gut, ich hatte ihnen Geld versprochen, damit sie das Land verlassen konnten.«

Also hast du die Mörder beauftragt.

»Klar hab ich die Hunde aufgehängt.« Wolvercote sprach noch immer überlaut. »Wer weiß, ob die den Mund gehalten hätten. Gott verfluche dich, Warin, wenn das ein Trick ist, mit dem du mehr Geld rausschlagen willst …«

»Ist es nicht, Mylord, obwohl es bei der heiligen Muttergottes ein großer Dienst war, den ich Euch erwiesen habe …«

»Ja.« Wolvercotes Tonfall war ruhiger geworden, nachdenklicher. »Und allmählich frag ich mich, wieso.«

»Das hab ich Euch doch schon gesagt, Mylord. Ich wollte nicht zulassen, dass jemand aus meiner Familie Euch schadet. Als ich erfuhr, was der Junge vorhatte …«

»Und für Euch ist nichts dabei rausgesprungen? Warum zum Teufel seid Ihr dann hergekommen? Wieso seid Ihr prompt zur Abtei galoppiert, um rauszufinden, ob er tot ist?«

Sie bewegten sich jetzt ins Mittelschiff, und der Wortwechsel zwischen einer argwöhnischen und einer kläglichen Stimme wurde unverständlich.

Nach einer ganzen Weile kamen sie zurück, wie an ihren Schritten zu hören war. Die Tür öffnete sich ächzend. Stiefel stapften ebenso laut nach draußen, wie sie hereingekommen waren.

Pater Paton bewegte sich, doch Adelia umklammerte seinen Arm. Noch nicht. Die wollen nicht zusammen gesehen werden. Wolvercote ist als Erster gegangen.

Wieder Stille. Ein leiser kleiner Mann, dieser Advokat.

Jetzt erst ging er. Sie wartete, bis sie die Tür ins Schloss fallen hörte, dann robbte sie sich nach vorne, um über die Bretter nach unten zu spähen.

Die Kapelle war leer.

»Geachtete Männer, ein Baron des Reiches, Unmenschen, Unmenschen.« In Pater Patons Entsetzen mischte sich Aufregung. »Das muss der Sheriff erfahren, ich muss alles aufschreiben, ja, alles aufschreiben. Ich kann Verschwörung und Mord bezeugen; der Sheriff wird eine richtige eidliche Aussage brauchen. Ich bin ein wichtiger Zeuge, jawohl, das hätte ich niemals geglaubt … ein Baron des Reiches.«

Er konnte kaum abwarten, dass Jacques die Leiter brachte. Noch während er herunterkletterte, löcherte er den Boten bereits mit Fragen, was denn im Hauptschiff gesagt worden war.

Adelia blieb noch einen Moment lang reglos liegen. Es spielte keine Rolle, was sonst noch gesagt worden war. Zwei Mörder hatten sich mit ihren eigenen Worten schuldig gesprochen, waren angesichts des Lebens, das sie gemeinsam ausgelöscht hatten, so gleichgültig, als wäre es ein Büschel Gras.

Ach, Emma.

Sie dachte an den Bolzen, der tief in der Brust des jungen Mannes das Herz, dieses wunderbare Organ, zum Stillstand gebracht hatte, dachte an die Ungerührtheit des Schützen, der ihn in dieses unfassbar komplizierte Zusammenspiel von Adern und Muskeln geschossen hatte, ebenso ungerührt wie der Vetter, der den Schuss befohlen hatte, wie der Lord, der ihn dafür bezahlt hatte.

Emma, Emma.

Pater Paton eilte zurück zum Wärmeraum – er wollte seine Aussage sogleich aufsetzen.

Der Mond schien hell und kalt und machte eine Laterne unnötig. Während Jacques sie nach Hause begleitete, berichtete er ihr, was er in der Kirche hatte verstehen können. Größtenteils war es nur eine Wiederholung des Gesprächs in der Kapelle gewesen. »Als sie gingen«, sagte er, »waren sie sicher, dass man sich einen Scherz mit ihnen erlaubt hatte. Zumindest Lord Wolvercote glaubt das, er verdächtigt seine Söldner. Advokat Warin war noch immer verstört, ich möchte wetten, er verlässt das Land, wenn er kann.«

Sie verabschiedeten sich am Fuße der Gästehaustreppe.

Unendlich müde schleppte Adelia sich nach oben. Auf den letzten Stufen bewegte sie sich besonders vorsichtig, wie sie das jetzt immer tat, weil sie in Erinnerung an ein Ereignis, das zum Glück nicht eingetreten war, an der Stelle stets im Geiste eine Wiege über den Rand stürzen sah.

Sie blieb stehen. Die Tür stand einen Spalt offen, und drinnen war es dunkel. Selbst wenn ihr kleiner Haushalt schon schlief, normalerweise ließen die anderen immer eine Kerze für sie brennen – und die Tür blieb nie offen. Sie war beruhigt, als Wächter sie begrüßen kam und sein freudiges Schwanzwedeln mehr Duft freisetzte als üblich. Sie trat ein.

Die Tür wurde hinter ihr geschlossen. Ein Arm umschlang ihre Brust, eine Hand presste auf ihren Mund. »Ganz ruhig«, flüsterte jemand, »rate mal, wer hier ist.«

Sie musste nicht raten. Fieberhaft drehte sie sich in der festen Umarmung, bis sie den Mann ansah, den einzigen Mann.

»Du Bastard«, sagte sie.

»Stimmt in gewisser Weise«, sagte er und hob sie auf. Er ließ sie auf das nächstbeste Bett fallen und legte sich auf sie. »Ma und Pa haben schließlich doch noch geheiratet, das weiß ich noch genau, ich war dabei.«

Eigentlich war es kein Zeitpunkt zum Lachen, doch sie tat es, mit seinem Mund fest auf dem ihren.

Nicht tot – herrlich lebendig. Sein Geruch war so gut, er war das Gute schlechthin, alles war gut, jetzt, wo er hier war. Er berührte ihre tiefste Seele und ach so sehr auch ihr Innerstes, das bei seiner Berührung flüssig wurde. Sie war viel zu lang ausgedörrt gewesen.

Ihre Körper, die wie gewaltige Flügel pumpten, trugen sie höher und höher auf einen Flug in kataklysmische Höhen, um dann in einem langen pulsierenden Sturz zurückzufallen auf ein Reisebett in einem dunklen, kalten Raum.

Als die Erde nicht mehr schwankte und wieder ruhig geworden war, wand sie sich unter ihm hervor und setzte sich auf. »Ich habe gewusst, dass du in der Nähe bist«, sagte sie. »Irgendwie habe ich es gewusst.«

Er grunzte.

Sie war voll neuer Kraft, als wäre sein Samen eine wundertätige Arznei gewesen, die ihren Körper zurück ins Leben geholt hatte. Sie fragte sich, ob sie noch ein Kind bekommen würde, und die Vorstellung machte sie froh.

Ihr Geliebter war in postkoitale Ermattung gefallen. Sie stieß ihm einen Finger in den Rücken. »Wo ist Allie? Wo sind Gyltha und Mansur?«

»Ich habe sie in die Küche geschickt, die Diener feiern da.« Er seufzte. »Ich hätte das nicht tun sollen.«

Um ihn anschauen zu können, stand sie auf und stolperte zum Tisch, tastete dort herum, holte etwas Zunder aus einer Schachtel, schlug einen Funken hinein und zündete damit eine Kerze an.

Er war dünn, Gott segne ihn, aber schön. In einer Hose – die ihm jetzt um die Waden hing – wie ein Bauer, das Gesicht verschmiert, wie es aussah, mit Baumrinde.

»Ein Zaunkönigfänger«, sagte sie entzückt. »Du bist mit den Zaunkönigfängern reingekommen. Ist Henry hier?«

»Irgendwie musste ich ja reinkommen. Gott sei Dank ist heute Stephanstag, sonst hätte ich über die verdammte Mauer klettern müssen.«

»Woher wusstest du, dass wir in Godstow sind?«

»Wo der Fluss zugefroren ist? Wo hättet ihr denn sonst sein sollen?«

Die Antwort gefiel ihr nicht. »Wir hätten tot sein können«, stellte sie klar, »wären wir um ein Haar auch gewesen.«

Er setzte sich auf. »Ich war zwischen den Bäumen«, sagte er. »Hab dir beim Eislaufen zugesehen. Sehr anmutig, vielleicht bei den Kehren ein bisschen wackelig … Bei allen Heiligen, sie ist ein wonniges Kind, nicht?«

Unser Kind, dachte Adelia. Sie ist unser wonniges Kind.

Sie schlug ihm auf die Schulter, und das nicht ganz im Scherz. »Verdammt, Rowley. Ich habe gelitten, ich dachte, du wärst tot.«

»Ich kenne diesen Teil der Themse«, sagte er, »deshalb bin ich da ausgestiegen. Gehört Henry, da ist der Wald von Woodstock. Ganz in der Nähe ist ein Flusshüter – hab sein Kind für ihn getauft. Ich bin bis zu seiner Hütte, war nicht leicht, aber ich hab’s geschafft.« Er setzte sich jäh auf. »Also … wie sieht’s hier aus?«

»Rowley, ich habe gelitten.«

»War nicht nötig. Der Hüter hat mich nach Oxford geführt – auf Schneeschuhen. Die verdammte Stadt wimmelte nur so von Rebellen, jeder Hundsfott, der für Stephen gekämpft hat und deswegen leiden musste, war in Waffen und hatte Eleanors Banner gehisst oder das des jungen Henry. Wir mussten einen Bogen um die Stadt machen und uns nach Wallingford durchschlagen. Das war schon immer eine königliche Hochburg. Im Krieg haben die FitzCounts es für die Herrscherin verteidigt. Hab mir gedacht, dass der König zuerst dahin kommt.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Gott steh mir bei, es war ein steiniger Weg.«

»Geschieht dir recht«, sagte sie. »Hast du den König gefunden? Ist er da?«

»Eigentlich hat er mich gefunden. Ich lag in Wallingford darnieder mit verschleimter Brust, verdammt, ich wäre fast gestorben. Ich hätte einen Doktor gebrauchen können.«

»Tut mir leid, dass ich nicht verfügbar war«, sagte sie säuerlich.

»Tja, zumindest konnte ich von da aus den Fluss im Auge behalten. Und tatsächlich, er ist gekommen, und noch dazu mit einer regelrechten Flotte.« Rowley schüttelte staunend den Kopf. »Er war in der Touraine, um die Rebellion des jungen Henry niederzuschlagen, als er das von Rosamund erfuhr. Gott möge den Jungen strafen, jetzt hat er sich mit Ludwig von Frankreich verbündet, gegen den eigenen Vater. Mit Ludwig, ausgerechnet.« Rowley presste fassungslos die Fäuste an die Schläfen. »Wir haben ja alle gewusst, dass er ein Idiot ist, aber wer hätte gedacht, dass dieser treulose kleine Welpe den größten Feind seines Vaters um Hilfe bitten würde?«

Er beugte sich vor. »Und Eleanor hat ihn dazu aufgestachelt. Wusstest du das? Das haben unsere Spione berichtet. Hat ihren Sohn gegen seinen Vater aufgestachelt.«

»Ist mir egal«, sagte sie. »Mir ist egal, was sie tun. Was wird jetzt geschehen?«

Aber sie konnte ihn nicht ablenken. Er war in Gedanken noch immer bei Henry Plantagenet, der gegen die Anhänger des jungen Henry gekämpft, zwei tourainische Burgen eingenommen und die Rebellen aufgehängt hatte, ehe er im härtesten Winter seit Jahren mit einem kleinen Heer nach England aufgebrochen war.

»Wie er das geschafft hat, ist mir ein Rätsel. Aber da kommt er einfach die Themse rauf, gefolgt von Booten voller Männer. Hab ich schon gesagt, dass er selbst gerudert ist? Die Männer auf der Barkasse waren dem Sauhund nicht schnell genug, also hat er sich selbst in die Riemen gelegt wie ein Pirat und dabei geflucht, dass der Himmel schwarz wurde.«

»Wo ist er jetzt?«

»Unterwegs.« Kurzes Zögern. »Er will dich sehen.«

»Ach ja?«

»Ich soll dich zu ihm bringen. Er will wissen, ob Eleanor hinter Rosamunds Tod steckt. Ich habe gesagt, du könntest ihm sagen, ob ja oder nein.«

»Großer Gott«, sagte sie. »Bist du deshalb hergekommen?«

»Ich wäre so oder so gekommen. Ich hab mir Sorgen gemacht, weil ich dich zurückgelassen habe … aber ich hätte mir denken können, dass du in Sicherheit sein würdest.« Er legte den Kopf schief und schnalzte mit der Zunge, als müsse er ihre Fähigkeit zu überleben bewundern. »Gott hat seine Hand über dich gehalten. Ich habe darum gebetet.«

»In Sicherheit?« Sie kreischte förmlich. »Ich wäre fast in einem offenen Boot krepiert.« Er musste sie beschwören, nicht so laut zu sprechen, und sie fuhr leiser fort: »In Sicherheit? Wir leben mit Mördern unter einem Dach, deine Tochter, wir alle. Hier herrschen Mord und Totschlag und Verrat … seit Wochen, Wochen hab ich Angst … um Allie, um uns alle … seit Wochen.« Sie wischte sich mit den Fäusten ihre Tränen ab.

»Zehn Tage waren es«, sagte er besänftigend. »Ich habe dich vor zehn Tagen verlassen.« Er stand auf, zog seine Hose hoch, richtete sein Hemd. »Zieh dich an, dann gehen wir.«

»Wohin?«

»Zu Henry. Hab ich doch gesagt. Er will dich sehen.«

»Ohne Allie? Ohne Gyltha und Mansur?«

»Die können wir schlecht mitnehmen. Ich habe einen Weg durch den Schnee gefunden, aber es wird schon zu Pferd schwer genug werden, und ich habe nur zwei mitgebracht.«

»Nein.«

»Ja«, seufzte er. »Das habe ich befürchtet. Und ich habe es dem König gesagt. Ohne das Kind wird sie nicht mitkommen, habe ich gesagt.« Wie er das sagte, hörte es sich an wie ein schrullige Laune.

Es reichte ihr. »Nun sag endlich: Wo ist Henry?«

»Oxford, zumindest war er unterwegs dorthin.«

»Wieso ist er nicht hier?«

»Versteh doch«, erklärte er geduldig. »Godstow ist ein Nebenschauplatz. Wichtig ist Oxford. Henry schickt den jungen Geoffrey Fitzroy mit einer kleinen Truppe her, mehr wird nicht nötig sein. Mansur sagt, Wolvercote und Schwyz haben nur ein paar Männer. Henry kommt nicht persönlich …« Sie sah ihn kurz grinsen. »Ich glaube, unser guter König traut sich selbst nicht, wenn er Eleanor von Angesicht zu Angesicht sieht. Könnte sein, dass er sie niedersticht. Auf jeden Fall wäre es ein bisschen peinlich, die eigene Frau gefangen zu nehmen.«

»Wann? Wann kommt dieser Geoffrey?«

»Morgen. Das heißt, falls ich es zurück zu ihm schaffe und ihm sagen kann, wie die Lage hier ist – damit er nicht die Falschen tötet.«

Er wird es tun, dachte sie. Er wird zurück durch dieses grässliche Land ziehen, verärgert, weil ich unsere Tochter nicht zurücklassen will, aber beruhigt, weil wir ja in Sicherheit sind. Er ist ganz Männlichkeit und Mut, wie sein verdammter König, und wir verstehen uns überhaupt nicht.

Nun, dachte sie, er ist, wie er ist, und ich liebe ihn.

Aber Kälte breitete sich aus, eine ungewohnte Fremdheit; sie hatte gedacht, der alte Rowley wäre wieder da – und für einen herrlichen Augenblick war er das auch gewesen, doch jetzt wirkte er mühsam beherrscht. Er sprach mit der altvertrauten Unbekümmertheit, und doch schaute er sie nicht an. Er hatte eine Hand gehoben, um ihr die Tränen vom Gesicht zu wischen, ließ sie dann aber sinken.

Sie sagte, weil sie nicht anders konnte: »Liebst du mich?«

»Zu sehr, Gott helfe mir«, antwortete er. »Zu sehr für mein Seelenheil. Ich hätte es nicht tun sollen.«

»Was tun?«

»Allmächtiger Gott, verzeih mir. Ich habe es versprochen, ich habe geschworen, dass ich mich, wenn er dich sicher behütet, deiner enthalten und dich nicht wieder zur Sünde verführen werde. Aber ich hätte dich nicht berühren dürfen. Ich begehre dich zu sehr. Dich zu spüren, das war … zu viel.«

»Was bin ich? Etwas, auf das man in der Fastenzeit verzichtet?«

»In gewisser Weise.« Seine Stimme klang jetzt gesetzt, wie die eines Bischofs. »Versteh doch, jeden Sonntag muss ich in irgendeiner Kirche gegen die Unzucht predigen und höre zwischen meinen eigenen mahnenden Worten Gott raunen: ›Du bist ein Heuchler, du begehrst sie, du bist verdammt, und sie ist verdammt.‹«

»Heuchelei ist gar nicht so schlecht«, sagte sie dumpf. Sie begann, ihre Kleider überzustreifen.

»Das musst du doch verstehen. Ich kann nicht zulassen, dass du für meine Sündhaftigkeit bestraft wirst. Ich habe dich Gott überlassen. Ich habe einen Pakt mit ihm geschlossen. Wenn sie sicher ist, Herr, bin ich dein Diener in allen Dingen. Ich habe den Eid in Anwesenheit des Königs geschworen, um ihn zu besiegeln.« Er seufzte. »Und jetzt sieh dir an, was ich getan habe.«

Sie sagte: »Es kümmert mich nicht, wenn es eine Sünde ist.«

»Mich aber«, sagte er gewichtig. »Ich hätte dich geheiratet, aber nein, du wolltest deine Unabhängigkeit behalten. Und so bekam Henry seinen Bischof. Aber eben einen Bischof, verstehst du? Der die Seelen der Menschen bewahren soll. Seine eigene, deine …«

Jetzt sah er sie an. »Adelia, es ist von Belang. Ich dachte, dem wäre nicht so, aber ich habe mich geirrt. Hinter dem ganzen Brimborium und dem Gesang – du glaubst nicht, wie viel da gesungen wird – ist immer diese leise, ruhige Stimme … die mich mahnt. Sag, dass du es verstehst.«

Sie tat es nicht. In einer Welt voller Hass und Mord verstand sie nicht, war ihr ein Gott unbegreiflich, für den Liebe Sünde war. Und auch der Mensch, der dieser Gottheit gehorchte.

Er hob die Hand, als wollte er das Kreuzzeichen über ihr machen. Sie schlug ihn. »Wage es nicht«, sagte sie. »Wage es nicht, mich zu segnen.«

»Nun gut.« Er griff nach seinem Mantel. »Aber hör mir trotzdem zu. Wenn Geoffrey angreift, bevor er angreift, gehst du ins Kloster – er wird den Kampf von dort fernhalten. Nimm Allie und die anderen mit. Ich habe Walt gesagt, er soll dafür sorgen, dass du dorthin gehst … sie ist dem König wichtig, habe ich gesagt.«

Sie hörte nicht zu. Sie war nie gegen Henry Plantagenet angekommen, und gegen Gott würde sie erst recht nicht gewinnen. Es war also doch noch Winter. Und in gewisser Weise würde es für sie nun immer Winter bleiben.

Wie ein Angelhaken in ihrem Verstand zerrte etwas ihre Aufmerksamkeit von der Verzweiflung weg. Sie fragte: »Du hast es Walt gesagt?«

»Mansur hat ihn hergeholt, während ich hier gewartet habe … übrigens, wo warst du so lange?«

»Du hast es Walt gesagt«, wiederholte sie.

»Und Oswald – die zwei wussten nicht, wo Jacques war oder Paton, aber ich habe ihnen gesagt, sie sollen die beiden unterrichten – ich will, dass alle meine Männer vorbereitet sind – sie müssen an die Tore kommen und sie für Geoffrey öffnen …«

»Großer Gott«, sagte sie.

Wächter begann, leise zu knurren.

Sie wäre fast gestrauchelt, als sie zur Tür rannte, und prallte hart dagegen. Sie schob den Riegel vor, legte dann ein Ohr ans Holz und lauschte. Sie würden nicht mehr viel Zeit haben, nur die Gnade Gottes hatte ihnen diese Frist gewährt. »Wie wolltest du aus der Abtei kommen?«

»Mit Silber, auf die Hand des Torwächters. Wieso?«

»Pssst.«

Das Geräusch von Stiefeln, die durch den Schneematsch unten in der Gasse rannten. »Sie kommen, um dich zu fassen. O Gott. O Gott.«

»Fenster«, sagte er, lief durch den Raum und stieß die Fensterläden auf, so dass Mondlicht das Zimmer erhellte.

Fenster, ja.

Sie rissen die Laken vom Bett und knoteten sie aneinander. Als sie sie aus dem Fenster hängten, hämmerte es schon an der Tür. »Aufmachen. Sofort aufmachen.« Wächter warf sich bellend dagegen. Rowley schlang das Lakenseil um den Fensterpfosten und zog kräftig daran, um es zu prüfen. »Nach Euch, Mistress.«

Den höflichen Schnörkel, den seine Hand in die Luft malte, als wollte er sie zum Tanz auffordern, würde sie nie vergessen. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Mir werden sie nichts tun. Es geht um dich.«

Er blickte kurz nach unten, sah dann wieder sie an. »Ich muss gehen. Ich muss sie hierherführen.«

»Ich weiß.« Sie versuchten, die Tür einzurammen. Es war keine besonders dicke Tür, sie würde gleich nachgeben. »Dann tu’s auch«, zischte sie.

Er grinste, zog einen Krummdolch aus seinem Gürtel und reichte ihn ihr. »Bis morgen.«

Als er die Brustwehr erreicht hatte, versuchte sie den Knoten am Fensterpfosten zu lösen, doch er war zu fest, daher begann sie, mit der Schneide das Laken zu zersägen. Sie sah, wie Rowley zur nächsten Schießscharte lief und mit wehendem Mantel sprang. Der Schnee lag hoch, er würde also sanft landen. Aber konnte er die Stufen erreichen?

Ja. Als hinter ihr die Tür zersplitterte und ein grässliches Jaulen aus Wächters Kehle drang, sah sie ihren Mann übers Eis rutschen wie ein kleiner Junge.

Sie wurde zur Seite gestoßen. Schwyz brüllte: »Da ist er. Am anderen Ufer. Loso. Johannes.«

Zwei Männer sprangen zur Tür. Ein anderer nahm Schwyz’ Platz am Fenster ein, spannte hektisch seine Armbrust, zielte und schoss. »Verdammter Mist.« Er sah Schwyz an. »Daneben.«

Adelia schloss die Augen, öffnete sie dann wieder. Draußen auf dem Treppenabsatz ertönten wieder Schritte.

Eine riesige Gestalt beugte den Kopf, um durch die Tür zu passen, und schaute sich dann in aller Ruhe um. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir Mistress Adelia von ihrem Dolch befreien.«

Sie hätte ihn sowieso nicht gegen Menschen benutzt. Sie übergab ihn, Griff voran, an den Abt von Eynsham, von dem die Vorlagen für die Briefe stammten, die Rosamund kopiert und an die Königin gesandt hatte, und der Henrys Mätresse dann hatte ermorden lassen.

Er dankte ihr, und sie kniete sich hin, um Wächter zu untersuchen, der unter eines der Betten gekrochen war. Während sie die durch Tritte gebrochenen Rippen abtastete, betrachtete er sie mit wehleidigem Blick. Sie streichelte ihn. »Du wirst es überleben«, sagte sie. »Braver Hund. Bleib schön hier.«

Galant half ihr der Abt in den Mantel, dann wurden ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt und ein Knebel in den Mund geschoben.

Sie brachten sie zum Tor.

Es war niemand unterwegs, die ganze Abtei lag im Tiefschlaf. Selbst wenn sie um Hilfe hätte schreien können, an diesem Ende der Klosteranlage hätte sie kein Mensch gehört – oder wenn doch, wäre keiner zu ihrer Rettung herbeigeeilt. Master und Mistress Bloat standen nicht auf ihrer Seite. Advokat Warin ganz sicher nicht. Und von Wolvercotes Männern war nichts zu sehen, aber auch die hätten ihr nicht geholfen.

Das große Tor stand offen, doch alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die Kammer des Torwächters, die vom Durchgang abging, in dem Schwyz’ Männer hin und her hasteten.

Sie stießen Adelia hinein. Fitchet lag mit durchgeschnittener Kehle tot auf dem Boden. Pater Paton lag neben ihm und spie gerade ein paar Zähne aus.

Sie rutschte auf Knien an die Seite des Priesters. Unter den Blutergüssen in seinem Gesicht war echte Entrüstung zu sehen. »Miff est-halten«, sagte er. »Wiefe weggenomm.« Er versuchte es noch mal. »Brie-fe weg-genommen.«

Männer richteten Kapuzen und Mäntel, trugen Waffen zusammen, leerten Fitchets Vorratsschrank und trieben ein paar panische Hühner in eine Kiste.

»Hat unser ehrenwerter Torwächter so was wie Wein besessen?«, fragte der Abt. »Nein? Jammerschade, ich hasse Ale.« Er nahm auf einem Hocker Platz, sah sich das Treiben an und befingerte dabei das riesige Silberkreuz auf seiner Brust. Die beiden Söldner, die Rowley verfolgt hatten, kamen keuchend herein. »Er hatte Pferde.«

»Mist, verdammter. Dann ist es vorbei. Wir verschwinden.« Schwyz packte die Fessel um Adelias Hände und riss sie mit einem so heftigen Ruck nach oben, dass er ihr fast die Schultern ausgekugelt hätte. Er schleifte sie hinüber zum Abt. »Wir brauchen sie nicht. Lass mich die Hure umbringen.«

»Schwyz, mein lieber, guter Schwyz.« Eynsham schüttelte seinen mächtigen Kopf. »Dir ist offenbar entgangen, dass Mistress Adelia derzeit das Kostbarste ist, was die Abtei zu bieten hat, wo doch der Wunsch des Königs, sie in seiner Nähe zu haben, so groß ist, dass er einen Bischof losschickt, um sie zu holen – sei es, weil sie im Bett überragende Qualitäten hat, sei es, weil sie gewisse Dinge weiß. Sie ist unsere Trumpfkarte, mein Guter, ein goldener Apfel der Atalante, den wir unter Umständen hinter uns werfen müssen, um Verfolger aufzuhalten …« Er überlegte. »Vielleicht können wir den König, falls er uns einholt, sogar besänftigen, indem wir sie ihm zurückgeben … ja … durchaus möglich.«

Schwyz war in Eile. »Nehmen wir sie nun mit oder nicht?«

»Sie kommt mit.«

»Und der Priester?«

»Tja, ich fürchte, da können wir nicht so nachsichtig sein. Dass Master Paton diese Briefe besitzt, ist höchst bedauerlich. Es wäre mir unangenehm, wenn dem König oder der Königin zu Ohren käme, über welche Beweise er verfügt. Nur mal angenommen, er könnte sie ihnen vortragen, was …«

»Himmelherrgott, erledige ich ihn nun?«

»Nur zu.«

»Nnnnnn.« Adelia warf sich nach vorne. Schwyz zog sie zurück.

»Ich weiß, ich weiß.« Der Abt nickte. »So etwas geht einem unter die Haut, aber ich habe nicht vor, die Wertschätzung der Königin zu verlieren, und ich fürchte, der kleine Pater Paton könnte ihr diese leider austreiben. Habt Ihr ihm meine Vorlage für die Briefe der lieben Rosamund gegeben? Natürlich wart Ihr das. Was seid Ihr doch für eine einfallsreiche kleine Person.«

Er plauderte. Er hatte den Priester zum Tode verurteilt und plauderte amüsiert vor sich hin.

»Da ich bei unserer huldvollen Eleanor großes Ansehen genieße, käme es mir … wie soll ich sagen? … ungelegen, wenn sie wüsste, dass ich derjenige war, der sie zur Rebellion angestachelt hat. Angesichts meiner Desertion könnte sie Henry davon erzählen. So jedoch wird man ihr von einem mordlüsternen Eindringling berichten, der sich Zutritt zur Abtei verschaffte, versteht Ihr, und ihr erzählen, dass wir, der gute Schwyz und ich, eine waghalsige Verfolgung aufgenommen haben, um ihn aufzuhalten, ehe er die Reihen des Königs erreicht. In Wahrheit überlassen wir die Lady natürlich ihrem unvermeidlichen Schicksal. Es hat sich herausgestellt, dass der Schnee für uns zu viel und der liebenswerte Lord Wolvercote für uns zu wenig war … Wie sagt Master Schwyz so derb und doch treffend über den Gentleman – der könnte nicht mal gegen einen Sack Scheiße gewinnen.«

Schwyz hatte sie losgelassen und ging nun auf Pater Paton zu.

Adelia schloss die Augen. Gott, ich bitte dich.

Ein Wimmern von Pater Paton, ein warmer Geruch. Ein Augenblick der Stille, denn selbst diese Gesellschaft verstummte, als eine Seele zu ihrem Schöpfer heimkehrte.

Dann sagte irgendwer irgendwas, ein anderer lachte. Männer begannen, Bündel und Kisten durchs Tor zum Fluss hinunterzutragen.

Der Finger des Abtes glitt unter Adelias Kinn und drückte ihren Kopf hoch.

»Ihr fasziniert mich, Madam, schon von Anfang an. Wie schafft es eine ausländische Schlampe wie Ihr, nicht nur einen Bischof für sich zu begeistern, sondern auch einen König? Und das, bitte verzeiht, ohne dass sie sich eines sonderlichen Liebreizes rühmen könnte.«

Sie hielt die Augen geschlossen, wollte den Kopf wegziehen, doch er packte ihr Gesicht und drehte es hin und her. »Befriedigt Ihr sie beide? Gleichzeitig? Seid Ihr eine Meisterin des Dreiers? Tut Ihr Euch im lit à trois hervor? Ein Schwanz hinten, einer vorne? Arschloch und pudendum muliebre? Was mein Vater auf seine elegante Art als einen Sterz-und-Wanst bezeichnete?«

Es würde noch vieles dergleichen geben, ehe das Ende kam, dachte sie.

Sie sah ihm direkt in die Augen.

Großer Gott, er ist noch Jungfrau.

Woher sie das mit solcher Gewissheit wusste … aber sie wusste es.

Das Gesicht über ihr schrumpfte zu einer gequälten, flehenden Verletzlichkeit zusammen – durchschau mich nicht, durchschau mich nicht –, ehe es wieder zu dem Trompe-l’œil wurde, das sich Abt von Eynsham nannte.

Schwyz hatte sie beide mehrfach gerufen, jetzt kam er und zerrte Adelia auf die Beine. »Wehe, sie macht Ärger«, sagte er. »Wir haben schon genug zu schleppen.«

»Ich bin sicher, sie ist gefügig.« Der Abt lächelte Adelia an. »Wir könnten Eure kleine Tochter aus der Küche holen lassen, wenn Ihr möchtet, und sie mit uns nehmen, aber ob sie die Reise überleben würde …«

Sie schüttelte den Kopf.

Eynsham deutete noch immer lächelnd Richtung Tür. »Nach Euch, Mistress.«

Wie ein Lamm ging sie hindurch und die Eisstufen hinunter.

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