Kapitel fünf

Auf der Anhöhe über einem weiten Tal blieben ein Hund und vier Reiter aus Godstow stehen und betrachteten den Turm und die Nebengebäude auf dem gegenüberliegenden Berg. Nach kurzem Schweigen fragte Adelia unklugerweise: »Wie um alles in der Welt kann man da eindringen?«

»Zu meiner Zeit genügten meist ein paar Blumen und ein galantes Lächeln«, sagte der Bischof.

Sie hörte die beiden Männer neben sich losprusten.

»Ich meinte das Labyrinth«, sagte sie.

»Ich auch«, sagte Rowley augenzwinkernd.

Weiteres Prusten.

Oje, sexuelle Anzüglichkeiten. Aber nachvollziehbar war es. Von hier aus sah der Wormhold Tower und das, was ihn umgab, ziemlich, na ja, derb aus. Ein sehr hoher schlanker Turm, der mit einer engsitzenden Kuppel abschloss – er hatte sogar rings um die Spitze einen kleinen Laufgang, der die phallische Ähnlichkeit noch betonte –, ragte aus einem ringförmigen Labyrinth auf, in dem Männer offenbar weibliches Schamhaar sahen. Die gesamte Silhouette hätte von einem ungezogenen pubertierenden Riesen oben auf den Berg gemalt worden sein können. Eine zotige Schmiererei vor dem Horizont.

Der Bischof hatte sie im leichten Galopp hierhergeführt, stets in der Furcht, das Wetter könnte sie aufhalten, doch jetzt, wo sie den Turm vor Augen hatten, war er erleichtert und nahm sich offensichtlich die Zeit für ein paar plumpe Männerwitze.

Über den Treidelpfad, der von Godstow aus am Fluss entlang nach Norden bis auf eine Meile an den Turm heranführte, waren sie gut vorangekommen. So gut, dass Adelia neue Zuversicht schöpfte und die Angst verlor, das Wetter könnte die Rückkehr zu ihrem Kind verzögern.

Die Kahnführer, denen sie unterwegs begegneten, warnten sie, dass es bald wieder schneien würde, wofür es allerdings nicht die geringsten Hinweise gab. Es war ein wolkenloser Tag, und obwohl der Schnee der letzten Nacht unter der Sonne nicht geschmolzen war, bot die Landschaft einen berückenden Anblick, wie weiße Laken, die unter einem frischgeputzten blauen Himmel zum Trocknen ausgelegt waren.

Weiter südlich auf dem Fluss, den sie soeben hinter sich gelassen hatten, brachten Mansur, ein Waffenknecht des Bischofs und zwei Männer aus Godstow eine Barkasse herauf, mit der Rosamunds Leiche zum Kloster geschafft werden sollte, sobald Bischof Rowley sie aus dem Turm geholt hatte.

Zunächst jedoch mussten sie durch das Labyrinth hindurch, das die Festung der Toten umgab – ein Gedanke, bei dem sich in Adelias Begleitern anscheinend der alte Adam regte.

»Ich hab’s doch gesagt«, sagte Rowley zu Adelia, zwinkerte dabei aber Walt zu. »Hab ich nicht gesagt, das ist der größte Keuschheitsgürtel der Christenheit?«

Er will dich reizen. Hör nicht hin. »Ich bin beeindruckt von der Größe«, sagte sie und seufzte dann leise. Schon wieder eine Doppeldeutigkeit, die die Männer zum Kichern brachte.

Aber sie war wirklich beeindruckt. Das Labyrinth von San Giorgio in Salerno, dessen Länge und Verschlungenheit die Lebensreise der Seele symbolisieren sollte, wurde von der ganzen Stadt bestaunt. Aber im Vergleich dazu war das Gebilde da drüben ein Koloss. Es umschloss den Turm wie ein breiter Ring, der einen großen Bereich auf dieser Seite des Berghangs bedeckte und sich auf der Rückseite fortsetzte. Die Außenmauer war neun oder zehn Fuß hoch, und aus dieser Entfernung sah es aus, als wäre das Innere des Labyrinths gänzlich mit weißer Wolle gefüllt.

Vor ihrem Aufbruch war Adelia von Godstows Priorin gewarnt worden.

»Schlehdorn«, hatte Schwester Havis angewidert gesagt. »Wisst Ihr, was das heißt? Mauern aus Granit mit Schlehdornhecken davor …«

Was Adelia da hinten sah, waren Steine und Hecken, die sich in erstarrten Wellen schlängelten und wanden.

Kein Gürtel, dachte Adelia. Eine Schlange, eine riesige Würgeschlange.

Walt sagte: »Muss ’ne Scheißarbeit für die Gärtner sein«, und Rowley wäre fast vom Pferd gefallen. Jacques lächelte übers ganze Gesicht, froh, seinen Bischof so gelöst zu sehen.

Schwester Havis hatte Adelia vorgewarnt. Das ursprüngliche Labyrinth, so hatte sie gesagt, war von einem verrückten angelsächsischen Geisterbeschwörer um den Turm herum gebaut worden und war später, als es in die Hände eines ebenso verrückten normannischen Ritters im Gefolge von William dem Eroberer fiel, von diesem vergrößert worden, um zu verhindern, dass seine Feinde hinein- und seine Frauen hinausgelangten.

Die Nachkommen des Normannen waren wiederum von Henry Plantagenet verjagt worden, der den Turm als praktische Unterbringung für seine Geliebte auserwählt hatte, da er ganz in der Nähe des Waldes von Woodstock lag, wo der König eine Jagdhütte besaß.

»Eine architektonische Anstößigkeit«, hatte Schwester Havis empört gesagt. »Ein Objekt männlicher Lüsternheit. Die Einheimischen bewundern es, auch wenn sie sich drüber lustig machen. Die arme Lady Rosamund. Ich fürchte, der König fand es amüsant, sie ausgerechnet dort unterzubringen.«

»Das passt zu ihm.« Adelia kannte Henry Plantagenets Sinn für Humor.

Und Rowleys.

»Natürlich komm ich da rein«, antwortete der Bischof gerade auf eine Frage von Jacques. »Hab ich schon einmal gemacht. Einmal nach rechts, dann nach links, mal vor, mal zurück, und alle freuen sich.«

Adelia hörte sie lachen und verspürte allmählich Mitleid mit Rosamund. Hatte es ihr etwas ausgemacht, an einem Ort zu leben, dessen Anblick jeden Mann regelrecht zu Anzüglichkeiten aufforderte?

Arme Lady. Selbst im Tod erwies man ihr wenig Achtung.

Mit den verschneiten Mauern und Ästen des Labyrinths sah es aus, als würde der Turm aus einer Masse weißen Flaums aufragen. Adelia musste unwillkürlich an einen alten Patienten denken, den ihr Ziehvater behandelt hatte. Als er ihr an dem Greis demonstrieren wollte, wie man einen Leistenbruch kuriert, hatte dieser zu seiner eigenen Scham und Verblüffung eine Erektion bekommen.

Und genau das steht da am Himmel geschrieben, dachte sie, der letzte Seufzer eines alten Mannes.

Sie wandte sich Rowley zu. »Wie. Kommen. Wir. Da. Rein«, sagte sie betont deutlich, »und denkt bitte daran, dass da drin eine Tote liegt.«

Er deutete mit dem Daumen auf etwas. »Wir läuten die Glocke.«

Adelia war vom Turm so fasziniert gewesen, dass sie das Holzgerüst gar nicht bemerkt hatte, das nur wenige Schritte entfernt am Hang neben einer Pferdetränke stand.

Wie alles andere in Wormhold war auch die Glocke ungewöhnlich: Wie sie da an dem acht Fuß hohen, trapezförmigen Gerüst hing, das fest in den Boden eingelassen war, nahm sie sich so wuchtig aus wie die einer Kathedrale.

»Los, Jacques«, sagte der Bischof. »Bim, bam.«

Der Bote stieg ab, ging zu der Glocke und schwang das Seil, das vom Klöppel hing.

Adelia klammerte sich an ihrer Stute fest, die beim ersten Glockenschlag scheute, und Walt griff rasch nach den Zügeln von Jacques’ Pferd, damit es nicht durchging. Vögel stoben aus den Bäumen, und ein Krähenschwarm flatterte krächzend auf, als der laute Bariton der Glocke über das Tal schallte. Selbst Wächter, der gleichmütigste aller Köter, hob den Kopf und bellte.

Das Echo hing eine Weile in der Luft, dann trat wieder Stille ein.

Rowley fluchte. »Noch mal«, sagte er. »Wo steckt Dakers? Ist die taub?«

»Muss wohl«, sagte Jacques. »Der Lärm hätte Tote aufgeweckt.« Er merkte, was er da gesagt hatte. »Ich bitte um Vergebung, Mylord.«

Wieder ertönte die große Glocke und schien die Erde erzittern zu lassen. Wieder geschah nichts.

»Ich glaub, ich hab da wen gesehen«, sagte Walt und blinzelte gegen die Sonne.

Adelia auch – einen schwarzen Fleck auf dem Laufgang des Turmes. Aber jetzt war er verschwunden.

»Dem Bischof würde sie aufmachen. Ich hätte meine Bischofsrobe anziehen sollen«, sagte Rowley. Er trug Jagdkleidung. »Nun denn, macht nichts. Wir finden schon den Weg – ich habe ihn noch genau in Erinnerung.«

Er trieb sein Pferd an und galoppierte mit wehendem Mantel den Hang hinunter ins Tal. Die anderen folgten ihm weniger waghalsig.

Der Eingang zum Labyrinth bot den Männern erneut Gelegenheit zu anzüglichen Bemerkungen. Er bestand nicht aus einem Bogen, sondern aus zwei steinernen Ellipsen, die sich oben und unten trafen und eine zehn Fuß breite, spaltförmige Öffnung bildeten, deren Form an eine weibliche Vulva erinnerte. Dieser Eindruck wurde durch die Verzierungen im Stein drum herum noch verstärkt: Schlangen, die sich in vielerlei Früchte hinein- und wieder hinauswanden.

Die Pferde sträubten sich, das Labyrinth zu betreten, obwohl die Öffnung eigentlich groß genug war. Sie folgten erst, nachdem ihnen die Augen verbunden worden waren, was nach Adelias Dafürhalten von mehr Anstand zeugte als die Bemerkungen der Männer, die an ihren Zügeln zerrten.

Drinnen war es unangenehm. Der Weg vor ihnen war zwar recht breit, aber mit Schlehdorn überwuchert, der das Sonnenlicht fernhielt und sie mit dem diffusen grauen Licht eines Tunnels und dem Geruch nach totem Laub umhüllte.

Das Dach aus Ästen war zu niedrig, als dass sie wieder hätten aufsitzen können. Sie würden ihre Pferde durchs Labyrinth führen müssen.

»Los jetzt.« Rowley drängte zur Eile und zog sein Pferd im Laufschritt am Zügel hinter sich her.

Nach ein paar Biegungen konnten sie kein Vogelgezwitscher mehr hören. Dann teilte sich der Weg, und sie standen vor zwei Gängen, beide so breit wie der, durch den sie gekommen waren. Einer führte nach links, der andere nach rechts.

»Da lang«, sagte der Bischof. »Wir gehen nach Nordwesten auf den Turm zu. Merkt euch einfach die Richtung.«

Adelia beschlichen erste Zweifel. Sie war irritiert, weil sie sich hatten entscheiden müssen. »Mylord, ich glaube nicht, dass …«

Aber er war bereits weitergegangen.

Nun, er war schon einmal hier gewesen, vielleicht erinnerte er sich ja wirklich noch. Adelia verlangsamte ihre Schritte, ihr Hund und Jacques folgten ihr auf dem Fuße. Sie hörte Walt, der das Schlusslicht bildete, vor sich hin grummeln. »Wormhold. Passender Name für diese gewundene Scheiße.«

Wyrmhold. Natürlich. Wyrm. Auf den Märkten machten die Geschichtenerzähler ihren Zuhörern Angst und Bange mit Geschichten über die große Drachenschlange, die sich durch die angelsächsischen Legenden wand, genau wie sich diese Gänge durch das Labyrinth schlängelten.

Sehnsüchtig dachte Adelia daran, dass Gylthas Ulf diese Erzählungen liebte und gern den Helden nachspielte – wie hieß er noch? –, der das Ungeheuer erschlug.

Ich vermisse Ulf. Ich vermisse Allie. Ich will nicht in Wyrms Höhle sein.

Ulf hatte ihr die Höhle genüsslich beschrieben. »Furchtbar war sie, tief in der Erde, und sie stank nach dem Blut toter Männer.«

Na, zumindest blieb ihnen der Gestank erspart. Aber der Erdgeruch war da, ebenso wie das bedrückende Gefühl, in einem unterirdischen Gefängnis ohne Ausgang zu sein. Genau das muss der Dädalus bezweckt haben, der diese Schweinerei ausgeheckt hatte, dachte sie. Das erklärte auch den Schlehdorn. Wäre der nicht gewesen, hätten sie eine Mauer hochklettern, sich orientieren und frische Luft atmen können. Aber Schlehdorn hatte Dornen, die Fleisch zerfetzten, wie Wyrm.

Sie hatte keine Angst – sie wusste, wie sie wieder rauskommen würde –, aber sie merkte, dass die Männer jetzt nicht mehr lachten.

An der nächsten Biegung führte der Gang nach Süden und teilte sich in drei weitere Tunnel. Rowley entschied sich, noch immer ohne zu zögern, für den rechten.

Nach der nächsten Biegung teilte sich der Gang erneut. Adelia hörte Rowley fluchen. Sie reckte den Hals, um an seinem Pferd vorbeizusehen und den Grund herauszufinden.

Es war eine Sackgasse. Rowley hatte sein Schwert gezückt und stach es in eine Hecke, die den Weg versperrte. Das Klirren von Metall auf Stein verriet, dass hinter dem Blattwerk eine Mauer war. »Gottverdammter Mist. Wir müssen zurück.« Er hob die Stimme. »Zurück, Walt.«

Der Gang war nicht breit genug, um die Pferde zu wenden, ohne dass sie sich Nüstern und Hinterhand zerkratzten, was sie nicht nur verletzt, sondern auch in Panik versetzt hätte.

Adelias Stute wollte weder rückwärts- noch vorwärtsgehen. Das Tier war vernünftig und blieb einfach stocksteif stehen.

Rowley zwängte sich an seinem Pferd vorbei, packte dann das Zaumzeug von Adelias Stute mit beiden Händen und schob, bis er das Tier überzeugt hatte, rückwärts bis zum Eingang der Sackgasse zu gehen, wo sie sich neu formieren konnten.

»Ich habe doch gesagt, wir müssen uns nordwestlich halten«, sagte er zu Adelia, als hätte sie die Route vorgegeben.

»Wo ist Nordwesten?«

Aber er war schon gereizt weitermarschiert, und sie musste ihre widerspenstige Stute im Trab hinter sich herzerren, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Ein neuer Gang. Und wieder einer. Es war, als würden sie in immer dichter werdende graue Wolle eingepackt. Inzwischen hatte sie jede Orientierung verloren. Genau wie Rowley, so argwöhnte sie.

Im nächsten Gang war Rowley verschwunden. Sie kam zu einer Gabelung und konnte nicht sehen, welchen Weg er genommen hatte. Sie sah sich nach Jacques um. »Wo ist er hin?« Und an den Hund gerichtet: »Wo ist er, Wächter? Wo ist er hin?«

Das Gesicht des Boten war grau, was nicht nur an dem spärlichen Licht lag, das durchs Gehölz drang. Er sah auch älter aus. »Kommen wir hier wieder raus, Mistress?«

Sie sagte beruhigend: »Aber ja doch.« Sie wusste, wie er sich fühlte. Das Dornendach über ihnen machte sie zu Gefangenen. Sie waren Maulwürfe ohne die Fähigkeit von Maulwürfen, an die Oberfläche zu gelangen.

Rowleys Stimme ertönte gedämpft. »Wo zum Teufel seid ihr?« Es war unmöglich, zu hören, wo er war. Die Gänge verschluckten und verfremdeten den Klang.

»Wo seid Ihr?«

»In Gottes Namen, bleibt einfach stehen, ich komme zurück.«

Sie riefen immer wieder nach ihm, damit er eine Orientierung hatte. Er rief zurück, meistens Flüche. Er fluchte auf Arabisch, das er während eines Kreuzzugs gelernt hatte – seine Lieblingssprache fürs Fluchen. Manchmal klang seine Stimme so nah, dass sie zusammenzuckten, dann war sie wieder weiter weg und klang hohl. Rowley wetterte gegen Labyrinthe im Allgemeinen und dieses hier im Besonderen. Gegen die verrückte Dakers und ihre verdammte Schlange … Gegen Eva mit ihrer verdammten Schlange … Und nachdem er sich den Mantel am Schlehdorn zerrissen hatte, ging er sogar so weit, gegen Rosamund und ihre verdammten Pilze zu wettern.

Wächter spitzte die Ohren mal in die eine, mal in die andere Richtung, als bereitete ihm diese Tirade Freude, was vermutlich auch der Fall war, wie seine Herrin dachte, schließlich war er ja auch ein Männchen.

Die Frauen haben Schuld, immer die Frauen. Er kommt gar nicht auf die Idee, den Mann zu verfluchen, der diese Monstrosität gebaut hat, oder den König, der Rosamund mittendrin praktisch wie eine Gefangene hielt.

Dann dachte sie: Sie haben Angst. Na ja, Walt vielleicht nicht, aber Rowley. Und Jacques ganz offensichtlich.

Endlich tauchte im Halbdunkel vor ihnen eine hohe Gestalt auf, die ein Pferd führte, auf sie zukam und sie sogleich anherrschte: »Was steht Ihr hier rum, Weib? Los, zurück. Wir hätten bei der letzten Biegung anders gehen müssen.«

Wieder war sie schuld. Wieder rührte ihre Stute sich nicht vom Fleck, bis der Bischof sie am Zaumzeug packte und nach hinten schob.

Um ihn nicht vor den anderen zu blamieren, senkte Adelia die Stimme. »Rowley, das hier ist kein Labyrinth.«

Er senkte seine Stimme nicht. »Nein, allerdings nicht. Das hier sind die verdammten Eingeweide von Grendels Mutter, und wir stecken mittendrin, verflucht noch mal.«

Es fiel ihr wieder ein. Beowulf. Ja, genau. Beowulf, so hieß Ulfs Lieblingsheld unter den vielen legendären Kriegern der Angelsachsen. Er erschlug Wyrm und das halbmenschliche Ungeheuer Grendel und Grendels grässliche, nach Rache dürstende Mutter.

»Miststück, Grenzgängerin.« So hatte Ulf Grendels Mutter genannt und damit gemeint, dass sie in Frauengestalt die Grauzone zwischen Erde und Hölle durchstreifte.

Adelia wurde allmählich böse. Wieso trugen Frauen an allem die Schuld … an allem, vom Sündenfall bis zu diesen verdammten Dornenhecken?

»Wir sind nicht in einem Labyrinth, Mylord«, sagte sie überdeutlich.

»Und wo sind wir dann?«

»In einem Irrgarten.«

»Ist doch dasselbe.« Er fauchte das Pferd an: »Zurück mit dir, du fette Kuh.«

»Nein, eben nicht. Ein Labyrinth hat nur einen einzigen Weg, dem man bloß folgen muss. Es symbolisiert das Leben oder, besser gesagt, Leben und Tod. Labyrinthe sind verschlungen, aber sie haben einen Anfang und ein Ende, durch Dunkelheit zum Licht.« Sie wurde ruhiger und hoffte, er auch, deshalb fügte sie hinzu: »Wie das von Ariadne. Eigentlich sind sie sehr schön.«

»Mir steht der Sinn nicht nach Mythologie, Mistress, ob schön oder nicht, ich will zu diesem vermaledeiten Turm. Was ist denn nun ein Irrgarten?«

»Ein Trick, der einen verwirren soll. In die Irre führen.«

»Und ich vermute, Mistress Schlaukopf weiß auch, wie wir hier wieder rauskommen?«

»Allerdings, ja.«

Herrje, er grinste sie höhnisch an, höhnisch.

Sie hätte nicht übel Lust gehabt, einfach zu bleiben, wo sie war; sollte er sich doch weiter abrackern.

»Worauf wartet Ihr dann, in Christi Namen, bringt uns hier raus.«

»Hört auf, mich anzubrüllen«, schrie sie. »Ihr brüllt mich an.«

Sie sah, dass er trotz eines bemüht beschwichtigenden Lächelns die Zähne zusammenbiss. Er hatte noch immer schöne Zähne. Gepresst sagte er: »Der Bischof von St. Albans bittet Mistress Adelia ehrerbietig und in aller Form, ihn doch bitte bitte aus diesem Hexenloch zu führen. Wie wollt Ihr das anstellen?«

»Das ist meine Sache.« Sie würde es ihm nicht sagen, verdammt noch mal. Frauen waren auch so schon schwach genug, selbst wenn sie ihre Geheimnisse nicht preisgaben. »Ich muss die Führung übernehmen.«

Sie waren gezwungen, ihre Pferde bis zu einer Kreuzung zurückzudrängen, wo der Platz knapp ausreichte, um die Tiere unbeschadet zu wenden, aber nicht, um sie aneinander vorbeizuführen, so dass Adelia nun Walts Pferd führte, hinter ihr Walt das des Boten, dahinter Jacques das ihre und schließlich Rowley sein eigenes.

Das Manöver löste bei den Männern sichtlich Unwillen aus. Selbst Jacques, ihr Verbündeter, fragte: »Wie werdet Ihr uns denn hier rausbringen, Mistress?«

»Ich kann es.« Sie stockte. »Aber es könnte eine Weile dauern.«

Sie stapfte vorneweg, die Zügel von Walts Pferd in der rechten Hand. In der anderen hatte sie ihre Reitpeitsche, die sie betont beiläufig hängen ließ, so dass sie an der Hecke zu ihrer Linken entlangstrich.

Beim Gehen grummelte sie vor sich hin. Gott, wie werde ich in diesem Land missachtet. Wie werden alle Frauen missachtet.

Sie war wieder bei den gleichen Überlegungen angelangt, die sie veranlasst hatten, Rowleys Heiratsantrag abzulehnen. Damals hatte er damit gerechnet, dass der König ihm nicht die Bischofswürde, sondern eine Baronie antragen würde, wodurch ihm eine Ehefrau gestattet gewesen wäre. Sie war nach ihm verrückt gewesen, ja, aber wenn sie den Antrag angenommen hätte, wäre sie in den sprichwörtlichen goldenen Käfig gesperrt worden und hätte hilflos mit ansehen müssen, wie er ihn abschloß. Als seine Frau hätte sie nie mehr sie selbst sein können, eine Medica aus Salerno.

Adelia verfügte über keine der erforderlichen weiblichen Fertigkeiten: Sie konnte nicht tanzen oder Laute spielen, hatte noch nie einen Stickrahmen angefasst – wenn sie nähte, dann nur, um die Leichen wieder zusammenzuflicken, die sie seziert hatte. In Salerno hatte sie die Fähigkeiten entfalten können, die ihr entsprachen, doch in England war dafür kein Raum. Die Kirche verurteilte jede Frau, die sich nicht an ihre Regeln hielt, und im Interesse ihrer eigenen Sicherheit war Adelia gezwungen gewesen, heimlich als Ärztin zu arbeiten und jemand anderem die Anerkennung dafür zu überlassen.

Als Baron Rowleys Frau wäre sie gefeiert und umschwärmt und bewundert worden, doch sie hätte ihr wahres Wesen verleugnen müssen. Und wie lange hätte sie das wohl durchgehalten? Ich bin, die ich bin.

Absurderweise hatten Frauen umso größere Freiheiten, je tiefer sie in der gesellschaftlichen Rangordnung standen. Die Ehefrauen von Tagelöhnern und Handwerkern konnten Seite an Seite mit ihren Männern arbeiten und manchmal sogar, wenn sie verwitwet waren, das Geschäft ihres Gatten übernehmen. Gyltha zum Beispiel hatte einen florierenden Handel mit Aalen betrieben, bis sie Adelias Freundin und Allies Kindermädchen wurde, und keinen Mann über sich gehabt.

Adelia trottete weiter. Hexenloch. Eingeweide von Grendels Mutter. Wieso war dieser schreckliche Ort für die Männer, die darin herumirrten, weiblich? Weil er tunnelartig war? Wie ein Schoß? Ist das die Zauberkraft einer Frau? Der große Schoß?

Ist das der Grund, warum die Kirche mich hasst, alle Frauen hasst? Weil wir der Ursprung aller wahren Macht sind? Des Lebens?

Sie vermutete, wenn sie die Männer hinausführte, wäre das für sie nur eine Bestätigung, dass Frauen die Geheimnisse des Labyrinths kannten und sie nicht.

Großer Gott, dachte sie, es geht gar nicht um Hass. Es geht um Angst. Sie haben Angst vor uns.

Und Adelia lachte leise, was ein leises Echo durch den Gang nach hinten warf, als würde ein Steinchen über Wasser hüpfen, und jeder Mann erschrak, als es an ihm vorbeikam.

»Was zum Teufel war das?«

Walt rief gleichmütig nach hinten. »Schätze, da lacht wer über uns, Master.«

»Allmächtiger.«

Noch immer schmunzelnd, warf Adelia einen Blick über die Schulter und merkte, dass Walt sie beobachtete. Sein Blick war amüsiert, freundlicher als zuvor, und er ruhte auf der Reitpeitsche, die sie noch immer an der linken Hecke entlangzog. Er zwinkerte ihr zu.

Er weiß es, dachte sie. Sie zwinkerte zurück.

Erfreut über diesen neuen Verbündeten, beschleunigte sie ihren Schritt, denn als sie sich umdrehte, musste sie blinzeln, um Walts Miene erkennen zu können.

Sein Gesicht war undeutlich, als sähe sie es durch einen Schleier hindurch.

Das Licht ließ nach.

Bestimmt war es draußen noch immer Nachmittag, aber die niedrige Wintersonne tauchte diese Seite des Labyrinths, welche Seite auch immer das war, in Schatten. Sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, wie es nach Einbruch der Dunkelheit hier drin wäre.

Es war auch so schon beängstigend genug. Sie hielten sich bei jeder Biegung und Kreuzung an die linke Hecke, die sie immer wieder in Sackgassen führte, so dass sie es allmählich satt hatten, zunehmend unruhige Pferde wieder zurückzudrängen. Jedes Mal hörte sie Rowley poltern: »Weiß die Frau überhaupt, was sie da tut?«

Zweifel beschlichen Adelia. Eine quälende Frage ging ihr nicht aus dem Kopf. Sind die Hecken durchgängig? Falls es eine Lücke gab, falls ein Teil des Irrgartens vom Rest getrennt war, dann könnten sie hier herumirren, bis sie erstickten.

Als die Gänge dunkler wurden, formten sich die Schatten vor ihr zu einem körperlosen Gesicht, das bösartig grinsend unsägliche Dinge sprach. Du kommst hier nicht raus. Ich habe die Eingänge verschlossen. Du bist gefangen. Du wirst dein Kind nie wiedersehen.

Bei dem Gedanken wurden ihre Hände schweißnass, so dass ihr die Reitgerte aus den Fingern glitt, und als sie danach fasste, stieß sie gegen die Hecke und löste eine kleine eiskalte Schneelawine aus, die ihr auf Kopf und Gesicht rutschte.

Sogleich war ihr gesunder Menschenverstand wieder hellwach. Hör auf, es gibt keine Zauberei. Sie verschloss die Augen vor der Fratze und die Ohren vor Rowleys Flüchen – auch die anderen hatten etwas von der Lawine abbekommen – und ging weiter.

Walt, Gott segne ihn, plapperte vor sich hin: »Ich staun die ganze Zeit, wie die das Dornengestrüpp in Form halten. Schätze, es wird zweimal im Jahr gestutzt. Da braucht man jede Menge Männer für, Mistress. So was kann sich nur ein König leisten.«

Im Grunde war es wirklich erstaunlich, und er hatte recht; für die Pflege des Irrgartens war gewiss eine kleine Armee erforderlich. »Nicht nur zum Stutzen, auch zum Fegen«, sagte sie. Es lag nämlich kein Schnittabfall auf den Wegen. »Sonst würde mein Hund sich noch einen Dorn in die Pfote treten.«

Walt betrachtete den Vierbeiner, der hinter Adelia hertrottete und den er jetzt schon einige Zeit auf engstem Raum erlebte. »Besondere Rasse, was? So einer is mir noch nie über den Weg gelaufen.« Und auf eine weitere Begegnung dieser Art war er, wie sein Schnuppern verriet, nicht unbedingt erpicht.

Sie zuckte die Achseln. »Ich hab mich dran gewöhnt. Die werden gerade wegen ihres Gestanks gezüchtet. Prior Geoffrey aus Cambridge hat mir den Vorgänger von dem hier geschenkt, als ich nach England kam, damit man meiner Spur folgen konnte, falls ich verlorengegangen wäre. Und dann hat er mir den hier geschenkt, nachdem der andere … gestorben war.«

Genauer gesagt, getötet und verstümmelt wurde, als sie den Mörder einiger Kinder aus Cambridge in eine Höhle verfolgt hatte, die noch tausendmal schlimmer war als der Irrgarten hier. Doch der Geruch, den der Hund hinterlassen hatte, war ihre Rettung gewesen, und danach bestanden sowohl der Prior als auch Rowley darauf, dass sie wieder so einen an ihrer Seite hatte.

Sie und Walt plauderten weiter, und ihre Stimmen verloren sich in dem Gestrüpp um sie herum. Walt verachtete sie nicht mehr, und er schien eine gute Meinung von Frauen zu haben. Er hatte Töchter, so erzählte er ihr, und eine tüchtige Frau, die ihren kleinen Hof allein bewirtschaftete, wenn er nicht da war. »Und ich bin oft nicht da, seit Bischof Rowley gekommen is. Der hat mich aus den vielen Reitknechten der Kathedrale ausgesucht, damit ich mit ihm reisen soll, ja, das hat er.«

»Und das war eine gute Wahl«, stellte Adelia aufrichtig fest.

»Kann schon sein. Andere halten nich so zu Seiner Lordschaft. Denen gefällt nich, dass er ein Freund von König Henry is, weil sie glauben, der hat den armen St. Thomas in Canterbury abmurksen lassen.«

»Ich verstehe«, sagte sie. Sie hatte es gewusst. Rowley hatte Feinde unter den Würdenträgern seiner eigenen Diözese, weil er vom König gegen deren Willen ernannt worden war.

Sie war sich nie sicher gewesen, ob Henry Plantagenet tatsächlich die Schuld daran trug, dass Thomas à Becket auf den Stufen seiner eigenen Kathedrale ermordet worden war, obwohl der König in seinem Zorn vom Ausland aus danach geschrien hatte. War Henry, als er lautstark den Tod des Erzbischofs herbeiwünschte, bewusst gewesen, dass einige seiner Ritter, die Becket aus ganz persönlichen Gründen tot sehen wollten, losgaloppieren und den Wunsch in die Tat umsetzen würden?

Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Aber ohne die Einmischung von König Henry hätten Beckets Nachfolger sie an den Pranger gestellt – was beinahe geschehen wäre.

Sie stand auf Henrys Seite. Für den zum Märtyrer gewordenen Erzbischof waren Kirche und Gott praktisch eins gewesen. Beide waren unfehlbar, und beider Gesetze mussten wie schon seit ewigen Zeiten fraglos und unverändert befolgt werden. Henry, der trotz all seiner Fehler doch der Menschlichere von beiden war, hatte Veränderungen gewollt, die nicht der Kirche, sondern seinem Volk zugute kämen. Becket hatte ihm bei jeder Gelegenheit Steine in den Weg gelegt und tat es noch heute aus dem Grab heraus.

»Ich und Oswald und Master Paton und der junge Jacques, wir haben unsere Arbeit noch nich so lange«, sagte Walt gerade. »Wir haben nix gegen Bischof Rowley, nich so wie die alte Garde, die ihm übelnimmt, dass er ein Mann des Königs is. Master Paton und Jacques haben am selben Tag angefangen, als er sein Amt angetreten hat.«

In Anbetracht der großen Kluft zwischen König und Märtyrer, die quer durch die Diözese von St. Albans verlief, hatte sich der neue Bischof also Diener ausgesucht, die ebenso unerfahren in ihren Funktionen waren wie er.

Gut so, Rowley. Walt und Jacques nach zu urteilen, hast du eine gute Auswahl getroffen.

Allerdings stellte sich heraus, dass der Bote weniger unerschütterlich war als der Reitknecht. »Sollen wir vielleicht um Hilfe rufen, Mylord?« Adelia hörte, wie er die Frage an Rowley richtete.

Dieses eine Mal war der Bischof freundlich zu ihm. »Dauert nicht mehr lange, mein Sohn. Wir sind fast draußen.«

Er konnte das nicht wissen, aber es stimmte tatsächlich. Adelia hatte soeben den Beweis dafür gesehen, obwohl sie fürchtete, dass der Bischof nicht sehr erfreut darüber sein würde.

Walt gab ein Brummen von sich. Er hatte dasselbe gesehen wie sie – vor ihnen im Gang lag ein Haufen Pferdeäpfel.

»Die hat der da fallen lassen, als wir reingekommen sind«, sagte Walt und deutete mit dem Kinn auf das Pferd, das Adelia führte. Es war sein eigenes gewesen, das letzte in der Reihe, als sie in den Irrgarten eindrangen. Sie würden bald alle vier wieder draußen sein – aber genau an der Stelle, wo sie angefangen hatten.

»Es war eine fünfzigprozentige Chance«, seufzte Adelia. »Mist.«

Die beiden Männer hinter ihnen hatten das Gespräch nicht gehört, und als sie den Pferdedung passierten, der inzwischen von den Hufen der vorderen zwei Pferde platt getrampelt worden war, maßen sie ihm keine Bedeutung bei.

Eine weitere Biegung im Gang. Licht. Eine Öffnung.

Adelia graute vor dem Wutanfall, der ganz sicher kommen würde, als sie ihr Pferd durch den spaltförmigen Ausgang aus dem Irrgarten hinausführte und von klarer, geruchlos kalter Luft umhüllt wurde. Die untergehende Sonne beschien die große Glocke an ihrem Trapezgerüst auf einem Hügel, den sie vor über zwei Stunden herabgeritten waren.

Die anderen traten nacheinander ins Freie. Keiner sagte etwas.

»Es tut mir leid. Es tut mir leid«, rief Adelia in die Stille hinein. Sie sah Rowley an. »Es ist nämlich so, wenn ein Irrgarten durchgängig ist, wenn es keine Unterbrechungen gibt und wenn alle Hecken miteinander verbunden sind und du einer strikt folgst, egal, wohin sie geht, dann wirst du ihn schließlich durchqueren, das ist unvermeidlich, zwangsläufig, nur …« Ihre Stimme wurde leise und kläglich. »Ich hab mich für die linke Hecke entschieden. Und das war die falsche.«

Wieder Schweigen. Im verlöschenden Licht flatterten Krähen freudig über Ulmenwipfel hinweg, und ihre Schreie verspotteten die erdgebundenen Idioten da unten.

»Verzeihung«, sagte der Bischof von St. Albans höflich. »Verstehe ich das richtig, dass wir, wenn wir der rechten Hecke gefolgt wären, schließlich an dem verdammten Ziel angelangt wären, wo wir eigentlich hinwollten?«

»Ja.«

»Die rechte Hecke?«, hakte der Bischof nach.

»Na ja, wenn man jetzt von hier aus reinginge, wäre es natürlich wieder die linke … Ihr wollt doch wohl nicht wieder da rein?«

»Doch«, sagte der Bischof.

Ogottogott, er will wieder da rein. Wir werden die ganze Nacht brauchen. Ob es Allie wohl gutgeht?

In der Hoffnung, dass die Gestalt, die sie auf dem Laufgang des Turms gesehen hatten, inzwischen ein Einsehen gehabt haben könnte, läuteten sie noch einmal die große Glocke, doch nachdem sie ihre Pferde an dem Trog getränkt hatten, war offensichtlich, dass diese Hoffnung vergeblich war.

Niemand sprach, während Schwerter umgegürtet und Laternen angezündet wurden; es würde sehr dunkel da drin werden.

Rowley riss sich die Kappe vom Kopf und kniete nieder. »Herr, sei bei uns, um deines geliebten Sohnes willen.«

Und so drangen die vier wieder in den Irrgarten ein. Das Wissen, dass er ein Ende hatte, beruhigte sie, obwohl das Zurückweichen aus Sackgassen und die unablässigen Windungen und Biegungen sie jetzt, da sie müde wurden, noch mehr erschöpften.

»Wo habt Ihr das mit den Irrgärten gelernt, Mistress?«, erkundigte sich Walt.

»Von meinem Ziehvater. Er hat den Osten bereist und dort einige gesehen, wenngleich nicht so große.«

»Die alte Schlange is beachtlich, nich? Schätze, es gibt ’nen Weg hier durch, den wir nich sehen.«

Adelia pflichtete ihm bei. Es wäre viel zu unbequem, derartig von der Außenwelt abgetrennt zu sein, daher musste es einen geraderen Weg geben. Sie vermutete, dass einige der heckenbewachsenen Wände am Ende von Sackgassen gar keine Mauern waren, sondern mit Schlehdorn verhangene Tore, durch die man auf einen direkten Weg gelangen konnte.

Aber das half ihr und den anderen jetzt nicht. Es würde zu lange dauern, jede Mauer daraufhin zu untersuchen, ob sie sich öffnen ließe, und letztlich nur dazu führen, dass sie wieder zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden mussten, die im Nichts endeten.

Sie waren dazu verdammt, den langen Weg zu gehen.

Sie bewältigten ihn schweigend. Selbst Walt hörte auf zu reden.

Die Nacht erweckte den Irrgarten zum Leben. Der längst verstorbene Scharlatan, der ihn ersonnen hatte, versuchte noch immer, sie zu erschrecken, aber jetzt durchschauten sie ihn. Dennoch, der Ort hatte seine eigenen Mittel, um Grauen heraufzubeschwören. Das Licht der Laternen erhellte eine dicke Röhre aus verschlungenen Ästen, als schleppten sich die Männer und die Frau darin durch einen endlosen grauen Strumpf, der von Wesen bevölkert wurde, die, verborgen in seinem Gewebe, raschelnd ihr eigenes dürres Leben führten.

Als sie schließlich daraus auftauchten, war es zu dunkel, um sehen zu können, ob der ebenfalls spaltenförmige Ausgang genauso verziert war wie der Eingang. Inzwischen hatten sie ohnehin das Interesse verloren. Die Lust war ihnen vergangen.

Die Gänge hatten sie bis zu einem gewissen Grad vor der bitterkalten Luft geschützt, die ihnen jetzt entgegenschlug. Abgesehen von einer Eule, die, durch die Ankömmlinge aufgeschreckt, mit langsamen Flügelschlägen von einer Mauer aufflog, drang kein Laut von dem Turm herüber, der sich auf der anderen Seite des Burghofs erhob. Er war massiver, als er aus der Entfernung gewirkt hatte, und ragte glatt und hoch in den Himmel, wo die Sterne wie verstreute Diamanten eisig auf ihn herabfunkelten.

Jacques holte eine weitere Laterne und frische Kerzen aus seiner Satteltasche und führte sie zu den dunkleren Umrissen im Schatten am Fuße des Turmes, die sich als Stufen zu einer Tür herausstellten.

Seit dem letzten Schneefall hatte niemand den Burghof überquert. Zumindest kein Mensch – es gab nur reichlich Tierfährten und Vogelspuren. Aber der kleine Platz war ein Parcours voller Hindernisse. Verschneite Erhebungen entpuppten sich als liegengelassene Gerätschaften: ein zerbrochener Stuhl, Stoffe, ein Fass, dessen Dauben auf einer Seite eingedrückt waren, zerbeulte Töpfe, eine Kelle. Der Schnee bedeckte ein einziges Chaos.

Walt stolperte über einen Eimer mit einem toten Huhn darin. Der Kadaver eines Hundes, mit gefletschten Zähnen erfroren, lag am Ende seiner Kette.

Rowley versetzte dem Eimer einen Tritt, so dass das tote Huhn herausflog. »Treuloses, räuberisches Pack.«

War das die Erklärung?

Es wurde erzählt, dass die Diener von William dem Normannen ihrem König sofort nach dessen Tod die Kleider vom Leib gerissen hatten und mit so viel Diebesgut, wie sie tragen konnten, davongelaufen waren und dass seine Ritter den Leichnam des großen und schrecklichen Eroberers nackt auf dem Boden eines kahlen Palastzimmers gefunden hatten.

Hatte Rosamunds Dienerschaft das Gleiche getan, sobald ihre Herrin tot war? Rowley nannte es Treulosigkeit, doch Adelia fiel wieder ein, was ihr angesichts Rosamunds Vernachlässigung der armen Bertha durch den Kopf gegangen war. Treue konnte nur auf wechselseitiger Achtung beruhen. Niemand hatte Rosamund beweint? Warum nicht?

Die Tür zum Turm, vor der sie schließlich standen, war aus dickem dunklem Eichenholz und befand sich am oberen Ende einer bedrohlich glänzenden Treppe. Es gab keinen Türklopfer. Sie hämmerten gegen das Holz und hörten, wie das Geräusch auf der anderen Seite widerhallte, wie in einer leeren Höhle, und weder Lebende noch Tote antworteten ihnen.

Sie blieben zusammen – niemand schlug vor, dass sie sich verteilen sollten – und gingen im Gänsemarsch um den Turm herum, durch Bogengänge in Höfe, wo eine weitere Tür sich als ebenso unbeweglich erwies wie die erste. Diese war jedoch zumindest ebenerdig.

»Wir rammen das Mistding ein.«

Doch zuerst mussten die Pferde versorgt werden. Ein Pfad führte zu einem verlassenen Stallhof mit einem Brunnen, aus dem ein Plätschern drang, als Walt einen Stein hineinwarf, was ihm die Sorge nahm, das Wasser tief unten könnte gefroren sein. In den Pferdeverschlägen war Stroh, wenn auch recht schmutziges, und die Krippen waren offenbar noch kurz bevor die ursprünglichen Bewohner gestohlen worden waren mit Hafer aufgefüllt worden.

»Schätze, so geht’s erst mal«, sagte Walt mürrisch.

Die anderen überließen ihm die Arbeit, das Eis von der Brunnenwinde zu schlagen.

Die Plünderer waren wahllos und überhastet vorgegangen. In einem ansonsten verlassenen Kuhstall lag noch eine Kuh, die nicht mitgenommen worden war, weil sie gerade ein Kalb zur Welt gebracht hatte. Beide waren tot, das Kalb noch in der Fruchtblase. Sie duckten sich unter einer Wäscheleine hindurch, an der bretthart gefrorene Laken hingen, und erkundeten die Küchengebäude. In der Spülküche war der Bottich geraubt worden, und in der Hauptküche fehlte alles außer einem riesigen Tisch, der zu schwer zum Heben war.

Der Boden der Scheune bestand aus nackter Erde, und sie entdeckten Abdrücke, die erkennen ließen, wo einmal ein Pflug und eine Egge gestanden hatten. Und …

»Was ist das, Mylord?«

Jacques hielt seine Laterne so, dass sie eine große Vorrichtung in einer Ecke neben einem Holzhaufen beschien.

Sie war aus Metall. Eine gelochte Bodenplatte bildete die Basis für zwei aufrechte Verstrebungen, die mit dicken Federn daran befestigt waren. Beide Verstrebungen endeten mit einer Reihe dreieckiger Eisenzähne, die so geformt waren, dass sie genau in die entsprechende Reihe an der anderen Verstrebung passten.

Die Männer zögerten.

Walt gesellte sich wieder zu ihnen und machte große Augen. »Hab schon welche gesehen, die einen am Bein erwischen«, sagte er langsam, »aber so ’n Ding noch nie.«

»Ich auch nicht«, erklärte Rowley. »Gott sei uns gnädig, irgendwer hat das Ding tatsächlich geölt.«

»Was ist das?«, fragte Adelia.

Statt einer Antwort trat Rowley an die Vorrichtung heran und packte eine der Zahnreihen. Walt nahm die andere, und gemeinsam zogen sie die Verstrebungen auseinander, bis sie einander gegenüber flach auf dem Boden lagen, die Zähne nach oben gerichtet. »Gut, Walt. Jetzt ganz vorsichtig.« Rowley bückte sich, hielt dabei aber sicheren Abstand und hantierte unter dem Mechanismus herum. »Hat einen Auslöser«, sagte er. Walt nickte.

»Was ist das?«, fragte Adelia erneut.

Rowley richtete sich auf und nahm ein Scheit von dem Holzhaufen. Er bedeutete Adelia, ihren Hund festzuhalten. »Stellt Euch vor, es liegt im hohen Gras. Oder unter Schnee.«

So flach, wie das Ding jetzt war, wäre es unmöglich zu sehen.

Eine Menschenfalle. O Gott, steh uns bei.

Sie bückte sich und packte Wächters Halsband.

Rowley warf das Scheit auf die Metallplatte in der Vorrichtung.

Das Ding schnellte hoch wie ein zuschnappender Hai. Die Zähne krachten ineinander. Der Knall schien erst später zu kommen.

Einen Augenblick später sagte Walt: »Würd einen an den Eiern erwischen, das Ding, Verzeihung, Mistress. Würd sich auch nich mehr lohnen, einen da rauszuholen.«

»Anscheinend hatte die Lady was gegen Wilderer«, sagte der Bischof. »Ich werde den Teufel tun und durch ihre Wälder laufen.« Er klopfte sich den Staub von den Händen. »Kommt jetzt. Das nützt nix gegen die Bulgaren, wie mein alter Großvater zu sagen pflegte. Wir brauchen einen Rammbock.«

Adelia blieb wie angewurzelt stehen und starrte die Falle an. In zweieinhalb Fuß Höhe würden die Zähne eine durchschnittlich große Person im Leistenbereich packen und sie durchbohren. Wie Walt gesagt hatte – das Opfer zu befreien würde nichts an seinem qualvollen und langsamen Tod ändern.

Das Ding vibrierte noch immer, als leckte es sich die Lefzen.

Der Bischof musste umkehren und Adelia holen.

»Irgendwer hat es gebaut«, sagte sie. »Irgendwer hat es geölt. Um es zu benutzen.«

»Ich weiß. Nun kommt.«

»Es ist schrecklich hier, Rowley.«

»Ich weiß.«

In einem der Außengebäude fand Jacques einen Sägebock. Er und Walt packten ihn seitlich an den Beinen und rammten ihn gegen die Hintertür des Turms, die beim dritten Versuch nachgab.

Drinnen war es fast so kalt wie draußen. Und stiller.

Sie traten in eine runde Halle, die, da sie im Erdgeschoss des Turmes lag, vermutlich größer war als alle Räume, die sie weiter oben finden würden.

Nicht unbedingt ein Ort, an dem man geschätzte Besucher warten lassen würde, sondern eher eine Art übergroße Wachstube. Das einzig Schöne darin waren zwei Stühle, die den Plünderern wohl zu schwer gewesen waren. Ansonsten bestand das Mobiliar aus harten Bänken und leeren Waffenständern. Kohlenkörbe waren aus den Wänden gebrochen worden, ein Kronleuchter von der Decke gerissen.

Einige Wachslichter lagen, noch in ihren Halterungen steckend, verstreut zwischen den Binsen auf dem Boden. Rowley, Adelia und Walt nahmen jeder eines, zündeten sie an der Laterne an und stiegen die kahle Treppe hinauf, die an der Wand entlang nach oben führte.

Wie sie feststellten, bestand der Turm aus einem kreisrunden Raum über dem nächsten, als hätte ein Apotheker seine Pillen in einer Reihe fest in Papier gewickelt und dann aufrecht hingestellt. Die Tür zu den einzelnen Räumen befand sich jeweils auf einem kleinen Absatz in der gewundenen Treppe. Der zweite Raum, den sie erreichten, hatte ebenso wie der erste offensichtlich hauswirtschaftlichen Zwecken gedient. Leere Ständer, einige herumliegende Strähnen Rosshaar zum Polieren und der Bienenwachsgeruch ließen vermuten, dass es sich um eine Art großen Putzschrank handelte.

Darüber die Mägdestube: vier Holzbetten, von denen man die Strohsäcke und Decken geklaut hatte, sonst nichts.

Jeder Raum war menschenleer. Jeder war jeweils ein bisschen behaglicher als der direkt unter ihm liegende. Ein Nähzimmer, aus dem so gut wie alles geplündert worden war, doch auf den Tischen, die unter jeder Schießscharte standen, um möglichst viel Licht zu bekommen, lagen Stoffstreifen und ein einsames Nadelkissen. Eine Gipspuppe lag zerbrochen auf dem Boden; einige Scherben waren anscheinend bis hinaus auf den Treppenabsatz getreten worden.

»Die haben sie gehasst«, sagte Adelia, als sie durch einen Türbogen spähte.

»Wer?«

»Die Diener.«

»Wen gehasst?« Der Bischof geriet außer Atem.

»Rosamund«, antwortete Adelia. »Oder diese Dakers.«

»Bei der Treppe? Kann ich verstehen.«

Sie betrachtete grinsend seinen schwerfälligen Rücken. »Ihr habt zu bischöflich getafelt.«

»Wenn Ihr das sagt, Mistress.« Er war nicht gekränkt. Und das war eine Abfuhr. Früher wäre er entrüstet gewesen.

Nicht vergessen, dachte sie. Wir sind nicht mehr vertraut, wir halten Abstand.

Der vierte Raum – oder war es schon der fünfte? – war nicht geplündert worden, obwohl er strenger aussah als die anderen. Ein schmales Bett mit grauer Tagesdecke, die akkurat glattgestrichen war. Ein kleiner Tisch mit Krug und Waschschale darauf. Ein Hocker. Eine schlichte Truhe mit einigen ebenso schlichten und ordentlich gefalteten Frauenkleidern darin.

»Dakers’ Zimmer«, sagte Adelia.

Allmählich bekam sie ein Gespür für die Haushälterin, eines, das ihr Angst machte.

»Hier ist keiner. Weiter.«

Doch Adelia war fasziniert. Hier hatten die Plünderer aufgegeben. Hier, da war sie sicher, hatte Drachendakers auf der Treppe gestanden, ebenso furchteinflößend, wie Bertha sie beschrieben hatte, und hatte die Meute aufgehalten.

In die Westmauer über Dakers’ Bett war Rosamunds Wappen eingemeißelt. Es war buntbemalt und vergoldet, so dass es den grauen Raum beherrschte. Als Adelia ihre Kerze hob, um es genauer zu betrachten, hörte sie, wie Rowley in der offenen Tür nach Luft schnappte, und das nicht, weil er außer Atem war.

»Himmelherrgott«, sagte er. »Das ist Wahnsinn.«

Ein äußerer Schild zeigte die drei Leoparden und die Lilien, in denen mittlerweile jedermann in England das Zeichen des angevinischen Plantagenet-Königs erkannte. Darin war ein kleinerer Schild eingelassen. Er war geviert, und in einem Viertel war eine Schlange abgebildet, im anderen eine Rose.

Selbst Adelia mit ihren dürftigen Heraldikkenntnissen erkannte, dass sie das Wappen eines Ehepaares vor sich sah.

Der Bischof trat neben sie und starrte es an. »Henry. Im Namen Gottes, Henry, was hat Euch geritten, dass Ihr das erlaubt habt? Das ist Wahnsinn.«

Unter dem Wappen war ein Motto in die Mauer gemeißelt worden. Wie die meisten Wappenmotti war es ein Wortspiel. Rosa Mundi.

Rose der Welt.

»Oje«, sagte Adelia.

»Jesu Erbarmen«, hauchte Rowley, »wenn die Königin das gesehen hat …«

Wappen und Motto ergaben zusammen eine Verhöhnung sondergleichen.

Er zieht mich dir vor. Ich bin seine Frau, nur nicht dem Namen nach, ich bin die wahre Königin seines Herzens.

Die Gedanken des Bischofs überschlugen sich. »Verflucht. Ob Eleanor das gesehen hat oder nicht, spielt keine Rolle. Andere werden vermuten, dass sie davon gewusst hat und Rosamund deswegen töten ließ … Das ist Grund genug für einen Mord. Das ist eine höhnische Anmaßung.«

»Es ist ein bisschen Stein mit einem Muster drauf, das eine törichte Frau dort anbringen ließ«, widersprach Adelia. »Macht das wirklich so viel aus?«

Anscheinend ja. Einer Königin war ihr Stolz wichtig. Das wussten ihre Feinde ebenso wie die Feinde des Königs.

»Ich würde das Weib umbringen, wenn es nicht schon tot wäre«, sagte der Mann Gottes. »Ich lasse den Turm mit ihr drin niederbrennen. Das ist eine Aufforderung zum Krieg.«

Adelia war verwundert. »Ihr wart doch bereits einmal hier. Ich dachte, Ihr hättet es schon gesehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Wir haben uns im Garten getroffen, wo sie frische Luft schnappte. Wir dankten Gott für ihre Genesung, und dann hat Dakers mich zurück durch den Irrgarten geführt. Wo steckt diese Dakers eigentlich?«

Er drängte sich an Jacques und Walt vorbei, die blinzelnd in der Tür standen, stürmte die Treppe hinauf und rief laut nach der Haushälterin. Er riss eine Tür nach der nächsten auf, und wenn der Raum dahinter leer war, rannte er weiter nach oben.

Sie eilten ihm nach, und das Poltern ihrer Stiefel und das Klicken von Hundekrallen auf Stein hallten durch den ganzen Turm.

Jetzt kamen sie an Rosamunds Gemächern vorbei. Dakers, wenn es wirklich Dakers gewesen war, hatte es geschafft, sie in all ihrer Pracht zu bewahren. Für Adelia, die versuchte, mit den anderen Schritt zu halten, war das, was sie flüchtig zu sehen bekam, eine wahre Augenweide: persische Teppiche, venezianische Kelchgläser, mit Damast bezogene Diwane, golden schimmernde Ikonen und Triptychen, Gobelins, Statuetten – der Reichtum eines Reiches, welcher der Mätresse eines Herrschers zu Füßen gelegt worden war.

Hier gab es Fenster, keine Schießscharten wie in den unteren Räumen. Die Läden waren geschlossen, doch im Licht der Kerze sah Adelia im Vorbeigehen, wie sie sich selbst in schönen und teuren Sprossenfenstern spiegelte.

Und durch die offenen Türen drang Parfümgeruch, erlesen und so stark, dass auch eine Nase, die durch Kälte und das stinkende Fell eines Hundes abgestumpft war, sich daran ergötzen konnte.

Adelia schnupperte. Rosen. Er hatte für sie sogar Rosen eingesperrt.

Über ihr wurde krachend eine weitere Tür aufgestoßen. Der Bischof stieß einen Schrei aus.

»Was ist denn, was ist denn?« Sie erreichte ihn auf dem obersten Treppenabsatz, hier ging es nicht mehr weiter. Rowley stand vor einer offenen Tür, ließ jedoch die Hand mit der brennenden Kerze herabhängen, so dass Wachs auf den Boden tropfte.

»Was ist denn?«

»Ihr habt Euch geirrt«, sagte Rowley.

Die Kälte war hier oben noch schneidender.

»Worin?«

»Sie lebt. Rosamund. Trotz allem.«

Die Erleichterung wäre groß gewesen, wenn das Ganze nicht so seltsam gewesen wäre. Das Zimmer, vor dem er stand, lag im Dunkeln.

Außerdem machte er keine Anstalten, einzutreten.

»Sie sitzt da drin«, sagte er und bekreuzigte sich.

Adelia ging hinein, der Hund folgte ihr.

Hier war kein Parfüm zu riechen, die Kälte löschte den Duft aus. Sämtliche Fensterläden und Fenster – in dem kreisrunden Raum gab es acht – standen weit offen, um Luft hereinzulassen, die eisig war. Adelia spürte förmlich, wie ihr Gesicht davon runzelig wurde.

Wächter lief voraus. Sie hörte ihn im Zimmer herumschnüffeln, aber er gab nicht zu erkennen, dass er jemanden gewittert hatte. Sie ging noch ein paar Schritte weiter hinein.

Der Lichtschein der Kerze erhellte ein Bett vor der Nordmauer. Edle weiße Spitze hing von einem vergoldeten Ring an der Zimmerdecke herab, teilte sich über Kissen und fiel auf beiden Seiten einer Decke mit goldenen Quasten bis zum Boden. Es war ein hohes und prächtiges Bett mit einer kleinen Treppe aus Elfenbein, die so platziert war, dass seiner Besitzerin hineingeholfen werden konnte.

Es war leer.

Seine Besitzerin saß an einem Schreibtisch auf der anderen Seite mit Blick auf ein Fenster, eine Schreibfeder in der Hand.

Adelia, deren Kerze jetzt leicht zitterte, sah die blitzenden Facetten einer juwelenbesetzten Krone und aschblondes Haar, das sich über den Rücken der Schreiberin lockte.

Geh näher ran. Du musst. Es kann dir nichts tun. Es kann nicht.

Sie zwang sich vorwärts. Als sie das Bett passierte, trat sie auf eine Falte des Spitzenstoffs, der auf dem Boden lag, und das Eis darin knirschte unter ihrem Stiefel.

»Lady Rosamund?« Es kam ihr richtig vor, das zu sagen, obwohl sie wusste, was sie wusste.

Sie zog einen Handschuh aus, um die erstaunlich dicke Schulter der Gestalt zu berühren, und fühlte eine steinerne Kälte in dem, was einmal Fleisch gewesen war. Sie sah eine kalkweiße Hand, mit Hautwülsten am Handgelenk wie bei einem Säugling. Daumen und Zeigefinger hielten eine Gänsefeder, als hätten sie gerade erst die Unterschrift unter das Dokument gesetzt, auf dem sie ruhten.

Mit einem Seufzer beugte Adelia sich vor, um in das Gesicht zu blicken. Offene, blaue Augen blickten leicht nach unten, als wollten sie das Geschriebene noch einmal durchlesen.

Aber die Schöne Rosamund war ausgesprochen tot.

Und ausgesprochen dick.

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