Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt

Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren und lebt in Wien. Für seine Romane und Erzählungen, die in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche Auszeich-nungen, zuletzt den Candide-Preis 2005. Sein Roman «Ich und Kaminski» wurde international zu einem großen Erfolg.

Frühere Veröffentlichungen:

Beerholms Vorstellung. Roman. 1997 Unter der Sonne. Erzählungen. 1998 Mahlers Zeit. Roman. 1999 Der fernste Ort.

Novelle. 2001 Ich und Kaminski. Roman. 2003


Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machen sich zwei junge Deutsche an die Vermessung der Welt. Der eine, Alexander von Humboldt, kämpft sich durch Urwald und Steppe, befährt den Orinoko, erprobt Gifte im Selbstversuch, zählt die Kopfläuse der Eingeborenen, kriecht in Erdlöcher, besteigt Vulkane und begegnet Seeungeheuern und Menschenfressern.

Der andere, Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß., der sein Leben nicht ohne Frauen verbringen kann und doch sogar in der Hochzeitsnacht aus dem Bett springt, um eine Formel zu notieren – er beweist auch im heimischen Göttingen, daß der Raum sich krümmt. Alt, berühmt und auch ein wenig sonderbar geworden, treffen sich die beiden 1828 in Berlin. Doch kaum steigt Gauß aus seiner Kutsche, sind sie schon tief verstrickt in die politischen Wirren Deutschlands nach dem Sturz Napoleons.

Mit hintergründigem Humor beschreibt Daniel Kehlmann das Leben zweier Genies, ihre Sehnsüchte und Schwächen, ihre Gratwanderung zwischen Lächerlichkeit und Größe, Scheitern und Erfolg. «Die Vermessung der Welt» ist ein raffiniertes Spiel mit Fakten und Fiktionen, ein philosophischer Aben-teuerroman von seltener Phantasie, Kraft und Brillanz.


Daniel Kehlmann DIE

VERMESSUNG

Roman DER WELT


Rowohlt


1. Auflage September 2005

Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Satz Adobe Garamond PostScript, InDesign bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany

ISBN 3 498 03528 2


Die

Vermessung

d

er Welt


Die

Reise


Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum erstenmal seit Jahren seine Heimatstadt, um am Deutschen Naturforscherkongreß in Berlin teil-zunehmen. Selbstverständlich wollte er nicht dorthin.

Monatelang hatte er sich geweigert, aber Alexander von Humboldt war hartnäckig geblieben, bis er in einem schwachen Moment und in der Hoffnung, der Tag käme nie, zugesagt hatte.

Nun also versteckte sich Professor Gauß im Bett. Als Minna ihn aufforderte aufzustehen, die Kutsche warte und der Weg sei weit, klammerte er sich ans Kissen und versuchte seine Frau zum Verschwinden zu bringen, indem er die Augen schloß. Als er sie wieder öffnete und Minna noch immer da war, nannte er sie lästig, beschränkt und das Unglück seiner späten Jahre. Da auch das nicht half, streifte er die Decke ab und setzte die Füße auf den Boden.

Grimmig und notdürftig gewaschen ging er die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer wartete sein Sohn Eugen mit gepackter Reisetasche. Als Gauß ihn sah, bekam er einen Wutanfall: Er zerbrach einen auf dem Fensterbrett stehenden Krug, stampfte mit dem Fuß und schlug um sich. Er beruhigte sich nicht einmal, als Eugen von der einen und Minna von der anderen Seite ihre Hände auf seine Schultern legten und beteuerten, man werde gut für ihn sorgen, er werde bald wieder daheim sein, es werde so schnell vorbeigehen wie ein böser Traum. Erst als seine uralte Mutter, aufgestört vom Lärm, aus ihrem Zimmer kam, ihn in die Wange kniff und fragte, wo denn ihr tapferer junge sei, faßte er sich. Ohne Herzlichkeit verabschiedete er sich von Minna; seiner Tochter und dem jüngsten Sohn strich er geistesabwesend über den Kopf.

Dann ließ er sich in die Kutsche helfen.

Die Fahrt war qualvoll. Er nannte Eugen einen Versager, nahm ihm den Knotenstock ab und stieß mit aller Kraft nach seinem Fuß. Eine Weile sah er mit gerunzelten Brauen aus dem Fenster, dann fragte er, wann seine Tochter endlich heiraten werde. Warum wolle die denn keiner, wo sei das Problem?

Eugen strich sich die langen Haare zurück, knetete mit beiden Händen seine rote Mütze und wollte nicht antworten.

Raus mit der Sprache, sagte Gauß.

Um ehrlich zu sein, sagte Eugen, die Schwester sei nicht eben hübsch.

Gauß nickte, die Antwort kam ihm plausibel vor. Er verlangte ein Buch.

Eugen gab ihm das, welches er gerade aufgeschlagen hatte: Friedrich Jahns Deutsche Turnkunst. Es war eines seiner Lieblingsbücher.

Gauß versuchte zu lesen, sah jedoch schon Sekunden später auf und beklagte sich über die neumodische Leder-federung der Kutsche; da werde einem ja noch übler, als man es gewohnt sei. Bald, erklärte er, würden Maschinen die Menschen mit der Geschwindigkeit eines abgeschos-senen Projektils von Stadt zu Stadt tragen. Dann komme man von Göttingen in einer halben Stunde nach Berlin.

Eugen wiegte zweifelnd den Kopf.

Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.

Eugen nickte schläfrig.

Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsalter oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.

Er überlegte, nannte Eugen noch einmal einen Versager und widmete sich dem Buch. Während er las, starrte Eugen angestrengt aus dem Kutschenfenster, um sein vor Kränkung und Wut verzerrtes Gesicht zu verbergen.

In der Deutschen Turnkunst ging es um Gymnastik-geräte. Ausführlich beschrieb der Autor Vorrichtungen, die er sich ausgedacht hatte, damit man auf ihnen her-umklimmen könne. Eine nannte er Pferd, eine andere den Balken, wieder eine andere den Bock.

Der Kerl sei von Sinnen, sagte Gauß, öffnete das Fenster und warf das Buch hinaus.

Das sei seines gewesen, rief Eugen.

Genau so sei es ihm vorgekommen, sagte Gauß, schlief ein und wachte bis zürn abendlichen Pferdewechsel an der Grenzstation nicht mehr auf.

Während die alten Pferde ab- und neue angeschirrt wurden, aßen sie Kartoffelsuppe in einer Gastwirtschaft.

Ein dünner Mann mit langem Bart und hohlen Wangen, der einzige Gast außet ihnen, musterte sie verstohlen vom Nebentisch aus. Das Körperliche, sagte Gauß, der zu seinem Ärger von Turngeräten geträumt haue, sei wahrhaftig die Quelle aller Erniedrigung. Er habe es immer bezeichnend für Gottes bösen Humor gefunden, daß ein Geist wie seiner in einen kränklichen Körper eingesperrt sei, während ein Durchschnittskopf wie Eugen praktisch nie krank werde.

Als Kind habe er schwere Pocken gehabt, sagte Eugen.

Er habe es fast nicht überlebt. Hier sehe man noch die Narben!

Ja richtig, sagte Gauß, das habe er vergessen. Er wies auf die Postpferde vor dem Fenster. Eigentlich sei es nicht ohne Witz, daß reiche Leute für eine Reise doppelt so lange brauchten wie arme. Wer Tiere der Post verwende, könne sie nach jeder Etappe austauschen. Wer seine eigenen habe, müsse warten, bis sie sich erholt hätten.

Na und, fragte Eugen.

Natürlich, sagte Gauß, komme das einem, der nicht ans Denken gewohnt sei, selbstverständlich vor. Ebenso wie der Umstand, daß man als junger Mann einen Stock trage und als alter keinen.

Ein Student führe einen Knotenstock mit, sagte Eugen. Das sei immer so gewesen, und das werde so bleiben.

Vermutlich, sagte Gauß und lächelte.

Sie löffelten schweigend, bis der Gendarm von der Grenzstation hereinkam und ihre Pässe verlangte. Eugen gab ihm seinen Passierschein: ein Zertifikat des Hofes, in dem stand, daß er, wiewohl Student, unbedenklich sei und in Begleitung des Vaters preußischen Boden betreten dürfe. Der Gendarm betrachtete ihn mißtrauisch, prüfte den Paß, nickte und wandte sich Gauß zu. Der hatte nichts.

Gar keinen Paß, fragte der Gendarm überrascht, keinen Zettel, keinen Stempel, nichts?

Er habe so etwas noch nie gebraucht, sagte Gauß. Zum letztenmal habe er Hannovers Grenzen vor zwanzig Jahren überschritten. Damals habe er keine Probleme gehabt.

Eugen versuchte zu erklären, wer sie seien, wohin sie fuhren und auf wessen Wunsch. Die Naturforscherver-sammlung finde unter Schirmherrschaft der Krone statt.

Als ihr Ehrengast sei sein Vater gewissermaßen vom Kö-

nig eingeladen.

Der Gendarm wollte einen Paß.

Er könne das ja nicht wissen, sagte Eugen, aber sein Vater werde verehrt in entferntesten Ländern, sei Mitglied aller Akademien, werde seit früher Jugend Fürst der Mathematiker genannt.

Gauß nickte. Man sage, Napoleon habe seinetwegen auf den Beschuß Göttingens verzichtet.

Eugen wurde blaß.

Napoleon, wiederholte der Gendarm.

Allerdings, sagte Gauß.

Der Gendarm verlangte, etwas lauter als zuvor, einen Paß.

Gauß legte den Kopf auf seine Arme und rührte sich nicht. Eugen stieß ihn an, doch ohne Erfolg. Ihm sei es egal, murmelte Gauß, er wolle nach Hause, ihm sei es ganz egal.


Der Gendarm rückte verlegen an seiner Mütze.

Da mischte sich der Mann am Nebentisch ein. Das alles werde enden! Deutschland werde frei sein, und gute Bürger würden unbehelligt leben und reisen, gesund an Körper und Geist, und kein Papierzeug mehr brauchen.

Ungläubig verlangte der Gendarm seinen Ausweis.

Das eben meine er, rief der Mann und kramte in seinen Taschen. Plötzlich sprang er auf, stieß seinen Stuhl um und stürzte hinaus. Der Gendarm starrte ein paar Sekunden auf die offene Tür, bevor er sich faßte und ihm nachlief.

Gauß hob langsam den Kopf. Eugen schlug vor, sofort weiterzufahren. Gauß nickte und aß schweigend den Rest der Suppe. Das Gendarmenhäuschen stand leer, beide Polizisten hatten sich an die Verfolgung des Bärtigen gemacht. Eugen und der Kutscher wuchteten gemeinsam den Schlagbaum in die Höhe. Dann fuhren sie auf preu-

ßischen Boden.

Gauß war nun aufgeräumt, fast heiter. Er sprach über Differentialgeometrie. Man könne kaum ahnen, wohin der Weg in die gekrümmten Räume noch fuhren werde.

Er selbst begreife erst in groben Zügen, Eugen solle froh sein über seine Mittelmäßigkeit, manchmal werde einem angst und bange. Dann erzählte er von der Bitternis seiner Jugend. Er habe einen harten, abweisenden Vater gehabt, Eugen könne sich glücklich schätzen. Gerechnet habe er noch vor seinem ersten Wort. Einmal habe der Vater beim Abzählen des Monatslohns einen Fehler gemacht, daraufhabe er zu weinen begonnen. Als der Vater den Fehler korrigiert habe, sei er sofort verstummt.


Eugen tat beeindruckt, obgleich er wußte, daß die Geschichte nicht stimmte. Sein Bruder Joseph hatte sie erfunden und verbreitet. Inzwischen mußte sie dem Vater so oft zu Ohren gekommen sein, daß er angefangen hatte, sie zu glauben.

Gauß kam auf den Zufall zu sprechen, den Feind allen Wissens, den er immer habe besiegen wollen. Aus der Nähe betrachtet, sehe man hinter jedem Ereignis die un-endliche Feinheit des Kausalgewebes. Trete man weit genug zurück, offenbarten sich die großen Muster. Freiheit und Zufall seien eine Frage der mittleren Entfernung, eine Sache des Abstands. Ob er verstehe?

So ungefähr, sagte Eugen müde und sah auf seine Ta-schenuhr. Sie ging nicht sehr genau, aber es mußte zwischen halb vier und fünf Uhr morgens sein.

Doch die Regeln der Wahrscheinlichkeit, fuhr Gauß fort, während er die Hände auf seinen schmerzenden Rücken preßte, gälten nicht zwingend. Sie seien keine Naturgesetze, Ausnahmen seien möglich. Zum Beispiel ein Intellekt wie seiner oder jene Gewinne beim Glücks-spiel, die doch unleugbar ständig irgendein Strohkopf mache. Manchmal vermute er sogar, daß auch die Gesetze der Physik bloß statistisch wirkten, mithin Ausnahmen erlaubten: Gespenster oder die Übertragung der Gedanken.

Eugen fragte, ob das ein Scherz sei.

Das wisse er selbst nicht, sagte Gauß, schloß die Augen und fiel in tiefen Schlaf.

Sie erreichten Berlin am Spätnachmittag des nächsten Tages. Tausende kleine Häuser ohne Mittelpunkt und Anordnung, eine ausufernde Siedlung an Europas sump-figster Stelle. Eben erst hatte man angefangen, prunkvolle Gebäude zu errichten: einen Dom, einige Paläste, ein Museum für die Funde von Humboldts großer Expedition.

In ein paar Jahren, sagte Eugen, werde das hier eine Metropole sein wie Rom, Paris oder Sankt Petersburg.

Niemals, sagte Gauß. Widerliche Stadt!

Die Kutsche rumpelte über schlechtes Pflaster. Zweimal scheuten die Pferde vor knurrenden Hunden, in den Nebenstraßen blieben die Räder fast im nassen Sand stecken. Ihr Gastgeber wohnte im Packhof Nummer vier, in der Stadtmitte, gleich hinter der Baustelle des neuen Museums. Damit sie es nicht verfehlten, hatte er mit dünner Feder einen sehr genauen Lageplan gezeichnet.

Jemand mußte sie von weitem gesehen und angekündigt haben, denn wenige Sekunden nachdem sie in den Hof eingefahren waren, flog die Haustür auf, und vier Männer liefen ihnen entgegen.

Alexander von Humboldt war ein kleiner alter Herr mit schlohweißen Haaren. Hinter ihm kamen ein Sekretär mit aufgeschlagenem Schreibblock, ein Bote in Livree und ein backenbärtiger junger Mann, der ein Gestell mit einem Holzkasten trug. Als hätten sie es geprobt, stellten sie sich in Positur. Humboldt streckte die Arme nach der Kutschentür aus.

Nichts geschah.

Aus dem Inneren des Fahrzeugs hörte man hektisches Reden. Nein, rief jemand, nein! Ein dumpfer Schlägt ertönte, dann zum dritten Mal: Nein! Und eine Weile nichts.

Endlich klappte die Tür auf, und Gauß stieg vorsichtig auf die Straße hinab. Er zuckte zurück, als Humboldt ihn an den Schultern faßte und rief, welche Ehre es sei, was für ein großer Moment für Deutschland, die Wissenschaft, ihn selbst.

Der Sekretär notierte, der Mann hinter dem Holzkasten zischte: Jetzt!

Humboldt erstarrte. Das sei Herr Daguerre, flüsterte er, ohne die Lippen zu bewegen. Ein Schützling von ihm, der an einem Gerät arbeite, welches den Augenblick auf eine lichtempfindliche Silberjodidschicht bannen und der fliehenden Zeit entreißen werde. Bitte auf keinen Fall bewegen!

Gauß sagte, er wolle nach Hause.

Nur einen Augenblick, flüsterte Humboldt, fünfzehn Minuten etwa, man sei schon recht weit fortgeschritten.

Vor kurzem habe es noch viel länger gedauert, bei den ersten Versuchen habe er gemeint, sein Rücken halte es nicht aus. Gauß wollte sich loswinden, aber der kleine Alte hielt ihn mit überraschender Kraft fest und murmelte: Dem König Bescheid geben! Schon war der Bote fortgerannt. Dann, offenbar weil es ihm gerade durch den Kopf ging: Notiz, Möglichkeit einer Robbenzucht in Warnemünde prüfen, Bedingungen scheinen günstig, mir morgen vorlegen! Der Sekretär notierte.

Eugen, der erst jetzt leicht hinkend aus der Kutsche stieg, entschuldigte sich für die späte Stunde ihrer An-kunft.

Hier gebe es keine frühe oder späte Stunde, murmelte Humboldt. Hier gebe es nur Arbeit, und die werde getan.

Zum Glück habe man noch Licht. Nicht bewegen!

Ein Polizist betrat den Hof und fragte, was hier los sei.


Später, zischte Humboldt mit zusammengepreßten Lippen.

Dies sei eine Zusammenrottung, sagte der Polizist.

Entweder man gehe sofort auseinander, oder er werde amtshandeln.

Er sei Kammerherr, zischte Humboldt.

Was bitte? Der Polizist beugte sich vor.

Kammerherr, wiederholte Humboldts Sekretär. Angehöriger des Hofes.

Daguerre forderte den Polizisten auf, aus dem Bild zu gehen.

Mit gerunzelter Stirn trat der Polizist zurück. Erstens könne das nun aber jeder sagen, zweitens gelte das Ver-sammlungsverbot für alle. Und der da, er zeigte auf Eugen, sei offensichtlich Student. Da werde es besonders heikel.

Wenn er sich nicht gleich davonmache, sagte der Sekretär, werde er Schwierigkeiten bekommen, die er sich noch gar nicht vorstellen könne.

So spreche man nicht mit einem Beamten, sagte der Polizist zögernd. Er gebe ihnen fünf Minuten.

Gauß stöhnte und riß sich los.

Ach nein, rief Humboldt.

Daguerre stampfte mit dem Fuß auf. Jetzt sei der Moment für immer verloren!

Wie alle anderen, sagte Gauß ruhig. Wie alle anderen.

Und wirklich: Als Humboldt noch in derselben Nacht, während Gauß im Nebenzimmer so laut schnarchte, daß man es in der ganzen Wohnung hörte, die belichtete Kupferplatte mit einer Lupe untersuchte, erkannte er darauf gar nichts. Und erst nach einer Weile schien ihm ein Ge-wirr gespenstischer Umrisse darin aufzutauchen, die verschwommene Zeichnung von etwas, das aussah wie eine Landschaft unter Wasser. Mitten darin eine Hand, drei Schuhe, eine Schulter, der Ärmelaufschlag einer Uniform und der untere Teil eines Ohres. Oder doch nicht?

Seufzend warf er die Platte aus dem Fenster und hörte sie dumpf auf den Boden des Hofes schlagen. Sekunden später hatte er sie, wie alles, was ihm je mißlungen war, vergessen.


Das

Meer


Alexander von Humboldt war in ganz Europa berühmt wegen einer Expedition in die Tropen, die er fünfundzwanzig Jahre zuvor unternommen hatte. Er war in Neuspanien, Neugranada, Neubarcelona, Neuandalusien und den Vereinigten Staaten gewesen, hatte den na-türlichen Kanal zwischen Orinoko und Amazonas entdeckt, den höchsten Berg der bekannten Welt bestiegen, Tausende Pflanzen und Hunderte Tiere, manche lebend, die meisten tot, gesammelt, hatte mit Papageien gesprochen, Leichen ausgegraben, jeden Fluß, Berg und See auf seinem Weg vermessen, war in jedes Erdloch gekrochen und hatte mehr Beeren gekostet und Bäume erklettert, als sich irgend jemand vorstellen mochte.

Er war der jüngere von zwei Brüdern. Ihr Vater, ein wohlhabender Mann von niederem Adel, war früh gestorben. Seine Mutter hatte sich bei niemand anderem als Goethe erkundigt, wie sie ihre Söhne ausbilden solle.

Ein Brüderpaar, antwortete dieser, in welchem sich so recht die Vielfalt menschlicher Bestrebungen ausdrücke, wo also die reichen Möglichkeiten zu Tat und Genuß auf das vorbildlichste Wirklichkeit geworden, das sei in der Tat ein Schauspiel, angetan, den Sinn mit Hoffnung und den Geist mit mancherlei Überlegung zu erfüllen.

Diesen Satz verstand keiner. Nicht die Mutter, nicht ihr Majordomus Kunth, ein magerer Herr mit großen Ohren. Er meine zu begreifen, sagte Kunth schließlich, es handle sich um ein Experiment. Der eine solle zum Mann der Kultur ausgebildet werden, der andere zum Mann der Wissenschaft.

Und welcher wozu?

Kunth überlegte. Dann zuckte er die Schultern und schlug vor, eine Münze zu werfen.

Fünfzehn hochbezahlte Experten hielten ihnen Vorlesungen auf Universitätsniveau. Für den jüngeren Bruder Chemie, Physik, Mathematik, für den älteren Sprachen und Literatur, für beide Griechisch, Latein und Philosophie. Zwölf Stunden am Tag, jeden Tag der Woche, ohne Pause oder Ferien.

Der jüngere Bruder, Alexander, war wortkarg und schwächlich, man mußte ihn zu allem ermutigen, seine Noten waren mittelmäßig. Wenn man ihn sich selbst überließ, strich er durch die Wälder, sammelte Käfer und ordnete sie nach selbsterdachten Systemen. Mit neun Jahren baute er den von Benjamin Franklin erfundenen Blitzableiter nach und befestigte ihn auf dem Dach des Schlosses, das sie nahe der Hauptstadt bewohnten. Es war der zweite in Deutschland überhaupt; der andere stand in Göttingen auf dem Dach des Physikprofessors Lichtenberg. Nur an diesen zwei Orten war man vor dem Himmel sicher.

Der ältere Bruder sah aus wie ein Engel. Er konnte reden wie ein Dichter und schrieb früh altkluge Briefe an die berühmtesten Männer des Landes. Wer immer ihn traf, wußte sich vor Begeisterung kaum zu fassen. Mit dreizehn beherrschte er zwei Sprachen, mit vierzehn vier, mit fünfzehn sieben. Er war noch nie bestraft worden, keiner konnte sich erinnern, daß er je etwas falsch gemacht hätte. Mit dem englischen Gesandten sprach er über Handelspolitik, mit dem französischen über die Gefahr des Aufruhrs. Einmal sperrte er den jüngeren Bruder in einen Schrank in einem entlegenen Zimmer. Als ein Diener den Kleinen dort am nächsten Tag halb ohnmächtig fand, behauptete der, sich selbst eingeschlossen zu haben; er wußte, die Wahrheit hätte keiner geglaubt.

Ein anderes Mal entdeckte er weißes Pulver in seinem Essen. Er verstand genug von Chemie, um zu erkennen, daß es Rattengift war. Mit zitternden Händen schob er den Teller weg. Von der anderen Seite des Tisches sah ihn der ältere anerkennend mit unergründlich hellen Augen an.

Niemand konnte leugnen, daß es im Schloß spukte.

Nichts Spektakuläres, bloß Schritte in leeren Gängen, Kinderweinen ohne Ursprung und manchmal ein sche-menhafter Herr, der mit schnarrender Stimme darum bat, ihm Schuhbänder, kleine Spielzeugmagneten oder ein Glas Limonade abzukaufen. Unheimlicher als die Geister aber waren die Geschichten über sie: Kunth gab den beiden Jungen Bücher zu lesen, in denen es um Mönche ging, um offene Gräber, Hände, die aus der Tiefe ragten, in der Unterwelt gebraute Elixiere und Séancen, bei denen Tote zu schreckensstarren Zuhörern sprachen.

Solches kam gerade in Mode und war noch so neu, daß keine Gewohnheit gegen das Grauen half. Das sei nötig, erklärte Kunth, die Begegnung mit dem Dunkel sei Teil des Heranwachsens, wer metaphysische Angst nicht kenne, werde nie ein deutscher Mann. Einmal stießen sie auf eine Geschichte über Aguirre den Wahnsinnigen, der seinem König abgeschworen und sich selbst zum Kaiser ernannt hatte. In einer Alptraumfahrt ohnegleichen waren er und seine Männer den Orinoko entlanggefahren, an dessen Ufern das Unterholz so dicht war, daß man nicht an Land gehen konnte. Vögel schrien in den Sprachen ausgestorbener Völker, und wenn man aufblickte, spie-gelte der Himmel Städte, deren Architektur offenbarte, daß ihre Erbauer keine Menschen waren. Noch immer waren kaum Forscher in diese Gegend vorgedrungen, und eine verläßliche Karte gab es nicht

Aber er werde es tun, sagte der jüngere Bruder. Er werde dorthin reisen.

Sicherlich, antwortete der Ältere.

Er meine es ernst!

Das sei ihm klar, sagte der Ältere und rief einen Diener, um Tag und Stunde zu bezeugen. Einmal werde man froh sein, diesen Augenblick fixiert zu haben.

In Physik und Philosophie unterrichtete sie Marcus Herz, Lieblingsschüler von Immanuel Kant und Ehemann der für ihre Schönheit berühmten Henriette. Er goß zwei Substanzen in einen Glaskrug: Die Flüssigkeit zögerte einen Moment, bevor sie mit einem Schlag die Farbe wechselte. Er ließ Wasserstoff aus einem Röhrchen strömen, hielt eine Flamme an die Mündung, und mit einem Jauchzen schoß das Feuer auf. Ein halbes Gramm, sagte er, zwölf Zentimeter hoch die Flamme. Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee sie zu messen.

In Henriettes Salon trafen sich einmal in der Woche gebildete Leute, sprachen über Gott und ihre Gefühle, weinten ein wenig, schrieben einander Briefe und nannten sich selbst die Tugendbündler. Niemand wußte mehr, wer auf diesen Namen gekommen war. Ihre Gespräche mußten nach außen hin geheimgehalten werden; aber anderen Tugendbündlern hatte man über alles, was einem in der Seele vorging, offen und mit Ausführlichkeit Auskunft zu geben. Ging einem nichts in der Seele vor, mußte man etwas erfinden. Die zwei Brüder waren die jüngsten. Auch dies sei nötig, sagte Kunth, und sie dürften keinesfalls ein Treffen versäumen. Es diene der Her-zensbildung. Ausdrücklich ermutigte er sie, an Henriette zu schreiben. Eine Vernachlässigung sentimentalischer Kultur in frühen Lebensphasen könne später unerfreu-liche Folgen zeitigen. Es verstand sich von selbst, daß ihm jedes Schreiben vorgelegt werden mußte. Wie erwartet, waren die Briefe des älteren Bruders die besseren.

Henriette antwortete ihnen höflich, in einer unsicheren Kinderschrift. Sie war selbst erst neunzehn. Ein Buch, das ihr der jüngere geschenkt hatte, kam ungelesen zurück: L’homme machine von La Mettrie. Dieses Werk sei verboten, ein verabscheuungswürdiges Pamphlet. Sie bringe es nicht über sich, es auch nur aufzuschlagen.

Das bedauere er, sagte der jüngere Bruder zum älteren.

Es sei ein bemerkenswertes Buch. Der Autor behaupte ernstlich, der Mensch sei eine Maschine, ein automatisch agierendes Gestell von höchster Kunstfertigkeit.

Und ohne Seele, antwortete der Ältere. Sie gingen durch den Schloßpark; der Schnee lag dünn auf kahlen Bäumen.

Nein, widersprach der Jüngere. Mit Seele. Mit Ah-nungen und poetischem Gespür für Weite und Schönheit. Doch sei diese Seele selbst nur ein Teil, wenn auch der komplizierteste, der Maschinerie. Und er frage sich, ob das nicht der Wahrheit entspreche.

Alle Menschen Maschinen?

Vielleicht nicht alle, sagte der Jüngere nachdenklich.

Aber wir.

Der Teich war zugefroren, die Dämmerung des Spätnachmittags färbte Schnee und Eiszapfen blau. Er habe ihm etwas mitzuteilen, sagte der Ältere. Man mache sich Sorgen um ihn. Seine schweigsame Art, seine Verschlos-senheit. Die schleppenden Erfolge im Unterricht. Mit ihnen beiden stehe und falle ein großer Versuch. Keiner von ihnen habe das Recht, sich gehenzulassen. Er zögerte einen Moment. Das Eis sei übrigens ganz fest.

Tatsächlich?

Aber ja.

Der Jüngere nickte, holte Luft und trat auf den See. Er überlegte, ob er Klopstocks Eislaufode rezitieren sollte.

Mit den Armen weit ausschwingend, glitt er zur Mitte. Er drehte sich um sich selbst. Sein Bruder stand leicht zurückgebeugt am Ufer und schaute ihm zu.

Auf einmal war es still. Er sah nichts mehr, und die Kälte nahm ihm fast die Sinne. Erst da begriff er, daß er unter Wasser war. Er strampelte. Sein Kopf prallte gegen etwas Hartes, das Eis. Seine Fellmütze löste sich und schwebte davon, seine Haare richteten sich auf, seine Füße schlugen auf den Boden. Jetzt hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Einen Moment lang sah er eine erstarrte Landschaft: zitternde Halme, darüber Gewächse, durchsichtig wie Schleier, einen einzelnen Fisch, eben noch da, jetzt schon weg, wie eine Täuschung. Er machte Schwimmbewegungen, stieg auf, prallte wieder gegen das Eis. Ihm wurde klar, daß er nur noch Sekunden zu leben hatte. Er tastete, und gerade als er keine Luft mehr hatte, sah er einen dunklen Fleck über sich, die Öffnung; er riß sich nach oben, atmete ein und aus und spuckte, das scharfkantige Eis zerschnitt ihm die Hände, er hievte sich empor, rollte sich ab, zog die Beine nach und lag keuchend, schluchzend da. Er drehte sich auf den Bauch und robbte auf das Ufer zu. Sein Bruder stand noch wie zuvor, zurückgebeugt, die Hände in den Taschen, die Mütze ins Gesicht gezogen. Er streckte die Hand aus und half ihm auf die Füße.

In der Nacht kam das Fieber. Er vernahm Stimmen und wußte nicht, ob sie Gestalten seiner Träume oder den Menschen gehörten, die sein Bett umringten, und immer noch spürte er die Eiseskälte. Ein Mann ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, wahrscheinlich der Arzt, und sagte, entscheide dich, gelingen oder nicht, das ist ein Entschluß, man muß dann nur durchhalten, oder? Aber als er darauf antworten wollte, erinnerte er sich nicht mehr, was gesagt worden war, statt dessen sah er ein weit ausgespanntes Meer unter einem elektrisch flackernden Himmel, und als er wieder die Augen öffnete, war es Mittag am übernächsten Tag, die Wintersonne hing bleich im Fenster, und sein Fieber hatte nachge-lassen.

Von nun an wurden seine Noten besser. Er arbeitete konzentriert und nahm die Gewohnheit an, beim Nachdenken die Fäuste zu ballen, als müsse er einen Feind besiegen. Er habe sich verändert, schrieb ihm Henriette, ein wenig mache er ihr jetzt angst. Er bat darum, eine Nacht in dem leeren Zimmer verbringen zu dürfen, aus dem man am häufigsten nächtliche Laute hörte. Am Morgen darauf war er blaß und still, und senkrecht über seine Stirn zog sich die erste Falte.

Kunth entschied, daß der ältere Bruder die Rechte und der jüngere Kameralistik studieten solle. Natürlich reiste er mit ihnen zur Universität nach Frankfurt an der Oder, begleitete sie in die Vorlesungen und überwachte ihre Fortschritte. Es war keine gute Hochschule. Wenn einer nichts könne und Doktor werden wolle, schrieb der Ältere an Henriette, solle er getrost kommen. Auch sei aus Gründen, die keiner kenne, meist ein großer Hund im Kollegium, kratze sich viel und mache Geräusche.

Beim Botaniker Wildenow sah der Jüngere zum erstenmal getrocknete Tropenpflanzen. Sie hatten füh-lerartige Auswüchse, Knospen wie Augen und Blätter, deren Oberfläche sich anfühlte wie menschliche Haut.

Aus Träumen kamen sie ihm vertraut vor. Er zerschnitt sie, machte sorgfältige Skizzen, prüfte ihre Reaktion auf Säuren und Basen und verarbeitete sie säuberlich zu Prä-

paraten.

Er wisse nun, sagte er zu Kunth, womit er sich befassen wolle. Mit dem Leben.

Das könne er nicht billigen, sagte Kunth. Man habe auf der Welt andere Aufgaben, als einfach nur dazusein.

Leben allein, das sei kein Inhalt einer Existenz.

So meine er es nicht, antwortete er. Er wolle das Leben erforschen, die seltsame Hartnäckigkeit verstehen, mit der es den Globus umspanne. Er wolle ihm auf die Schliche kommen!

Also durfte er bleiben und bei Wildenow studieren.


Im nächsten Semester wechselte der ältere Bruder an die Universität Göttingen. Während er dort seine ersten Freunde fand, zum erstenmal Alkohol trank und eine Frau berührte, schrieb der Jüngere seine erste wissenschaftliche Arbeit.

Gut, sagte Kunth, aber noch nicht gut genug, um unter dem Namen Humboldt gedruckt zu werden. Mit dem Veröffentlichen müsse man noch warten.

In den Ferien besuchte er den älteren Bruder. Auf einem Empfang des französischen Konsuls lernte er den Mathematiker Kästner kennen, dessen Freund Hofrat Zimmermann und den wichtigsten Experimentalphysiker Deutschlands, Professor Georg Christoph Lichtenberg. Dieser drückte ihm weich die Hand und starrte, bucklig, doch mit makellos schönem Gesicht, ein Klumpen aus Fleisch und Intelligenz, belustigt an ihm empor.

Humboldt fragte ihn, ob es stimme, daß er an einem Roman arbeite.

Ja und nein, antwortete Lichtenberg mit einem Blick, als sehe er etwas, von dem Humboldt selbst nichts ahne.

Das Werk heiße Über Gunkel, handle von nichts und komme überhaupt nicht voran.

Das Romanschreiben, sagte Humboldt, erscheine ihm als Königsweg, um das Flüchtigste der Gegenwart für die Zukunft festzuhalten.

Aha, sagte Lichtenberg.

Humboldt errötete. Somit sei es ein albernes Unterfangen, wenn ein Autor, wie es jetzt Mode werde, eine schon entrückte Vergangenheit zum Schauplatz wähle.

Lichtenberg betrachtete ihn mit schmalen Augen. Nein, sagte er dann. Und ja.


Auf dem Heimweg sahen die Brüder eine zweite, nur wenig größere Silberscheibe neben dem gerade aufge-gangenen Mond. Ein Heißluftballon, erklärte der ältere. Pilâtre de Rozier, der Mitarbeiter der Montgolfiers, weile zur Zeit im nahen Braunschweig. Die ganze Stadt rede davon. Bald würden alle Menschen in die Luft steigen.

Aber sie würden es nicht wollen, sagte der Jüngere. Sie hätten zuviel Angst.

Kurz vor seiner Abreise lernte er den berühmten Georg Forster kennen, einen dünnen, hustenden Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe. Er hatte mit Cook die Welt umrundet und mehr gesehen als irgendein anderer Mensch aus Deutschland; jetzt war er eine Legende, sein Buch war weltbekannt, und er arbeitete als Bibliothekar in Mainz. Er erzählte von Drachen und lebenden Toten, von überaus höflichen Kannibalen, von Tagen, an denen das Meer so klar war, daß man meinte, über einem Abgrund zu schweben, von Stürmen, so heftig, daß man nicht zu beten wagte. Melancholie umgab ihn wie ein feiner Nebel. Er habe zuviel gesehen, sagte er. Eben davon handle das Gleichnis von Odysseus und den Sirenen.

Es helfe nichts, sich an den Mast zu binden, auch als Davongekommener erhole man sich nicht von der Nähe des Fremden. Er finde kaum Schlaf mehr, die Erinnerungen seien zu stark. Vor kurzem habe er Nachricht bekommen, daß sein Kapitän, der große und dunkle Cook, auf Hawaii gekocht und gegessen worden sei. Er rieb sich die Stirn und betrachtete die Schnallen seiner Schuhe.

Gekocht und gegessen, wiederholte er.

Er selbst wolle auch reisen, sagte Humboldt.


Forster nickte. Mancher wolle das. Und jeder bereue es später.

Warum?

Weil man nie zurückkommen könne.

Forster empfahl ihn an die Bergbauakademie in Freiberg. Dort lehrte Abraham Werner: Das Erdinnere sei kalt und fest. Gebirge entstünden durch chemische Ausfällungen aus dem schrumpfenden Ozean der Urzeit. Das Feuer der Vulkane komme keineswegs von tief innen, es werde genährt von brennenden Kohlelagern, der Erdkern sei aus hartem Stein. Diese Lehre nannte sich Neptunismus und wurde von beiden Kirchen und Johann Wolf-gang Goethe verfochten. In der Freiberger Kapelle ließ Werner Seelenmessen für seine die Wahrheit noch leug-nenden Gegner lesen. Einmal hatte er einem zweifelnden Studenten die Nase gebrochen, angeblich einem anderen vor vielen Jahren ein Ohr abgebissen. Er war einer der letzten Alchimisten: Mitglied geheimer Logen, Kenner der Zeichen, denen die Dämonen gehorchten. Er ver-mochte Zerstörtes wieder zusammenzufügen, aus dem Rauch das zuvor Verbrannte und aus dem Zerstoßenen wieder Festes zu formen, auch hatte er mit dem Teufel gesprochen und Gold gemacht. Intelligent wirkte er dennoch nicht. Er lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen und fragte Humboldt, ob er Neptunist sei und ans kalte Erdinnere glaube.

Humboldt versicherte es.

Dann müsse er aber auch heiraten.

Humboldt wurde rot.

Werner blies die Backen auf, machte eine Verschwö-

rermiene und fragte, ob er einen Schatz habe.


Das behindere nur, sagte Humboldt. Man heirate, wenn man nichts Wesentliches im Leben vorhabe.

Werner starrte ihn an.

So werde behauptet, sagte Humboldt schnell. Natürlich zu Unrecht!

Ein unverheirateter Mann, sagte Werner, sei noch nie ein guter Neptunist gewesen.

Humboldt durchlief das Kurrikulum der Akademie in einem Vierteljahr. Morgens war er sechs Stunden unter der Erde, nachmittags hörte er Vorlesungen, am Abend und die Hälfte der Nacht lernte er für den nächsten Tag.

Freunde hatte er keine, und als sein Bruder ihn zu seiner Hochzeit einlud – er habe eine Frau gefunden, wie sie ihm gezieme, eine, die nicht ihresgleichen habe auf der Welt –, antwortete er höflich, daß er nicht kommen könne, ihm fehle Zeit. Er kroch durch die niedrigsten Schächte, bis er sich an seine Platzangst gewöhnt hatte wie an einen nicht nachlassenden, allmählich jedoch erträglichen Schmerz. Er stellte Temperaturmessungen an: Je tiefer man hinabstieg, desto wärmer wurde es, und das widersprach allen Lehren Abraham Werners. Ihm fiel auf, daß es noch in der tiefsten Höhlendunkelheit Vegetation gab. Das Leben schien nirgendwo aufzuhören, überall fand sich noch eine Form von Moos und Wuche-rung, irgendeine Art verkümmerter Gewächse. Sie waren ihm unheimlich, und darum zerlegte und untersuchte er sie, ordnete sie nach Klassen und schrieb eine Abhandlung darüber. Jahre später, als er ähnliche Pflanzen in der Höhle der Toten sah, war er vorbereitet.

Er machte den Abschluß und bekam eine Uniform.

Wo immer er auch hinkam, sollte er sie tragen. Sein Amtstitel war der eines Assessors beim Berg- und Hüt-tendepartement. Er schäme sich selbst, schrieb er seinem Bruder, daß er sich so darüber freue.

Wenige Monate später war er schon Preußens zuverlässigster Bergwerksinspektor. Er ließ sich durch Hütten, Torfstechereien und zu den Hochöfen der Königlichen Porzellanmanufaktur fuhren; überall erschreckte er die Arbeiter durch die Geschwindigkeit, mit der er sich Notizen machte. Er war ständig unterwegs, schlief und aß kaum und wußte selbst nicht, was all das sollte. Etwas sei an ihm, schrieb er seinem Bruder, das ihn befürchten lasse, er verliere den Verstand.

Zufällig stieß er auf Galvanis Buch über den Strom und die Frösche. Galvani hatte abgetrennte Froschschen-kel mit zwei unterschiedlichen Metallen verbunden, und sie hatten gezuckt wie lebendig. Lag das nun an den Schenkeln, in denen noch Lebenskraft war, oder war die Bewegung von außen gekommen, aus dem Unterschied der Metalle, und von den Froschteilen bloß sichtbar gemacht? Humboldt beschloß, es herauszufinden.

Er zog sein Hemd aus, legte sich aufs Bett und wies einen Diener an, zwei Aderlaßpflaster auf seinen Rük-ken zu kleben. Der Diener gehorchte, Humboldts Haut warf zwei große Blasen. Und jetzt solle er die Blasen auf-schneiden! Der Diener zögerte, Humboldt mußte laut werden, der Diener nahm das Skalpell. Es war so scharf, daß der Schnitt kaum schmerzte. Blut tropfte auf den Boden. Humboldt befahl, ein Stück Zink auf eine der Wunden zu legen.

Der Diener fragte, ob er eine Pause machen dürfe, ihm sei nicht wohl.


Humboldt bat ihn, sich nicht dumm anzustellen.

Als ein Silberstück die zweite Wunde berührte, ging ein schmerzhaftes Pochen durch seine Rückenmuskeln, bis hinauf in den Kopf. Mit zitternder Hand notierte er: Musculus cucularis, Hinterhauptbein, Stachelfortsätze des Rückenwirbelbeins. Kein Zweifel, hier wirkte Elektrizität.

Noch einmal das Silber! Er zählte vier Schläge, in regelmäßigem Abstand, dann wichen die Farben aus den Gegenständen.

Als er wieder zu sich kam, saß der Diener auf dem Boden, das Gesicht bleich, die Hände blutig.

Weiter, sagte Humboldt, und mit seltsamem Schrek-ken wurde ihm klar, daß etwas in ihm Lust empfand.

Jetzt die Frösche!

Das nicht, sagte der Diener.

Humboldt fragte, ob er sich eine neue Anstellung suchen wolle.

Der Diener legte vier tote, sorgsam gereinigte Frösche auf Humboldts blutigen Rücken. Aber jetzt reiche es, sagte er, sie seien doch Christenmenschen.

Humboldt ignorierte ihn und befahl: Wieder das Silber! Schon kamen die Schläge. Bei jedem davon, er sah es im Spiegel, sprangen die Froschleiber wie lebendig. Er biß in das Kissen, der Stoff war naß von seinen Tränen. Der Diener kicherte hysterisch, Humboldt wollte Notizen machen, aber seine Hände waren zu schwach. Mühsam stand er auf. Aus den zwei Wunden lief Flüssigkeit, so ätzend, daß sie seine Haut entzündete. Humboldt versuchte etwas davon in einem Glasröhrchen aufzufangen, aber seine Schulter war geschwollen, und er konnte sich nicht drehen. Er sah den Diener an.


Der schüttelte den Kopf.

Na gut, sagte Humboldt, dann solle er jetzt in Gottes Namen den Arzt holen! Er wischte sich das Gesicht ab und wartete, bis er wieder fähig war, die Hände zu gebrauchen und das Nötigste aufzuschreiben. Strom war geflossen, das hatte er gespürt, und entsprungen war er nicht seinem Körper und nicht den Fröschen, sondern der chemischen Feindschaft der Metalle.

Es war nicht leicht, dem Arzt zu erklären, was hier geschehen war. Der Diener kündigte in der Woche darauf, zwei Narben blieben, und die Abhandlung über die lebendige Muskelfaser als leitende Substanz begründete Humboldts wissenschaftlichen Ruf.

Er scheine verwirrt zu sein, schrieb sein Bruder aus Jena. Doch möge er bedenken, daß man moralische Ver-pflichtungen auch dem eigenen Körper gegenüber habe, der doch kein Ding unter Dingen sei; ich bitte Dich, komm! Schiller möchte Dich kennenlernen.

Du verkennst mich, antwortete Humboldt. Ich habe herausgefunden, daß der Mensch bereit ist, Unbill zu erfahren, aber viel Erkenntnis entgeht ihm, weil er den Schmerz furchtet. Wer sich jedoch zum Schmerz entschließt, begreift Dinge, die er nicht ... Er legte die Feder weg, rieb sich die Schulter und zerknüllte das Blatt.

Unsere Brüderlichkeit, begann er von neuem, wieso er-scheint sie mir als das eigentliche Rätsel? Daß wir allein sind und verdoppelt, daß Du bist, was ich nicht werden soll, und ich bin, was Du nicht sein kannst, daß wir zu zweit durchs Dasein müssen, einander, ob wir wollen oder nicht, für immer näher als jedem anderen. Und wieso vermute ich, daß unsere Größe folgenlos bleiben und, was wir auch vollbringen, dahinschwinden wird, als wäre es nichts, bis unsere gegeneinander gewachsenen Namen, wieder zu einem verschmolzen, verblassen werden? Er stockte, dann zerriß er das Blatt in winzige Fetzen.

Um die Pflanzen in der Freiberger Mine zu untersuchen, entwickelte er die Grubenlampe: eine Flamme, ge-nährt von einem Behälter Gas, die auch an Orten ohne Luft noch Licht gab. Fast hätte es ihn umgebracht. Er stieg in eine noch nie erforschte Kammer ab, stellte die Lampe hin und wurde nach wenigen Minuten ohnmächtig. Sterbend sah er tropische Schlingpflanzen, welche unter seinem Blick zu Frauenkörpern wurden, aufschreiend kam er zu sich. Ein Spanier namens Andres del Rio, ein ehemaliger Mitschüler an der Freiberger Akademie, hatte ihn gefunden und hinaufgeschafft. Vor Scham brachte Humboldt es kaum fertig, sich zu bedanken.

In einem Monat harter Arbeit entwickelte er eine Re-spirationsmaschine: Von einem Luftsack führten zwei Schläuche zu einer Atemmaske. Er schnallte das Gerät um und stieg hinab. Mit steinernem Gesicht ertrug er die beginnenden Halluzinationen. Dann erst, seine Knie wurden bereits weich und das Schwindelgeftihl verviel-fachte die Kerzenflamme zu einer Feuersbrunst, öffnete er das Ventil und sah grimmig zu, wie die Frauen wieder zu Pflanzen und die Pflanzen zu nichts wurden. Er blieb noch Stunden in der kühlen Dunkelheit. Als er ans Tageslicht kam, erwartete ihn Kunths Schreiben, das ihn ans Sterbebett seiner Mutter rief.

Wie es sich gehörte, ritt er auf dem schnellsten Pferd, das zu bekommen war. Regen schlug ihm ins Gesicht, sein Mantel flatterte, zweimal rutschte er vom Sattel und fiel in den Dteck. Unrasiert und schmutzig traf er ein, und weil er wußte, was sich in solchen Fallen schickte, tat er, als wäre er außer Atem. Kunth nickte beifällig, gemeinsam saßen sie an ihrem Bett und sahen zu, wie der Schmerz ihr Gesicht in etwas Fremdes verwandelte. Die Auszehrung hatte sie innerlich verbrannt, ihre Wangen waren eingefallen, ihr Kinn war lang und ihre Nase plötzlich krumm, an den Aderlässen war sie beinahe verblutet.

Während Humboldt ihre Hand hielt, ging der Nachmittag in den Abend über, und ein Bote brachte einen Brief seines Bruders, der sich wegen dringender Geschäfte in Weimar entschuldigte. Als die Nacht anbrach, bäumte sich seine Mutter auf und begann spitze Schreie auszu-stoßen. Das Schlafmittel wirkte nicht, auch ein weiterer Aderlaß brachte keine Beruhigung, und Humboldt kam es unbegreiflich vor, daß sie sich so ungesittet benehmen konnte. Gegen Mitternacht wurden ihre Schreie so hemmungslos laut, schienen so tief aus ihtem sich aufbäumenden Körper emporzudringen, als durchlebte sie einen Höhepunkt der Lust. Er wartete mit geschlossenen Augen. Erst nach zwei Stunden verstummte sie. Als es hell wurde, murmelte sie Unverständliches, als die Sonne in den Vormittagshimmel stieg, sah sie ihren Sohn an und sagte, er solle sich gerade halten, so zu lümmeln sei doch keine Art. Dann wandte sie den Kopf ab, ihre Augen schienen zu Glas zu werden, und er sah die erste Tote seines Lebens.

Kunth legte ihm die Hand auf die Schulter. Niemand könne ermessen, was ihm diese Familie gewesen sei.

Doch, sagte Humboldt, als soufflierte ihm jemand, er könne es, und er werde es nie vergessen.


Kunth seufzte gerührt. Er wußte jetzt, er würde auch weiterhin sein Gehalt bekommen.

Am Nachmittag sahen die Bedienten Humboldt vor dem Schloß auf und ab gehen, über die Hügelkuppen, um den Teich, den Mund offen, das Gesicht zum Himmel gekehrt wie ein Idiot. So hatten sie ihn noch nie erlebt. Er müsse, sagten sie zueinander, arg erschüttert sein.

Und wirklich: Er war noch nie so glücklich gewesen.

Eine Woche später kündigte er seine Anstellung. Der Minister begriff nicht. So ein hohes Amt in solcher Jugend, dem Aufstieg seien doch keine Grenzen gesetzt!

Warum also?

Weil das alles zu wenig sei, antwortete Humboldt. Er stand kleingewachsen, aber aufrecht, mit leuchtenden Augen und leicht hängenden Schultern vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten. Und weil er jetzt endlich aufbrechen könne.

Zunächst ging es nach Weimar, wo sein Bruder ihn Wieland, Herder und Goethe vorstellte. Dieser begrüßte ihn als Bundesgenossen. Jeder Schüler des großen Werner finde in ihm einen Freund.

Er werde in die Neue Welt reisen, sagte Humboldt. Das habe er noch keinem verraten. Niemand werde ihn abhalten, und er rechne nicht damit, lebend zurückzu-kehren.

Goethe nahm ihn beiseite und führte ihn durch eine Flucht in unterschiedlichen Farben gestrichener Zimmer zu einem hohen Fenster. Ein großes Unterfangen, sagte er. Wichtig sei vor allem, die Vulkane zu erforschen, um die neptunistische Theorie zu stützen. Unter der Erde brenne kein Feuer. Das Innerste der Natur sei nicht ko-chende Lava. Nur verdorbene Geistet könnten auf solch abstoßende Gedanken verfallen.

Humboldt versprach, sich die Vulkane anzusehen.

Goethe verschränkte die Arme auf dem Rücken. Und nie solle er vergessen, von wem er komme.

Humboldt verstand nicht.

Er solle bedenken, wer ihn geschickt habe. Goethe machte eine Handbewegung in Richtung der bunten Zimmer, der Gipsabgüsse römischer Statuen, der Männer, die sich im Salon mit gedämpften Stimmen unterhielten. Humboldts älterer Bruder sprach über die Vorteile des Blankverses, Wieland nickte aufmerksam, auf dem Sofa saß Schiller und gähnte verstohlen. Von uns kommen Sie, sagte Goethe, von hier. Unser Botschafter bleiben Sie auch überm Meer.

Humboldt reiste nach Salzburg weiter, wo er sich das teuerste Arsenal von Meßgeräten zulegte, das je ein Mensch besessen hatte. Zwei Barometer für den Luftdruck, ein Hypsometer zur Messung des Wassersiede-punktes, ein Theodolit für die Landvermessung, ein Spiegelsextant mit künstlichem Horizont, ein faltbarer Taschensextant, ein Inklinatorium, um die Stärke des Erdmagnetismus zu bestimmen, ein Haarhygrometer für die Luftfeuchtigkeit, ein Eudiometer zur Messung des Sauerstoffgehaltes der Luft, eine Leydener Flasche zur Speicherung elektrischer Ladungen und ein Cyanometer zur Messung der Himmelsbläue. Dazu zwei jener unbezahlbar teuren Uhren, welche man seit kurzem in Paris anfertigte. Sie brauchten kein Pendel mehr, sondern schlugen die Sekunden unsichtbar, mit regelmäßig schwingenden Federn, in ihrem Inneren. Wenn man sie gut behandelte, wichen sie nicht von der Pariser Zeit ab und ermöglichten, indem man die Sonnenhöhe über dem Horizont ermittelte und dann Tabellen befragte, die Bestimmung des Längengrades.

Er blieb ein Jahr und übte. Et vermaß jeden Salzburger Hügel, er stellte täglich den Luftdruck fest, er kartogra-phierte das magnetische Feld, prüfte Luft, Wasser, Erde und Himmelsfarbe. Er übte das Zerlegen und Zusam-menbauen jedes Instruments, bis er es blind beherrschte, auf einem Bein stehend, bei Regen oder inmitten einer fliegenumschwärmten Kuhherde. Die Einheimischen hielten ihn für verrückt. Aber auch daran, er wußte es, mußte er sich gewöhnen. Einmal band er sich eine Woche lang den Arm auf den Rücken, um sich mit Unbill und Schmerz vertraut zu machen. Weil ihn die Uniform störte, ließ er sich eine zweite anmessen, die er auch nachts im Bett trug. Der ganze Kniff sei, sich nie etwas durchgehen zu lassen, sagte er zu Frau Schobel, seiner Zimmervermieterin, und bat um noch ein Glas der grünlichen Molke, vor der es ihn so ekelte.

Dann erst fuhr er nach Paris, wo sein Bruder jetzt als Privatmann lebte, um seine verwirrend klugen Kinder nach einem strengen, selbstentwickelten System zu erziehen. Seine Schwägerin konnte ihn nicht leiden. Er sei ihr unheimlich, sagte sie, seine Geschäftigkeit scheine ihr eine Form des Wahnsinns, überhaupt komme er ihr vor wie ein zur Karikatur verzerrtes Abbild ihres Gatten.

Ganz könne er ihr da nicht unrecht geben, antwortete dieser, und es sei ihm nie leichtgefallen, so vollständig verantwortlich zu sein für alle Torheiten des Bruders, sein Hüter gleichsam.


An der Akademie hielt Humboldt Vorlesungen über die Leitfähigkeit menschlicher Nerven. Er stand dabei, als im Nieselregen auf ausgetretenem Rasen vor der Stadt der letzte Abschnitt des Längengrades gemessen wurde, der Paris mit dem Pol verband. Als es vollbracht war, nahmen alle die Hüte ab und schüttelten einander die Hände: Ein Zehnmillionstel der Strecke würde, in Metall gefaßt, zur Einheit aller künftigen Längenmessungen werden. Man wollte es Meter nennen. Es erfüllte Humboldt stets mit Hochgefühl, wenn etwas gemessen wurde; diesmal war er trunken vor Enthusiasmus. Die Erregung ließ ihn mehrere Nächte nicht schlafen.

Er erkundigte sich nach Expeditionen. Ein gewisser Lord Bristol wollte nach Ägypten, doch kurz darauf kam er als Spion ins Gefängnis. Humboldt erfuhr, daß das Direktorium eine Forschertruppe unter Leitung des großen Bougainville in die Südsee schicken wollte, aber Bougainville war alt wie ein Felsen, völlig taub, saß in einem Thronsessel, murmelte vor sich hin und machte Dirigierbewegungen, von denen keiner wußte, wem sie galten. Als Humboldt sich vor ihm verbeugte, segnete er ihn mit bischöflicher Geste und winkte ihn weg. Das Direktorium ersetzte ihn durch den Offizier Baudin. Der empfing Humboldt freundlich und versprach alles. Wenig später war er mit dem gesamten Geld, das der Staat ihm übergeben hatte, abgereist.

Eines Abends saß auf der Treppe von Humboldts Wohnhaus ein junger Mann, trank Schnaps aus einer Sil-berflasche und schimpfte fürchterlich, als Humboldt ihm aus Versehen auf die Hand trat. Humboldt entschuldigte sich, die beiden kamen ins Gespräch. Der Mann hieß Aimé Bonpland und hatte ebenfalls mit Baudin reisen wollen. Er war fünfundzwanzig, hochgewachsen, etwas zerlumpt, hatte nur wenige Pockennarben und bloß eine Zahnlücke, ganz vorne. Die beiden sahen einander an, und später hätte keiner von ihnen mehr sagen können, ob wirklich eine Vorahnung zwischen ihnen hin- und hergegangen war, daß jeder für den anderen wichtiger sein sollte als irgendein Mensch sonst, oder ob es ihnen bloß beim Zurückdenken so schien.

Er komme aus La Rochelle, erzählte Bonpland, habe den niedrigen Himmel der Provinz erduldet wie das Dach eines Gefängnisses. Täglich habe er fortgewollt, sei dann Militärarzt geworden, aber die Universität habe seinen Titel nicht anerkannt. Während er den Abschluß nach-geholt habe, habe er Botanik studiert, er liebe Tropenpflanzen, und jetzt wisse er nicht, was anfangen. Zurück nach La Rochelle, da lieber der Tod!

Humboldt erkundigte sich, ob er ihn umarmen dür-fe.

Nein, sagte Bonpland erschrocken.

Sie hätten, sagte Humboldt, Ähnliches hinter und dasselbe vor sich, und täten sie sich zusammen, wer solle sie aufhalten? Er streckte die Hand aus.

Bonpland verstand nicht.

Sie könnten gemeinsam gehen, erklärte Humboldt, er brauche einen Reisegefährten, er habe Geld.

Bonpland sah ihn aufmerksam an und schraubte die Flasche zu.

Jung seien sie beide, sagte Humboldt, entschlossen auch, gemeinsam würden sie groß sein. Oder habe Bonpland nicht dieses Gefühl?


Bonpland hatte es nicht, aber Humboldts Begeisterung war ansteckend. Deshalb, und auch, weil es unhöflich war, jemanden mit ausgestreckter Hand stehenzulassen, schlug er ein und unterdrückte einen Schmerzenslaut: Humboldts Händedruck war fester, als er es von dem kleinen Mann erwartet hatte.

Und was jetzt?

Wohin sonst, antwortete Humboldt, als nach Spanien!

Wenig später vetabschiedeten sich die Brüder mit den Gesten zweier Monarchen. Humboldt wurde ganz verlegen, als die Haarspitzen der Schwägerin beim Abschieds-kuß seine Wange streiften. Er fragte, ob man sich wohl wiedersehen werde.

Gewiß, sagte der ältere Bruder. In dieser oder der anderen Welt. Im Fleische oder im Licht.

Humboldt und Bonpland bestiegen die Pferde und ritten los. Mit Verblüffung sah Bonpland, daß sein Gefährte es fertigbrachte, sich kein einziges Mal umzudrehen, bis Bruder und Schwägerin außer Sichtweite waren.

Auf dem Weg nach Spanien vermaß Humboldt jeden Hügel. Er erklomm jeden Berg. Er klopfte Steinproben von jeder Felswand. Mit seiner Sauerstoffmaske erkun-dete er jede Höhle bis in die hinterste Kammer. Einheimische, die beobachteten, wie er die Sonne durch das Okular des Sextanten fixierte, hielten sie für heidnische Anbeter des Gestirns und bewarfen sie mit Steinen, so daß sie auf die Pferde springen und im Galopp fliehen mußten. Die ersten zwei Male entkamen sie unverletzt, vom dritten trug Bonpland eine schlimme Platzwunde davon.


Er begann sich zu wundern. Ob das denn nötig sei, fragte er, man sei schließlich auf der Durchreise, man wolle doch nur nach Madrid und wäre viel schneller dort, wenn man einfach nur hinritte, Herrgott noch mal.

Humboldt überlegte. Nein, sagte er dann, er bedauere.

Ein Hügel, von dem man nicht wisse, wie hoch er sei, beleidige die Vernunft und mache ihn unruhig. Ohne stetig die eigene Position zu bestimmen, könne ein Mensch sich nicht fortbewegen. Ein Rätsel, wie klein auch immer, lasse man nicht am Wegesrand.

Von jetzt an reisten sie nachts, damit er unbehelligt Messungen vornehmen konnte. Man müsse die Plan-koordinaten genauer bestimmen, als es bisher getan worden sei. Die Karten von Spanien seien nicht exakt. Man wolle ja wissen, wohin man reite.

Aber das wisse man doch, rief Bonpland. Hier sei die Landstraße, und sie führe nach Madrid. Mehr brauche man nicht!

Um die Straße gehe es nicht, antwortete Humboldt. Es gehe ums Prinzip.

In der Nähe der Hauptstadt nahm das Tageslicht eine silbrige Tönung an. Bald gab es kaum noch Bäume. Die Mitte Spaniens sei kein Becken, erklärte Humboldt. Die Geographen seien wieder einmal im Unrecht. Vielmehr sei sie ein Hochplateau und habe einst als Insel aus einem vorzeitlichen Meer geragt.

Selbstverständlich, sagte Bonpland und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Als Insel.

In Madrid regierte der Minister Manuel de Urquijo.

Jeder wußte, daß er mit der Königin schlief. Der König war machtlos, seine Kinder verachteten ihn, das Land fand ihn komisch. An Urquijo führte kein Weg vorbei, denn die Kolonien waren für Ausländer gesperrt, und eine Ausnahme hatte es noch nie gegeben. Humboldt suchte den preußischen, den belgischen, den niederländischen und den französischen Botschafter auf. Nachts lernte er Spanisch.

Bonpland fragte, ob er denn niemals schlafe.

Wenn er es vermeiden könne, antwortete Humboldt, nicht.

Nach einem Monat hatte er es geschafft, eine Audienz bei Urquijo im Palast von Aranjuez zu bekommen. Der Minister war fettleibig, nervös und sorgenvoll. Aufgrund eines Mißverständnisses und vielleicht, weil er einmal von Paracelsus gehört hatte, hielt er Humboldt für einen deutschen Arzt und fragte nach einem Potenzmittel.

Was bitte?

Der Minister führte ihn in einen dunklen Winkel des steinernen Saales, legte ihm die Hand auf die Schulter und dämpfte seine Stimme. Es gehe nicht ums Vergnü-

gen. Seine Macht über das Land rühre von seiner Macht über die Königin her. Diese sei keine junge Frau mehr, er selbst kein junger Mann.

Humboldt sah blinzelnd aus dem Fenster. Im weißen Mittagslicht breitete sich in unwirklicher Symmetrie die Parkanlage aus. Über einem maurischen Brunnen stand ein träge funkelnder Wasserstrahl.

Viel bleibe zu tun, sagte Urquijo. Die Inquisition sei noch mächtig, zur Abschaffung der Sklaverei sei es ein weiter Weg. Einflüsterer gebe es überall. Er wisse nicht, wie lange er noch standhalten könne. Im wahrsten Sinn gesprochen. Ob er sich klar genug ausdrücke?


Langsam und mit geballten Fäusten ging Humboldt zu Urquijos Schreibtisch, tunkte die Feder ein und schrieb ein Rezept. Chinarinde aus dem Amazonastief-land, Mohnextrakt aus dem mittleren Afrika, sibirisches Savannenmoos und eine in die Legende entrückte Blume aus Marco Polos Reisebericht. Von alldem ein starker Absud, davon der dritte Aufguß. Langsam trinken, jeden zweiten Tag. Es würde Jahre dauern, alle Zutaten zu sammeln. Zögernd reichte er Urquijo das Blatt.

Nie zuvor hatten Ausländer solche Papiere bekommen. Baron von Humboldt und seinem Assistenten sei jede Unterstützung zu gewähren. Sie seien zu beherbergen, freundlich zu behandeln, hätten Zugang zu jedem Platz, der sie interessiere, und könnten auf allen Schiffen der Krone reisen.

Nun, sagte Humboldt, müßten sie nur noch durch die englische Blockade.

Bonpland fragte, wieso da Assistent stehe.

Wisse er nicht, sagte Humboldt geistesabwesend. Ein Mißverständnis.

Könne man das noch ändern?

Humboldt sagte, das sei kein guter Einfall. Solche Pässe seien ein Geschenk des Himmels. Das stelle man nicht in Frage, damit mache man sich auf den Weg.

Sie nahmen die erste Fregatte, die von La Coruña aus in die Tropen aufbrach. Der Wind blies scharf von Westen, der Seegang war stark. Humboldt saß in einem Klappstuhl an Deck. Er fühlte sich frei wie noch nie.

Zum Glück, schrieb er in sein Tagebuch, sei er niemals seekrank. Dann mußte er sich übergeben. Auch das war eine Willensfrage! Mit äußerster Konzentration, und nur manchmal unterbrechend, um sich über die Reling zu beugen, schrieb er drei Seiten über das Gefühl des Aufbruchs, die übers Meer sinkende Nacht und die im Dunkel verschwindenden Küstenlichter. Bis zum Morgen stand er neben dem Kapitän und beobachtete ihn beim Navigieren. Dann holte er seinen eigenen Sextanten hervor. Gegen Mittag begann er den Kopf zu schütteln.

Nachmittags um vier legte er sein Gerät beiseite und fragte den Kapitän, wieso er so unexakt arbeite.

Er mache das seit dreißig Jahren, sagte der Kapitän.

Bei allem Respekt, sagte Humboldt, das erstaune ihn.

Man tue das doch nicht für die Mathematik, sagte der Kapitän, man wolle übers Meer. Man fahre so ungefähr den Breitengrad entlang, und irgendwann sei man da.

Aber wie könne man leben, fragte Humboldt, reizbar geworden vom Kampf gegen die Übelkeit, wenn einem Genauigkeit nichts bedeute?

Bestens könne man das, sagte der Kapitän. Dies sei übrigens ein freies Schiff. Falls jemandem etwas nicht passe, dürfe er jederzeit von Bord.

Kurz vor Teneriffa sichteten sie ein Seeungeheuer. In der Ferne, fast durchsichtig vor dem Horizont, hob sich ein Schlangenleib aus dem Wasser, bildete zwei ringför-mige Verschlingungen und blickte mit im Fernrohr sehr deutlich erkennbaren Edelsteinaugen zu ihnen herüber.

Um sein Maul hingen barthaardünne Fasern. Schon Sekunden nachdem es wieder untergetaucht war, glaubte jeder, er hätte es sich eingebildet. Vielleicht die Dünste, sagte Humboldt, oder das schlechte Essen. Er beschloß, nichts darüber aufzuschreiben.

Das Schiff ging zwei Tage vor Anker, um Vorräte auf-zufrischen. Noch im Hafen wurden sie von einer Gruppe käuflicher Frauen umkreist, die nach ihnen faßten und lachend die Hände über ihre Körper wandern ließen. Bonpland wollte sich von einer mitziehen lassen, aber Humboldt rief ihn scharf zur Ordnung. Eine trat hinter ihn, zwei nackte Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Haare fielen über seine Schulter. Er wollte sich losreißen, doch einer ihrer Ohrreifen hatte sich in einer Spange seines Gehrocks verfangen. Alle Frauen lachten, Humboldt wußte nicht, wohin mit seinen Händen. Endlich sprang sie kichernd zurück, und auch Bonpland lächelte, aber als er Humboldts Miene sah, wurde er ernst.

Dort sei ein Vulkan, sagte Humboldt mit zitternder Stimme, die Zeit sei knapp, kein Grund zum Trödeln!

Sie engagierten zwei Führer und stiegen hinauf. Hinter einem Kastanienwald kamen Farne, dann eine sandige Ebene voll Ginster. Humboldt bestimmte nach der Methode Pascals ihre Höhe durch Messung des Luftdrucks.

Sie übernachteten in einer noch mit Schnee gefüllten Höhle. Starr vor Kälte betteten sie sich in den Schutz des Eingangs. Der Mond stand klein und erfroren am Himmel, manchmal wehten Fledermäuse vorbei, der Schatten der Bergspitze lag scharf gezeichnet auf der Wolkendecke unter ihnen.

Ganz Teneriffa, erklärte Humboldt ihren Führern, sei ein einziger, aus dem Meer ragender Berg. Ob sie das nicht interessiere?

Um ehrlich zu sein, sagte einer von ihnen, nicht sehr.

Am nächsten Morgen stellten sie fest, daß auch die Führer den Weg nicht kannten. Humboldt fragte, ob sie denn nie hier oben gewesen seien.


Nein, sagte der andere Führer. Warum auch?

Das Schotterfeld um den Gipfel war kaum begeh-bar; jedesmal, wenn sie abrutschten, polterten Steine zu Tal. Einer der Führer verlor den Halt und zerbrach die Wasserflaschen. Durstig und an den Händen blutend, erklommen sie den Gipfel. Der Vulkantrichter war seit Jahrhunderten erkaltet, sein Boden mit versteinerter Lava bedeckt. Die Sicht reichte bis Palma, Gomera und zu den dunstumhangenen Bergen von Lanzarote. Während Humboldt mit Barometer und Sextant die Bergeshöhen prüfte, kauerten die Führer feindselig auf dem Boden, und Bonpland starrte frierend in die Ferne.

Halb verdurstet kamen sie am späten Nachmittag in die Gärten von Orotava. Benommen sah Humboldt die ersten Gewächse der Neuen Welt. Der Anblick einer haarigen Spinne, die sich auf einem Palmenstamm sonnte, erfüllte ihn mit Schrecken und Glück. Dann erst bemerkte er den Drachenbaum.

Er drehte sich um, doch Bonpland war verschwunden. Der Baum war riesenhaft und wohl Jahrtausende alt. Er war hier gewesen noch vor den Spaniern und vor den alten Völkern. Er war dagewesen vor Christus und Buddha, Platon und Tamerlan. Humboldt horchte an seiner Uhr. Wie sie, tickend, die Zeit in sich trug, so wehrte dieser Baum die Zeit ab: eine Klippe, an der ihr Fluß sich brach. Humboldt berührte den schrundigen Stamm. Weit droben liefen die Äste auseinander, das Zwitschern Hunderter Vögel durchdrang die Luft. Zärtlich strich er über die Rinde. Alles starb, alle Menschen, alle Tiere, immerzu. Nur einer nicht. Er legte seine Wange ans Holz, dann wich er zurück und sah erschrocken um sich, ob ihn jemand gesehen hatte. Schnell wischte er die Tränen weg und machte sich auf die Suche nach Bonpland.

Der Franzose? Ein Fischer beim Hafen zeigte auf eine Holzhütte.

Humboldt öffnete die Tür und sah Bonplands nackten Rücken über einer braunen, nackten Frau. Er schlug die Tür zu, ging eilig zum Schiff, blieb nicht stehen, als er Bonplands Laufschritt hinter sich hörte, und wurde auch nicht langsamer, als Bonpland, das Hemd über die Schulter geworfen, die Hose noch über dem Arm, atemlos um Verzeihung bat.

Wenn so etwas noch einmal vorfalle, sagte Humboldt, betrachte er die Zusammenarbeit als beendet.

Also bitte, keuchte Bonpland, während er im Laufen sein Hemd anzog. Manchmal überkomme es einen, sei das so schwer zu verstehen? Humboldt sei doch auch ein Mann!

Humboldt forderte ihn auf, an seine Verlobte zu denken.

Habe er nicht, sagte Bonpland und stieg in seine Hose.

Er habe niemanden!

Der Mensch sei kein Tier, sagte Humboldt.

Manchmal doch, sagte Bonpland.

Humboldt fragte, ob er nie Kant gelesen habe.

Ein Franzose lese keine Ausländer.

Er wolle das nicht diskutieren, sagte Humboldt. Noch einmal so etwas, und ihre Wege würden sich trennen. Ob er das akzeptieren könne?

Großer Gott, sagte Bonpland.

Ob er das akzeptieren könne?


Bonpland murmelte etwas Unverständliches und schloß seine Hose.

Einige Tage später überfuhr das Schiff den Wendekreis.

Humboldt legte den Fisch, dessen Schwimmblase er gerade im Licht einer abgedämpften Öllampe sezierte, zur Seite und sah zu den klar gestochenen Punkten des südlichen Kreuzes auf. Die Sternbilder der neuen Hemisphäre, erst zum Teil in den Atlanten erfaßt. Die andere Hälfte von Erde und Himmel.

Unversehens gerieten sie in einen Molluskenschwarm.

Die Gegenströmung der roten Quallen war so heftig, daß das Schiff sich langsam rückwärts bewegte. Bonpland fischte zwei der Tiere heraus. Er fühle sich seltsam, sagte er. Er wisse nicht, wieso, aber etwas sei hier nicht in Ordnung.

Am nächsten Morgen brach das Fieber aus. Unter Deck stank es erbärmlich, nachts wimmerten die Kranken, selbst an freier Luft roch es nach Erbrochenem.

Der Schiffsarzt hatte keine Chinarinde mitgenommen: Neumodisches Zeug, Aderlässe seien erprobt und viel wirksamer! Ein junger Matrose aus Barcelona verblutete bei der dritten Behandlung. Eines anderen Delirium war so stark, daß er davonzufliegen versuchte, erst nach einigen Flügelschlägen abstürzte und fast ertrunken wäre, hätte man nicht sofort ein Boot zu Wasser gelassen und ihn zu fassen bekommen. Während Bonpland krank in seiner Koje lag, kochendheißen Rum trank und für keine Arbeit zu gebrauchen war, zerschnitt Humboldt die beiden Mollusken unter dem Mikroskop, bestimmte viertelstündlich Luftdruck, Himmelsfarbe und Was-sertemperatur, ließ alle dreißig Minuten ein Senkblei hinab und trug die Ergebnisse in ein dickes Logbuch ein.

Gerade jetzt, erklärte er dem röchelnden Bonpland, dürfe man sich keine Schwäche erlauben. Die Arbeit helfe nämlich. Zahlen bannten Unordnung. Selbst die des Fiebers.

Bonpland fragte ihn, ob er selbst nicht wenigstens ein kleines bißchen seekrank sei.

Er wisse es nicht. Er habe sich entschlossen, es zu ignorieren, also bemerke er es nicht. Natürlich müsse er sich manchmal übergeben. Doch eigentlich falle ihm das kaum mehr auf.

Am Abend mußte der nächste Tote unter Wasser.

Dies beunruhige ihn, sagte Humboldt zum Kapitän.

Das Fieber dürfe seine Expedition nicht gefährden. Er habe entschieden, nicht bis Veracruz mitzufahren, sondern in vier Tagen von Bord zu gehen.

Der Kapitän fragte, ob er ein guter Schwimmer sei.

Das sei nicht nötig, sagte Humboldt, gegen sechs Uhr früh in drei Tagen werde man Inseln sehen, einen Tag später das Festland erreichen. Er habe es ausgerechnet.

Der Kapitän erkundigte sich, ob es gerade nichts zu zerschneiden gebe.

Stirnrunzelnd fragte Humboldt, ob man sich an ihm belustigen wolle.

Keineswegs, sondern bloß an die Kluft zwischen Theorie und Praxis erinnern. Berechnungen in Ehren, aber dies sei keine Schulaufgabe, dies sei der Ozean. Niemand könne Strömungen und Winde voraussagen. So genau sei das Auftauchen von Land einfach nicht vorherzusehen.

Am frühen Morgen des dritten Tages bildeten sich langsam die Umrisse einer Küste im Dunst.


Trinidad, sagte Humboldt ruhig.

Wohl kaum. Der Kapitän wies auf die Seekarte.

Die sei nicht exakt, sagte Humboldt. Die Entfernung zwischen altem und neuem Kontinent sei offenbar falsch eingeschätzt worden. Es habe noch niemand die Strö-

mungen gewissenhaft gemessen. Wenn es recht sei, werde er morgen früh nach Terra Firma übersetzen.

Vor der Mündung eines großen Flusses gingen sie von Bord. Seine Kraft war so gewaltig, daß das Meer aus schäu-mendem Süßwasser zu bestehen schien. Während drei Boote die Kisten mit ihrer Ausrüstung an Land brachten, verabschiedete sich Humboldt in tadellos preußischer Uniform salutierend vom Kapitän. Noch im Boot, das sie in Richtung des träge vor ihnen schaukelnden Festlands trug, begann er seinem Bruder von der hellen Luft, dem warmen Wind, den Kokosbäumen und Flamingos zu schreiben. Ich weiß nicht, wann dies eintreffen wird, doch sieh zu, daß Du es in die Zeitung bekommst. Die Welt soll von mir erfahren. Ich müßte mich sehr irren, wenn ich ihr gleichgültig bin.


Der

Lehrer


Wer den Professor nach frühen Erinnerungen fragte, bekam zur Antwort, daß es so etwas nicht gebe. Erinnerungen seien, anders als Kupferstiche oder Postsendungen, undatiert. Man finde Dinge in seinem Gedächtnis vor, welche man manchmal durch Überlegung in die richtige Reihenfolge bringen könne.

Leblos und zweitklassig fühlte sich etwa die Erinnerung an den Nachmittag an, als er seinen Vater beim Ab-zählen des Lohnes korrigiert hatte. Vielleicht hatte er sie zu oft erzählen hören; sie schien ihm zurechtgebogen und unwirklich. Jede andere hatte mit seiner Mutter zu tun.

Er war gefallen, sie tröstete ihn; er weinte, sie wischte die Tränen weg; er konnte nicht schlafen, sie sang ihm vor; ein Junge aus der Nachbarschaft wollte ihn prügeln, aber sie sah es, rannte ihm nach, bekam ihn zu fassen, klemmte ihn zwischen die Knie und schlug ihm ins Gesicht, bis er blutig und taub davontappte. Er liebte sie unsagbar. Er würde sterben, stieße ihr etwas zu. Das war keine Re-densart. Er wußte, daß er es nicht überleben würde. So war es gewesen, als er drei Jahre alt war, und dreißig Jahre später war es nicht anders.

Sein Vater war Gärtner, hatte meist dreckige Hände, verdiente wenig, und wann immer er sprach, beklagte er sich oder gab Befehle. Ein Deutscher, sagte er immer wieder, während er müde die abendliche Kartoffelsuppe aß, sei jemand, der nie krumm sitze. Einmal fragte Gauß: Nur das? Reiche das denn schon, um ein Deutscher zu sein? Sein Vater überlegte so lange, daß man es kaum mehr glauben konnte. Dann nickte er.

Seine Mutter war mollig und melancholisch, und au-

ßer Kochen, Waschen, Träumen und Weinen sah er sie nie etwas tun. Schreiben oder lesen konnte sie nicht.

Schon früh war ihm aufgefallen, daß sie alterte. Ihre Haut verlor an Spannung, ihr Körper seine Form, ihre Augen hatten immer weniger Glanz, und jedes Jahr waren auf ihrem Gesicht neue Falten. Er wußte, daß es sich mit allen Menschen so verhielt, aber in ihrem Fall war es nicht zu ertragen. Sie verging vor seinen Augen, und er konnte nichts dagegen machen.

Die meisten späteren Erinnerungen kreisten um die Trägheit. Lange hatte er gemeint, daß die Leute Theater spielten oder einem Ritual anhingen, das sie verpflichte-te, immer erst nach einer kurzen Pause zu sprechen oder zu handeln. Manchmal konnte er sich anpassen, dann wieder war es nicht auszuhalten. Erst allmählich kam er dahinter, daß sie diese Pausen brauchten. Warum dachten sie so langsam, so schwer und mühevoll? Als würden Gedanken von einer Maschine hervorgebracht, die man zuvor anwerfen und in Gang kurbeln mußte, als wären sie nicht lebendig und bewegten sich von selbst. Ihm fiel auf, daß man sich ärgerte, wenn er die Pausen nicht einhielt.

Er tat sein Bestes, aber oft gelang es ihm nicht.

Auch die schwarzen Zeichen in den Büchern, welche zu den meisten Erwachsenen sprachen, nicht aber zu seiner Mutter und zu ihm, störten ihn. An einem Sonntag-nachmittag ließ er sich von seinem Vater, aber wie stehst du denn da, Junge, einige erklären: das mit dem großen Balken, das unten weit ausschwingende, den Halb- und den ganzen Kreis. Dann betrachtete er die Seite, bis sich die noch unbekannten ganz von allein ergänzten und da plötzlich Wörter standen. Er blätterte um, diesmal ging es schneller, ein paar Stunden später konnte er lesen, und noch am selben Abend war er mit dem Buch, das übrigens langweilig war und immerzu von Christi Tränen und der Liebesreue des Sünderherzens redete, fertig. Er brachte es seiner Mutter, um auch ihr die Zeichen zu er-klären, aber sie schüttelte traurig lachend den Kopf. In diesem Moment begriff er, daß niemand den Verstand benutzen wollte. Menschen wollten Ruhe. Sie wollten essen und schlafen, und sie wollten, daß man nett zu ihnen war. Denken wollten sie nicht.

Der Lehrer in der Schule hieß Büttner und prügelte gern. Er tat, als wäre er streng und asketisch, und nur manchmal verriet sein Gesichtsausdruck, wieviel Spaß ihm das Zuschlagen machte. Am liebsten stellte er ihnen Aufgaben, an denen sie lange arbeiten mußten und die trotzdem kaum ohne Fehler zu lösen waren, so daß es zum Schluß einen Anlaß gab, den Stock hervorzuholen.

Es war das ärmste Viertel Braunschweigs, keines der Kinder hier würde eine höhere Schule besuchen, niemand mit etwas anderem arbeiten als den Händen. Er wußte, daß Büttner ihn nicht leiden konnte. So stumm er sich auch verhielt und so sehr er versuchte, langsam wie alle zu antworten, spürte er doch Büttners Mißtrauen, und daß der Lehrer nur auf einen Grund wartete, ihn ein wenig fester zu schlagen als den Rest.


Und dann gab er ihm einen Grund.

Büttner hatte ihnen aufgetragen, alle Zahlen von eins bis hundert zusammenzuzählen. Das würde Stunden dauern, und es war beim besten Willen nicht zu schaffen, ohne irgendwann einen Additionsfehler zu machen, für den man bestraft werden konnte. Na los, hatte Büttner gerufen, keine Maulaffen feilhalten, anfangen, los! Später hätte Gauß nicht mehr sagen können, ob er an diesem Tag müder gewesen war als sonst oder einfach nur ge-dankenlos. Jedenfalls hatte er sich nicht unter Kontrolle gehabt und stand nach drei Minuten mit seiner Schiefertafel, auf die nur eine einzige Zeile geschrieben war, vor dem Lehrerpult.

So, sagte Büttner und griff nach dem Stock. Sein Blick fiel auf das Ergebnis, und seine Hand erstarrte. Er fragte, was das solle.

Fünftausendfünfzig.

Was?

Gauß versagte die Stimme, er räusperte sich, er schwitzte. Er wünschte nur, er wäre noch auf seinem Platz und rechnete wie die anderen, die mit gesenktem Kopf dasa-

ßen und taten, als hörten sie nicht zu. Darum sei es doch gegangen, eine Addition aller Zahlen von eins bis hundert. Hundert und eins ergebe hunderteins. Neunund-neunzig und zwei ergebe hunderteins. Achtundneunzig und drei ergebe hunderteins. Immer hunderteins. Das könne man fünfzigmal machen. Also fünfzig mal hunderteins.

Büttner schwieg.

Fünftausendfünfzig, wiederholte Gauß, in der Hoffnung, daß Büttner es ausnahmsweise verstehen würde.


Fünfzig mal hunderteins sei fünftausendfünfzig. Er rieb sich die Nase. Er war nahe am Weinen.

Gott verdamm mich, sagte Büttner. Dann schwieg er lange. Auf seinem Gesicht arbeitete es: Er sog die Wangen ein und machte ein langes Kinn, er rieb sich die Stirn und klopfte sich an die Nase. Dann schickte er Gauß auf seinen Platz. Er solle sich setzen, den Mund halten und nach dem Unterricht dableiben.

Gauß holte Luft.

Widerworte, sagte Büttner, und sofort setze es den Knüttel.

Also erschien Gauß nach der letzten Lektion mit gesenktem Kopf vor dem Lehrerpult. Büttner verlangte sein Ehrenwort, und zwar bei Gott, der alles sehe, daß er das allein ausgerechnet habe. Gauß gab es ihm, aber als er erklären wollte, daß doch nichts daran sei, daß man ein Problem nur ohne Vorurteil und Gewohnheit betrachten müsse, dann zeige es von selbst seine Lösung, unterbrach ihn Büttner und reichte ihm ein dickes Buch. Höhere Arithmetik: ein Steckenpferd von ihm. Gauß solle es mit nach Hause nehmen und durchsehen. Und zwar vorsichtig. Eine geknickte Seite, ein Fleck, der Abdruck eines Fingers, und es setze den Knüttel, daß der Herrgott gnaden möge.

Am nächsten Tag gab er das Buch zurück.

Büttner fragte, was das solle. Natürlich sei es schwierig, aber so schnell gebe man nicht auf!

Gauß schüttelte den Kopf, wollte erklären, konnte nicht. Seine Nase lief. Er mußte schniefen.

Na was denn!

Er sei fertig, stotterte er. Es sei interessant gewesen, er wolle sich bedanken. Er starrte Büttner an und betete, daß es genug sein würde.

Man dürfe ihn nicht belügen, sagte Büttner. Das sei das schwierigste Lehrbuch deutscher Zunge. Niemand könne es an einem Tag studieren, schon gar nicht ein Achtjähriger mit triefender Nase.

Gauß wußte nicht, was er sagen sollte.

Büttner griff mit unsicheren Händen nach dem Buch.

Er könne sich auf etwas gefaßt machen, jetzt werde er ihn befragen!

Eine halbe Stunde später sah er Gauß mit leerer Miene an. Er wisse, daß er kein guter Lehrer sei. Er habe weder eine Berufung noch besondere Fähigkeiten. Aber jetzt sei es soweit: Wenn Gauß nicht aufs Gymnasium komme, habe er umsonst gelebt. Er musterte ihn mit verschwommenem Ausdruck, dann, wahrscheinlich um seine Rührung zu bekämpfen, faßte er nach dem Stock, und Gauß erhielt die letzte Tracht Prügel seines Lebens.

Am selben Nachmittag klopfte ein junger Mann an die Tür des Elternhauses. Er sei siebzehn Jahre alt, hei-

ße Martin Bartels, studiere Mathematik und arbeite als Büttners Assistent. Er bitte um ein paar Worte mit dem Sohn des Hauses.

Er habe nur einen, sagte der Vater, und der sei acht Jahre alt.

Eben den, sagte Bartels. Er bitte um Erlaubnis, mit dem jungen Herrn dreimal die Woche Mathematik treiben zu dürfen. Von Unterricht wolle er nicht sprechen, denn der Begriff scheine ihm unpassend, er lächelte nervös, für eine Tätigkeit, bei der er vielleicht mehr zu lernen habe als der Schüler.


Der Vater forderte ihn auf, gerade zu stehen. Das sei alles Blödsinn! Er dachte eine Weile nach. Andererseits spreche nichts dagegen.

Ein Jahr lang arbeiteten sie zusammen. Zu Beginn freute Gauß sich auf die Nachmittage, die immerhin die Gleichförmigkeit der Wochen unterbrachen, obwohl er für Mathematik nicht viel übrig hatte, Lateinstunden wären ihm lieber gewesen. Dann wurde es langweilig.

Bartels dachte zwar nicht ganz so schwerfällig wie die anderen, aber mühsam war es auch mit ihm.

Bartels erzählte, daß er mit dem Rektor des Gymnasiums gesprochen habe. Wenn sein Vater es erlaube, erhalte Gauß dort eine Freistelle.

Gauß seufzte.

Es gehöre sich nicht, sagte Bartels vorwurfsvoll, daß ein Kind immer traurig sei!

Er überlegte, die Bemerkung schien ihm interessant.

Warum er traurig war? Vielleicht, weil er sah, wie seine Mutter starb. Weil die Welt sich so enttäuschend ausnahm, sobald man erkannte, wie dünn ihr Gewebe war, wie grob gestrickt die Illusion, wie laienhaft vernäht ihre Rückseite. Weil nur Geheimnis und Vergessen es erträglich machten. Weil man es ohne den Schlaf, der einen täglich aus der Wirklichkeit riß, nicht aushielt. Nicht Wegsehenkönnen war Traurigkeit. Wachsein war Traurigkeit. Erkennen, armer Bartels, war Verzweiflung. Warum, Bartels? Weil die Zeit immer verging.

Gemeinsam überzeugten Bartels und Büttner seinen Vater davon, daß er nicht in der Spinnerei arbeiten, sondern aufs Gymnasium sollte. Unwillig stimmte der Vater zu und gab ihm den Rat mit, sich immer, was auch geschehe, aufrecht zu halten. Schon längst hatte Gauß Gärtnern bei der Arbeit zugesehen und verstanden, daß seinen Vater nicht die Unmoral der Menschen, sondern der chronische Rückenschmerz seines Berufsstandes um-trieb. Er bekam zwei neue Hemden und einen Freitisch beim Pastor.

Die Höhere Schule enttäuschte ihn. Viel lernte man wirklich nicht: Etwas Latein, Rhetorik, Griechisch, Mathematik auf lachhaftem Niveau, ein bißchen Theologie.

Die neuen Mitschüler waren nicht viel klüger als die alten, die Lehrer schlugen zwar nicht seltener, aber immerhin weniger fest. Bei ihrem ersten Mittagessen fragte ihn der Pastor, wie es in der Schule gehe.

Leidlich, antwortete er.

Der Pastor fragte, ob ihm das Lernen schwerfalle.

Er zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf.

Hüte dich, sagte der Pastor.

Gauß sah überrascht auf.

Der Pastor blickte ihn streng an. Stolz sei eine Tod-sünde!

Gauß nickte.

Das solle er nie vergessen, sagte der Pastor. Sein Leben lang nicht. Wie klug man auch sei, man habe demütig zu bleiben.

Warum?

Der Pastor bat um Verzeihung. Er habe wohl falsch verstanden.

Nichts, sagte Gauß, gar nichts.

Doch, sagte der Pastor, er wolle das hören.

Er meine es rein theologisch, sagte Gauß. Gott habe einen geschaffen, wie man sei, dann aber solle man sich ständig bei ihm dafür entschuldigen. Logisch sei das nicht.

Der Pastor äußerte die Vermutung, daß etwas mit seinen Ohren nicht stimme.

Gauß holte ein sehr schmutziges Taschentuch hervor und schneuzte sich. Er sei überzeugt, daß er etwas miß-

verstehe, aber ihm erscheine das wie eine mutwillige Ver-kehrung von Ursache und Wirkung.

Bartels besorgte ihm einen neuen Freitisch bei Hofrat Zimmermann, einem Professor an der Göttinger Universität. Zimmermann war hager und leutselig, betrachtete ihn nie ohne eine höfliche Furcht und nahm ihn mit zu einer Audienz beim Herzog von Braunschweig.

Der Herzog, ein freundlicher Herr mit zuckenden Augenlidern, erwartete sie in einem goldgeschmückten Raum, in dem so viele Kerzen brannten, daß es keine Schatten gab, nur Reflexionen in den Deckenspiegeln, die einen zweiten, gleichsam umgefalteten Raum über ihren Köpfen schweben ließen. Das sei also das kleine Genie?

Gauß machte die Verbeugung, die man ihm beigebracht hatte. Er wußte, daß es bald keine Herzöge mehr geben würde. Dann würde man von absoluten Herr-schern nur mehr in Büchern lesen, und der Gedanke, vor einem zu stehen, sich zu verneigen und auf sein Macht-wort zu warten, käme jedem Menschen fremd und mär-chenhaft vor.

Rechne was, sagte der Herzog.

Gauß hustete, ihm war heiß und schwindlig. Die Kerzen verbrauchten fast die gesamte Luft. Er sah in die Flammen, und plötzlich wurde ihm klar, daß Professor Lichtenberg unrecht hatte und die Phlogistonhypothese unnötig war. Es war kein Lichtstoff, der brannte, sondern die Luft selbst.

Mit Verlaub, sagte Zimmermann, da liege ein Mißverständnis vor. Der junge Mann sei kein Rechenkünstler.

Im Gegenteil, er sei nicht einmal sehr gut im Rechnen.

Doch Mathematik habe, wie Seine Hoheit natürlich wisse, nichts mit Additionskunst zu tun. Vor zwei Wochen habe der Junge, ganz auf sich gestellt, Bodes Gesetz der Planetenentfernungen abgeleitet, danach zwei ihm unbekannte Theoreme Eulers neu entdeckt. Auch zur kalen-darischen Arithmetik habe er Erstaunliches beigetragen: Seine Formel zur Berechnung des Osterdatums finde mittlerweile in ganz Deutschland Verwendung. Seine Leistungen in der Geometrie seien außerordentlich. Einiges sei bereits publiziert, wenn auch natürlich unter dem Namen des einen oder anderen Lehrers, da man den Knaben nicht der Verderblichkeit frühen Ruhmes ausset-zen wolle.

Er interessiere sich mehr fürs Lateinische, sagte Gauß heiser. Auch könne er Dutzende Balladen.

Der Herzog fragte, ob da jemand geredet habe.

Zimmermann stieß Gauß in die Rippen. Er bitte um Entschuldigung, der junge Mann stamme aus groben Verhältnissen, sein Benehmen lasse noch zu wünschen übrig. Doch er verbürge sich dafür, daß nur ein Stipendium des Hofes zwischen ihm und jenen Leistungen stehe, welche den Ruhm des Vaterlandes mehren würden.

Also werde jetzt nichts gerechnet, fragte der Herzog.

Leider nein, sagte Zimmermann.

Na ja, sagte der Herzog enttäuscht. Dann solle er das Stipendium trotzdem haben. Und wiederkommen, wenn er etwas vorzeigen könne. Er sei sehr für die Wissenschaft.

Sein liebster Patensohn, der kleine Alexander, sei eben aufgebrochen, um in Südamerika Blumen zu suchen.

Vielleicht züchte man hier ja noch so einen Kerl! Er machte eine entlassende Handbewegung, und wie sie es geübt hatten, gingen Zimmermann und Gauß unter Verbeugungen rückwärts durch die Tür.

Bald darauf kam Pilâtre de Rozier in die Stadt. Gemeinsam mit dem Marquis d’Arland war er in einem Korb, welchen die Montgolfiers an einem mit Heißluft gefüllten Beutel befestigt hatten, fünfeinhalb Meilen über Paris geflogen. Nach der Landung hatten, so hieß es, zwei Männer den Marquis stützen und wegführen müssen, er habe Unsinn geredet und behauptet, geflügelte Licht-wesen mit Frauenbüsten und Vogelschnäbeln hätten sie umflogen. Erst nach Stunden hatte er sich beruhigt und alles auf die Überreizung seiner Nerven geschoben. Pilâ-

tre dagegen war gefaßt geblieben und hatte auf alle Fragen geantwortet. So besonders sei es nicht gewesen; man meine, am gleichen Ort zu bleiben, während der Erdboden unter einem in die Tiefe sinke. Doch das verstehe nur, wer es erlebt habe. Jeder andere müsse es entweder für größer oder für gewöhnlicher halten, als es sei.

Pilâtre war mit eigenem Fluggerät und zwei Assistenten auf dem Weg nach Stockholm. Er hatte in einem der billigeren Gasthöfe übernachtet und wollte eben weiter-ziehen, als der Herzog ihn um eine Vorführung bitten ließ.

Pilâtre sagte, das sei aufwendig und komme ihm nicht gelegen.


Der Bote gab zu bedenken, daß der Herzog es nicht gewohnt sei, seine Gastfreundschaft mit Grobheit erwidert zu sehen.

Welche Gastfreundschaft, fragte Pilâtre. Er habe für seine Unterkunft bezahlt, und allein die Vorbereitung des Ballons würde ihn zwei Reisetage kosten.

Vielleicht könne man in Frankreich so mit der Obrigkeit sprechen, sagte der Bote, dort sei ja allerhand möglich. In Braunschweig aber solle er sich gut überlegen, ihn mit solch einer Antwort zurückzusenden.

Pilâtre fügte sich. Er hätte es wissen müssen, sagte er müde, in Hannover sei das gleiche passiert, in Bayern ebenso. Er werde also in Christi Namen morgen nachmittag vor den Toren dieser dreckigen Stadt in die Luft: steigen.

Am nächsten Morgen klopfte jemand an seine Tür. Ein Junge stand draußen, sah mit aufmerksamen Augen zu ihm auf und fragte, ob er mitfliegen dürfe.

Mitfahren, sagte Pilâtre. Mit dem Ballon fahre man.

Man sage nicht fliegen, sondern fahren. So sei es Sitte unter Ballonleuten.

Welchen Ballonleuten?

Er sei der erste, sagte Pilâtre, und er habe es so verfügt.

Und nein, natürlich könne keiner mitfahren. Er tätschelte ihm die Wange und wollte die Tür schließen.

Das sei sonst nicht seine Art, sagte der Junge und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. Aber sein Name sei Gauß, er sei nicht unbekannt, und in Kürze werde er so große Entdeckungen machen wie Isaac Newton. Das sage er nicht aus Eitelkeit, sondern weil die Zeit knapp und es nötig sei, daß er an dem Flug teilnehme.


Man sehe doch die Sterne von da oben besser, nicht wahr? Klarer und nicht verschleiert vom Dunst?

Darauf könne er wetten, sagte Pilâtre.

Deshalb müsse er mir. Er wisse viel über Sterne. Man könne ihn der schärfsten Prüfung unterziehen.

Pilâtre lachte und fragte, wer einem kleinen Mann denn beibringe, so schön zu reden. Er überlegte eine Weile. Na gut, sagte er schließlich, wenn es um die Sterne gehe!

Am Nachmittag, vor einer Menschenmenge, dem Herzog und dem salutierenden Gardebataillon, füllte ein Feuer durch zwei Schläuche den Pergamentbeutel allmählich mit Hitze. Niemand hatte erwartet, daß es so lange dauern würde. Die Hälfte der Zuschauer war bereits gegangen, als der Ballon sich rundete, und kaum ein Viertel war noch da, als er zu steigen begann und zögernd vom Boden abhob. Die Seile strafften sich, Pilâtres Assistenten lösten die Schläuche, der kleine Korb ruckte, und Gauß, der vor sich hin flüsternd auf dem geflochtenen Boden kauerte, wäre schon hochgesprungen, hätte Pilâtre ihn nicht hinuntergedrückt.

Noch nicht, keuchte er. Betest du?

Nein, flüsterte Gauß, er zähle Primzahlen, das mache er immer, wenn er nervös sei.

Pilâtre hob den Daumen, um die Windrichtung zu prüfen. Der Ballon würde steigen, dann treiben, wohin der Wind wollte, dann wieder sinken, wenn die Luft in ihm abkühlte. Eine Möwe schrie ganz nahe am Korb.

Noch nicht, rief Pilâtre, noch nicht. Noch nicht. Jetzt!

Und halb am Kragen, halb an den Haaren riß er Gauß empor.


Das in die Ferne gekrümmte Land. Der tiefe Horizont, die Hügelkuppen, halb aufgelöst im Dunst. Die heraufstarrenden Menschen, winzige Gesichter um das noch brennende Feuer, daneben die Dächer der Stadt.

Rauchwölkchen, festgesteckt an Schornsteinen. Ein Weg schlängelte sich durch das Grün, darauf ein insektenklei-ner Esel. Gauß klammerte sich an den Korbrand, und erst als er den Mund zumachte, wurde ihm klar, daß er die ganze Zeit geschrien hatte.

So sieht Gott die Welt, sagte Pilâtre.

Er wollte antworten, aber er hatte keine Stimme mehr.

Mit welcher Kraft die Luft sie schüttelte! Und die Sonne – warum so viel heller hier oben? Seine Augen taten weh, aber er konnte sie nicht schließen. Und der Raum selbst: eine Gerade von jedem Punkt zu jedem, von diesem Dach zu dieser Wolke, zur Sonne, zum Dach zu-rück. Aus Punkten Linien, aus Linien Flächen und aus Flächen Körper, doch damit war es nicht getan. Seine feine Biegung, von hier oben war sie fast zu sehen. Er spürte Pilâtres Hand auf seiner Schulter. Nie mehr hinab. Hinauf und weiter hinauf, bis kein Land mehr unter ihnen wäre. Eines Tages würden das Menschen erleben.

Dann würde jeder fliegen, als wäre es normal, aber dann würde er tot sein. Er spähte aufgeregt in die Sonne, das Licht veränderte sich. Die Dämmerung schien wie Nebel in den noch hellen Himmel zu steigen. Ein paar letzte Flammen, das Rot am Horizont, dann keine Sonne mehr, dann die Sterne. Drunten ging es nie so schnell.

Wir sinken schon, sagte Pilâtre.

Nein, bettelte er, noch nicht! So viele von ihnen, und jede Minute mehr. Jeder eine sterbende Sonne. Jeder verging, und alle folgten ihren Bahnen, und wie es Formeln gab für jeden Planeten, der um eine Sonne, und jeden Mond, der um einen Planeten kreiste, gab es auch eine Formel, unendlich kompliziert wohl, aber vielleicht auch nicht, womöglich versteckt in ihrer eigenen Einfachheit, die all diese Bewegungen beschrieb, jede Drehung jedes einzelnen um jeden; vielleicht mußte man nur lange genug schauen. Seine Augen schmerzten. Ihm war, als hätte er seit langem nicht geblinzelt.

Gleich sind wir unten, sagte Pilâtre.

Noch nicht! Er stellte sich auf die Zehenspitzen, als könnte das helfen, starrte hinauf, begriff zum erstenmal, was Bewegung war, was ein Körper, was vor allem der Raum, den sie zwischen sich aufspannten und der sie alle, auch ihn, Pilâtre und diesen Korb, umfaßt hielt. Der Raum, der –

Sie krachten in das Holzgestell eines Heustapels, ein Seil riß, der Korb kippte, Gauß rollte in eine Lehmpfüt-ze, Pilâtre fiel unglücklich, verstauchte sich den Arm und stieß, als er den Riß in der Pergamenthaut sah, so unselige Flüche aus, daß der von seinem Haus herbeilaufende Bauer stehenblieb und drohend seinen Spaten aufhob.

Atemlos kamen die Assistenten und falteten den zerknit-ternden Ballon zusammen. Pilâtre hielt sich den Arm und gab Gauß einen schmerzhaft festen Klaps.

Er wisse es jetzt, sagte Gauß.

Na was denn?

Daß alle parallelen Linien einander berührten.

Fein, sagte Pilâtre.

Sein Herz raste. Er überlegte, ob er dem Mann erklä-

ren sollte, daß er nur ein geschwungenes Ruder am Korb anbringen mußte, um den Luftstrom umzulenken und den Ballon in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Aber dann schwieg er. Er war nicht gefragt worden, und es war nicht höflich, den Leuten Ideen aufzudrängen. Es lag so nahe, daß es bald einem anderen einfallen würde.

Jetzt aber wollte dieser Mann ein dankbares Kind sehen.

Mît Mühe brachte Gauß ein Lächeln auf sein Gesicht, breitete die Arme aus und verneigte sich wie eine Marionette. Pilâtre freute sich, lachte und strich ihm über den Kopf.


Die

Höhle


Nach einem halben Jahr in Neuandalusien hatte Humboldt alles untersucht, was nicht Füße und Angst genug hatte, ihm davonzulaufen. Er hatte die Farbe des Himmels, die Temperatur der Blitze und die Schwere des nächtlichen Rauhreifs gemessen, er hatte Vogelkot gekostet, die Erschütterungen der Erde erforscht und war in die Höhle der Toten gestiegen.

Mit Bonpland bewohnte er ein weißes Holzhaus am Rand der erst kürzlich von einem Beben beschädigten Stadt. Noch immer rissen Stöße die Menschen nachts aus dem Schlaf, noch immer hörte man, wenn man sich hin-legte und den Atem anhielt, die Bewegungen tief drun-ten. Humboldt grub Löcher, ließ Thermometer an langen Fäden in Brunnen hinab und legte Erbsen auf Trommel-felle. Das Beben werde gewiß wiederkommen, sagte er fröhlich. Die ganze Stadt liege bald in Trümmern.

Abends aßen sie beim Gouverneur, danach wurde gebadet. Stühle wurden ins Flußwasser gestellt, in leichter Kleidung setzte man sich in die Strömung. Hin und wieder schwammen kleine Krokodile vorbei. Einmal biß ein Fisch dem Neffen des Vizekönigs drei Zehen ab. Der Mann, er hieß Don Oriendo Casaules und hatte einen gewaltigen Schnurrbart, zuckte und starrte ein paar Sekunden reglos vor sich hin, bevor er mehr ungläubig als erschrocken seinen nun unvollständigen Fuß aus dem rot verdunkelten Wasser zog. Er sah mit suchendem Ausdruck um sich, dann sank er zur Seite und wurde von Humboldt aufgefangen. Mit dem nächsten Schiff kehrte er zurück nach Spanien.

Häufig kamen Frauen zu Besuch: Humboldt zählte die Läuse in ihren geflochtenen Haaren. Sie kamen in Gruppen, flüsterten miteinander und kicherten über den kleinen Mann in seiner Uniform mit der im linken Auge festgeklemmten Lupe. Bonpland litt unter ihrer Schönheit. Er fragte, wozu eine Statistik über Läuse gut sei.

Man wolle wissen, sagte Humboldt, weil man wissen wolle. Noch habe niemand das Vorkommen dieser bemerkenswert widerstandsfähigen Tiere auf den Köpfen der Bewohner der Äquinoktialgegenden untersucht.

Nicht weit von ihrem Haus wurden Menschen ver-steigert. Muskulöse Männer und Frauen, Ketten um die Fußgelenke, sahen mit leeren Blicken die Landbesitzer an, welche in ihren Mündern stocherten, ihnen in die Ohren sahen und sich auf die Knie niederließen, um ihre After zu betasten. Sie befühlten ihre Fußsohlen, zogen an ihren Nasen, prüften ihre Haare und befingerten ihr Geschlecht. Meist gingen sie danach, ohne zu kaufen, es war ein schrumpfender Wirtschaftszweig. Humboldt erstand drei Männer und ließ ihnen die Ketten abnehmen. Sie begriffen nicht. Sie seien jetzt frei, ließ Humboldt dolmetschen, sie könnten gehen. Sie stierten ihn an.

Frei! Einer fragte, wohin sie sollten. Wohin ihr wollt, antwortete Humboldt. Er gab ihnen Geld. Zögernd un-tersuchten sie die Münzen mit den Zähnen. Einer setzte sich auf den Boden, schloß die Augen und rührte sich nicht mehr, als gäbe es nichts auf der Welt, das ihn interessieren könnte. Humboldt und Bonpland entfernten sich unter den spöttischen Blicken der Umstehenden. Ein paarmal drehten sie sich um, aber keiner der Freige-lassenen sah ihnen nach. Am Abend begann es zu regnen, in der Nacht erschütterte ein neues Beben die Stadt. Am nächsten Morgen waren die drei verschwunden. Niemand wußte, wohin, und sie tauchten nie mehr auf. Bei der nächsten Versteigerung blieben Humboldt und Bonpland zu Hause, arbeiteten bei geschlossenen Läden und gingen erst hinaus, als es vorbei war.

Die Reise zur Chaymas-Mission führte durch dichten Wald. Bei jedem Schritt sahen sie unbekannte Pflanzen.

Der Boden schien nicht genug Platz zu haben für so viel Bewuchs: Baumstämme preßten sich aneinander, Pflanzen überdeckten andere Pflanzen, Lianen strichen über ihre Schultern und Köpfe. Die Mönche der Mission be-grüßten sie freundlich, obgleich sie nicht verstanden, was die beiden von ihnen wollten. Der Abt schüttelte den Kopf. Dahinter stecke doch anderes! Niemand reise um die halbe Welt, um Land zu vermessen, das ihm nicht gehöre.

In der Mission lebten getaufte Indianer in Selbstver-waltung. Es gab einen indianischen Kommandanten, einen Polizeichef und sogar eine Miliz, und solange sie in allem gehorchten, ließ man sie leben, als wären sie frei.

Sie waren nackt, trugen nur einzelne Kleidungsstücke, die sie sich irgendwo verschafft hatten: einen Hut, einen Strumpf, einen Gürtel, eine auf der Schulter festgesteckte Epaulette. Humboldt brauchte eine Weile, bis er so tun konnte, als hätte er sich daran gewöhnt. Es mißfiel ihm zu sehen, an wie vielen Stellen Frauen behaart waren; das schien ihm unvereinbar mit ihrer natürlichen Würde.

Doch als er eine Bemerkung darüber zu Bonpland machte, sah ihn der so belustigt an, daß er rot wurde und zu stottern anfing.

Unweit der Mission, in der Höhle der Nachtvögel, lebten die Toten. Der alten Legenden wegen weigerten sich die Eingeborenen, sie dorthin zu begleiten. Erst nach langem Zureden kamen zwei Mönche und ein Indianer mit. Es war eine der größten Höhlen des Kontinents, ein sechzig mal neunzig Fuß großes Loch, durch das so viel Licht einfiel, daß man noch im Berginneren hundert-fünfzig Fuß weit auf Gras und unter Baumwipfeln ging.

Dann erst mußten sie Fackeln anzünden. Hier begann auch das Geschrei.

In der Dunkelheit lebten Vögel. Tausende Nester hingen wie Beutel an der Höhlendecke, der Lärm war oh-renbetäubend. Wie sie sich orientierten, wußte niemand.

Bonpland gab drei Schüsse ab, deren Hall vom Schreien übertönt wurde, und schon sammelte er zwei noch zuk-kende Körper ein. Humboldt schlug Gesteinsproben aus dem Fels, maß Temperatur, Luftdruck und Feuchtigkeit und kratzte Moos von der Wand. Ein Mönch schrie auf, als er mit seiner Sandale eine riesige Nacktschnecke zer-quetschte. Sie mußten durch einen Bach waten, die Vögel flatterten um ihre Köpfe, Humboldt preßte die Hände auf seine Ohren, die Mönche schlugen das Kreuz.

Hier, sagte der Führer, beginne das Totenreich. Er gehe nicht weiter.

Humboldt bot eine Verdoppelung des Lohnes an.

Der Führer lehnte ab. Dieser Platz sei nicht gut! Und überhaupt, was habe man hier zu suchen, der Mensch gehöre ans Licht.

Schön gesagt, brüllte Bonpland.

Licht, rief Humboldt, das sei nicht Helligkeit, sondern Wissen!

Er ging weiter, Bonpland und die Mönche folgten. Der Gang verzweigte sich, ohne Führer wußten sie nicht, wohin. Humboldt schlug vor, steh zu trennen. Bonpland und die Mönche schüttelten die Köpfe.

Dann eben links, sagte Humboldt.

Wieso links, fragte Bonpland.

Also rechts, sagte Humboldt.

Aber warum rechts?

Zum Teufel, rief Humboldt, jetzt werde es ihm zu blöd. Und er ging, den anderen voraus, nach links. Das Vogelgeschrei hallte hier unten noch lauter. Nach einer Weile erkannte man darin hohe, klickende Laute, sehr schnell hintereinander ausgestoßen. Humboldt kniete sich hin und untetsuchte die verkümmerten Pflanzen auf dem Boden. Aufgedunsene Gewächse ohne Farbe, fast formlos. Interessant, brüllte er in Bonplands Ohr, genau darüber habe er in Freiberg eine Arbeit verfaßt!

Als die beiden aufsahen, bemerkten sie, daß die Mönche nicht mehr da waren.

Abergläubische Tölpel, rief Humboldt. Weiter!

Es ging steil bergab. Um sie knatterten Flügelschläge, doch nie streifte sie eines der Tiere. Sie tasteten sich an der Wand entlang zu einem Felsdom. Die Fackeln, zu schwach, um das Gewölbe auszuleuchten, warfen ihre Schatten übergroß an die Wände. Humboldt sah auf das Thermometer: Es werde immer wärmer, er bezweifle, dass Professor Werner daran Freude hätte! Dann sah er die Gestalt seiner Mutter neben sich. Er blinzelte, doch sie blieb länger sichtbar, als es sich für eine Sinnestäuschung gehörte. Den Umhang unter dem Hals festgeknotet, den Kopf schief gelegt, geistesabwesend lächelnd, Kinn und Nase so dünn wie an ihrem letzten Tag, in den Händen einen verbogenen Regenschirm. Er schloß die Augen und zählte langsam bis zehn.

Wie bitte, fragte Bonpland.

Nichts, sagte Humboldt und hämmerte konzentriert einen Splitter aus dem Stein.

Dort hinten gehe es weiter, sagte Bonpland.

Es sei genug, sagte Humboldt.

Bonpland gab zu bedenken, daß es tiefer im Berg wohl noch unbekannte Pflanzen gebe.

Besser zurück, sagte Humboldt. Genug sei genug.

Sie folgten einem Bach in Richtung Tageslicht. Allmählich wurden die Vögel weniger, das Geschrei leiser, bald konnten sie die Fackeln löschen.

Vor der Höhle drehte der indianische Führer ihre beiden Vögel über einem Feuer, um das Fett auszulassen.

Die Federn, Schnäbel und Krallen verbrannten schon, Blut tropfte in die Flammen, Talgmasse zischte, bitterer Rauch hing über der Lichtung. Das wertvollste Fett, er-klärte er. Geruchlos und länger als ein Jahr frisch!

Nun brauchten sie zwei neue, sagte Bonpland wü-

tend.

Humboldt bat Bonpland um seine Schnapsflasche, nahm einen großen Schluck und machte sich mit einem der Mönche auf den Rückweg zur Mission, während Bonpland zurückging, um zwei andere Vögel zu schie-


ßen. Nach einigen hundert Schritten blieb Humboldt stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Wipfeln auf, die hoch über ihm den Himmel trugen.

Schall!

Schall, wiederholte der Mönch.

Wenn nicht der Geruchssinn, sagte Humboldt, dann Schall. Dieses Klicken, zurückgeworfen von den Wänden.

Offenbar orientierten sich die Tiere so.

Im Weitergehen machte er Notizen. Ein System, das der Mensch nutzen könne, in mondloser Nacht oder unter Wasser. Und das Fett: seiner Geruchlosigkeit wegen vortrefflich geeignet zur Kerzenproduktion. Schwungvoll öffnete er die Tür seiner Klosterzelle, in der ihn eine nackte Frau erwartete. Zunächst glaubte er, sie sei wegen der Läuse da oder habe eine Botschaft. Dann begriff er, daß es diesmal nicht so war und sie genau das wollte, wovon er meinte, sie wolle es, und daß es keinen Ausweg gab.

Offenbar hatte sie der Gouverneur geschickt, es ent-sprach wohl seiner Vorstellung von einem derben Scherz unter Männern. Eine Nacht und einen Tag hatte sie allein im Zimmer gewartet, hatte vor Langeweile den Sextanten auseinandergenommen, die gesammelten Pflanzen durcheinandergebracht, von dem für Präparate vorgesehenen Spiritus getrunken und ihren Rausch ausgeschla-fen. Nach dem Aufwachen hatte sie das Porträt eines lustigen Zwerges mit gespitztem Mund, in dem sie natürlich nicht Friedrich den Großen erkannte, auf nicht unbegabte Weise bunt angemalt. Jetzt, da Humboldt endlich hier war, wollte sie es schnell hinter sich bringen.

Noch während er fragte, wo sie herkomme, was sie wünsche und ob er etwas für sie tun könne, öffnete sie geschickt seine Hose. Sie war klein und rundlich und konnte kaum älter als fünfzehn sein. Er wich zurück, sie drängte nach, er stieß an die Wand, und als er sie scharf zurechtweisen wollte, hatte er sein Spanisch vergessen.

Sie heiße Ines, sagte sie, er solle ihr vertrauen.

Als sie ihm das Hemd hochzog, riß ein Knopf ab und kullerte über den Fußboden. Humboldt folgte ihm mit den Augen, bis er an die Wand stieß und umfiel. Sie legte die Arme um seinen Hals und zerrte ihn, während er murmelte, daß sie loslassen solle, er sei Beamter der preu-

ßischen Krone, in die Mitte des Zimmers.

Herrje, sagte sie, solches Herzklopfen.

Sie zog ihn mit sich auf den Teppich, und aus irgendeinem Grund ließ er zu, daß sie ihn auf den Rücken rollte und ihre Hände an ihm hinabwanderten, bis sie stutzte und lachend feststellte, da tue sich ja nicht viel. Er blickte auf ihren gebeugten Rücken, die Zimmerdecke, die im Wind zitternden Palmenblätter vor dem Fenster.

Gleich, sagte sie. Er solle Vertrauen haben!

Die Blätter waren kurz und spitz, diesen Baum hatte er noch nie untersucht. Er wollte sich aufrichten, aber sie legte die Hand auf sein Gesicht und drückte ihn nach unten, und er fragte sich, wieso sie nicht begriff, daß er in der Hölle war. Später hätte er nicht sagen können, wie lange es dauerte, bis sie abließ, ihre Haare zurückstrich und ihn traurig ansah. Er schloß die Augen. Sie stand auf.

Das mache doch nichts, sagte sie leise, das sei ihre Schuld.

Sein Kopf schmerzte, er hatte rasenden Durst. Erst als er hörte, wie die Tür hinter ihr zufiel, öffnete er die Augen.

Bonpland fand ihn am Schreibtisch, zwischen den Chronometern, dem Hygrometer, dem Thermometer und dem wieder zusammengebauten Sextanten. Mit ins Auge geklemmter Lupe betrachtete er Palmenblätter. Ein interessanter Aufbau, bemerkenswert! Allmählich sei es Zeit zum Aufbruch.

So plötzlich?

Nach alten Berichten gebe es einen Kanal zwischen den Strömen Orinoko und Amazonas. Europäische Geographen hielten das für Legende. Die herrschende Schule behaupte, daß nur Gebirge als Wasserscheiden dienen und keine Flußsysteme im Inland vetbunden sein könnten.

Darüber habe er seltsamerweise nie nachgedacht, sagte Bonpland.

Es sei ein Irrtum, sagte Humboldt. Er werde den Kanal finden und das Rätsel lösen.

Aha, sagte Bonpland. Ein Kanal.

Ihm gefalle diese Einstellung nicht, sagte Humboldt.

Immer Klagen, immer Einwürfe. Sei etwas Enthusiasmus zuviel verlangt?

Bonpland fragte, was denn geschehen sei.

In Kürze erwarte man eine Sonnenfinsternis! Das er-mögliche die exakte astronomische Ortsbestimmung der Küstenstadt. Dann könne man ein Netz von Meßpunk-ten bis zu den Enden des Kanals spannen.

Aber der sei doch tief im Urwald!

Ein großes Wort, sagte Humboldt. Das dürfe einen nicht abschrecken. Urwald sei auch nur Wald. Die Natur spreche überall in derselben Sprache.


Er schrieb an seinen Bruder. Herrlich sei die Reise, gewaltig die Fülle der Entdeckungen. Täglich fänden sich neue Pflanzen, mehr, als man zählen könne, die Beobachtung der Beben lege eine neue Theorie der Erdkruste nahe. Ungemein erweitert seien auch die Kenntnisse über die Natur der Kopflaus. Immer der Deine, setz es in die Zeitung!

Er prüfte, ob seine Hand auch ja nicht zitterte.

Dann schrieb er an Immanuel Kant. Ihm dränge sich das Konzept einer neuen Wissenschaft der physischen Geographie auf. In unterschiedlichen Höhen, doch bei ähnlichen Temperaturen wüchsen auf dem gesamten Planeten ähnliche Pflanzen, so daß sich Klimazonen nicht bloß in die Breite, sondern auch in die Höhe erstreckten: An einem Punkt könne die Erdoberfläche alle Stadien vom Tropischen bis ins Arktische durchlaufen.

Verbinde man diese Zonen zu Linien, so erhalte man eine Karte der großen klimatischen Strömungen. Dankbar für alle Hinweise, wie auch in bester Hoffnung, daß der Professor sich wohlbefinde, verbleibe er ... Er schloß die Augen, atmete tief ein und unterschrieb mit dem ausladendsten Namenszug, dessen er fähig war.

Am Tag vor der Verdunkelung des Himmels geschah etwas Unangenehmes. Als sie am Strand Druckmessun-gen anstellten, sprang ein Zambo, halb Schwarzer, halb Indianer, mit einer Holzkeule aus dem Gebüsch. Er knurrte, duckte sich, starrte. Dann griffer an. Einen un-seligen Unfall, nannte es Humboldt, als er einige Tage-später an Bord des Schiffes nach Caracas, bei starkem Seegang und im flackernden Licht einer Kerze, gegen drei Uhr früh darüber schrieb. Er sei dem Schlag nach links ausgewichen, Bonpland zu seiner Rechten habe weniger Glück gehabt. Doch als Bonpland reglos auf dem Boden liegengeblieben sei, habe der Zambo die Gelegenheit verstreichen lassen; statt wieder zuzuschlagen, sei er zu Bonplands weggeflogenem Hut gelaufen, habe ihn sich aufgesetzt und sei mit großen Schritten davongegangen.

Wenigstens war den Instrumenten nichts passiert, und auch Bonpland kam nach zwanzig Stunden wieder zu sich: das Gesicht geschwollen, ein Zahn abgebrochen, die Form der Nase leicht verändert, eingetrocknetes Blut um Mund und Kinn. Humboldt, der abends, nachts und in den langen Stunden des Morgens an seinem Bett gesessen hatte, reichte ihm Wasser. Bonpland wusch sich, spuckte und sah mißtrauisch in den Spiegel.

Die Sonnenfinsternis, sagte Humboldt. Ob es wohl gehen werde?

Bonpland nickte.

Sicher?

Bonpland spuckte aus und lispelte, er sei ganz sicher.

Es kämen große Tage, sagte Humboldt. Vom Orinoko zum Amazonas. Ins Innerste des Landes. Er solle ihm die Hand geben!

Mühsam, wie gegen einen Widerstand, hob Bonpland den Arm.

Zur angekündigten Nachmittagsstunde verlosch die Sonne. Das Licht wurde fahl, ein Schwärm Vögel flatterte schreiend empor und wehte im Wind davon, die Gegenstände saugten die Helligkeit auf, ein Schatten flog heran, der Sonnenball wurde zu einer dunklen Scheibe.

Bonpland, den Kopf verbunden, hielt den Projektions-schirm des künstlichen Horizonts. Humboldt richtete den Sextanten darauf, mit dem anderen Auge schielte er auf das Chronometer. Die Zeit stockte.

Und kam wieder in Gang. Das Licht kehrte zurück: Der Sonnenball strahlte auf, der Schatten löste sich von Hügeln, Erde, Horizont. Vögel schrien, irgendwo feu-erte jemand einen Schuß ab. Bonpland ließ den Schirm sinken.

Humboldt fragte, wie es gewesen sei.

Bonpland sah ihn ungläubig an.

Er habe es nicht gesehen, sagte Humboldt. Nur die Projektion. Er habe das Gestirn im Sextanten fixieren und auch noch die Uhr überwachen müssen. Zum Aufblicken sei keine Zeit gewesen.

Es werde kein zweites Mal geben, sagte Bonpland heiser. Ob er wirklich nicht hinaufgesehen habe?

Der Ort sei jetzt für immer auf den Weltkarten festgesteckt. Nur wenige Augenblicke erlaubten es einem, die Gangfehler der Uhren mit Hilfe des Himmels zu korrigieren. Manche nähmen ihre Arbeit eben ernster als andere!

Das möge ja sein, aber ... Bonpland seufzte.

Ja? Humboldt blätterte im Ephemeridenkatalog, zückte den Bleistift und begann zu rechnen. Aber was?

Müsse man immer so deutsch sein?


Die

Zahlen


An dem Tag, der alles änderte, tat ein Backenzahn so weh, daß er glaubte, wahnsinnig zu werden. Nachts hatte er auf dem Rücken gelegen und dem Schnarchen der Zimmerwirtin nebenan zugehört. Gegen halb sieben, als er müde ins Morgenlicht blinzelte, fand er die Lösung zu einem der ältesten Probleme der Welt.

Er taumelte durch den Raum wie ein Betrunkener. Es mußte sofort aufgeschrieben werden, er durfte es nicht vergessen. Die Schubladen wollten sich nicht öffnen lassen, plötzlich hatte sich das Papier vor ihm versteckt, die Feder brach ab und machte Flecken, und dann kam ihm noch der volle Nachttopf in den Weg. Doch nach einer halben Stunde des Kritzelns stand alles auf einigen zerknüllten Blättern, den Rändern eines Griechischlehr-buchs und der Tischplatte. Er legte die Feder weg. Er atmete schwer. Er bemerkte, daß er nackt war, wunderte sich über den Dreck auf dem Boden, den Gestank. Er fror. Die Zahnschmerzen waren kaum zu ertragen.

Er las. Durchdachte es Zeile für Zeile, folgte der Be-weisführung, suchte nach Fehlern und fand keine. Er strich über das letzte Blatt und sah sein schiefes, ver-wischtes Siebzehneck an. Über zweitausend Jahre lang hatte man mit Lineal und Zirkel regelmäßige Drei- und Fünfecke konstruiert. Das Quadrat zu konstruieren oder von einem Vieleck die Ecken zu verdoppeln, war kin-derleicht. Und wenn man ein Dreieck und ein Fünfeck kombinierte, bekam man ein Fünfzehneck. Mehr war nicht möglich gewesen.

Und jetzt: siebzehn. Und er ahnte eine Methode, mit der man würde weitergehen können. Aber die mußte er noch finden.

Er ging zum Barbier. Dieser band ihm die Hände fest, versprach, es werde gewiß nicht schlimm sein, und schob ihm mit schneller Bewegung die Zange in den Mund.

Schon die Berührung, ein strahlendes Aufleuchten des Schmerzes, ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er versuchte noch seine Gedanken zu sammeln, aber dann faßte die Zange zu, etwas klickte in seinem Kopf, und erst der warme Geschmack des Blutes und das Pochen in seinen Ohren brachten ihn wieder in das Zimmer und zu dem Mann mit der Schürze zurück, der sagte, schlimm sei das ja nicht gewesen, oder?

Beim Heimgehen mußte er sich an Hauswände leh-nen, seine Knie waren weich, seine Füße gehorchten ihm nicht, ihm war schwindlig. Schon in ein paar Jahren würde es Ärzte für das Gebiß geben, dann würde man diese Schmerzen heilen können und brauchte nicht jeden entzündeten Zahn herauszureißen. Bald würde die Welt nicht mehr voll Zahnloser sein. Auch würde nicht mehr jedermann Pockennarben haben, und keiner würde mehr seine Haare verlieren. Es wunderte ihn, daß außer ihm niemand an diese Dinge dachte. Für die Leute war alles so, wie es gerade war, selbstverständlich. Mit glasi-gen Augen machte er sich auf den Weg zu Zimmermanns Wohnung.


Er trat ein, ohne zu klopfen, und legte ihm die Blätter auf den Eßtisch.

Oh, sagte der Professor mitleidig, die Zähne, schlimm?

Er selbst habe ja Glück gehabt, ihm fehlten bloß fünf, Professor Lichtenberg habe überhaupt nur mehr zwei, und Kästner sei schon lange zahnlos. Mit spitzen Fingern, wegen eines Blutflecks, nahm er das erste Blatt. Er runzelte die Brauen. Seine Lippen bewegten sich. Es dauerte so lange, daß Gauß es kaum mehr glauben mochte.

Niemand konnte so langsam denken!

Das sei ein großer Moment, sagte Zimmermann schließlich.

Gauß bat um ein Glas Wasser.

Ihm sei nach Beten zumute. Das müsse gedruckt werden, am besten unter dem Namen eines Professors. Es sei nicht üblich, daß Studenten schon publizierten.

Gauß wollte antworten, aber als Zimmermann ihm das Wasserglas brachte, konnte er weder reden noch trinken.

Er entschuldigte sich mit einer Geste, wankte nach Hause, legte sich ins Bett und dachte an seine Mutter drüben in Braunschweig. Es war ein Fehler gewesen, nach Göttingen zu gehen. Hier war die bessere Universität, aber seine Mutter fehlte ihm, wenn er krank war, noch mehr als sonst. Gegen Mitternacht, als seine Wange noch dicker geworden war und jede Bewegung an jeder Stelle seines Körpers weh tat, wurde ihm klar, daß der Barbier den falschen Zahn gezogen hatte.

Zum Glück waten die Straßen frühmorgens noch leer.

So sah niemand, wie er immer wieder stehenblieb, den Kopf gegen Hausmauern lehnte und schluchzte. Er hätte seine Seele dafür gegeben, in hundert Jahren zu leben, wenn es Mittel gegen den Schmerz geben würde und Ärzte, die diesen Namen verdienten. Dabei war es gar nicht schwer: Man brauchte bloß die Nerven am richtigen Ort zu betäuben, am besten mit kleinen Dosen von Gift. Das Curare mußte besser erforscht werden! Es gab eine Flasche davon im chemischen Institut, er würde sich das einmal ansehen. Doch die Gedanken entglitten ihm, und er konnte nur mehr seinem eigenen Stöhnen zuhören.

Das komme vor, sagte der Barbier fröhlich. Schmerz strahle weit aus, aber die Natur sei klug, und der Mensch habe Zähne in Mengen. In dem Moment, als er die Zange hob, wurde es um Gauß dunkel.

Als hätte der Schmerz das Ereignis aus seinem Gedächtnis oder aus der Zeit gelöscht, fand er sich Stunden oder auch Tage später, woher sollte er es wissen, in seinem zer-wühlten Bett wieder, eine halbleere Flasche Schnaps auf dem Nachttisch und zu seinen Füßen das Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung, in dem Hofrat Zimmermann die neueste Methode zur Konstruktion des regelmäßigen Siebzehnecks vorstellte. Neben dem Bett saß Bartels, der gekommen war, um zu gratulieren.

Gauß befühlte seine Wange. Ach, Bartels. Der kannte das ja: Er kam selbst aus der Armut, hatte als Wun-derkind gegolten und sich zu Großem erwählt geglaubt.

Dann hatte er ihn getroffen, Gauß. Er wußte inzwischen, daß Bartels die ersten zwei Nächte nach ihrer Begegnung wachgelegen und erwogen hatte, wieder ins Dorf zurück-zugehen, Kühe zu melken und Ställe auszumisten. In der dritten Nacht hatte er begriffen, daß es nur einen Weg gab, seine Seele zu retten: Er mußte Gauß mögen. Er mußte ihm helfen, wo immer es ging. Von da an hatte er alle Kraft in die gemeinsame Arbeit gesteckt, hatte mit Zimmermann gesprochen, Briefe an den Herzog geschrieben und eines schweren Abends Gauß’ Vater unter Drohungen, an die sich keiner von ihnen erinnern wollte, dazu gebracht, dem Sohn das Gymnasium zu erlauben. Letzten Sommer dann hatte er Gauß zu dessen Eltern nach Braunschweig begleitet. Plötzlich hatte die Mutter ihn zur Seite genommen und mit vor Sorge und Schüchternheit ganz kleinem Gesicht eine Frage gestellt: Ihr Sohn da auf der Universität, unter all den Gelehrten, ob das denn Zukunft habe? Bartels hatte nicht verstanden. Sie meine, ob das denn etwas werden könne, mit Carl als Forscher. Sie frage im Vertrauen und verspreche, nichts weiterzusagen. Als Mutter mache man sich eben immer Sorgen. Bartels hatte eine Weile geschwiegen, bevor er mit einer Verachtung, für die er sich später schäm-te, gefragt hatte, ob sie denn nicht wisse, daß ihr Sohn der größte Wissenschaftler der Welt sei. Sie hatte sehr geweint, es war furchtbar peinlich gewesen. Gauß hatte es nie ganz geschafft, Bartels zu verzeihen.

Er habe sich jetzt entschieden, sagte Gauß.

Wofür? Bartels sah zerstreut auf.

Gauß seufzte ungeduldig. Für die Mathematik. Bisher habe er sich ja auf die klassische Philologie verlegen wollen, und noch immer gefalle ihm der Gedanke, einen Vergil-Kommentar zu schreiben, besonders über Aeneas’

Abstieg in die Unterwelt. Seiner Ansicht nach habe keiner dieses Kapitel richtig erfaßt. Aber dafür sei ja noch Zeit, er sei schließlich erst neunzehn. Zunächst einmal habe er eingesehen, daß er in der Mathematik mehr leisten könne. Wenn man schon auf der Welt sein müsse, gefragt habe einen ja keiner, könne man auch versuchen, etwas zustande zu bringen. Zum Beispiel die Lösung der Frage, was eine Zahl sei. Die Grundlegung der Arithmetik.

Ein Lebenswerk, sagte Bartels.

Gauß nickte. Mit etwas Glück werde er in fünf Jahren fertig sein.

Doch bald wurde ihm klar, daß es schneller gehen würde. Nachdem er einmal begonnen hatte, drangen die Ideen mit ungekannter Wucht an. Er schlief wenig, besuchte die Universität nicht mehr, aß nur das Nötigste und fuhr selten zu seiner Mutter. Wenn er halblaut redend durch die Straßen ging, fühlte er sich wacher denn je. Ohne hinzusehen, wich er den Leuten aus, nie stolperte er, einmal sprang er grundlos zur Seite und war nicht einmal überrascht, als in derselben Sekunde neben ihm ein Dachziegel zerschellte. Die Zahlen entführten einen nicht aus der Wirklichkeit, sie brachten sie näher heran, machten sie klarer und deutlich wie nie.

Die Zahlen begleiteten ihn jetzt immer. Er vergaß sie nicht einmal, wenn er die Huren besuchte. Es gab nicht viele in Göttingen, sie kannten ihn alle, grüßten ihn mit Namen und gaben ihm manchmal Rabatt, weil er jung war, gut aussah und Manieren hatte. Die ihm am besten gefiel, hieß Nina und stammte aus einer fernen sibiri-schen Stadt. Sie wohnte im alten Accouchierhaus, hatte dunkle Haare, tiefe Grübchen auf den Wangen und breite, nach Erde duftende Schultern; in den Augenblicken, wenn er sie umfaßte, den Blick zur Decke wandte und ihr Schaukeln auf sich spürte, versprach er ihr, sie zu heiraten und ihre Sprache zu lernen. Sie lachte über ihn, und wenn er schwor, daß er es ernst meine, antwortete sie nur, er sei eben noch sehr jung.

Seine Doktoratsprüfung fand unter Aufsicht von Professor Pfaff statt. Auf sein gekritzeltes Ansuchen hin erließ man ihm das mündliche Examen, es wäre auch zu lächerlich gewesen. Als er seine Urkunde abholte, muß- -

te er auf dem Gang warten. Er aß ein Stück trockenen Kuchen und las in den Göttinger Gelehrten Anzeigen den Bericht eines preußischen Diplomaten über dessen Bruders Aufenthalt in Neuandalusien. Ein weißes Haus am Rand der Stadt, abends kühlte man sich im Fluß, Frauen kamen häufig zu Besuch, damit man ihre Läuse zählte. In unbestimmter Erregung blätterte er um. Nackte Indianer in der Kapuzinermission, in Höhlen lebende Vögel, die mit ihren Stimmen sahen wie andere Wesen mit dem Au-genlicht. Die große Sonnenfinsternis, dann der Aufbruch zum Orinoko. Der Brief des Mannes war eineinhalb Jahre unterwegs gewesen, nur Gott mochte wissen, ob er noch lebte. Gauß senkte die Zeitung, Zimmermann und Pfaff standen vor ihm. Sie hatten nicht zu stören gewagt.

Dieser Mann, sagte er, beeindruckend! Aber unsinnig auch, als wäre die Wahrheit irgendwo und nicht hier.

Oder als könnte man vor sich selbst davonlaufen.

Pfaff reichte ihm zögernd die Urkunde: Bestanden, summa cum laude. Natürlich. Man höre, sagte Zimmermann, ein großes Werk sei in Arbeit. Er freue sich, daß Gauß nun doch etwas gefunden habe, das sein Interesse fesseln und seine Melancholie vertreiben könne.

Das habe er in der Tat, sagte Gauß, und wenn es voll-endet sei, werde er gehen.


Die beiden Professoren wechselten einen Blick. Aus dem Kurfürstentum Hannover? Das wolle man doch nicht hoffen.

Nein, sagte Gauß, keine Sorge. Sehr weit, aber doch nicht aus dem Kurfürstentum Hannover.

Die Arbeit ging schnell voran. Das quadratische Rezi-prozitätsgesetz war abgeleitet, das Rätsel der Primzahlen-frequenz seiner Auflösung näher. Die ersten drei Sektio-nen hatte er beendet, er war schon beim Hauptteil. Aber immer wieder legte er die Feder weg, stützte den Kopf in die Hände und fragte sich, ob das, was er tat, überhaupt erlaubt war. Drang er nicht zu tief ein? Auf dem Grund der Physik waren Regeln, auf dem Grund der Regeln Gesetze, auf deren Grund Zahlen; wenn man diese scharf ins Auge faßte, erkannte man Verwandtschaften zwischen ihnen, Abstoßungen oder Anziehung. Einiges an ihrem Gefüge schien unvollständig, seltsam flüchtig entworfen, und nicht nur einmal glaubte er, notdürftig kaschierten Fehlern zu begegnen – als hätte Gott sich Nachlässigkei-ten erlaubt und gehofft, keiner würde sie bemerken.

Dann kam der Tag, an dem er kein Geld mehr hatte.

Da er nicht mehr studierte, war sein Stipendium abge-laufen. Dem Herzog hatte es nie gefallen, daß er nach Göttingen gegangen war, an eine Verlängerung war nicht zu denken.

Da gebe es Abhilfe, sagte Zimmermann. Ein Gelegen-heitsauftrag: Man brauche einen tüchtigen jungen Mann, der bei der Landvermessung helfe.

Gauß schüttelte den Kopf.

Es dauere nicht lange, sagte Zimmermann. Und frische Luft habe noch keinem geschadet.


So fand er sich unversehens durch die verregnete Landschaft stolpern. Der Himmel war niedrig und dunkel, die Erde lehmig. Er kletterte über eine Hecke und stand keuchend, verschwitzt und bestreut mit Kiefern-nadeln vor zwei Mädchen. Gefragt, was er hier tue, er-klärte er nervös die Technik der Triangulation: Wenn man eine Seite und zwei Winkel eines Dreiecks kenne, könne man die anderen Seiten und den unbekannten Winkel bestimmen. Man wähle also ein Dreieck irgendwo hier draußen auf Gottes Erde, messe die Seite, zu der man am leichtesten Zugang habe, und bestimme mit diesem Gerät die Winkel zum dritten Punkt. Er hob den Theodolit und drehte ihn, so und so, und sehen Sie, so, mit ungeschickten Fingern hin und her, als wäre es das erste Mal. Dann füge man eine Serie solcher Dreiecke aneinander. Ein preußischer Forscher tue genau das in diesem Moment unter den Fabelwesen der Neuen Welt.

Aber eine Landschaft, erwiderte die größere der beiden, sei doch keine Fläche?

Er starrte sie an. Die Pause hatte gefehlt. Als hätte sie nicht nachdenken müssen. Allerdings nicht, sagte er lä-

chelnd.

Ein Dreieck, sagte sie, habe nur auf einer Fläche hundertachtzig Grad Winkelsumme, auf einer Kugel aber nicht. Damit stehe und falle doch alles.

Er musterte sie, als sähe er sie erst jetzt. Mit hochgezogenen Brauen erwiderte sie seinen Blick. Ja, sagte er. So. Um das auszugleichen, müsse man die Dreiecke gewissermaßen nach der Messung zu unendlich kleiner Größe schrumpfen lassen. Grundsätzlich eine einfache Differentialoperation. Allerdings in dieser Form ... Er setzte sich auf den Boden und holte seinen Block hervor.

In dieser Form, murmelte er, während er zu notieren begann, habe das noch keiner durchgeführt. Als er aufsah, war er allein.

Ein paar Wochen zog er noch mit den geodätischen Gerätschaften durchs Gelände, rammte Pfähle in den Boden, vermaß ihre Entfernung. Einmal kollerte er eine Böschung hinunter und verrenkte sich die Schulter, mehrmals fiel er in Brennesseln, und eines Nachmittags, der Winter näherte sich schon, bewarf ihn eine Horde Kinder mit schmutzigen Schneebällen. Als aus dem Wald ein Schäferhund sprang, ihn zu Boden stieß, fast zärtlich in seine Wade biß und wie ein Spuk wieder verschwand, beschloß er, mit dieser Arbeit aufzuhören. Für solche Gefahren war er nicht geschaffen.

Doch Johanna sah er jetzt öfter. Es schien, als wäre sie schon immer in seiner Nähe und nur durch Tarnung oder eine Schwäche seiner Aufmerksamkeit vor ihm ver-borgen gewesen. Sie ging vor ihm auf der Straße, und ihm war, als verlangsamte allein sein Wunsch, daß sie zö-

gern möge, um ein weniges ihren Schritt. Oder sie saß in der Kirche, drei Reihen hinter ihm, mit müdem, doch konzentriertem Ausdruck, während der Pastor ihnen allen die ewige Verdammnis in Aussicht stellte für den Fall, daß sie Christi Leiden nicht zu ihrem, seinen Kummer nicht zu dem eigenen, sein Blut nicht zu ihrer aller Blut machten; Gauß hatte längst aufgegeben, sich zu fragen, was das heißen sollte, und wußte schon, mit welch iro-nischem Ausdruck sie ihn, wenn er sich jetzt umdrehte, ansehen würde.

Einmal gingen sie mit ihrer dummen und ständig ki-chernden Freundin Minna vor der Stadt spazieren. Sie unterhielten sich über neue Bücher, die er nicht kannte, die Häufigkeit des Regens, die Zukunft des Direktoriums in Paris. Oft antwortete Johanna, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Er dachte daran, sie zu umfassen und zu Boden zu ziehen, und wußte genau, daß sie seine Gedanken kannte. Mußte all diese Verstellung wirklich sein?

Aber natürlich war sie nötig, und als er aus Versehen ihre Hand berührte, machte er eine tiefe Verbeugung, wie es die Adligen taten, und sie einen Knicks. Auf dem Rückweg fragte er sich, ob je ein Tag kommen würde, an dem Menschen miteinander umgehen könnten, ohne zu lü-

gen. Aber bevor ihm darauf etwas einfiel, begriff er, wie jede Zahl sich als Summe dreier Dreieckszahlen darstellen ließ. Mit zitternden Händen tastete er nach seinem Block, aber er hatte ihn daheim vergessen und mußte die Formel bis zur nächsten Gastwirtschaft, wo er dem Kellner einen Griffel aus der Hand riß und sie auf ein Stück Tischdecke schmierte, leise vor sich hin murmeln.

Von da an verließ er die Wohnung nicht mehr. Die Tage wurden zu Abenden, die Abende zu Nächten, die sich in den frühen Stunden mit blassem Licht vollsogen, bis wieder ein Tag begann, als wäre das selbstverständlich.

Aber das war es nicht, sterben ließ sich schnell, er mußte sich beeilen. Manchmal kam Bartels und brachte Essen.

Manchmal kam seine Mutter. Sie strich ihm über den Kopf, sah ihn mit vor Liebe verschwommenem Blick an und wurde rot vor Freude, wenn er sie auf die Wange küßte. Dann tauchte Zimmermann auf, fragte, ob er Hilfe bei der Arbeit brauche, begegnete seinem Blick und ging verlegen brummend seiner Wege. Briefe von Kästner, Lichtenberg, Büttner und dem Sekretär des Herzogs trafen ein, er las keinen davon. Zweimal hatte er Durchfall, dreimal Zahnweh und eines Nachts so heftige Koliken, daß er meinte, nun sei es soweit, Gott gestatte es nicht, das Ende sei hier. In einer anderen Nacht kamen ihm plötzlich die Wissenschaft, seine Arbeit, sein gesamtes Leben fremd und überflüssig vor, weil er keinen Freund harte und außer seiner Mutter niemanden, dem er etwas bedeutete. Aber auch das ging, wie alles, vorüber.

Und eines regnerischen Tages war er fertig. Er legte die Feder weg, schneuzte sich umständlich und rieb sich die Stirn. Schon rückten ihm die Erinnerungen an die letzten Monate, all die Kämpfe, Entscheidungen und Überlegungen, in die Ferne. Das alles hatte jemand erlebt, der er seit wenigen Momenten nicht mehr war. Vor ihm lag das Manuskript, das der andere zurückgelassen hatte, Hunderte eng beschriebener Seiten. Er blätterte darin und fragte sich, wie er das hatte leisten können. Er konnte sich an keine Inspiration, keine Erleuchtungen erinnern. Nur an Arbeit.

Für die Kosten des Drucks mußte er sich Geld von Bartels ausleihen, der selbst fast nichts besaß. Dann gab es Schwierigkeiten, als er die gesetzten Blätter noch einmal Korrektur lesen wollte; der Dummkopf von Buch-händler begriff einfach nicht, daß keiner sonst dazu in der Lage war. Zimmermann schrieb an den Herzog, der rückte noch etwas Geld heraus, und die Disquisitiones Arithmeticae konnten erscheinen. Er war Anfang Zwanzig, und sein Lebenswerk war getan. Er wußte: Wie lange er auch noch da sein würde, er könnte nichts Vergleich-bares mehr zustande bringen.


In einem Brief hielt er um Johannas Hand an und wurde abgewiesen. Es habe nichts mit ihm zu tun, schrieb sie, bloß bezweifle sie, daß die Existenz an seiner Seite einem zuträglich sein könne. Sie habe den Verdacht, daß er Leben und Kraft aus den Menschen seiner Umgebung ziehe wie die Erde von der Sonne und das Meer aus den Flüssen, daß man in seiner Nähe zur Bläs-se und Halbwirklichkeit eines Gespensterdaseins verur-teilt sei.

Er nickte. Er hatte genau diese Entscheidung, wenn auch keine so gute Begründung erwartet. Jetzt fehlte nur mehr eines.

Die Reise war fürchterlich. Seine Mutter weinte beim Abschied, als wollte er nach China, und dann, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, es nicht zu tun, weinte auch er. Die Kutsche setzte sich in Bewegung, und zu Beginn war sie voll übelriechender Leute, eine Frau aß rohe Eier mitsamt der Schale, ein Mann machte, ohne Atem zu holen, Witze, die gotteslästerlich und trotzdem nicht komisch waren. Gauß versuchte, das alles zu übersehen, indem er in der neuesten Ausgabe der Monatlichen Kor-respondenz zur Beförderung von Erd- und Himmelskunde las. Im Teleskop des Astronomen Piazzi war für ein paar Nächte ein Geisterplanet aufgetaucht und, bevor man seine Bahn hatte bestimmen können, wieder verschwunden. Vielleicht ein Irrtum, vielleicht aber auch ein Wandelstern zwischen den inneren und äußeren Planeten.

Doch schon bald mußte Gauß die Zeitschrift weglegen, weil die Sonne unterging, die Kutsche zu sehr schwankte und ihm die eierfressende Frau über die Schulter lugte.

Er schloß die Augen. Eine Weile sah er marschierende Soldaten, dann ein von Magnetlinien durchzogenes Firmament, dann Johanna, dann wachte er auf. Es regnete aus trübem Morgenhimmel, aber die Nacht war noch nicht vorbei. Daß weitere Tage und weitere Nächte kommen würden, jeweils elf und zweiundzwanzig insgesamt, war kaum vorstellbar. Wie schrecklich das Reisen war!

Als er in Königsberg ankam, war er vor Müdigkeit, Rückenschmerz und Langeweile fast besinnungslos. Für einen Gasthof hatte er kein Geld, also ging er gleich zur Universität und ließ sich von einem dumpf blickenden Pedell den Weg beschreiben. Wie alle hier sprach der Mann einen wunderlichen Dialekt, die Straßen sahen fremd aus, die Geschäfte hatten unverständliche Schilder, und das Essen aus den Schenken roch nicht wie Essen.

Noch nie war er so weit von daheim gewesen.

Endlich hatte er die Adresse gefunden. Er klopfte, nach langem Warten öffnete ihm ein durch und durch staubiger alter Mann und sagte, noch bevor Gauß sich vorstellen konnte, der gnädige Herr empfange nicht.

Gauß versuchte zu erklären, wer er war und woher er kam.

Der gnädige Herr, wiederholte der Diener, empfange nicht. Er selbst arbeite schon länger hier, als es irgend jemand für möglich halte, und er habe sich noch nie einer Anordnung widersetzt.

Gauß holte Empfehlungsbriefe von Zimmermann, Kästner, Lichtenberg und Pfaff hervor. Er bestehe darauf, daß diese Schreiben vorgelegt würden!

Der Diener antwortete nicht. Er hielt die Papiere verkehrt herum, ohne einen Bück darauf zu werfen.

Er bestehe darauf, wiederholte Gauß. Er könne sich gut vorstellen, daß viele Besucher kämen und daß man sich zu schützen habe. Aber, und das müsse er in aller Klarheit sagen, er sei nicht irgendwer.

Der Diener überlegte. Seine Lippen bewegten sich stumm, er schien nicht weiterzuwissen. Ach je, murmelte er dann, ging hinein und ließ die Tür offen.

Gauß folgte ihm zögernd durch einen kurzen und dunklen Flur in ein kleines Zimmer. Er brauchte einen Moment, bis seine Augen sich an das Halbdunkel ge-wöhnt hatten und er ein verhängtes Fenster, einen Tisch, einen Sessel und darin einen in Wolldecken gewickelten, reglosen Zwerg sehen konnte: wulstige Lippen, vorsprin-gende Stirn, eine scharfe, dünne Nase. Die halbgeöffneten Augen wandten sich ihm nicht zu. Die Luft war so stickig, daß man kaum atmen konnte. Mit heiserer Stimme fragte er, ob das der Professor sei.

Wer sonst, sagte der Diener.

Er trat auf den Sessel zu und holte mit unsicheren Händen ein Exemplar der Disquisitiones hervor, auf dessen erste Seite er etwas von Verehrung und Dank geschrieben hatte. Er hielt dem Männchen das Buch hin, es regte keine Hand. Flüsternd bat ihn der Diener, das Buch auf den Tisch zu legen.

Mit gedämpfter Stimme erklärte er sein Anliegen. Er habe Ideen, die er noch keinem habe mitteilen können.

Ihm scheine nämlich, daß der euklidische Raum eben nicht, wie es die Kritik der reinen Vernunft behaupte, die Form unserer Anschauung selbst und deshalb aller möglichen Erfahrung vorgeschrieben sei, sondern viel-mehr eine Fiktion, ein schöner Traum. Die Wahrheit sei sehr unheimlich: Der Satz, daß zwei gegebene Parallelen einander niemals berührten, sei nie beweisbar gewesen, nicht durch Euklid, nicht durch jemand anderen. Aber er sei keineswegs, wie man immer gemeint habe, offensichtlich! Er, Gauß, vermute nun, daß der Satz nicht stimme. Vielleicht gebe es gar keine Parallelen. Vielleicht lasse der Raum auch zu, daß man, habe man eine Linie und einen Punkt neben ihr, unendlich viele verschiedene Parallelen durch diesen einen Punkt ziehen könne. Nur eines sei sicher: Der Raum sei faltig, gekrümmt und sehr seltsam.

Es tat gut, all das zum ersten Mal auszusprechen. Schon kamen die Worte schneller, die Sätze bildeten sich von selbst. Dies sei kein Gedankenspiel! Er behaupte etwa ... Er ging auf das Fenster zu, aber ein erschrockenes Quieken des Männchens ließ ihn stehenbleiben. Er behaupte etwa, daß ein Dreieck von genügender Größe, aufgespannt zwischen drei Sternen dort draußen, bei genauer Messung eine andere Winkelsumme habe als die erwarteten hundertachtzig Grad, sich also als sphärischer Körper erweisen werde. Als er gestikulierend aufsah, bemerkte er die Spinnweben an der Decke, mehrere Schichten davon, filzig ineinandergewoben. Eines Tages würden solche Messungen durchführbar sein! Doch sei das noch lange hin, einstweilen benötige er die Meinung des einzigen, der ihn nicht für verrückt halten könne, der ihn verstehen müsse. Die Meinung des Mannes, welcher die Welt mehr über Raum und Zeit gelehrt habe als irgendein anderer. Er ging in die Hocke, so daß sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem des Männchens war. Er wartete.

Die kleinen Augen richteten sich auf ihn.

Wurst, sagte Kant.


Bitte?

Der Lampe soll Wurst kaufen, sagte Kant. Wurst und Sterne. Soll er auch kaufen.

Gauß stand auf.

Ganz hat mich die Zivilität nicht verlassen, sagte Kant. Meine Herren! Ein Tropfen Speichel rann über sein Kinn.

Der gnädige Herr sei müde, sagte der Diener.

Gauß nickte. Der Diener berührte mit dem Handrük-ken Kants Wange. Das Männchen lächelte schwach. Sie gingen hinaus, der Diener verabschiedete sich mit einer wortlosen Verbeugung. Gauß hätte ihm gern etwas Geld gegeben, aber er hatte selbst nichts mehr. Von weitem hörte er den Gesang dunkler Männerstimmen. Der Ge-fängnischor, sagte der Diener. Der habe den gnädigen Herrn immer sehr gestött.

In der Kutsche, eingeklemmt zwischen einem Pastor und einem dicken Leutnant, der verzweifelt versuchte, Mitreisende in ein Gespräch zu ziehen, las er zum dritten Mal den Artikel über den rätselhaften Planeten. Natürlich konnte man seine Bahn berechnen! Man mußte bloß beim Näherungsverfahren von einer Ellipse statt einem Kreis ausgehen und sich dann etwas geschickter anstellen, als die Strohköpfe es getan hatten. Ein paar Tage Arbeit, dann konnte man voraussagen, wann und wo er wieder auftauchen würde. Als der Leutnant ihn nach seiner Meinung zum spanisch-französischen Bündnis fragte, wußte er nichts zu antworten.

Ob er denn nicht meine, fragte der Leutnant, das werde Österreichs Ende sein?

Er zuckte die Schultern.


Und dieser Bonaparte!

Bitte wer, fragte er.

Zurück in Braunschweig schrieb er Johanna einen zweiten Antrag. Dann holte er das Fläschchen Curare aus dem Giftschrank des chemischen Instituts. Irgendein Forscher hatte es kürzlich mit einer Sammlung von Ge-wächsen, Steinen und vollgeschriebenen Papieren über den Ozean gesandt, ein Chemiker hatte es aus Berlin hergebracht, und seither stand es da, und keiner wußte, was man damit anfangen sollte. Angeblich wirkte bereits eine winzige Dosis tödlich. Seiner Mutter würde man sagen, daß es ein Herzanfall gewesen sei, durch nichts angekündigt, nicht zu verhindern, Gottes Wille. Er rief einen Boten von der Straße, versiegelte den Brief und bezahlte mit seinem letzten Geld. Dann starrte er aus dem Fenster und wartete.

Er entkorkte die Flasche. Die Flüssigkeit roch nach nichts. Ob er zögern würde? Wahrscheinlich. So etwas wußte man nicht, bevor man es wirklich versuchte. Doch es überraschte ihn, daß er so wenig Angst hatte. Der Bote würde die Ablehnung bringen, und dann wäre sein Tod ein neuer Schachzug im Spiel, etwas, womit der Himmel nicht gerechnet hatte. Man hatte ihn in die Welt geschickt, mit einem Verstand, der fast alles Menschliche unmöglich machte, in eine Zeit, da jede Unternehmung noch schwer, anstrengend und schmutzig war. Man hatte sich über ihn lustig machen wollen.

Die andere Möglichkeit, jetzt, da das Werk geschrien ben war? Jahre in Mittelmäßigkeit, Broterwerb auf entwürdigende Art, Kompromisse, Furcht und Ärger, neue Kompromisse, Schmerzen an Leib und Seele, sowie das langsame Verkümmern aller Fähigkeiten bis hin zur Schwäche des Alters. Nein!

Mit erstaunlicher Klarheit nahm er wahr, wie stark er zitterte. Er hörte das Rauschen in seinen Ohren, sah das Zucken seiner Hände, lauschte den kurzen Stößen seines Atems. Fast amüsierte es ihn.

Es klopfte. Eine Stimme, der seinen entfernt ähnlich, rief: Herein!

Der Bote kam, drückte ihm einen Zettel in die Hand und wartete mit frecher Miene auf Trinkgeld. Auf dem Boden der untersten Schublade fand er noch eine Münze.

Der Bote warf sie in die Luft, machte eine halbe Drehung und fing sie hinter seinem Rücken auf. Sekunden später sah er ihn unten über die Gasse laufen.

Er dachte ans Jüngste Gericht. Er glaubte nicht, daß so etwas veranstaltet werden würde. Angeklagte konnten sich verteidigen, manche Gegenfragen würden Gott nicht angenehm sein. Insekten, Dreck, Schmerz. Das Unzureichende in allem. Selbst bei Raum und Zeit war geschlampt worden. Falls man ihn vor Gericht stellte, ge-dachte er, ein paar Dinge zur Sprache zu bringen.

Mit tauben Händen öffnete er Johannas Brief, legte ihn beiseite und griff nach dem Fläschchen. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß er etwas übersehen hatte. Er dachte nach.

Etwas Unerwartetes war geschehen. Er schloß die Flasche, überlegte schärfer, kam noch immer nicht darauf. Dann erst wurde ihm klar, daß er eine Zusage gelesen hatte.


Der

Fluß


Die Tage in Caracas waren schnell vergangen. Die Besteigung des Silla mußten sie ohne Führer unternehmen, weil sich herausstellte, daß kein Eingeborener je auf dem Doppelberg gewesen war. Bald hörte Bonplands Nase nicht mehr auf zu bluten, und ihr teuerstes Barometer fiel hinunter und zerbrach. Nahe der Spitze fanden sie versteinerte Muscheln. Seltsam, sagte Humboldt, so hoch könne das Wasser nie gestanden haben, das deute nun doch auf eine Auffaltung hin, auf Kräfte aus dem Erdinneren.

Auf dem Gipfel wurden sie von einem Schwärm pel-ziger Bienen belästigt. Bonpland warf sich flach auf den Boden, Humboldt blieb aufrecht stehen, den Sextanten in Händen, das Okular vor dem mit Insekten bedeckten Gesicht. Sie liefen über seine Stirn, seine Nase, sein Kinn, sie gerieten in seinen Kragen. Der Gouverneur hatte ihn gewarnt: Das Wichtigste sei, sich nicht zu rühren. Nicht zu atmen. Abzuwarten.

Bonpland fragte, ob er den Kopf wieder heben könne.

Besser nicht, sagte Humboldt, ohne die Lippen zu bewegen. Nach einer Viertelstunde lösten die Tiere sich von ihm und schwirrten, eine dunkle Wolke, in die Abend-sonne. Humboldt gab zu, daß ihm das Stillstehen nicht leichtgefallen sei. Ein- oder zweimal sei er nahe am Los-schreien gewesen. Er setzte sich hin und massierte seine Stirn. Seine Nerven seien nicht mehr wie früher.

Zu ihrem Abschied wurde im Theater von Caracas ein Konzert unter freiem Himmel gegeben. Glucks Akkorde stiegen in die Dunkelheit, die Nacht war groß und voller Sterne, Bonpland hatte Tränen in den Augen. Er wisse nicht recht, flüsterte Humboldt, ihm habe Musik nie viel gesagt.

Mit Maultieren brachen sie in Richtung des Orinoko auf. Um die Hauptstadt breiteten sich Ebenen aus, Tausende Meilen weit, ohne Baum, Strauch oder Hügel. So hell war es, daß es ihnen schien, als gingen sie auf einem gleißenden Spiegel, ihre Schatten unter und den leeren Himmel über sich, oder als wären sie Reflexionen zweier Wesen aus einer anderen Welt. Irgendwann fragte Bonpland, ob sie noch am Leben seien.

Wisse er auch nicht, sagte Humboldt, aber so oder so, was könne man tun als weitergehen?

Als sie zum ersten Mal wieder Bäume, Sümpfe und Gras sahen, wußten sie nicht mehr, wie lange ihr Aufbruch her war. Es fiel Humboldt schwer, seine zwei Chronometer abzulesen, er war nicht mehr an die Zeit gewöhnt. Hütten tauchten auf, Menschen kamen ihnen entgegen, und erst als sie mehrfach nach dem Datum gefragt hatten, konnten sie glauben, daß sie nur zwei Wochen unterwegs gewesen waren.

In Calabozo trafen sie einen alten Mann, der noch nie das Dorf verlassen hatte. Trotzdem besaß er ein Labora-torium: Gläser und Flaschen, metallene Meßgeräte für Erdbeben, Feuchtigkeit in der Luft und Magnetismus.


Auch eine primitive Maschine, deren Zeiger ausschlu-gen, wenn man in ihrer Nähe log oder dummes Zeug redete. Und einen Apparat, welcher klickend und sum-mend, zwischen Dutzenden gegeneinander rotierenden Rädchen, helle Funken erzeugte. Diese rätselhafte Kraft habe er entdeckt, rief der Alte. Das mache ihn zum gro-

ßen Forscher!

Zweifellos, antwortete Humboldt, aber –

Bonpland stieß ihn in die Seite. Der Alte drehte die Kurbel fester, die Funken knisterten immer lauter, die Spannung war so stark, daß sich ihre Haare aufstellten.

Beeindruckend, sagte Humboldt, aber das Phänomen nenne sich Galvanismus und sei in der ganzen Welt bekannt. Er selbst habe etwas dabei, was gleiche Wirkungen erzeuge, wenn auch viel stärker. Er zeigte die Leydener Flasche und wie man sie mit einem Fell rieb, um haarfein verästelte Blitze entstehen zu lassen.

Der Alte kratzte sich schweigend am Kinn.

Humboldt klopfte ihm auf die Schulter und wünschte viel Glück weiterhin. Bonpland wollte dem Alten Geld zustecken, aber der nahm nichts an.

Das habe er ja nicht wissen können, sagte er. Man sei so weit weg von allem.

Natürlich, sagte Bonpland.

Der Alte schneuzte sich und wiederholte, das habe er nicht wissen können. Bis sie außer Sichtweite waren, sahen sie ihn vornüber gebeugt vor seinem Haus stehen und ihnen nachblicken.

Sie kamen an einen Teich. Bonpland zog sich aus, stieg hinein, zögerte, stöhnte und sank der Länge nach um. Im Wasser lebten elektrische Aale.


Drei Tage später schrieb Humboldt mit tauber Hand die Ergebnisse ihrer Untersuchung nieder. Die Tiere konnten Schläge auch ohne Berührung verteilen. Der Schlag erzeugte keine Funken, keine Anzeige auf dem Elektrometer, auch keine Abweichung der Magnetnadel, kurz, er war an nichts zu erkennen als am Schmerz, den er zufügte. Faßte man den Aal mit beiden Händen oder hielt ihn in der einen Hand und in der anderen ein Stück Metall, so verstärkte sich die Wirkung. Ebenso, wenn zwei Menschen einander an den Händen faßten und nur einer von ihnen das Tier berührte. In diesem Fall fühlten beide den Schlag im gleichen Moment, mit gleicher Stär-ke. Nur die Vorderseite des Aals war gefährlich, die Aale selbst waren gegen die eigenen Entladungen immun. Und er war ungeheuerlich, der Schmerz; so stark, daß man nicht begriff, was mit einem vorging. Er kleidete sich ganz in Taubheit, Verwirrung und Schwindel, wurde einem erst mit Verzögerung bewußt und in der Erinnerung immer stärker; er kam einem vor wie etwas, das mehr der Außenwelt als dem eigenen Körper angehörte.

Zufrieden reisten sie weiter. Was für ein Glücksfall, sagte Humboldt immer wieder, welch ein Geschenk!

Bonpland hinkte, seine Hände waren gefühllos. Noch Tage danach tanzten Funken durch Humboldts Blickfeld, wenn er die Augen schloß. Lange blieben seine Knie so steif wie die eines alten Mannes.

Im hohen Gras fanden sie ein ohnmächtiges Mädchen, wohl dreizehn Jahre alt, in zerrissener Kleidung.

Bonpland träufelte ihr Medizin in den Mund, sie spuckte, hustete und begann zu schreien. Während er beruhi-gend auf sie einredete, ging Humboldt ungeduldig auf und ab. Starr vor Schreck blickte sie zwischen ihnen hin und her. Bonpland strich ihr über den Kopf, sie fing an zu schluchzen. Jemand müsse ihr Furchtbares angetan haben!

Was denn, fragte Humboldt.

Bonpland warf ihm einen langen Blick zu.

Wie auch immer, sagte Humboldt, sie müßten weiter.

Bonpland gab ihr Wasser, sie trank hastig. Essen wollte sie nicht. Er half ihr auf die Füße. Ohne ein Zeichen der Dankbarkeit riß sie sich los und rannte davon.

Vermutlich die Hitze, sagte Humboldt. Kinder verliefen sich und würden ohnmächtig.

Bonpland sah ihn eine Weile an. Ja, sagte er dann. Vermutlich.

In der Stadt San Fernando verkauften sie ihre Maultiere und erstanden ein breites Segelboot mit einem Holz-verschlag, Lebensmittel für einen Monat und zuverlässige Gewehre. Humboldt erkundigte sich nach Leuten, die Erfahrung mit dem Fluß hatten. Man wies ihn zu vier vor einer Schenke sitzenden Männern. Einer trug einen Zylinder, einem klemmte ein Schilfrohr im Mundwinkel, einer war behängt mit Unmengen von Messingschmuck, der vierte war bleich und arrogant und sprach kein einziges Wort.

Humboldt fragte, ob sie den Kanal zwischen Orinoko und Amazonas kennen würden.

Natürlich, sagte der mit dem Zylinder.

Er habe ihn schon befahren, sagte der mit dem Schmuck.

Er auch, sagte der mit dem Zylinder. Aber es gebe ihn nicht. Alles ein Gerücht.


Humboldt schwieg verwirrt. Wie auch immer, sagte er dann, er wolle diesen Kanal vermessen, er brauche erfah-rene Ruderer.

Der mit dem Zylinder fragte, was zu gewinnen sei.

Geld und Wissen.

Der dritte nahm mit zwei Fingern das Schilfrohr aus dem Mund. Geld, sagte er dann, sei besser als Wissen.

Viel besser, sagte der mit dem Zylinder. Übrigens sei das Leben teuflisch kurz, warum es aufs Spiel setzen?

Weil es kurz sei, sagte Bonpland.

Die vier sahen einander an, dann Humboldt. Sie hie-

ßen, sagte der mit dem Zylinder, Carlos, Gabriel, Mario und Julio, und sie seien gut, aber billig seien sie nicht.

In Ordnung, sagte Humboldt.

Auf dem Weg zur Herberge folgte ihm ein struppiger Schäferhund. Humboldt blieb stehen, der Hund kam heran und drückte die Nase gegen seinen Schuh. Als Humboldt ihn hinter den Ohren kraulte, rülpste er, dann winselte er glücklich, wich zurück und knurrte Bonpland an.

Der gefalle ihm, sagte Humboldt. Offenbar habe er keinen Herrn. Den nehme er mit.

Das Boot sei zu klein, sagte Bonpland. Der Hund sei bissig und rieche nicht gut.

Man werde sich schon verstehen, sagte Humboldt und ließ den Hund in seinem Herbergszimmer schlafen. Als die beiden am nächsten Morgen zum Boot kamen, waren sie schon aneinander gewöhnt, als hätten sie immer zusammengelebt.

Von Hunden sei nie die Rede gewesen, sagte Julio.

Weiter südlich, sagte Mario und schob seinen Zylinder zurecht, wo die Leute wahnsinnig seien und rückwärts sprächen, gebe es Zwerghunde mit Flügeln. Das habe er selbst gesehen.

Er auch, sagte Julio. Aber jetzt seien sie ausgerottet.

Gefressen von den sprechenden Fischen.

Seufzend bestimmte Humboldt mit Sextant und Chronometer die Position der Stadt, wieder einmal waren die Karten ungenau gewesen. Dann legten sie ab.

Bald schon hatten sie die letzten Spuren der Besiedlung hinter sich. Überall sahen sie Krokodile: Die Tiere schwammen im Wasser wie Baumstämme, dösten am Ufer und rissen die Mäuler auf, über ihre Rücken trippelten kleine Reiher. Der Hund sprang ins Wasser, sofort schwamm ein Krokodil auf ihn zu, und als Bonpland ihn wieder ins Boot zog, blutete seine Pfote von den Bissen eines Piranhas. Lianen berührten die Wasserfläche, Stäm-me neigten sich über den Fluß.

Sie vertäuten das Boot, und während Bonpland Pflanzen sammelte, machte Humboldt einen Spaziergang. Er stieg über Wurzeln, zwängte sich zwischen Stämmen hindurch, strich die Fäden eines Spinnennetzes aus seinem Gesicht. Er löste Blüten von Sträuchern, brach einem besonders schönen Falter mit geschicktem Griff den Rük-ken und legte ihn liebevoll in seine Botanisiertrommel.

Dann erst bemerkte er, daß er vor einem Jaguar stand.

Das Tier hob den Kopf und sah ihn an. Humboldt machte einen Schritt zur Seite. Ohne sich zu bewegen, zog das Tier eine Lefze hinauf. Humboldt wurde starr.

Nach sehr langer Zeit legte es den Kopf auf die Vorder-pfoten. Humboldt machte einen Schritt zurück. Und noch einen. Der Jaguar sah ihn aufmerksam, ohne den Kopf zu heben, an. Sein Schwanz schlug nach einer Fliege. Humboldt drehte sich um. Er horchte, aber er hörte nichts hinter sich. Mit angehaltenem Atem, die Arme an den Körper gepreßt, den Kopf auf die Brust gesenkt und den Blick auf die Füße geheftet, ging er los. Langsam, Schritt für Schritt, dann allmählich schneller. Er durfte nicht stolpern, er durfte nicht zurückblicken. Und dann, er konnte nicht anders, begann er zu laufen. Aste hieben ihm ins Gesicht, ein Insekt prallte gegen seine Stirn, er strauchelte, hielt sich an einer Liane fest, ein Ärmel blieb hängen und zerriß, er schlug Zweige aus dem Weg.

Schwitzend und außer Atem erreichte er das Boot.

Sofort ablegen, keuchte er.

Bonpland griff nach dem Gewehr, die Ruderer erhoben sich.

Nein, sagte Humboldt, ablegen!

Das seien gute Waffen, sagte Bonpland. Man könnte das Vieh erlegen und hätte eine schöne Trophäe.

Humboldt schüttelte den Kopf.

Aber warum nicht?

Der Jaguar habe ihn gehen lassen.

Bonpland murmelte etwas von Aberglauben und machte die Leinen los. Die Ruderer grinsten. In der Mitte des Stromes kam Humboldt die eigene Furcht schon nicht mehr verständlich vor. Er entschied, die Ereignisse im Tagebuch so zu beschreiben, wie sie sich hätten abspielen sollen: Er würde behaupten, sie wären zurück ins Unterholz gegangen, die Gewehre im Anschlag, doch ohne das Tier zu finden.

Noch bevor er fertiggeschrieben hatte, begann ein Wolkenbruch. Das Boot füllte sich mit Wasser, hastig steuerten sie an Land. Dort erwartete sie, nackt, bärtig und vor Schmutz kaum erkennbar, ein Mann. Dies sei seine Pflanzung, gegen Entgelt könnten sie übernachten.

Humboldt bezahlte und fragte, wo das Haus sei.

Er habe keines, sagte der Mann. Er sei Don Ignacio, kastilischer Adeliger, und die ganze Welt sei sein Haus.

Dies seien übrigens seine Gattin und Tochter.

Humboldt verbeugte sich vor den zwei nackten Frauen und wußte nicht, wo er hinsehen sollte. Die Ruderer befestigten Stoffplanen an den Bäumen und kauerten sich darunter.

Don Ignacio fragte, ob sie noch etwas brauchten.

Im Moment nicht, sagte Humboldt erschöpft.

Keiner seiner Gäste, sagte Don Ignacio, werde je Mangel leiden. Würdevoll drehte er sich um und ging davon.

Der Regen perlte über seinen Kopf und seine Schultern.

Es roch nach Blüten, feuchter Erde und Dung.

Manchmal, sagte Bonpland nachdenklich, komme es ihm schier rätselhaft vor, daß er hier sei. Unendlich weit von daheim, von niemandem losgeschickt, bloß eines Preußen wegen, den er im Treppenhaus getroffen habe.

Humboldt fand lange keinen Schlaf. Die Ruderer hörten nicht auf, einander wirre Geschichten zuzuflüstern, die sich in seinem Bewußtsein festsetzten. Und jedesmal, wenn er es doch schaffte, die fliegenden Häuser, bedroh-lichen Schlangenfrauen und Kämpfe um Leben und Tod beiseite zu schieben, sah er die Augen des Jaguars. Aufmerksam, klug und ohne Gnade. Dann kam er zu sich und hörte wieder den Regen, die Männer und das ängst-liche Knurren des Hundes. Irgendwann kam Bonpland, wickelte sich in seine Decke und schlief sofort ein. Humboldt hatte ihn nicht weggehen hören.

Am nächsten Morgen, die Sonne stand hoch am Himmel, und es schien nie geregnet zu haben, verabschiedete Don Ignacio sie mit der Geste eines Schloßbesitzers. Sie seien hier immer willkommen! Seine Frau machte einen höfischen Knicks, seine Tochter strich Bonpland über den Arm. Der legte ihr die Hand auf die Schulter und zupfte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

Der Wind war heiß, als käme er aus einem Ofen. Der Uferbewuchs wurde dichter. Unter den Bäumen lagen weiße Schildkröteneier, Eidechsen klammerten sich wie hölzerne Verzierungen an den Bootsrumpf. Immer wieder strichen Spiegelungen von Vögeln übers Wasser, selbst wenn der Himmel leer war.

Ein wundersames optisches Phänomen, sagte Humboldt.

Das habe nichts mit Optik zu tun, sagte Mario. Vögel stürben unablässig, in jedem Moment, eigentlich täten sie wenig anderes. Ihre Geister lebten in den Spiegelungen fort. Irgendwo müßten sie ja hin, im Himmel wolle man sie nicht.

Und die Insekten, fragte Bonpland.

Die stürben gar nicht. Das eben sei das Problem.

Tatsächlich kamen immer mehr Moskitos. Sie kamen aus den Bäumen, der Luft und dem Wasser. Von allen Seiten kamen sie, füllten sirrend die Luft, stachen, saugten, und für jeden, den man erschlug, gab es Hunderte mehr. Ihre Gesichter bluteten ständig. Selbst dicke Tü-

cher, über den Kopf geworfen, brachten keine Erleichte-rung, die Tiere stachen einfach durch den Stoff.


Der Fluß, sagte Julio, dulde keine Menschen. Bevor Aguirre sich hierhin aufgemacht habe, sei er bei Verstand gewesen. Erst hier sei es ihm eingefallen, sich zum Impe-rator zu erklären.

Ein verrückter Mörder, sagte Bonpland, der erste Erforscher des Orinoko! Das ergebe Sinn.

Dieser traurige Mann habe gar nichts erforscht, sagte Humboldt. Ebensowenig erforsche ein Vogel die Luft oder ein Fisch das Wasser.

Oder ein Deutscher den Humor, sagte Bonpland.

Humboldt sah ihn mit gerunzelten Brauen an.

Nur ein Witz, sagte Bonpland.

Aber ein ungerechter. Ein Preuße könne sehr wohl lachen. In Preußen werde viel gelacht. Man solle nur an die Romane von Wieland denken oder die vortrefflichen Komödien von Gryphius. Auch Herder wisse einen guten Scherz wohl zu setzen.

Daran zweifle er nicht, sagte Bonpland müde.

Dann sei es ja gut, sagte Humboldt und kraulte das von den Insektenstichen blutige Fell des Hundes.

Sie fuhren in den Orinoko ein. Der Strom war so breit, daß man glauben konnte, auf dem Meer zu treiben: Weit in der Ferne, wie eine Täuschung, zeichneten sich die Wälder des anderen Ufers ab. Hier gab es kaum noch Wasservögel. Der Himmel schien vor Hitze zu flimmern.

Nach einigen Stunden entdeckte Humboldt, daß sich Flöhe in die Haut seiner Zehen gegraben hatten. Sie mußten die Fahrt unterbrechen; Bonpland ordnete Pflanzen, Humboldt saß im Klappstuhl, die Füße in einer Essigwanne, und zeichnete Karten des Stromverlaufs.


Pulex penetrans der gewöhnliche Sandfloh. Er werde ihn beschreiben, aber nicht einmal im Tagebuch werde er an-deuten, daß er selbst befallen worden sei.

Daran sei doch nichts Schlimmes, sagte Bonpland.

Er habe, sagte Humboldt, viel über die Regeln des Ruhmes nachgedacht. Einen Mann, von dem bekannt sei, daß unter seinen Zehennägeln Flöhe gelebt hätten, nehme keiner mehr ernst. Ganz gleich, was er sonst ge-leistet habe.

Am Tag darauf passierte ein Mißgeschick. An einer besonders breiten Stelle, beide Ufer waren nicht zu sehen, drehte der Wind das Segel gegen die Fahrtrichtung, das Boot neigte sich, eine Welle schwappte herein, schon trieben Dutzende Blätter Papier im Fluß. Das Boot neigte sich stärker, so daß das Wasser bis zu ihren Knien stieg, der Hund jaulte, die Männer wollten von Bord. Humboldt sprang auf, löste blitzschnell den Gürtel mit dem Chronometer und rief mit Offiziersstimme, keiner solle sich rühren. Die Strömung ließ das Boot trudeln, das Segel flappte nutzlos hin und her, die grauen Rücken mehrerer Krokodile näherten sich.

Bonpland machte sich erbötig, zum Ufer zu schwimmen und Hilfe zu holen.

Es gebe keine Hilfe, sagte Humboldt, während er den Gürtel über den Kopf hielt. Falls es jemandem nicht aufgefallen sei, dies sei der Urwald. Man könne nur warten.

Und wirklich: Im letzten Moment griff der Wind ins Segel, und das Boot richtete sich langsam wieder auf.

Leerschöpfen, brüllte Humboldt.

Aufeinander schimpfend arbeiteten die Ruderer mit Töpfen, Mützen und Trinkbechern. Nach kurzem lag das Boot wieder gerade. Papierblätter, getrocknete Pflanzen, Schreibfedern und Bücher schwammen im Fluß. In der Ferne, als hätte er es eilig wegzukommen, trieb ein Zylinder davon.

Manchmal bezweifle er, sagte Bonpland, ob er je heimkommen werde.

Das sei nur realistisch, antwortete Humboldt und überprüfte, ob die Uhren beschädigt waren.

Sie kamen zu den berüchtigten Katarakten. Der Fluß war voller Felsen, das Wasser schäumte so stark, daß es zu kochen schien. Es war unmöglich, mit dem beladenen Boot weiterzufahren. Die Jesuiten der örtlichen Mission, schwer bewaffnet, vierschrötig und Soldaten ähnlicher als Priestern, empfingen sie mißtrauisch. Humboldt suchte den Missionsleiter auf, einen dürren Mann mit fiebergel-bem Gesicht, und zeigte seinen Paß.

Gut, sagte Pater Zea. Er rief einen Befehl aus dem Fenster, kurz darauf brachten sechs Geistliche zwei Eingeborene herein. Diese verdienstvollen Männer, sagte Pater Zea, welche die Katarakte kennen würden wie keine anderen, hätten sich freiwillig gemeldet, ein geeignetes Boot durch die Stromschnellen zu bringen. Die Gäste sollten warten, bis das Boot weiter unten bereitstehe, dann könnten sie weiterfahren. Er machte eine Handbewegung, seine Leute führten die beiden Eingeborenen hinaus und legten ihnen Fußfesseln an.

Er sei sehr dankbar, sagte Humboldt vorsichtig. Aber billigen könne er das nicht.

Ach woher, rief Pater Zea, das habe nichts zu bedeuten und liege nur an der Unberechenbarkeit dieser Menschen. Sie meldeten sich freiwillig, und dann könne man sie plötzlich nicht mehr finden. Auch sähen sie sich alle so ähnlich!

Das Boot für ihre Weiterfahrt wurde herbeigetragen. Es war so schmal, daß sie hintereinander und auf den Kisten mit ihren Instrumenten würden sitzen müssen.

Lieber einen Monat in der Hölle, sagte Bonpland, als das!

Er werde beides bekommen, versprach Pater Zea. Die Hölle und das Boot.

Am Abend servierte man ihnen das erste gute Essen seit Wochen und sogar spanischen Wein. Durch das Fenster hörten sie die durcheinanderredenden Stimmen der Ruderer, die sich über den Verlauf einer Geschichte nicht einigen konnten.

Er habe den Eindruck, sagte Humboldt, hier werde ununterbrochen erzählt. Wozu dieses ständige Herleiern erfundener Lebensläufe, in denen noch nicht einmal eine Lehre stecke?

Man habe alles versucht, sagte Pater Zea. Erfundene Geschichten aufzuschreiben sei in allen Kolonien verboten. Aber die Leute seien hartnäckig, und auch die heilige Macht der Kirche kenne Grenzen. Es liege am Land. Er frage sich, ob der Baron noch dem berühmten La Condamine begegnet sei.

Humboldt schüttelte den Kopf.

Er schon, sagte Bonpland. Ein alter Mann, der sich im Palais Royal mit den Kellnern gestritten habe.

Genau der, sagte der Pater. Hier gebe es noch den einen oder anderen Greis, der sich an ihn erinnere. Auch eine Frau, die vom Pulver eines schlechten Medizinman-nes altere, ohne sterben zu können, ein furchtbarer Anblick übrigens. Ihre Geschichten seien hörenswert. Ob er es erzählen dürfe?

Humboldt seufzte.

Damals, sagte Pater Zea, habe die Akademie ihre drei besten Vermesser geschickt, La Condamine, Bouguer und Godin, um die Meridianlänge des Äquators festzustellen.

Man habe, aus ästhetischen Gründen vor allem, Newtons unschöne These widerlegen wollen, daß die Erde sich durch Rotation abplatte, Pater Zea sah ein paar Sekunden konzentriert auf den Tisch. Ein riesiges Insekt landete auf seiner Stirn. Instinktiv streckte Bonpland die Hand aus, stockte und zog sie wieder zurück.

Den Äquator messen, fuhr Pater Zea fort. Also eine Linie ziehen, wo nie eine gewesen sei. Ob sie sich dort draußen umgesehen hätten? Linien gebe es woanders.

Mit seinem knochigen Arm zeigte er auf das Fenster, das Gestrüpp, die von Insekten umschwärmten Pflanzen.

Nicht hier!

Linien gebe es überall, sagte Humboldt. Sie seien eine Abstraktion. Wo Raum an sich sei, seien Linien.

Raum an sich sei anderswo, sagte Pater Zea.

Raum sei überall!

Überall sei eine Erfindung. Und den Raum an sich gebe es dort, wo Landvermesser ihn hintrügen. Patet Zea schloß die Augen, hob sein Weinglas und stellte es wieder ab, ohne daraus getrunken zu haben. Die drei Männer hätten unvorstellbar genau gearbeitet. Trotzdem hätten ihre Daten nie übereingestimmt. Zwei Bogenminuten auf dem Gerät La Condamines seien drei auf dem Gerät Bouguers gewesen, ein halbes Grad im Fernrohr Godins eineinhalb im Fernrohr La Condamines. Um ihre Linie zu ziehen, seien sie auf astronomische Messungen angewiesen gewesen, solch nützliche, tragbare Uhren, der Pater streifte das Chronometer an Humboldts Gürtel mit einem spöttischen Blick, habe es noch nicht gegeben.

Die Dinge seien noch nicht gewöhnt gewesen ans Ge-messenwerden. Drei Steine und drei Blätter seien noch nicht gleich viele gewesen, fünfzehn Gramm Erbsen und fünfzehn Gramm Erde noch nicht gleich schwer. Dazu die Hitze, die Feuchtigkeit, die Moskitos, der unablässige Kampfeslärm der Tiere. Eine Wut ohne Grund und Ziel sei über die Männer gekommen. Der wohlerzogene La Condamine habe Bouguers Meßgeräte verstellt, der wiederum Godins Bleistifte zerbrochen. Täglich habe es Streit gegeben, bis Godin den Degen gezückt habe und davongestolpert sei in den Urwald. Das gleiche, ein paar Wochen später, zwischen Bouguer und La Condamine.

Pater Zea faltete die Hände. Man müsse sich das vorstellen. Derart zivilisierte Herren mit Allongeperücken, Lor-gnons und parfümierten Taschentüchern! La Condamine habe es am längsten ausgehalten. Acht Jahre im Wald, beschützt von nur einer Handvoll fieberkranker Soldaten. Er habe Schneisen geschlagen, die zugewachsen seien, sobald er sich abgewandt habe, Bäume gefällt, welche schon in der nächsten Nacht wieder in die Luft geragt hätten; und dennoch, halsstarrig, habe er nach und nach ein Zahlennetz über die widerstrebende Natur gezwun-gen. Er habe Dreiecke gezogen, deren Winkelsumme sich allmählich den hundertachtzig genähert, und Bögen trianguliert, deren Krümmung schließlich sogar dem Flirren der Luft widerstanden habe. Dann habe er einen Brief der Akademie erhalten. Die Schlacht sei verloren, der Beweis in Newtons Sinn geführt, die Erde abgeplattet, die ganze Arbeit umsonst.

Bonpland nahm einen riefen Schluck aus der Weinfla-sche. Er schien vergessen zu haben, daß Gläser dastanden und sich das nicht gehörte. Humboldt warf ihm einen strafenden Blick zu.

So sei, sagte Pater Zea, der geschlagene Mann eben heimgefahren. Vier Monate lang, einen noch immer namenlosen Fluß entlang, den er erst später Amazonas getauft habe. Unterwegs habe er Karten gemalt, den Bergen Namen gegeben, die Temperatur verzeichnet, die Arten der Fische, Insekten, Schlangen und Menschen erfaßt. Nicht weil es ihn interessiert habe, sondern um den Verstand zu bewahren. Niemals habe er danach in Paris über die Dinge geredet, an die der eine oder andere seiner Soldaten sich noch erinnert habe: die kehligen Laute und perfekt gezielten Giftpfeile aus dem Unterholz, die nächtlichen Lichterscheinungen, vor allem aber jene winzigen Verschiebungen in der Wirklichkeit, wenn die Welt für Momente einen Schritt ins Irreale gemacht habe. Dann hätten zwar die Bäume noch wie Bäume, die träge strudelnden Wasser wie Wasser ausgesehen, aber man habe es schaudernd als Mimikri von etwas Fremdem erkannt. In dieser Zeit habe La Condamine auch den Kanal gefunden, von dem der verrückte Aguirre berichtet habe. Die Verbindung der zwei größten Flüsse des Kontinents.

Er werde beweisen, daß sie existiere, sagte Humboldt.

Alle großen Ströme seien verbunden. Die Natur sei ein Ganzes.


Ach ja? Pater Zea wiegte zweifelnd den Kopf. Jahre später, als La Condamine, längst Akademiemitglied und alt und berühmt, nur mehr selten schreiend erwacht sei und es angeblich sogar wieder fertiggebracht habe, an Gott zu glauben, habe er selbst den Kanal für einen Irrtum erklärt. Zwischen großen Flüssen, habe er gesagt, gebe es keine Verbindung im Inland. So etwas brächte den Kontinent in eine Unordnung, die seiner nicht würdig wäre. Pater Zea schwieg einen Moment, dann stand er auf und verbeugte sich. Träumen Sie gut, Baron. Und wachen Sie gut auf!

Am frühen Morgen rissen Schmerzensschreie sie aus dem Schlaf. Einer der im Hof angeketteten Männer wurde von zwei Priestern mit Lederriemen gepeitscht. Humboldt lief hinzu und fragte, was hier vorgehe.

Nichts, sagte der eine Priester. Wieso?

Eine ganz alte Angelegenheit, sagte der andere. Es habe nichts mit ihrer Weiterreise zu tun. Er gab dem Indianer einen Tritt, der brauchte einen Moment, bis er verstand und in schlechtem Spanisch bestätigte, daß es eine ganz alte Angelegenheit sei und nichts mit der Reise zu tun habe.

Humboldt zögerte. Bonpland, der dazugekommen war, sah ihn vorwurfsvoll an. Aber sie müßten doch weiter, sagte Humboldt leise. Was solle er denn machen?

Pater Zea rief sie zu sich und zeigte ihnen seinen kost-barsten Besitz. Einen zerzausten Papagei, der einige Sätze im Idiom eines ausgestorbenen Stammes sprach. Vor zwanzig Jahren habe es diese Leute noch gegeben, jetzt lebe kein einziger mehr, und niemand verstehe, was der Vogel zusammenrede.


Humboldt streckte die Hand aus, der Papagei pickte danach, blickte zu Boden, als müsse er nachdenken, schüttelte die Flügel und sagte etwas Unverständliches.

Bonpland erkundigte sich, weshalb der Stamm verschwunden sei.

Das passiere, sagte Pater Zea.

Wieso?

Pater Zea musterte ihn mit schmalen Augen. So sei es natürlich leicht. Man komme und bemitleide jeden, der traurig aussehe, und daheim könne man dann schlimme Geschichten erzählen. Aber wer plötzlich mit fünfzig Mann zehntausend Wilde regieren müsse, wer sich jede Nacht frage, was die Stimmen im Wald bedeuteten, und jeden Morgen verwundert sei, daß er noch lebe, beurteile es vielleicht anders.

Ein Mißverständnis, sagte Humboldt. Niemand habe etwas kritisieren wollen.

Vielleicht doch, sagte Bonpland. Einiges wolle er schon wissen. Er stockte und konnte nicht glauben, daß Humboldt ihn gerade getreten hatte. Der Vogel sah zwischen ihnen hin und her, sagte etwas und blickte sie er-wartungsvoll an.

Richtig, antwortete Humboldt, der nicht unhöflich sein wollte.

Der Vogel schien zu überlegen und fügte einen langen Satz hinzu.

Humboldt streckte die Hand aus, der Vogel hackte danach und wandte sich beleidigt ab.

Während die beiden Indianer das Boot für sie durch die Katarakte lenkten, bestiegen Humboldt und Bonpland die Granitfelsen oberhalb der Mission. In der Höhe sollte es eine alte Grabhöhle geben. Man konnte kaum Tritt fassen, nur herausragende Feldspatkristalle boten Halt. Als sie oben waren, brachte Humboldt mit einer Konzentration, die bloß nachließ, wenn er wieder nach Moskitos schlagen mußte, ein Stück perfekter Prosa über den Anblick der Stromschnellen, der sich über dem Fluß türmenden Regenbogen und des feuchten Silberglanzes der Weite zu Papier. Dann balancierten sie über den Grat zum Nebengipfel und dem Eingang der Höhle.

Es mußten Hunderte Leichen sein, jede in ihrem eigenen Korb aus Palmblättern, die Knochenhände um die Knie gelegt, den Kopf auf den Brustkorb gedrückt. Die ältesten waren schon vollständig zu Skeletten geworden, andere in unterschiedlichen Stadien der Verwesung: per-gamentene Hautfetzen, die Eingeweide zu Klumpen ver-trocknet, die Augen schwarz und klein wie Obstkerne.

Vielen hatte man das Fleisch von den Knochen gekratzt.

Das Geräusch des Flusses drang nicht herauf; es war so still, daß sie ihren Atem hörten.

Friedlich sei es hier, sagte Bonpland, gar nicht wie in der anderen Höhle. Dort seien Tote gewesen, hier nur Körper. Hier fühle man sich sicher.

Humboldt zerrte mehrere Leichen aus ihren Körben, löste Schädel von Wirbelsäulen, brach Zähne aus Kinn-laden und Ringe von Fingern. Eine Kinderleiche und zwei Erwachsene wickelte er in Tücher und schnürte sie so fest zusammen, daß man das Bündel zu zweit tragen konnte.

Bonpland fragte, ob das sein Ernst sei.

Er solle schon anfassen, sagte Humboldt ungeduldig, allein könne er sie nicht zu den Maultieren schaffen!


Erst spät kamen sie in der Mission an. Die Nacht war klar, die Sterne leuchteten besonders hell, Insek-tenschwärme verbreiteten rötliches Licht, es roch nach Vanille. Die Indianer wichen schweigend zurück. Alte Frauen glotzten aus den Fenstern, Kinder liefen davon.

Ein Mann mit bemaltem Gesicht trat ihnen in den Weg und fragte, was in den Tüchern sei.

Verschiedenes, sagte Humboldt. Dies und das.

Gesteinsproben, sagte Bonpland. Pflanzen.

Der Mann verschränkte die Arme.

Knochen, sagte Humboldt.

Bonpland zuckte zusammen.

Knochen?

Von Krokodilen und Seekühen, sagte Bonpland.

Von Seekühen, wiederholte der Mann.

Humboldt fragte, ob er sie sehen wolle.

Besser nicht. Der Mann trat zögernd zur Seite. Lieber glaube er ihnen.

An den nächsten zwei Tagen hatten sie es nicht leicht.

Sie fanden keine indianischen Führer, die ihnen die Umgebung zeigen wollten, und selbst die Jesuiten hatten es immer eilig, wenn Humboldt sie anredete. Diese Leute seien allesamt so abergläubisch, schrieb er an seinen Bruder, man merke, welch weiter Weg es noch sei zu Freiheit und Vernunft. Wenigstens sei es ihm gelungen, einige kleine Affen einzufangen, die noch kein Biologe beschrieben habe.

Am dritten Tag hatten die zwei Freiwilligen, nur leicht verletzt, das Boot unbeschädigt durch die Stromschnellen gebracht. Humboldt schenkte ihnen etwas Geld und ein paar Glasmurmeln, ließ die Instrumentenkisten, die Käfige mit den Affen und die Leichen aufladen und versicherte Pater Zea beim Abschied seiner lebenslangen Dankbarkeit.

Er solle sich vorsehen, sagte der Pater. Sonst werde das kurz sein.

Die vier Ruderer traten hinzu, und es gab eine heftige Diskussion wegen der Ladung. Erst der Hund und dann das! Julio zeigte auf die Stoffbündel mit den Leichen.

Humboldt fragte, ob sie Angst hätten.

Natürlich, sagte Mario.

Aber wovor, fragte Bonpland. Daß die plötzlich auf-wachten?

Genau davor, sagte Julio.

Zumindest, sagte Carlos, werde das teuer werden.

Der Fluß war hinter den Katarakten noch sehr schmal, immer wieder schleuderten Stromschnellen das Boot hin und her. Gischt durchtränkte die Luft, Felsen rasten ge-fährlich nahe vorbei. Die Moskitos waren gnadenlos: Es schien keinen Himmel mehr zu geben, nur noch Insekten. Bald hatten die Männer aufgegeben, nach ihnen zu schlagen. Sie hatten sich daran gewöhnt, ständig zu bluten.

In der nächsten Mission bekamen sie Ameisenpastete zu essen. Bonpland weigerte sich, davon zu nehmen, aber Humboldt kostete ein wenig. Dann entschuldigte er sich und verschwand eine Weile im Unterholz. Nicht uninteressant, sagte er, als er zurückkam. Immerhin eine Möglichkeit, künftige Nahrungsmittelprobleme zu lö- P

sen.

P

Hier sei doch alles menschenleer, sagte Bonpland. Das einzige, wovon es genug gebe, sei Essen!


Der Häuptling des Dorfes fragte, was in den Stoffballen sei. Er habe einen furchtbaren Verdacht.

Seekuhknochen, sagte Bonpland.

So rieche es nicht, sagte der Häuptling.

Na schön, rief Humboldt, er gebe es zu. Aber diese Toten seien so alt, daß man sie eigentlich nicht mehr Leichen nennen könne. Die ganze Welt bestehe schließlich aus toten Körpern! Jede Handvoll Erde sei einmal ein Mensch gewesen und vorher ein anderer Mensch, jede Unze Luft sei tausendfach von inzwischen Verstorbenen geatmet worden. Was hätten sie nur alle, wo sei das Problem?

Er habe ja nur gefragt, sagte der Häuptling schüchtern.

Gegen die Moskitoangtiffe hatten die Dorfbewohner Lehmhütten mit verschließbaren Eingängen gebaut. Im Inneren zündete man ein Feuer an, das die Insekten hin-austrieb, dann kroch man hinein, dichtete den Eingang ab, löschte das Feuer und konnte einige Stunden in der heißen Luft sein, ohne gestochen zu werden. In einer dieser Hütten ordnete Bonpland so lange die gesammelten Pflanzen, bis er vom Qualm in Ohnmacht fiel. Nebenan schrieb Humboldt hustend und halbblind, den röchelnden Hund neben sich, an seinen Bruder. Als sie blinzelnd, mit stinkenden Kleidern und nach Luft schnappend her-auskamen, lief ihnen ein Mann entgegen, der ihnen aus der Hand lesen wollte. Er war nackt, bunt bemalt und trug Federn auf dem Kopf. Humboldt wehrte ab, Bonpland interessierte es. Der Wahrsager faßte seine Finger, zog die Brauen hoch und sah ihm amüsiert in die Handfläche.


Ach, sagte er wie zu sich selbst. Ach, ach.

Ja?

Der Wahrsager wiegte den Kopf. Sicher sei ja gar nichts. Es könne so oder so kommen. Jeder sei seines Glückes Schmied. Wer kenne schon die Zukunft!

Nervös fragte Bonpland, was er da sehe.

Langes Leben. Der Wahrsager hob die Schultern. Kein Zweifel.

Und die Gesundheit?

Im allgemeinen gut.

Zum Teufel, rief Bonpland. Jetzt wolle er wissen, was dieser Blick bedeute.

Welcher Blick? Langes Leben und Gesundheit. Das stehe da, das habe er gesagt. Ob dem Herrn dieser Kontinent gefalle?

Warum?

Er werde sehr lange hiersein.

Bonpland lachte. Das bezweifle er. Ein langes Leben, und dann ausgerechnet hier? Gewiß nicht. Es sei denn, irgend jemand zwinge ihn.

Der Wahrsager seufzte und hielt, wie um ihm Mut zu machen, noch einen Moment seine Hand. Dann wandte er sich Humboldt zu.

Der schüttelte den Kopf.

Es koste fast nichts!

Nein, sagte Humboldt.

Mit einer schnellen Bewegung ergriff der Wahrsager Humboldts Hand. Der wollte sie wegziehen, aber der Wahrsager war stärker; Humboldt, zum Mitspielen ge-zwungen, lächelte säuerlich. Der Wahrsager runzelte die Stirn und zog die Hand näher zu sich heran. Er beugte sich vor und wieder zurück. Kniff die Augen zusammen.

Blies die Backen auf.

Er solle es schon sagen, rief Humboldt. Er habe noch anderes zu tun. Wenn da Schlimmes stehe, sei es ihm auch egal, er glaube ohnehin kein Wort.

Da stehe nichts Schlimmes.

Sondern?

Nichts. Der Wahrsager ließ Humboldts Hand los. Es tue ihm leid, er wolle auch kein Geld. Er habe versagt.

Das begreife er nicht, sagte Humboldt.

Er auch nicht. Da sei nichts. Keine Vergangenheit, keine Gegenwart oder Zukunft. Da sei gewissermaßen keiner zu sehen. Der Wahrsager blickte aufmerksam in Humboldts Gesicht. Niemand!

Humboldt starrte in seine Hand.

Aber natürlich sei das Unsinn. Sicher sei es seine Schuld. Vielleicht verliere er die Gabe. Der Wahrsager zerdrückte eine Mücke auf seinem Bauch. Vielleicht habe er sie nie gehabt.

Am Abend ließen Humboldt und Bonpland den Schäferhund angebunden bei den Ruderern, um eine insektenfreie Nacht in den Qualmhütten zu verbringen.

Erst in den frühen Morgenstunden nickte Humboldt schweißnaß, mit brennenden Augen und vom Rauch wirren Gedanken ein.

Ein Geräusch weckte ihn. Jemand war hereingekrochen und hatte sich neben ihn gelegt. Nicht schon wieder, murmelte er, entzündete mit unsicherer Hand den Kerzendocht und sah, daß es ein kleiner Junge war. Was willst denn du, fragte er, was ist denn, was soll das?

Das Kind musterte ihn mit schmalen Tieraugen.


Was denn, fragte Humboldt, was?

Der junge wandte den Blick nicht von ihm. Er war völlig nackt. Trotz der Flamme vor seinem Gesicht zwin-kerte er nicht.

Aber was denn, flüsterte Humboldt. Was, Kind?

Der Junge lachte.

Humboldts Hand zitterte so stark, daß er die Kerze fallen ließ. Im Dunkeln hörte er ihrer beider Atem. Er streckte die Hand aus, um den Jungen wegzuschieben, aber als er dessen feuchte Haut fühlte, zuckte er zurück, als hätte er einen Schlag bekommen. Geh weg, flüsterte er.

Der Junge rührte sich nicht.

Humboldt sprang auf die Füße, stieß mit dem Kopf an die Decke, trat zu. Der Junge schrie auf, seit der Sache mit den Sandflöhen trug Humboldt nachts Stiefel, und rollte sich zusammen. Er trat wieder zu und traf den Kopf, der Junge wimmerte leise und verstummte. Humboldt hörte sich keuchen. Schemenhaft sah er den reglosen Körper vor sich. Er packte ihn an den Schultern und zerrte ihn hinaus.

Die Nachtluft tat gut; nach dem Qualm in der Hütte kam sie ihm kühl und frisch vor. Mit unsicheren Schritten ging er zur nächsten Hütte, wo Bonpland war. Doch als er die Stimme einer Frau hörte, blieb er stehen. Er horchte, und da war sie wieder. Er wandte sich ab, kroch in seine Hütte, verschloß den Eingang. Durch den kurz geöffneten Vorhang waren Mücken hereingekommen, eine Fledermaus flatterte panisch über seinem Kopf. Mein Gott, flüsterte er. Dann, aus purer Erschöpfung, fiel er in unruhigen Schlaf.


Als er aufwachte, war es heller Morgen, die Hitze war noch stärker geworden, die Fledermaus verschwunden. In makelloser Kleidung, den Degen an der Seite und den Hut unter dem Arm, trat er ins Freie. Der Platz vor der Hütte war leer. Sein Gesicht blutete aus mehreren Schnittwunden.

Bonpland fragte, was ihm passiert sei.

Er habe versucht, sich zu rasieren. Bloß der Moskitos wegen dürfe man nicht verwildern, man sei immerhin ein zivilisierter Mensch. Humboldt setzte sich seinen Hut auf und fragte, ob Bonpland nachts etwas gehört habe.

Nichts Besonderes, sagte Bonpland vorsichtig. Man höre ja viel in der Dunkelheit.

Humboldt nickte. Man träume die seltsamsten Dinge.

Man könne nicht auf alles hören, was man höre, sagte Bonpland.

Man müsse schließlich schlafen, sagte Humboldt.

Am nächsten Tag fuhren sie in den Rio Negro ein, über dessen dunklem Wasser die Moskitos weniger wurden.

Auch die Luft war hier besser. Aber die Gegenwart der Leichen bedrückte die Ruderer, und selbst Humboldt war bleich und schweigsam. Bonpland hielt die Augen geschlossen. Er befürchte, sagte er, sein Fieber komme zurück. Die Affen schrien in ihren Käfigen, rüttelten an den Gittern und schnitten einander Grimassen. Einer bekam sogar die Tür auf, schlug Purzelbäume, belästigte die Ruderer, kletterte am Bootsrand entlang, sprang auf Humboldts Schulter und bespuckte den knurrenden Hund.

Mario bat Humboldt, auch einmal etwas zu erzählen.


Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt.

Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.

Alle sahen ihn an.

Fertig, sagte Humboldt.

Ja wie, fragte Bonpland.

Humboldt griff nach dem Sextanten.

Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.

Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zur Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf. Mit einer schnellen Bewegung packte er den Affen, der gerade versucht hatte, ihm die Schuhe zu öffnen, und steckte ihn in den Käfig. Der Kleine schrie, schnappte nach ihm, streckte die Zunge heraus, machte große Ohren und zeigte ihm sein Hinterteil. Und wenn er sich nicht irre, sagte Humboldt, habe jeder auf diesem Boot Arbeit genug!

Bei San Carlos zeigte die Inklinationsnadel steil ab-wärts, während die Kompaßnadel sich nur zögernd für den Norden entschied. Humboldt betrachtete die Instrumente mit andächtiger Miene. Der magnetische Äquator.

Von diesem Ort hatte er als Kind geträumt.

Gegen Abend erreichten sie die Mündung des legendä-

ren Kanals. Sofort stürzten Mückenschwärme auf sie ein.

Doch mit der Wärme verzog sich der Dunst, der Himmel wurde klar, und Humboldt konnte den Längengrad bestimmen. Er arbeitete die ganze Nacht. Er maß den Winkel der Mondbahn vor dem südlichen Kreuz, dann, zur Kontrolle, fixierte er stundenlang mit dem Teleskop die Geisterflecken der Jupitermonde. Nichts sei zuverlässig, sagte er zu dem ihn aufmerksam beobachtenden Hund. Die Tabellen nicht, nicht die Geräte, nicht einmal der Himmel. Man müsse selbst so genau sein, daß einem die Unordnung nichts anhaben könne.

Erst in den frühen Morgenstunden war er soweit. Er klatschte in die Hände. Aufstehen, keine Zeit verlieren!

Ein Endpunkt des Kanals sei bestimmt, man müsse schnell zum anderen.

Verschlafen fragte Bonpland, ob er befürchte, jemand könne ihm zuvorkommen. Am Ende der Welt, nach all den Jahrhunderten, in denen der gottverdammte Fluß keinen Menschen interessiert habe.

Man wisse nie, sagte Humboldt.

Das Gebiet war auf keiner Karte verzeichnet, sie konnten nur ahnen, wohin das Wasser sie trug. Die Baumstämme standen so eng, daß man nicht ans Ufer konnte, und alle paar Stunden benetzte feiner Sprühregen die Luft, ohne Kühlung zu bringen oder die Insekten zu vertreiben. Bonplands Atem machte pfeifende Geräusche.

Es sei nichts, sagte er hustend, er wisse bloß nicht, ob das Fieber in ihm oder in der Luft sei. Als Arzt empfehle er, nicht tief einzuatmen. Er vermute, die Wälder strömten ungesunde Dämpfe aus. Vielleicht liege es auch an den Leichen.

Ausgeschlossen, sagte Humboldt. An den Leichen liege es nicht.


Endlich fanden sie eine Stelle zum Anlegen. Mit Ma-cheten und Beilen hackten sie einen kleinen Platz für die Übernachtung frei. Über den Flammen ihres Lagerfeuers knallten zerplatzende Moskitos. Eine Fledermaus biß den Hund in die Nase, er blutete stark, drehte sich brummend um sich selbst und wollte nicht ruhig werden. Er flüchtete unter Humboldts Hängematte, sein Knurren hinderte sie lange am Einschlafen.

Am nächsten Morgen brachten Humboldt und Bonpland es nicht fertig, sich zu rasieren, ihre Gesichter waren von den Insektenstichen zu geschwollen. Als sie ihre Beulen im Fluß kühlen wollten, bemerkten sie, daß der Hund fehlte. Humboldt lud hastig das Gewehr.

Keine gute Idee, sagte Carlos. Der Urwald sei nirgendwo dichter, die Luft zu feucht für Waffen. Den Hund habe ein Jaguar geholt, da sei nichts zu machen.

Ohne zu antworten, verschwand Humboldt zwischen den Bäumen.

Neun Stunden später waren sie immer noch da. Zum siebzehnten Mal kam Humboldt zurück, trank Wasser, wusch sich im Fluß und wollte wieder los. Bonpland hielt ihn auf.

Es helfe nichts, der Hund sei weg.

Nie und nimmer, sagte Humboldt. Er gestatte es nicht.

Bonpland legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Hund sei verdammt noch einmal tot!

Vollkommen tot, sagte Julio.

Ganz und gar hinüber, sagte Mario.

Das sei, sagte Carlos, gewissermaßen der toteste Hund aller Zeiten.


Humboldt sah sie alle, einen nach dem anderen, an. Er öffnete und schloß den Mund, dann legte er das Gewehr zu Boden.

Erst Tage darauf kam wieder eine Siedlung in Sicht. Ein vom Schweigen blöd gewordener Missionar begrüßte sie stotternd. Die Menschen waren nackt und bunt gefärbt: Einige hatten sich Fräcke auf die Körper gemalt, andere Uniformen, die sie selbst nie gesehen haben konnten.

Humboldts Miene hellte sich auf, als er erfuhr, daß an diesem Ort Curare angefertigt wurde.

Der Curaremeister war eine würdevolle, priesterlich hagere Gestalt. So, erklärte er, schabe man die Zweige, so zerreibe man die Rinde auf einem Stein, so fülle man, Vorsicht, den Saft in einen Bananenblatttrichter. Auf den Trichter komme es an. Er bezweifle, daß Europa etwas ähnlich Kunstvolles hervorgebracht habe.

Nun ja, sagte Humboldt. Es sei zweifellos ein sehr re-spektabler Trichter.

Und so, sagte der Meister, dampfe man den Stoff in einem Tongefäß ab, aufpassen bitte, selbst das Hinschau-en sei gefährlich, so füge man eingedickten Blätteraufguß hinzu. Und dies, er hielt Humboldt das Tonschälchen hin, sei nun das stärkste Gift dieser und jeder anderen Welt. Damit könne man Engel töten!

Humboldt fragte, ob man es trinken könne.

Man trage es auf Pfeile auf, sagte der Meister. Es zu trinken habe noch keiner versucht. Man sei ja nicht wahnsinnig.

Aber die getöteten Tiere könne man sofort essen?

Das könne man, sagte der Meister. Das sei der Sinn der Sache.


Humboldt betrachtete seinen Zeigefinger. Dann steckte er ihn in die Schüssel und leckte ihn ab.

Der Meister stieß einen Schrei aus.

Keine Sorge, sagte Humboldt. Sein Finger sei heil, seine Mundhöhle auch. Wenn man keine Wunden habe, müsse der Stoff verträglich sein. Die Substanz wolle erforscht werden, er habe es also zu riskieren. Übrigens bitte er um Verzeihung, ihm sei ein wenig schwach zumute. Er sank auf die Knie und blieb eine Weile auf der Erde sitzen. Er rieb sich die Stirn und summte leise vor sich hin. Dann stand er behutsam auf und kaufte dem Meister alle Vorräte ab.

Die Weiterfahrt verzögerte sich um einen Tag. Humboldt und Bonpland saßen nebeneinander auf einem um-gekippten Baum. Humboldts Blick war auf seine Schuhe gerichtet, Bonpland wiederholte unablässig die Anfangs-strophe eines französischen Abzählreims. Sie wußten nun, wie Curare angefertigt wurde, gemeinsam hatten sie nachgewiesen, daß man eine erstaunliche Menge durch den Mund zu sich nehmen konnte, ohne Schlimmeres zu erleiden als ein wenig Schwindel und optische Chimären, daß einem aber schon bei einem winzigen Quantum, eingetropft ins Blut, die Sinne schwanden und bereits das Fünftel eines Gramms reichte, einen kleinen Affen zu tö-

ten, den man jedoch retten konnte, wenn man ihm mit Gewalt Atemluft ins Maul blies, solange das Gift seine Muskeln lähmte. Nach einer Stunde ließ dann die Wirkung nach, allmählich kehrte seine Fähigkeit, sich zu-bewegen, wieder, und bis auf eine leichte Trübsal blieb nichts bei ihm zurück. So kam es ihnen auch wie eine Täuschung vor, als sich plötzlich das Gebüsch teilte und ein schnurrbärtiger Mann in Leinenhemd und ledernem Wams verschwitzt, doch gefaßt vor sie hintrat. Er war wohl Mitte Dreißig, hieß Brombacher und stammte aus Sachsen. Er habe, sagte er, keine Pläne und kein Ziel, er wolle einfach die Welt sehen.

Humboldt schlug ihm vor, mit ihnen zu kommen.

Brombacher lehnte ab. Allein erfahre man mehr, und Deutsche treffe man ohnehin daheim in Mengen.

Stockend, seiner Muttersprache entwöhnt, fragte Humboldt nach Brombachers Heimatstadt, der Höhe ihres Kirchturms, der Zahl ihrer Bewohner.

Brombacher antwortete ruhig und höflich: Bad Kürthing, vierundfünfzig Fuß, achthundertzwei unddreißig Seelen. Er bot ihnen schmutzige Teigfladen an, sie wehr-ten ab. Er erzählte von den Wilden, den Tieren und den einsamen Nächten im Urwald. Nach kurzem stand er auf, lüftete seinen Hut, stapfte davon, und das Blattwerk schloß sich hinter ihm. Unter allen Ungereimtheiten seines Lebens, schrieb Humboldt tags darauf seinem Bruder, sei diese Begegnung die wunderlichste gewesen. Ganz werde er sich nie darüber klar sein, ob sie wirklich stattgefunden habe oder eine letzte Nachwirkung des auf ihrer beider Einbildungskraft lastenden Giftes gewesen sei.

Gegen Abend hatte das Curare sie soweit losgelassen, daß sie wieder umhergehen konnten und sogar Hunger bekamen. Über einem Feuer drehten die Missionsbewohner Spieße mit einem Kinderkopf, drei winzigen Händen und vier Füßchen mit deutlich erkennbaren Zehen. Keine Menschen, erklärte der Missionar, das verhindere man, wo man könne. Nur Äffchen aus dem Wald.

Bonpland weigerte sich, davon zu kosten. Humboldt nahm zögernd eine Hand und biß hinein. Es schmecke nicht schlecht, aber ihm sei nicht wohl dabei. Ob es die Leute beleidige, wenn er nicht aufesse?

Der Missionar schüttelte mit vollem Mund den Kopf.

Das interessiere keinen!

In der Nacht hielt der Lärm der Tierstimmen sie wach.

Die eingesperrten Affen hämmerten gegen die Gitter und wollten nicht aufhören zu schreien. Humboldt schrieb den Anfang einer Betrachtung über die Nachtlaute des Waldes und das Tierdasein, welches man als fortgesetzten Kampf, mithin als das Gegenteil des Paradieses verstehen müsse.

Er vermute, sagte Bonpland, daß der Missionar gelogen habe.

Humboldt sah auf.

Der Mann lebe schon lange hier, sagte Bonpland. Der Urwald habe große Kraft. Es sei ihm wohl peinlich gewesen, darum seine Beteuerung. Die Leute hier äßen Menschenfleisch, das habe Pater Zea gesagt, und jeder wisse es. Was könne ein Missionar allein dagegen tun?

Unsinn, sagte Humboldt.

Doch, sagte Julio. Das klinge vernünftig.

Humboldt schwieg einen Moment. Er bitte um Verzeihung. Sie seien alle schon arg mitgenommen. Er habe viel Verständnis. Aber wenn noch einmal jemand die Un-terstellung äußere, daß der Patensohn des Herzogs von Braunschweig Menschenfleisch gegessen habe, werde er zur Waffe greifen.

Bonpland lachte.

Er meine es ernst, sagte Humboldt.

Doch nicht wirklich, sagte Bonpland.


Allerdings.

Alle schwiegen beklommen. Bonpland holte Luft, sagte jedoch nichts. Einer nach dem anderen drehten sie sich zum Feuer und stellten sich schlafend.

Von nun an wurde Bonplands Fieber schlimmer. Immer öfter stand er in den Nächten auf und sank nach einigen Schritten kichernd in sich zusammen. Einmal war Humboldt, als beuge sich jemand über ihn. Schemenhaft erkannte er Bonplands Gesicht, die Zähne gefletscht, in der Hand eine Machete. Hastig überlegte er. Man träum-te hier Sonderbares, das wußte er nur zu gut. Er brauchte Bonpland. Er mußte ihm vertrauen. Es war also ein Traum. Er schloß die Augen und zwang sich, bewegungs-los liegen zu bleiben, bis er das Geräusch von Schritten hörte. Als er das nächste Mal blinzelte, lag Bonpland mit geschlossenen Augen neben ihm.

Tagsüber flossen die Stunden ineinander; die Sonne hing sehr tief und feurig über dem Fluß, es schmerzte, sie anzusehen, die Moskitos griffen von allen Seiten an, selbst die Ruderer waren zu erschöpft zum Reden. Eine Zeitlang folgte ihnen eine metallene Scheibe, flog vor und dann wieder hinter ihnen, glitt lautlos durch den Himmel, verschwand, tauchte wieder auf, kam für Minuten so nahe, daß Humboldt mit dem Fernrohr die gekrümmte Spiegelung des Flusses, ihres Bootes und seiner selbst auf ihrer gleißenden Oberfläche wahrnehmen konnte. Dann raste sie davon und kam nie wieder.

Bei klarem Wetter erreichten sie das Ende des Kanals.

Im Norden erhoben sich granitweiße Berge, auf der anderen Seite erstreckten sich grasige Ebenen. Humboldt fixierte die untergehende Sonne mit dem Sextanten und maß den Winkel zwischen der Jupiterbahn und jener des vorbeiwandernden Mondes.

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