Jetzt erst, sagte er, existiere der Kanal wirklich.

Stromabwärts, sagte Mario, werde es schneller voran-gehen. Man müsse die Strudel nicht mehr fürchten und könne sich in der Mitte halten. So entkomme man den Moskitos.

Das bezweifle er, sagte Bonpland. Er glaube nicht mehr an einen Ort ohne sie. Selbst in seine Erinnerungen seien sie geraten. Denke er an La Rochelle, so finde er die Stadt voller Insekten.

Daß der Kanal jetzt auf den Karten verzeichnet sei, erklärte Humboldt, werde die Wohlfahrt des gesamten Erdteils befördern. Man könne nun Güter quer über den Kontinent bringen, neue Handelszentren würden entstehen, ungeahnte Unternehmungen seien möglich.

Bonpland bekam einen Hustenanfall. Tränen liefen ihm über das Gesicht, er spuckte Blut. Hier sei nichts, keuchte er. Es sei heißer als in der Hölle, es gebe nur Gestank, Moskitos und Schlangen. Hier werde nie etwas sein, und dieser dreckige Kanal werde nichts daran ändern. Könnten sie jetzt endlich zurück?

Humboldt starrte ihn ein paar Sekunden an. Das habe er noch nicht entschieden. Die Mission Esmeralda sei die letzte christliche Siedlung vor der Wildnis. Von dort aus komme man durch unerforschtes Gebiet in wenigen Wochen zum Amazonas. Dessen Quellen habe noch keiner gefunden.

Mario bekreuzigte sich.

Andererseits, sagte Humboldt nachdenklich, sei es vielleicht unklug. Die Sache sei nicht ungefährlich. Wenn er nun unterginge, verschwänden mit ihm alle Funde und Ergebnisse. Niemand würde davon erfahren.

Das dürfe man nicht riskieren, sagte Bonpland.

Tollkühn wäre es, sagte Julio.

Gar nicht zu reden von denen! Mario zeigte auf die Leichen. Niemand würde sie zu sehen kriegen!

Humboldt nickte. Manchmal müsse man zurückstehen können.

Die Mission Esmeralda bestand aus sechs Häusern zwischen riesigen Bananenstauden. Es gab nicht einmal einen Missionar, nur ein alter spanischer Soldat stand fünfzehn Familien von Indianern vor. Humboldt engagierte einige Männer, um die Termiten aus dem Holz des Bootes zu schaben.

Die Entscheidung, nicht weiterzufahren, sei die richtige, sagte der Soldat. In der Wildnis hinter der Mission töteten die Menschen ohne Hemmungen. Sie hätten mehrere Köpfe, seien unsterblich und unterhielten sich in Katzensprachen.

Humboldt seufzte bekümmert; es ärgerte ihn, daß nun ein anderer die Amazonasquellen finden würde. Um sich abzulenken, studierte er die Bilder von Sonnen, Monden und kompliziert gerollten Schlangen, die fast hundert Meter über dem Fluß in den Fels geritzt waren.

Früher müsse das Wasser höher gestanden haben, sagte der Soldat.

So hoch nicht, sagte Humboldt. Offenbar seien die Felsen niedriger gewesen. Er habe einen Lehrer in Deutschland, dem er das kaum mitzuteilen wage.

Oder fliegende Menschen, sagte der Soldat.

Humboldt lächelte.


Viele Wesen flögen, sagte der Soldat, und keiner finde etwas dabei. Hingegen habe noch niemand gesehen, wie ein Berg sich aufrichte.

Menschen flögen nicht, sagte Humboldt. Selbst wenn er es sähe, würde er es nicht glauben.

Und das sei dann Wissenschaft?

Ja, sagte Humboldt, genau das sei Wissenschaft.

Als das Boot wiederhergestellt und Bonplands Fieber gesunken war, traten sie den Rückweg an. Zum Abschied bat der Soldat Humboldt, in der Hauptstadt ein gutes Wort für ihn einzulegen, damit man ihn anderswohin versetze. Es sei ja nicht auszuhalten. Erst neulich habe er eine Spinne in seinem Essen gefunden, er hielt beide Handflächen nebeneinander, so groß! Zwölf Jahre, das sei einem Menschen nicht zuzumuten. Hoffnungsvoll schenkte er Humboldt zwei Papageien und winkte ihnen lange hinterher.

Mario hatte recht gehabt: Stromabwärts ging es schneller, und die Insekten waren in der Flußmitte nicht so ag-gressiv. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Jesuitenmission, wo Pater Zea sie mit Verwunderung begrüßte.

Er habe nicht erwartet, sie so bald wiederzusehen. Bemerkenswerte Robustheit! Wie seien sie mit den Kannibalen zurechtgekommen?

Er habe keine getroffen, sagte Humboldt.

Komisch, sagte Pater Zea. Praktisch alle Stämme dort unten seien Menschenfresser.

Könne er nicht bestätigen, sagte Humboldt und runzelte die Stirn.

Seine Missionsbewohner hätten seit ihrer Abfahrt keine Ruhe mehr gefunden, sagte Pater Zea. Es habe sie doch sehr aufgewühlt, daß man ihre Vorfahren aus den Gräbern geholt habe. Vielleicht sei es besser, sie wechselten gleich in ihr altes Boot und reisten weiter.

Es sehe aus, als stehe ein Unwetter bevor, wandte Humboldt ein.

Das dürfe man nicht abwarten, sagte Pater Zea. Die Lage sei ernst, und er könne für nichts garantieren.

Humboldt überlegte einen Moment. Der Obrigkeit, sagte er dann, müsse man Folge leisten.

Am Nachmittag darauf ballten sich Wolken zusammen, Donner rollte fern über die Ebene, und plötzlich waren sie im stärksten Gewitter, das sie je erlebt hatten.

Humboldt ließ die Segel streichen und Kisten, Leichen und Tierkäfige auf einer Felseninsel abladen.

Das habe man nun davon, sagte Julio.

Regen habe noch keinem geschadet, sagte Mario.

Regen schade jedem, sagte Carlos. Er könne einen umbringen. Er habe schon manchen umgebracht.

Sie würden nie mehr heimkommen, sagte Julio.

Und wenn schon, sagte Mario. Daheim habe es ihm nie gefallen.

Daheim, sagte Carlos, sei der Tod.

Humboldt wies sie an, das Boot drüben am Ufer zu vertäuen. Sie legten ab, in diesem Moment ließ eine Flut-welle den Fluß anschwellen und riß das Boot mit. Bonpland und Humboldt sahen noch, wie eines der Ruder davonflog, dann nahm das schäumende Wasser ihnen die Sicht. Sekunden später blitzte das Boot noch einmal weit in der Ferne auf, dann war es mit allen vier Ruderern dahin.

Und jetzt, fragte Humboldt.


Da sie nun einmal hier seien, sagte Bonpland, könnten sie doch die Felsen untersuchen.

Eine Höhle führte unter einen der Katarakte. Über ihren Köpfen donnerte das Wasser, durch Löcher in der Decke stürzte es in breiten Säulen herab, zwischen denen man trocken stehen konnte. Mit heiserer Stimme schlug Bonpland vor, die Temperatur zu messen.

Humboldt wirkte erschöpft. Er könne es nicht erklä-

ren, aber in manchen Augenblicken sei er nahe daran, alles fahrenzulassen. Mit langsamen Bewegungen hantierte er an den Instrumenten. Und jetzt hinaus, die Höhle könne jeden Moment überschwemmt werden!

Eilig liefen sie ins Freie.

Der Regen hatte an Stärke gewonnen. Das Wasser er-goß sich über sie wie aus Eimern, tränkte ihre Kleider, füllte die Schuhe und machte den Boden so glitschig, daß sie kaum Halt fanden. Sie setzten sich und warteten.

Krokodile glitten durch die Gischt. In den Käfigen brüllten die Affen, trommelten an die Türen und rissen an den Gittern. Die zwei Papageien hingen wie durchnäßte Handtücher an ihren Stangen. Der eine glotzte bedrückt vor sich hin, der andere murmelte unablässig Beschwerden in schlechtem Spanisch.

Und was, fragte Humboldt, wenn das Boot nicht zu-rückkomme?

Das werde es schon, sagte Bonpland. Nur die Ruhe.

Der Regen, als wollte der Himmel sie von der Insel spülen, wurde noch stärker. Der Horizont flackerte von Blitzen, der Donner brach sich an den Uferfelsen jenseits des Flusses, so daß das Echo jedes Schlages sich in den nächsten mischte.


Nicht gut sei das, sagte Humboldt. Sie seien von Wasser umgeben und säßen am höchsten Punkt. Hoffentlich habe Herr Franklin mit seiner Theorie des Blitzschlags unrecht.

Bonpland holte schweigend seine Flasche hervor und trank.

Und er sei überrascht, sagte Humboldt, daß es in den Stromschnellen so viele Echsen gebe. Das widerspreche den Annahmen der Zoologie.

Bonpland nahm noch einen Schluck.

Andererseits habe man ja Beispiele für Fische, die sogar Wasserfälle emporklettern könnten.

Bonpland zog die Augenbrauen hoch. Der Donner war zu einem nicht mehr nachlassenden Getöse geworden.

Am anderen Ende der Insel, keine fünfzig Schritte von ihnen, wuchtete sich etwas Großes und Dunkles auf den Stein.

Wenn sie stürben, sagte Humboldt, würde niemand von ihnen erfahren.

Und wenn schon, sagte Bonpland und warf die leere Flasche weg. Tot sei tot.

Humboldt sah besorgt nach dem Krokodil. Falls sie zurück zur Küste kämen, werde er alles seinem Bruder schicken: Pflanzen, Karten, Tagebücher und Sammlungen. Auf zwei getrennten Schiffen. Dann erst werde er zu den Kordilleren aufbrechen.

Den Kordilleren?

Humboldt nickte. Er wolle die großen Vulkane sehen. Die Neptunismusfrage müsse ein für allemal geklärt werden.

Bald wußten sie nicht mehr, wie lange sie warteten.


Einmal war eine tote Kuh vorbeigetrieben, dann der Deckel eines Klaviers, dann ein Schachbrett und ein zerbrochener Schaukelstuhl. Humboldt holte vorsichtig die Uhr hervor, horchte auf ihr leises Pariser Ticken und spähte durch die Wachstuchhülle nach den Zeigern. Entweder war der Beginn des Gewitters erst wenige Minuten her, oder sie saßen schon über zwölf Stunden fest, oder aber der Regen hatte nicht bloß Fluß, Wald und Himmel, sondern die Zeit selbst durcheinandergebracht, hatte ein paar Stunden einfach fortgespült, so daß der neue Mittag mit der Nachtstunde und dem nächsten Morgen zusammenfloß. Humboldt legte die Arme um seine Knie.

Manchmal, sagte er, wundere es ihn. Von Rechts wegen hätte er Bergwerke inspizieren sollen. Hätte ein deutsches Schloß bewohnt, Kinder gezeugt, sonntags Hirsche gejagt und einmal im Monat die Stadt Weimar aufgesucht. Und nun sitze er hier, bei Sintflut, unter fremden Sternen, ein Boot erwartend, das nicht kommen werde.

Bonpland fragte, ob es ihm als Fehler erscheine. Schloß, Kinder, Weimar. Das sei doch etwas!

Humboldt nahm seinen Hut ab, den das Wasser in einen nutzlosen Klumpen verwandelt hatte. Eine Fledermaus stieg aus dem Wald, verfing sich im Sturm, wurde vom Regen hinuntergedrückt und nach ein paar Flügelschlägen vom Wasser mitgerissen.

Der Gedanke sei ihm nie gekommen.

Nicht für eine einzige Sekunde?

Humboldt beugte sich vor und spähte nach dem Krokodil. Er überlegte. Dann schüttelte er den Kopf.


Die

Sterne


Nachdem er angekündigt hatte, wo und wann der Planet zum nächsten Mal auftauchen werde und ihm na-türlich keiner geglaubt hatte und der elende Steinklum-pen dann doch auf Tag und Stunde genau aus der Nacht getreten war, war er jetzt also berühmt. Die Astronomie war eine populäre Wissenschaft. Könige interessierten sich dafür, Generäle verfolgten ihre Entwicklungen, Fürsten schrieben Preise für Entdeckungen aus, und die Zeitungen berichteten über Maskelyne, Mason, Dixon und Piazzi wie über Helden. Einer, der für immer den Horizont der Mathematik erweitert hatte, war eine Ku-riosität. Wer aber einen Stern entdeckte, ein gemachter Mann.

Ja nun, sagte der Herzog, da sehe man es. Jetzt habe er es doch geschafft.

Gauß, der nicht wußte, was er darauf antworten sollte, verbeugte sich stumm.

Und sonst, fragte der Herzog nach der üblichen Nach-denkpause. Persönlich? Er habe gehört, man wolle heiraten?

Doch doch, sagte Gauß, ja.

Der Audienzraum hatte sich verändert. Die Deckenspiegel, offenbar aus der Mode gekommen, hatte man durch goldenes Blattwerk ersetzt, und es brannten weniger Kerzen. Auch der Herzog sah anders aus: Er war älter geworden. Ein Augenlid hing schlaff herab, die Wangen waren wulstig, sein schwerer Körper schien schmerzhaft fest auf seine Knie zu drücken.

Eine Gerberstochter, habe er gehört?

Stimmt, sagte Gauß. Lächelnd fügte er hinzu: Eure Hoheit. Was für eine Anrede! Was für ein Ort. Er mußte sich zusammennehmen, damit er nicht respektlos wirkte.

Dabei mochte er diesen Herzog. Er war kein übler Mann, er bemühte sich, die Dinge richtig zu machen, und im Vergleich zu den meisten war er nicht einmal dumm.

Eine Familie, sagte der Herzog, müsse ernährt werden.

Das sei nicht zu leugnen, sagte Gauß. Deshalb habe er sich ja der Ceres gewidmet.

Der Herzog sah ihn mit gerunzelter Stirn an.

Gauß seufzte. Ceres, sagte er betont langsam, habe man den Planetoiden getauft, den Piazzi zuerst gesichtet und dessen Umlaufbahn er, Gauß, bestimmt habe. Er habe sich dem Problem überhaupt nur seiner Heiratspläne wegen gewidmet. Er habe gewußt, daß er jetzt etwas Praktisches leisten müsse, das auch Leute begreifen könnten, die weniger ... Er zögerte. Auch Leute begreifen könnten, die sich für Mathematik nicht interessierten.

Der Herzog nickte. Gauß erinnette sich, daß er ihn nicht direkt ansehen sollte, und schlug die Augen nieder.

Er fragte sich, wann endlich das Angebot kommen würde.

Immer das langwierige Hin und Her, immer solchee Umschweife. All die ans Gerede verlorene Zeit!

In diesem Sinn habe er eine Idee, sagte der Herzog.

Gauß zog die Augenbrauen weit hinauf, um Überra-schung zu mimen. Er wußte, daß die Idee von Zimmermann war, der stundenlang auf den Herzog eingeredet hatte.

Vielleicht sei ihm aufgefallen, daß Braunschweig noch keine Sternwarte habe.

Beizeiten, sagte Gauß.

Was?

Es sei ihm aufgefallen.

Nun frage er sich, ob die Stadt nicht eine bekommen müsse. Und Doktor Gauß, trotz seiner Jugend, solle ihr erster Direktor sein. Der Herzog stemmte die Hände in die Seiten. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lä-

cheln. Das überrasche ihn, nicht wahr?

Er wolle einen Professorentitel dazu, sagte Gauß.

Der Herzog schwieg.

Einen Professorentitel, wiederholte Gauß, jede Silbe betonend. Eine Anstellung bei der Universität Helmstedt.

Doppelte monatliche Bezüge.

Der Herzog trat vor und wieder zurück, machte ein brummendes Geräusch, blickte an die goldblattverzier-te Decke. Gauß nutzte die Zeit, um einige Primzahlen abzuzählen. Er hatte schon viele tausend davon. Er war ziemlich sicher, daß man nie eine Formel finden würde, sie zu ermitteln. Aber wenn man viele hunderttausend abzählte, konnte man die Wahrscheinlichkeit ihres Auftauchens asymptotisch bestimmen. Für einen Moment war er so konzentriert, daß er zusammenzuckte, als der Herzog sagte, man feilsche nicht mit seinem Landes-vater.

Das liege ihm auch fern, sagte Gauß. Hingegen halte er es für notwendig mitzuteilen, daß ihm ein Angebot aus Berlin gemacht worden sei sowie von der Akademie in Sankt Petersburg. Rußland habe ihn immer interessiert.

Schon oft habe er sich vorgenommen, die russische Sprache zu lernen.

Petersburg, sagte der Herzog, sei weit weg. Auch Berlin sei nicht in der Nähe. Wenn man es recht bedenke, sei der allernächste Platz dieser hier. Jeder andere sei anderswo. Selbst Göttingen. Er sei kein Wissenschaftler, er bitte, ihn zu korrigieren, falls er sich irre.

Doch, sagte Gauß mit auf den Boden gehefteten Augen.

Das sei schon richtig.

Und wen nicht die Heimatliebe halte, der könne wenigstens berücksichtigen, daß das Reisen anstrengend sei.

Anderswo müsse man sich erst einrichten, man habe Scherereien, das Umziehen gehe ins Geld und sei eine Höllenarbeit. Womöglich habe man auch eine alte Mutter daheim.

Gauß spürte, wie er rot wurde. Das geschah immer, wenn jemand seine Mutter erwähnte; nicht aus Scham, sondern weil er sie so liebte. Dennoch, er mußte sich räuspern und wiederholte: Dennoch, man könne nicht immer, wie man wolle. Wer Familie habe, brauche Geld und müsse dorthin, wo es zu holen sei.

Man werde sich einigen, sagte der Herzog. Ein Professorentitel sei möglich. Wenn auch nicht bei doppelten Bezügen.

Wenn man aber den Titel der Bezüge wegen wolle?

Dann gereiche man seiner Profession nicht zur Ehre, sagte der Herzog kühl.

Gauß wurde klar, daß er zu weit gegangen war. Er verbeugte sich, der Herzog entließ ihn mit einer Handbewegung, sofort öffnete ein Diener hinter ihm die Tür.

Während er auf das schriftliche Angebot des Hofes wartete, beschäftigte er sich mit der Kunst der Orbit-berechnung. Eine Sternenbahn, sagte er zu Johanna, sei nicht bloß irgendeine Bewegung, sondern das notwendige Resultat der Einflüsse, die alle Körper auf einen einzelnen Körper in der Leere ausübten: jene Linie also, die in exakt gleicher Krümmung auf dem Papier und im Raum entstehe, wenn man einen Gegenstand in die Freiheit schleudere. Das Rätsel der Gravitation. Das zähe Zusammenstreben aller Körper.

Das Zusammenstreben der Körper, wiederholte sie und schlug mit dem Fächer auf seine Schulter. Er wollte sie küssen, sie wich lachend zurück. Er war nie dahinter gekommen, warum sie ihre Meinung geändert hatte. Seit ihrem zweiten Brief hatte sie getan, als wäre es das Selbstverständlichste. Und es gefiel ihm, daß es Dinge gab, die er nicht begriff.

Zwei Tage vor der Hochzeit ritt er nach Göttingen, um Nina ein letztes Mal zu besuchen.

Jetzt heiratest du, sagte sie, und natürlich nicht mich.

Nein, antwortete er, natürlich nicht.

Sie fragte, ob er sie gar nicht liebgehabt habe.

Ein wenig, antwortete er, während er die Schnüre ihres Kleides löste und gar nicht glauben konnte, daß er eben das übermorgen bei Johanna tun würde. Das andere Versprechen aber werde er halten, er werde Russisch lernen.

Und obwohl sie versicherte, es habe nichts zu bedeuten, in ihrem Beruf werde man sentimental, verblüffte es ihn und mißfiel ihm auch, daß sie weinte.


Das Pferd schnaubte ärgerlich, als er es auf dem Rückweg auf freiem Feld zum Stehen brachte. Ihm war klar-geworden, wie man aus den Bahnstörungen der Ceres die Masse des Jupiter ermitteln konnte. Er sah in den Nachthimmel, bis sein Nacken weh tat. Noch vor kurzem waren dort bloß leuchtende Punkte gewesen. Jetzt unterschied er ihre Formationen, wußte, welche von ihnen die für die Orientierung auf dem Meer wichtigen Breitengrade markierten, kannte ihre Wege, die Stunden ihres Verschwindens und ihrer Wiederkehr. Ganz von selbst, und eigentlich nur, weil er Geld brauchte, waren sie zu seinem Beruf und er zu ihrem Leser geworden.

Zur Hochzeit kamen wenige Gäste: sein alter und schon sehr gebeugter Vater, seine kindisch schluchzende Mutter, Martin Bartels und Professor Zimmermann, au-

ßerdem Johannas Familie, ihre häßliche Freundin Minna sowie ein Sekretär des Hofes, der nicht zu wissen schien, warum man ihn hergeschickt hatte. Während des spar-sam zubereiteten Festmahls sprach Gauß’ Vater darüber, daß man sich nicht beugen lassen dürfe, niemals, von keinem, dann erhob sich Zimmermann, öffnete den Mund, lächelte liebenswürdig in die Runde und setzte sich wieder. Bartels stieß Gauß an.

Der stand auf, schluckte und sagte, er habe nicht erwartet, daß er etwas wie Glück finden würde, und im Grunde glaube er auch jetzt nicht daran. Es komme ihm wie ein Rechenfehler vor, ein Irrtum, von dem er nur hoffe, keiner werde ihn aufdecken. Er nahm wieder Platz und wunderte sich über die fassungslosen Blik-ke. Leise fragte er Johanna, ob er etwas Falsches gesagt habe.


Aber woher denn, antwortete sie. Genau diese Rede habe sie sich immer für ihre Hochzeit erträumt.

Eine Stunde später waren die letzten Gäste gegangen und er und Johanna auf dem Weg nach Hause. Sie sprachen wenig. Plötzlich waren sie einander fremd.

Im Schlafzimmer zog er die Vorhänge zu, trat zu ihr, spürte, wie sie zurückweichen wollte, hielt sie sanft fest und begann, die Bänder ihres Kleids zu öffnen. Ohne Licht war das nicht einfach; Nina hatte immer Sachen getragen, bei denen es leichter gewesen war. Es dauerte lange, der Stoff war so widerspenstig und der Bänder waren so viele, daß er selbst schon kaum mehr für möglich hielt, daß er sie noch immer nicht gelöst hatte. Aber dann hatte er es doch geschafft, das Kleid sank hinab, und die Nacktheit ihrer Schultern zeichnete sich weiß im Dunkel ab. Er legte ihr den Arm um die Schultern, instinktiv schützte sie ihre Brüste mit den Händen, und er spürte ihr Widerstreben, als er sie zum Bett führte. Er überlegte, wie er mit ihrem Unterrock verfahren sollte, es war schon mit dem Kleid so schwierig gewesen. Wieso trugen Frauen nicht Sachen, die man aufbekam? Keine Angst, flüsterte er und war doch überrascht, als sie antwortete, sie habe keine, und mit einem Griff, auf dessen Zielsicherheit ihn nichts vorbereitet hatte, seinen Gürtel öffnete. Hast du das schon einmal getan? Was er denn von ihr denke, fragte sie lachend, und im nächsten Augenblick bauschte sich ihr Unterrock auf dem Boden, und da sie zögerte, zog er sie mit sich, und schon lagen sie nebeneinander und atmeten schwer, und jeder wartete darauf, daß der Herzschlag des anderen sich beruhigte. Als er seine Hand über ihre Brust zum Bauch und dann, er entschied sich, es zu wagen, obwohl ihm war, als müsse er sich dafür entschuldigen, weiter hinabwandern ließ, tauchte die Mondscheibe bleich und beschlagen zwischen den Vorhängen auf, und er schämte sich, daß ihm ausgerechnet in diesem Moment klar wurde, wie man Meßfehler der Planetenbahnen approximativ korrigieren konnte. Er hätte es gern notiert, aber jetzt kroch ihre Hand an seinem Rücken abwärts. So habe sie es sich nicht vorgestellt, sagte sie mit einer Mischung aus Schrek-ken und Neugier, so lebendig, als wäre ein drittes Wesen mit ihnen. Er wälzte sich auf sie, und weil er fühlte, daß sie erschrak, wartete er einen Moment, dann schlang sie ihre Beine um seinen Körper, doch er bat um Verzeihung, stand auf, stolperte zum Tisch, tauchte die Feder ein und schrieb, ohne Licht zu machen: Summe d.

Quadr. d. Differenz zw. beob. u. berechn. Min. , es war zu wichtig, er durfte es nicht vergessen. Er hörte sie sagen, sie könne es nicht glauben und sie glaube es auch nicht, selbst jetzt, während sie es erlebe. Aber er war schon fertig. Auf dem Weg zurück stieß er mit dem Fuß gegen den Bettpfosten, dann spürte er sie wieder unter sich, und erst als sie ihn an sich zog, bemerkte er, wie nervös er eigentlich war, und für einen Augenblick wunderte es ihn sehr, daß sie beide, die kaum etwas voneinander wußten, in diese Lage geraten waren. Doch dann wurde etwas anders, und er hatte keine Scheu mehr, und gegen Morgen kannten sie einander schon so gut, als hätten sie es immer geübt und immer miteinander.

Machte Glück dumm? Wenn er in den nächsten Wochen in den Disquisitiones blätterte, kam es ihm schon seltsam vor, daß das von ihm sein sollte. Er mußte sich zusammennehmen, um alle Ableitungen zu verstehen. Er fragte sich, ob sein Geist ins Mittelmaß sank. Die Astronomie war von gröberer Art als die Mathematik. Man konnte die Probleme nicht nur durch Nachdenken lösen, jemand mußte durch ein Okular starren, bis ihm die Augen weh taten, und ein anderer mußte die Meßergebnisse in ermüdend langen Tabellen festhalten. Für ihn tat das ein Herr Bessel in Bremen, dessen einzige Begabung darin bestand, daß er sich nie irrte. Als Direktor einer Sternwarte hatte Gauß das Recht, Hilfskräfte zu beauftragen –

auch wenn noch nicht einmal der Grundstein dieser Warte gelegt war.

Mehrmals hatte er um Audienz angesucht, aber der Herzog war stets beschäftigt. Er schrieb einen wütenden Brief und bekam keine Antwort. Er schrieb einen zweiten, und als noch immer keiner reagierte, wartete er so lange vor dem Audienzzimmer, bis ihn ein Sekretär mit wirrem Haar und unordentlicher Uniform nach Hause schickte. Auf der Straße begegnete er Zimmermann und beklagte sich bitter.

Der Professor sah ihn an wie eine Erscheinung und fragte, ob er wirklich nicht wisse, daß Krieg sei.

Gauß blickte sich um. Die Straße lag ruhig im Son-nenschein, ein Bäcker trug einen Brotkorb vorbei, über dem Kirchendach funkelte träge das Blech des Wetter-hahns. Es duftete nach Flieder. Krieg?

Tatsächlich hatte er seit Wochen keine Zeitung gelesen. Bei Bartels, der alles aufhob, setzte er sich vor einen Stapel alter Journale. Grimmig überblätterte er einen Bericht Alexander von Humboldts über das Hochland von Caxamarca. Wo zum Teufel war dieser Kerl nicht gewesen? Doch gerade als er bei den Kriegsberichterstattungen anlangte, unterbrach ihn das Räderknirschen einer Fuhrwerkkolonne. Bajonette, Reiterhelme und Lanzen bewegten sich eine halbe Stunde lang am Fenster vorbei.

Bartels kam atemlos heim und erzählte, daß in einer der Kutschen der Herzog liege, bei Jena angeschossen, blutend wie Vieh, im Sterben. Alles sei verloren.

Gauß faltete die Zeitung zusammen. Dann könne er ja heimgehen.

Er durfte es keinem sagen, aber dieser Bonaparte interessierte ihn. Angeblich diktierte er bis zu sechs Briefe zugleich. Einst hatte er eine vorzügliche Abhandlung über das Problem der Kreisteilung mit festgestelltem Zirkel verfaßt. Schlachten gewann er, indem er als erster und am überzeugendsten behauptete, gewonnen zu haben.

Er dachte schneller und gründlicher als die anderen, das war das ganze Geheimnis. Gauß fragte sich, ob Napoleon wohl von ihm gehört hatte.

Mit der Sternwarte werde es so bald nichts, sagte er beim Abendessen zu Johanna. Noch immer beobachte er den Himmel von seinem Wohnzimmer aus, das sei doch kein Zustand! Er habe ein Angebot aus Göttingen. Dort wolle man ebenfalls ein Observatorium bauen, es sei nicht weit, er könnte von dort jede Woche seine Mutter besuchen. Der Umzug könnte erledigt sein, bevor das Kind da sei.

Aber Göttingen, sagte Johanna, gehöre jetzt zu Frankreich.

Göttingen zu Frankreich?

Wieso, rief sie, sei ausgerechnet er blind für Dinge, die sonst jeder sehe? Göttingen gehöre zu Hannover, dessen Personalunion mit der englischen Krone durch Frankreichs Siege gebrochen sei und das Napoleon dem neuen Königreich Westfalen angegliedert habe, regiert von Jé-

rôme Bonaparte. Wem also leiste ein westfälischer Beamte den Diensteid? Napoleon!

Er rieb sich die Stirn. Westfalen, wiederholte er, als würde es klarer, wenn er es sich vorsagte. Jérôme. Was habe das mit ihnen zu tun?

Mit Deutschland, sagte sie, habe es zu tun und damit, wo man stehe.

Er sah sie hilflos an.

Sie wisse schon, jetzt werde er sagen, daß aus der Zukunft zurückgeblickt beide Seiten einander gleichen würden, daß sich bald keiner mehr über das erregen werde, wofür man heute sterbe. Aber was ändere das? Die Anbiederung an die Zukunft sei eine Form der Feigheit.

Glaube er wirklich, man werde dann klüger sein?

Ein wenig schon, sagte er. Notgedrungen.

Man lebe aber jetzt!

Leider, sagte er, löschte die Kerzen, ging zum Teleskop und richtete es auf die nebelverhangene Oberfläche des Jupiter. Deutlicher als je sah er in der klaren Nacht seine winzigen Monde.

Das Fernrohr schenkte er bald darauf Professor Pfaff, und sie zogen nach Göttingen. Auch hier herrschte Unordnung. Nachts lärmten französische Soldaten, und wo das Observatorium entstehen sollte, war noch nicht einmal die Erde für das Fundament ausgehoben, bloß ein paar Schafe zupften an Grashalmen. Die Sterne mußte er von Professor Lichtenbergs alter Turmkammer auf der Stadtmauer aus beobachten. Und das Schlimmste: Man zwang ihn, Kollegien zu halten. Junge Männer kamen in seine Wohnung, schaukelten mit seinen Stühlen und machten ihm die Sofakissen speckig, während er sich abmühte, ihnen auch nur irgend etwas begreiflich zu machen.

Von allen Menschen, die er je getroffen hatte, waren seine Studenten die dümmsten. Er sprach so langsam, daß er den Beginn des Satzes vergessen hatte, bevor er am Schluß war. Es nützte nichts. Er sparte alles Schwierige aus und beließ es bei den Anfangsgründen. Sie verstanden nicht. Am liebsten hätte er geweint. Er fragte sich, ob die Beschränkten ein spezielles Idiom hatten, das man lernen konnte wie eine Fremdsprache. Er gestikulierte mit beiden Händen, zeigte auf seinen Mund und formte die Laute überdeutlich, als hätte er es mit Taubstummen zu tun. Doch die Prüfung schaffte nur ein junger Mann mit wäßrigen Augen. Sein Name war Moebius, und als einziger schien er kein Kretin zu sein. Als bei der zweiten Prüfung wiederum nur er bestanden hatte, nahm der Dekan nach der Fakultätsversammlung Gauß zur Seite und bat, nicht ganz so streng zu verfahren. Als Gauß den Tränen nahe nach Hause kam, fand er dort nur unge-betene Fremde: einen Arzt, eine Hebamme und seine Schwiegereltern.

Alles habe er versäumt, sagte die Schwiegermutter.

Wohl wieder den Kopf in den Sternen gehabt!

Er habe ja nicht einmal ein anständiges Fernrohr, sagte er bedrückt. Was denn passiert sei?

Es sei ein Junge.

Was für ein Junge denn? Erst als er ihrem Blick begegnete, verstand er. Und er wußte sofort, daß sie ihm das nie verzeihen würde.


Es tat ihm leid, daß es ihm so schwer fiel, den Kleinen zu mögen. Man hatte ihm gesagt, das komme von selbst.

Aber noch Wochen nach der Geburt, wenn er das hilflose Wesen, das aus irgendeinem Grund Joseph hieß, in Händen hielt und seine winzige Nase und verwirrenderweise vollzähligen Zehen betrachtete, fühlte er nichts als Mitleid und Scheu. Johanna nahm es ihm ab und fragte mit einem Anflug von Besorgnis, ob er glücklich sei. Aber natürlich, sagte er und ging zum Teleskop.

Seit sie in Göttingen lebten, besuchte er wieder Nina.

Sie war nicht mehr ganz jung und empfing ihn mit der Vertrautheit einer Ehefrau. Er habe noch immer nicht Russisch gelernt, sagte sie vorwurfsvoll, und er entschuldigte sich und versprach, es bald zu tun. Von diesen Besuchen, das hatte er sich geschworen, würde Johanna nie erfahren, selbst unter Folter wollte er lügen. Er war verpflichtet, Schmerz von ihr fernzuhalten. Er war nicht verpflichtet, ihr die Wahrheit zu sagen. Wissen war schmerzhaft. Kein Tag verging, an dem er selbst sich nicht weniger davon wünschte.

Er hatte ein Werk über Astronomie begonnen. Nichts Bedeutendes, kein Buch für die Ewigkeit wie die Disquisitiones, die Zeit würde es hinter sich lassen. Aber es versprach die genaueste Anleitung zur Bahnberechnung zu werden, die es je gegeben hatte. Und er mußte sich beeilen. Obwohl er gerade erst dreißig war, bemerkte er, daß seine Fähigkeit zur Konzentration nachließ und die Pausen, welche die Menschen vor ihren Antworten zu machen schienen, immer kürzer wurden. Er hatte weitere Zähne verloren, und Woche für Woche plagten ihn Koliken. Der Arzt riet zu einer Pfeife jeden Morgen und einem lauwarmen Bad vor dem Schlafengehen. Er war sicher, daß er nicht alt werden würde. Als Johanna ihm mitteilte, daß schon wieder ein Kind unterwegs sei, hätte er nicht sagen können, ob er sich darüber freute. Es würde ohne ihn aufwachsen müssen, das stand fest.

Immerhin machte er diesmal alles richtig: Er war ängst-lich während der Geburt und erleichtert danach, und zu Ehren ihrer dummen Freundin Minna nannten sie das Mädchen Wilhelmine. Als er nur wenige Monate später versuchte, ihr Rechnen beizubringen, sagte Johanna, das sei nun wirklich zu früh.

Widerwillig, da Johanna schon wieder schwanger war, fuhr er nach Bremen, um mit Bessel die Jupitertabellen durchzugehen. Vor der Abfahrt schlief er eine Woche schlecht, hatte Alpträume, war tagsüber wütend und bedrückt. Die Reise war noch schlimmer als die nach Königsberg, die Kutsche noch enger, die Mitreisenden noch weniger gewaschen, und als ein Rad brach, mußten sie vier Stunden in einer lehmigen Landschaft stehen, während der Kutscher es schimpfend reparierte. Sofort nachdem Gauß übermüdet, mit schwerem Kopf und schmerzendem Rücken aus der Kutsche gestiegen war, fragte ihn Bessel nach der Berechnung der Jupitermasse aus den Ceresstörungen. Ob er schon einen konsistenten Orbit habe?

Gauß lief rot an. Es gelinge ihm nicht, was solle er tun!

Hunderte Stunden habe er sich damit befaßt. Die Sache sei unvorstellbar diffizil. Eine Qual sei es und er zum Teufel nicht mehr jung, man solle ihn verschonen, er lebe ohnehin nicht mehr lange, es sei ein Fehler gewesen, sich auf diesen Kram einzulassen.


Kleinlaut fragte Bessel, ob er das Meer sehen wolle.

Keine Expeditionen, sagte Gauß.

Es sei ganz nahe, sagte Bessel. Eine Spazierfahrt bloß!

In Wahrheit war es eine weitere mühselige Reise, und die Kutsche schaukelte so stark, daß Gauß wieder seine Koliken hatte. Es regnete, das Fenster schloß nicht dicht, und sie wurden naß bis auf die Haut.

Aber es lohne sich, wiederholte Bessel immer wieder.

Das Meer müsse man doch gesehen haben.

Müsse man? Gauß fragte, wo das geschrieben stehe.

Der Strand war verdreckt, und auch das Wasser ließ zu wünschen übrig. Der Horizont schien eng, der Himmel niedrig, das Meer wie eine Suppe unter schmutzi-gem Nebel. Kalter Wind wehte. In der Nahe verbrannte etwas, und der Rauch machte das Atmen schwer. Auf den Wellen hob und senkte sich ein kopfloser Hühner-körper.

Ja, gut. Gauß blinzelte in den Dunst. Dann könne man jetzt wohl zurück.

Doch Bessels Unternehmungslust war ungehemmt.

Es reiche nicht, das Meer zu sehen, man müsse auch im Theater gewesen sein!

Theater sei teuer, sagte Gauß.

Bessel lachte. Der Herr Professor solle sich in allem als Gast betrachten, es sei ihm eine Ehre. Er miete eine Privatkutsche, man sei im Handumdrehen dort!

Die Reise dauerte vier quälende Tage, und das Bett im Weimarer Gasthof war so hart, daß Gauß’ Rücken-schmerzen unerträglich wurden. Außerdem brachten ihn die Sträucher an der Um zum Niesen. Im Hoftheater war es heiß, das stundenlange Sitzen eine Pein. Man gab ein Stück von Voltaire. Irgend jemand tötete einen anderen.

Eine Frau weinte. Ein Mann klagte. Eine andere Frau fiel auf die Knie. Monologe wurden gehalten. Die Überset-zung war schön und voll Melodie, aber Gauß hätte sie lieber gelesen. Vom Gähnen rannen ihm Tränen über die Wangen.

Nicht wahr, flüsterte Bessel, es sei bewegend!

Die Schauspieler schleuderten ihre Hände in die Luft, traten unablässig vor und zurück und rollten beim Sprechen mit den Augen.

Er glaube, flüsterte Bessel, Goethe sei heute in seiner Loge.

Gauß fragte, ob das der Esel sei, der sich anmaße, Newtons Theorie des Lichts zu korrigieren.

Leute drehten sich zu ihnen um, Bessel schien in seinem Sitz zu schrumpfen und sagte kein Wort mehr, bis der Vorhang fiel.

Beim Hinausgehen wurden sie von einem hageren Herrn angesprochen. Ob er die Ehre mit Gauß, dem Astronomen, habe?

Dem Astronomen und Mathematiker, sagte Gauß.

Der Mann stellte sich als preußischer Diplomat vor, zur Zeit ansässig in Rom, gerade auf der Durchreise nach Berlin, wo er einen Posten als Direktor der Unterrichts-sektion im Innenministerium antreten werde. Es gebe viel zu tun, deutsches Schulwesen müsse von Grund auf reformiert werden. Er selbst habe die beste Erziehung genossen, nun finde er Gelegenheit, etwas davon weiter-zureichen. Er stand sehr aufrecht, ohne sich auf seinen silbernen Stock zu stützen. Übrigens seien sie Alumni derselben Universität und hätten gemeinsame Bekannte.


Daß Herr Gauß auch in der Mathematik tätig sei, habe er nicht gewußt. Erhebend, nicht wahr?

Gauß verstand nicht.

Die Aufführung.

Naja, sagte Gauß.

Er begreife schon. Nicht ganz das richtige in diesem Moment. Etwas Deutsches wäre angemessener gewesen.

Aber mit Goethe diskutiere man schwer über solche Dinge.

Gauß, der zuvor nicht zugehört hatte, bat den Diplomaten, seinen Namen zu wiederholen.

Der Diplomat tat es mit einer Verneigung. Er sei übrigens auch Forscher!

Neugierig beugte Gauß sich vor.

Er untersuche alte Sprachen.

Ach so, sagte Gauß.

Das, sagte der Diplomat, habe enttäuscht geklungen.

Sprachwissenschaft. Gauß wiegte den Kopf. Er wolle ja keinem zu nahe treten.

Nein, nein. Er solle es ruhig sagen.

Gauß zuckte die Achseln. Das sei etwas für Leute, welche die Pedanterie zur Mathematik hätten, nicht jedoch die Intelligenz. Leute, die sich ihre eigene notdürftige Logik erfänden.

Der Diplomat schwieg.

Gauß fragte ihn nach seinen Reisen. Er müsse ja wirklich überall gewesen sein!

Das, sagte der Diplomat säuerlich, sei sein Bruder.

Eine Verwechslung, die ihm nicht zum erstenmal passiere. Er verabschiedete sich und ging mit kleinen Schritten davon.


In der Nacht ließen die Schmerzen an Rücken und Bauch Gauß nicht einschlafen. Er wälzte sich hin und her und schimpfte leise auf sein Schicksal, auf Weimar und vor allem Bessel. Früh am nächsten Morgen, Bessel war noch nicht aufgestanden, ließ er anspannen und befahl dem Kutscher, ihn sofort nach Göttingen zu bringen.

Endlich angekommen, die Reisetasche noch in der Hand, abwechselnd vorgebeugt wegen seiner Bauch-schmerzen und schief zurückgelehnt wegen seines steifen Rückens, fragte er in der Universität nach dem Baube-ginn des Observatoriums.

Man höre zur Zeit nicht viel vom Ministerium, sagte der Beamte. Hannover sei weit. Genaues wisse man nicht.

Falls er das vergessen habe, es sei Krieg.

Die Armee habe Schiffe, sagte Gauß, die müsse man navigieren, dafür brauche man Sternenkarten, und die erstelle man nicht gut daheim in der Küche.

Der Beamte versprach baldige Nachricht. Übrigens plane man eine gründliche Neuvermessung des Königreichs Westfalen. Der Herr Professor habe doch schon einmal als Geodät gearbeitet. Man suche noch einen tüchtigen Rechner als Leiter der Unternehmung.

Gauß öffnete den Mund. Mit aller Willenskraft brachte er es fertig, den Mann nicht anzuschreien. Er schloß ihn wieder und ging ohne Gruß.

Er riß die Wohnungstür auf und rief, er sei zurück und gehe so bald nicht wieder. Als er sich im Flur die Stiefel auszog, traten Arzt, Hebamme und Schwiegermutter aus dem Schlafzimmer. Also schön, diesmal würde er sich nicht blamieren. Breit lächelnd und etwas zu über-schwenglich fragte er, ob es schon da sei und ob Junge oder Mädchen und vor allem, wieviel es wiege.

Ein Junge, sagte der Arzt. Er liege im Sterben. Wie auch die Mutter.

Man habe alles versucht, sagte die Hebamme.

Was danach geschah, konnte sein Gedächtnis lange nicht zur Einheit formen. Es kam ihm vor, als wäre die Zeit vor- und zurückgeschnellt, als hätten sich mehrere Möglichkeiten eröffnet und gegenseitig wieder ausgelöscht. Eine Erinnerung zeigte ihn an Johannas Bett, während sie kurz die Augen aufschlug und ihm einen Blick zuwarf, in dem kein Wiedererkennen war. Die Haare klebten ihr im Gesicht, ihre Hand war feucht und kraftlos, der Korb mit dem Säugling stand neben seinem Stuhl. Dem widersprach eine andere Erinnerung, in der sie schon kein Bewußtsein mehr hatte, als er ins Zimmer stürmte, und eine dritte, in der sie in diesem Augenblick bereits gestorben war, ihr Körper bleich und wächsern, sowie eine vierte, in der er mit ihr ein Gespräch von entsetzlicher Klarheit führte: Sie fragte, ob sie sterben müs-se, nach einem Moment des Zögerns nickte er, worauf sie ihn aufforderte, nicht zu lange traurig zu sein, man lebe, dann sterbe man, so sei es nun einmal. Erst nach der sechsten Nachmittagsstunde fügte sich alles wieder. Er saß an ihrem Bett. Menschen tuschelten im Flur. Johanna war tot.

Er schob den Stuhl zurück und versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er wieder heiraten mußte.

Er hatte Kinder. Er wußte nicht, wie man die aufzog. Einen Haushalt fuhren konnte er nicht. Dienstboten waren teuer.


Leise öffnete er die Tür. Das, dachte er, ist es. Leben müssen, obgleich alles vorbei ist. Disponieren, organisieren: jeden Tag, jede Stunde und Minute. Als hätte es noch Sinn.

Ein wenig beruhigte es ihn, als er seine Mutter ankom-men hörte. Er dachte an die Sterne. Die kurze Formel, die all ihre Bewegungen in einer Zeile zusammenfaßte.

Zum erstenmal wußte er, daß er sie nicht finden würde.

Allmählich wurde es dunkel. Zögernd ging er zum Teleskop.


Der

Berg


Beim Licht einer Ölfunzel, während der Wind immer mehr Schneeflocken vorbeitrug, versuchte Aimé Bonpland, einen Brief nach Hause zu schreiben. Denke er an die vergangenen Monate, so sei ihm, als habe er Dutzende Leben hinter sich, alle einander ähnlich und keines wiederholenswert. Die Orinokofahrt scheine ihm wie etwas, wovon er in Büchern gelesen habe, Neuandalusien sei eine Legende aus der Vorzeit, Spanien nur mehr ein Wort. Inzwischen gehe es ihm besser, manche Tage seien schon fieberfrei, auch die Träume, in denen er Baron Humboldt erwürge, zerhacke, erschieße, anzünde, vergifte oder unter Steinen begrabe, würden seltener.

Er überlegte und kaute an seinem Federkiel. Etwas weiter bergan, umgeben von schlafenden Maultieren, das Haar mit Rauhreif und etwas Schnee bedeckt, rechnete Humboldt an einer Positionsbestimmung mit Hilfe der Jupitermonde. Auf den Knien balancierte er den Glas-zylinder des Barometers. Neben ihm schliefen, in Wolldecken gewickelt, ihre drei Bergführer.

Morgen, schrieb Bonpland weiter, wollten sie den Chimborazo bezwingen. Für den Fall, daß sie es nicht überlebten, habe Baron Humboldt ihm dringend geraten, einen Abschiedsbrief zu schreiben, weil es nämlich unwürdig sei, einfach so und ohne Schlußwort zu sterben.


Auf dem Berg würden sie Steine und Pflanzen sammeln, selbst hier oben gebe es unbekannte Gewächse, er habe in den letzten Monaten viel zu viele davon zerschnitten.

Der Baron behaupte, es gebe bloß sechzehn Grundtypen, aber er sei eben gut im Erkennen von Typen, ihm, Bonpland, kämen sie unzählig vor. Ein Großteil ihrer Präparate, darunter drei sehr alte Leichen, seien in Havanna auf ein Schiff nach Frankreich verladen worden, in einem zweiten Schiff hätten sie die Herbarien und all ihre Aufzeichnungen an Baron Humboldts Bruder gesandt.

Vor drei Wochen oder vielleicht auch sechs, die Tage vergingen so schnell und er habe den Überblick verloren, hätten sie erfahren, daß eines der Schiffe abgesoffen sei.

Baron Humboldt habe es schlimme Tage beschert, dann aber habe er gesagt, man sei ja erst am Anfang. Ihm, Bonpland, habe der Verlust weniger zugesetzt, denn sein Fieber sei damals so stark gewesen, daß er nur vage ge-wußt habe, wo er gewesen sei und warum und wer. Den Großteil der Zeit habe er in Alpträumen mit Fliegen und mechanischen Spinnen gekämpft. Er bemühe sich, nicht daran zurückzudenken, und hoffe bloß, daß das gesunke-ne Schiff nicht das mit den Leichen gewesen sei. So viele Stunden habe er mit ihnen verbracht, daß er in ihnen gegen Ende der Flußfahrt nicht mehr bloße Schiffsladung, sondern schweigsame Gefährten gesehen habe.

Bonpland wischte sich die Stirn ab und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Messingflasche. Früher hatte er eine aus Silber gehabt, aber die war ihm unter Umständen, an die er sich nicht erinnerte, abhanden gekommen.

Man sei, schrieb er, ja erst am Anfang. Er bemerkte, daß der Satz jetzt zweimal dastand, und strich ihn aus. Man sei ja erst am Anfang! Er blinzelte und strich ihn zum zweitenmal. Leider sei es ihm nicht möglich, die Details ihrer Route zu schildern, ihm verschwimme alles, er sehe bloß noch ein paar Bilder vor sich, zwischen denen er mit Mühe einen Zusammenhang herstellen könne. In Havanna zum Beispiel habe der Baron zwei Krokodile einfangen und mit einem Rudel Hunde zusammensper-ren lassen, um ihr Jagdverhalten zu studieren. Das Geschrei der Hunde sei kaum zu ertragen gewesen, es habe geklungen wie das Jammern von Kindern. Danach seien die Wände so blutig gewesen, daß man den Saal auf Baron Humboldts Kosten neu habe ausmalen müssen.

Er schloß die Augen, riß sie wieder auf und blickte sich überrascht um, als hätte er für einen Moment vergessen, wo er war. Er hustete und nahm einen tiefen Schluck. Vor Cartagena sei ihr Schiff beinahe gekentert, auf dem Magdalenenfluß hätten die Moskitos sie hartnäckiger gequält als auf dem Orinoko, schließlich seien sie über Tausende vom verschwundenen Inkavolk ange-legte Stufen in die kalten Höhen der Kordilleren aufge-stiegen. Normalerweise werde man da von Trägern ge-schleppt, aber Baron Humboldt habe es verweigert. Der Menschenwürde wegen. Die Träger seien so beleidigt gewesen, fast hätten sie sie verprügelt. Bonpland holte tief Luft; dann, wider Willen, seufzte er leise. Vor Santa Fé de Bogota hätten sie die Honoratioren der Stadt erwartet, ihr Ruf sei ihnen offenbar vorausgeeilt, wiewohl seltsamerweise jeder vom Baron, niemand aber von Aimé Bonpland gehört habe. Vielleicht liege das am Fieber. Er stockte, der letzte Satz schien ihm unlogisch. Er erwog ihn zu streichen, aber dann entschied er sich dagegen.


Noble Leute seien es gewesen, es habe Gelächter gegeben, als der Baron sich gesträubt habe, sein Barometer aus der Hand zu legen, auch habe man sich gewundert, daß ein so berühmter Mann so klein gewachsen sei. Sie hätten bei dem Biologen Mutis gewohnt. Ständig habe der Baron von Pflanzen sprechen wollen, immer wieder habe Mutis erwidert, daß sich derlei Themen in Gesellschaft nicht ziemten. Immerhin habe er, Bonpland, mit Mutis’ Kräutern sein Fieber gesenkt. Mutis habe eine junge Kammerzofe beschäftigt, eine Indianerin aus dem Hochland, mit der man, er hielt inne, nahm einen großen Schluck und spähte mit gerunzelter Stirn nach Humboldts in der Dämmerung kaum mehr sichtbarer Gestalt, ausgezeichnete Gespräche habe fuhren können über dies und das und noch anderes. Unterdessen habe der Baron Bergwerke besichtigt und Karten erstellt. Vortreffliche Karten. Daran zweifle er nicht.

Ohne es zu wollen, nickte er ein paarmal, dann fuhr er fort. Mit elf Maultieren seien sie weitergezogen, über den Fluß, die Paßstraße entlang. Viel Regen. Der Boden voller Morast und Stacheln, und da Baron Humboldt weiterhin nicht gewillt gewesen sei, sich tragen zu lassen, hätten sie barfuß gehen müssen, um die Stiefel zu schonen. Sie hätten sich die Füße blutig gelaufen. Und die Maultiere seien störrisch gewesen! Die Besteigung des Pichincha hätten sie abgebrochen, als Übelkeit und Schwindel ihn überwältigt hätten. Zunächst habe Baron Humboldt alleine weitergewollt, aber dann sei auch er ohnmächtig geworden. Irgendwie hätten sie es bis zurück ins Tal geschafft. Der Baron habe es dann erneut versucht, mit einem Führer, der natürlich noch nie oben gewesen sei, in diesen Ländern kletterten die Menschen nicht auf Berge, wenn keiner sie zwinge. Erst der dritte Versuch sei gelungen, und nun wüßten sie genau, wie hoch der Berg sei, welche Temperatur sein Qualm habe, was für Flechten sein Gestein. Baron Humboldt interessiere sich aus-nehmend für Vulkane, mehr als für irgend etwas anderes, das habe mit seinen Lehrern in Deutschland zu tun und mit einem Mann in Weimar, den er verehre wie Gott.

Nun stehe die krönende Unternehmung, der Chimborazo, an. Bonpland nahm einen letzten Schluck, wickelte sich fester in seine Decke und sah zu Humboldt hinüber, der, er konnte es gerade noch erkennen, mit einem Mes-singtrichter am Erdboden horchte.

Er habe ein Grollen gehört, rief Humboldt. Verschiebungen in der Erdkruste! Mit etwas Glück könne man auf einen Ausbruch hoffen.

Das wäre schön, sagte Bonpland, faltete den Brief, steckte ihn ein und streckte sich auf dem Boden aus. Er fühlte die Kälte der gefrorenen Erde auf seiner Wange.

Ihm war, als linderte sie sein Fieber.

Wie immer schlief er gleich ein, und wie meist träum-te er, daß er in Paris war, an einem Morgen im Herbst, bei sanft gegen die Scheibe trommelndem Regen. Eine Frau, die er nicht deutlich sah, fragte ihn, ob er tatsächlich geglaubt habe, durch die Tropen zu reisen, und er antwortete, nicht wirklich, und wenn, so höchstens einen Augenblick. Dann wachte er auf, weil Humboldt ihn an der Schulter rüttelte und fragte, worauf er denn warte, es sei schon vier Uhr vorbei. Bonpland stand auf, und als Humboldt sich abwandte, packte er ihn, schob ihn auf den Abgrund zu und stieß ihn mit ganzer Kraft über die Felskante. Jemand rüttelte an seiner Schulter und fragte, worauf er denn warte, es sei vier, man müsse los. Bonpland rieb sich die Augen, klopfte den Schnee von seinen Haaren und stand auf.

Die indianischen Führer betrachteten ihn schläfrig.

Humboldt reichte ihnen ein versiegeltes Kuvert. Der Abschiedsbrief an seinen Bruder. Er habe lange daran gefeilt. Falls er nicht zurückkomme, bitte er um zuverlässige Zustellung an die nächste Jesuitenmission.

Die Führer versprachen es gähnend.

Und das sei seiner, sagte Bonpland. Er sei nicht zu-geklebt, sie könnten ihn ruhig lesen, und wenn sie ihn nicht zustellten, sei es ihm auch egal.

Humboldt wies die Führer an, mindestens drei Tage auf sie zu warten. Sie nickten gelangweilt und zupften ihre Wollponchos zurecht. Gewissenhaft überprüfte er Chronometer und Teleskop. Er verschränkte die Arme und bückte eine Weile starr ins Nichts. Dann, plötzlich, ging er los. Hastig griff Bonpland nach Botanisiertrommel und Stock und lief ihm nach.

Aufgeräumt wie lange nicht, erzählte Humboldt von seiner Kindheit, der Arbeit am Blitzableiter, den einsamen Streifzügen durch die Wälder, nach denen er seine ersten Käfer zu Sammlungen geordnet habe, vom Salon der Henriette Herz. Er bedauere jeden Menschen, der solche Gefühlsbildung nicht genossen habe.

Seine Gefühlsbildung, sagte Bonpland, habe mit einem Bauernmädchen aus der Nachbarschaft stattgefunden.

Die habe fast alles zugelassen. Nur vor ihren Brüdern habe man sich hüten müssen.

Der Hund gehe ihm nicht aus dem Sinn, sagte Humboldt auf einmal. Noch immer habe er sich von der Schuld nicht befreien können. Er habe für das Tier doch Verantwortung gehabt!

Dieses Bauernmädchen sei erstaunlich gewesen. Noch keine vierzehn, habe sie Dinge beherrscht, man glaube es nicht.

Bei den Hunden in Havanna hätte das anders gelegen.

Natürlich hätten sie ihm leid getan. Aber die Wissenschaft habe es verlangt, nun wisse man mehr über das Jagdverhalten der Krokodile. Außerdem seien es Misch-linge gewesen, unedel und ziemlich räudig.

Wo sie jetzt gingen, gab es keine Pflanzen mehr, nur braungelbe Flechten auf den aus dem Schnee ragenden Steinen. Bonpland hörte sehr laut seinen eigenen Herzschlag und das Zischen des über die Schneedecke strei-chenden Windes. Als ein kleiner Schmetterling vor ihm aufflog, erschrak er.

Keuchend kam Humboldt auf die Nachricht vom Sturz Urquijos zu sprechen. Eine schlimme Sache. Noch sei es ein Gerücht, aber allmählich mehrten sich die An-zeichen, daß der Minister die Gunst der Königin verloren habe. Also weitere Jahrzehnte der Sklaverei. Nach ihrer Rückkehr werde er ein paar Dinge schreiben, die diesen Leuten nicht gefallen würden.

Der Schnee wurde höher. Bonpland rutschte aus und schlitterte bergab, nach kurzem geschah Humboldt dasselbe. Um ihre aufgeschürften Hände vor der Kälte zu schützen, wickelten sie sie in Schals. Humboldt betrachtete die Ledersohlen seiner Schuhe. Nägel, sagte er nachdenklich. Durch die Sohlen nach außen getrieben. Das brauchten sie jetzt.


Bald reichte der Schnee bis zu ihren Knien. Plötzlich schloß Nebel sie ein. Humboldt maß die Inklination det Magnetnadel und bestimmte ihre Höhe mit dem Barometer. Wenn er sich nicht irre, führe der kürzeste Gipfel-weg nordöstlich über den abgeflachten Hang, dann etwas nach links, dann steil aufwärts.

Nordöstlich, wiederholte Bonpland. In dem Nebel wisse man nicht einmal, wo die Spitze sei und wo das Tal!

Dort, sagte Humboldt und zeigte mit Entschiedenheit irgendwohin.

Vorgebeugt stapften sie an zu Säulen gespaltenen Fels-mauern entlang. Hoch droben, für Momente erkennbar, dann wieder verschwunden, führte ein verschneiter Grat zum Gipfel. Instinktiv neigten sie sich beim Gehen nach links, wo der Abhang schräg und frostverglast abfiel. Zu ihrer Rechten öffnete sich senkrecht die Schlucht. Zu-nächst war Bonpland der dunkel gekleidete Herr, der mit traurigem Gesicht an ihrer Seite stapfte, gar nicht aufgefallen. Erst als er sich in eine geometrische Figur verwandelte, eine Art schwach pulsierende Bienenwabe, wurde es unangenehm.

Dort links, fragte er. Ob da wohl etwas sei?

Humboldt warf einen kurzen Blick zur Seite. Nein.

Gut, sagte Bonpland.

Auf einer schmalen Plattform machten sie Pause, weil Bonplands Nase blutete. Beunruhigt schielte er nach der sehr langsam auf sie zuschwebenden Wabe. Er hustete und nahm einen Schluck aus seiner Messingflasche. Als das Bluten nachließ und sie weiterkonnten, war er erleichtert. Humboldts Uhr sagte ihnen, daß sie erst wenige Stunden unterwegs waren. Der Nebel war so dicht, daß es keinen Unterschied zwischen oben und unten gab: Wohin man sah, dasselbe durch nichts unterbrochene Weiß.

Jetzt reichte ihnen Schnee bis zu den Hüften. Humboldt stieß einen Schrei aus und verschwand in einer Verwehung. Bonpland grub mit den Händen, bekam seinen Gehrock zu fassen und riß ihn heraus. Humboldt klopfte den Schnee von seinen Kleidern und überzeugte sich, daß kein Instrument beschädigt war. Auf einem Steinvorsprung warteten sie, bis der Nebel dünner wurde und sich mit Helligkeit vollsog. Bald würde die Sonne durchbrechen.

Alter Freund, sagte Humboldt. Er wolle nicht sentimental werden, aber nach dem langen Weg hinter ihnen, in diesem großen Moment, müsse er doch einmal folgen-des sagen.

Bonpland lauschte. Aber nichts kam mehr. Humboldt schien es schon wieder vergessen zu haben.

Er wolle kein Spielverderber sein, sagte Bonpland, aber etwas stimme nicht. Dort rechts von ihnen, nein, etwas weiter, nein, links, richtig, dort. Das Ding, das wie ein Stern aus Watte aussehe. Oder wie ein Haus. Er gehe wohl recht in der Annahme, daß das nur für ihn da sei?

Humboldt nickte.

Bonpland fragte, ob er sich Sorgen machen müsse.

Ansichtssache, sagte Humboldt. Es liege wohl am schwächeren Druck und der veränderten Zusammenset-zung der Luft. Böse Miasmen könne man ausschließen.

Übrigens sei nicht er hier der Arzt.

Sondern wer?


Berückend, sagte Humboldt, wie stetig die Dichte des Luftmeers nach oben hin abnehme. Wenn man es hochrechne, könne man ableiten, an welchem Punkt das Nichts beginne. Oder wo, des sinkenden Siedepunkts wegen, das Blut in den Adern anfange zu kochen. Was ihn selbst betreffe, so sehe er zum Beispiel seit einer ganzen Weile den verlorenen Hund. Er sehe zerzaust aus, und ihm fehle ein Bein und ein Ohr. Außerdem sinke er nicht im Schnee ein, und seine Augen seien sehr schwarz und tot. Es sei kein schöner Anblick, er müsse sich arg zusammennehmen, um nicht zu schreien. Und dauernd beschäftige ihn das Versäumnis, daß sie dem Tier keinen Namen gegeben hätten. Aber es sei nicht nötig gewesen, sie hätten doch nur diesen Hund gehabt, oder?

Er wisse von keinem anderen, sagte Bonpland.

Humboldt nickte beruhigt, sie stiegen weiter. Wegen der Felsspalten unter dem Schnee mußten sie langsam gehen. Einmal lichtete sich für Sekunden der Nebel, gab eine Schlucht neben ihnen frei und verhüllte sie wieder.

Dieses Zahnfleischbluten, sagte Humboldt vorwurfsvoll zu sich selbst, das sei doch kein Zustand, schämen müsse man sich!

Auch Bonplands Nase blutete wieder, und in seinen Händen war trotz der Umwicklung kein Gefühl mehr. Er bat um Entschuldigung, sank auf die Knie und übergab sich.

Vorsichtig kletterten sie eine Steilwand empor. Bonpland fiel der Tag ein, als sie im Regen auf der Orinoko-insel festgesessen hatten. Wie waren sie eigentlich von dort weggekommen? Er konnte sich nicht erinnern. Gerade als er Humboldt fragen wollte, löste sich unter dessen Schuh ein Stein und traf ihn an der Schulter. Es tat so weh, daß er fast von der Wand gestürzt wäre. Er kniff die Augen zu und rieb sich Schnee ins Gesicht. Danach war ihm besser, obgleich die pulsierende Wabe noch immer neben ihm hing und, unangenehmer noch, die Steilwand jedesmal, wenn er an ihr Halt suchte, ein wenig zurück-wich. Hin und wieder blickten ihn aus dem Fels Gesichter an, verwittert, mit abfälligem oder gelangweiltem Ausdruck. Zum Glück machte der Nebel es unmöglich, in die Tiefe zu sehen.

Damals auf der Insel, rief er. Wie seien sie eigentlich weggekommen?

Die Antwort blieb so lange aus, daß Bonpland die Frage längst wieder vergessen hatte, als Humboldt endlich den Kopf zu ihm drehte. Er wisse es beim besten Willen nicht. Wie denn?

Oberhalb der Steilwand zerriß der Nebel. Sie sahen einige Fetzen blauen Himmels und den Kegel der Bergspitze. Die kalte Luft war sehr dünn: So tief man auch ein-atmete, man bekam kaum etwas in die Lunge. Bonpland versuchte seinen Puls zu messen, aber er verzählte sich immer wieder, und schließlich gab er es auf. Sie betraten einen schmalen Steg, der bedeckt von Schnee über eine Felsspalte führte.

Voranschauen, sagte Humboldt. Nie hinunter!

Sofort sah Bonpland hinab. Ihm war, als verschöbe sich die Perspektive, der Boden der Schlucht schoß auf ihn zu, der Steg schnellte nach unten. Erschrocken klammerte er sich an seinen Stock. Die Brücke, stotterte er.

Weitergehen, sagte Humboldt.

Kein Fels, sagte Bonpland.


Humboldt blieb stehen. Es stimmte: Unter ihnen war kein Gestein. Sie standen auf einem frei hängenden Bogen aus Schnee. Er starrte hinab.

Nicht nachdenken, sagte Bonpland. Weiter.

Weiter, wiederholte Humboldt, ohne sich zu rühren.

Einfach weiter, sagte Bonpland.

Humboldt ging wieder los.

Bonpland setzte einen Fuß vor den anderen. Scheinbar stundenlang hörte er den Schnee knirschen und wußte, daß zwischen ihm und dem Abgrund nur Wasserkristalle waren. Bis zum Ende seines Lebens, mittellos und gefangen in der Einsamkeit Paraguays, konnte er sich die Bilder bis ins kleinste zurückrufen: die zerfasernden Dunst-wolkchen, die helle Luft, die Schlucht am unteren Rand seines Blickfelds. Er versuchte ein Lied zu summen, aber die Stimme, die er hörte, war nicht seine, und so ließ er es. Schlucht, Gipfel, Himmel und knirschender Schnee, und sie waren noch immer nicht angelangt. Und immer noch nicht. Bis er irgendwann doch, Humboldt wartete schon und streckte ihm die Hand entgegen, die andere Seite erreichte.

Bonpland, sagte Humboldt. Er sah klein, grau und plötzlich alt aus.

Humboldt, sagte Bonpland.

Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander.

Bonpland drückte das Taschentuch gegen seine blutende Nase. Allmählich, erst durchscheinend, dann immer deutlicher, kehrte die pulsierende Wabe zurück. Die Schneebrücke war zehn, höchstens fünfzehn Fuß lang, der Weg darüber konnte nur ein paar Sekunden gedauert haben.


Mit tastenden Schritten gingen sie den Felskamm entlang. Bonpland stellte fest, daß er eigentlich aus drei Personen bestand: Einem, der ging, einem, der dem Gehenden zusah, und einem, der alles unablässig in einer niemandem verständlichen Sprache kommentierte. Ver-suchweise gab er sich eine Ohrfeige. Das half ein wenig, und für einige Minuten dachte er klarer. Nur änderte es nichts daran, daß dort, wo der Himmel sein sollte, jetzt der Erdboden hing und sie verkehrt herum, also mit dem Kopf nach unten, abwärts stiegen.

Aber es ergebe auch Sinn, sagte Bonpland laut. Schließ-

lich seien sie auf der anderen Seite der Erde.

Humboldts Antwort konnte er nicht verstehen, sie wurde vom Gemurmel des kommentierenden Begleiters übertönt. Bonpland begann zu singen. Erst fiel der eine, dann der andere Begleiter ein. Bonpland hatte das Lied in der Schule gelernt, ziemlich sicher kannte es auf dieser Hemisphäre keiner. Ein Beweis, daß die zwei neben ihm wirklich waren und keine Hochstapler, denn wer hätte es ihnen beibringen sollen? Zwar war an diesem Gedanken etwas nicht logisch, aber er kam nicht darauf, was. Und am Ende war es auch gleichgültig, da er ja ohnehin keine Gewähr hatte, daß er es war, der dachte, und nicht einer der zwei anderen. Sein Atem ging kurz und laut, sein Herz klopfte.

Humboldt blieb abrupt stehen.

Was denn, rief Bonpland wütend.

Humboldt fragte, ob er das auch sehe.

Na aber sicher doch, sagte Bonpland, ohne zu wissen, wovon die Rede war.

Er müsse das fragen, sagte Humboldt. Er könne seinen Sinnen nicht trauen. Zudem mische der Hund sich ständig ein.

Den Hund, sagte Bonpland, habe er nie leiden können.

Diese Schlucht hier, sagte Humboldt, sei doch eine Schlucht, oder?

Bonpland sah hinab. Vor ihren Füßen fiel ein Spalt wohl vierhundert Fuß in die Tiefe. Drüben ging es weiter, und von dort schien der Gipfel nicht mehr weit.

Da kämen sie nie hinüber!

Bonpland erschrak, weil nicht er, sondern der Mann rechts von ihm das gesagt hatte. Damit es trotzdem seine Gültigkeit hatte, mußte er es wiederholen. Da kämen sie nie hinüber!

Niemals, bestätigte der Mann zu seiner Linken. Es sei denn, sie flögen.

Langsam, wie gegen einen Widerstand, ging Humboldt in die Knie und öffnete den Behälter mit dem Barometer. Seine Hände zitterten so stark, daß es fast her-untergefallen wäre. Blut lief nun auch ihm aus der Nase und tropfte auf seine Jacke. Jetzt keinen Fehler machen, sagte er beschwörend.

Sehr gern, antwortete Bonpland.

Irgendwie brachte es Humboldt fertig, ein Feuer anzu-zünden und einen kleinen Topf mit Wasser zu erhitzen.

Er könne sich nicht auf das Barometer verlassen, erklärte er, und auch nicht auf seinen Kopf, er müsse die Höhe nach dem Siedepunkt bestimmen. Seine Augen waren schmal, seine Lippen zitterten von der Anstrengung der Konzentration. Als das Wasser kochte, maß er die Temperatur und las die Uhr ab. Dann holte er den Schreibblock hervor. Er zerknüllte ein halbes Dutzend Blätter, bis seine Hand ihm soweit gehorchte, daß er Zahlen schreiben konnte.

Bonpland sah mißtrauisch in die Schlucht. Der Himmel hing tief unter ihnen und war aufgerauht. Man konnte sich einigermaßen daran gewöhnen, auf dem Kopf zu stehen. Nicht allerdings daran, daß Humboldt so langsam rechnete. Bonpland fragte, ob das heute noch etwas werde.

Verzeihung, sagte Humboldt. Ihm falle es schwer, sich zu sammeln. Ob bitte irgendwer den Hund an die Leine nehmen könne!

Den Hund, sagte Bonpland, habe er nie leiden können. Sofort schämte er sich, weil er das schon gesagt hatte. Es war ihm so peinlich, daß ihm schlecht wurde. Er beugte sich vornüber und übergab sich erneut.

Fertig, fragte Humboldt. Dann dürfe er ihm nämlich mitteilen, daß sie sich auf einer Höhe von achtzehntau-sendsechshundertneunzig Fuß befänden.

Ja halleluja, sagte Bonpland.

Das mache sie zu den Menschen, die am weitesten nach oben vorgedrungen seien. Keiner habe sich je so weit von der Meereshöhe entfernt.

Aber der Gipfel?

Mit oder ohne Gipfel, es sei der Weltrekord.

Er wolle auf den Gipfel, sagte Bonpland.

Ob er denn nicht die Schlucht sehe, schrie Humboldt.

Sie seien beide nicht mehr bei Sinnen. Wenn sie jetzt nicht abstiegen, kämen sie nie zurück.

Man könnte, sagte Bonpland, auch einfach behaupten, man wäre oben gewesen.


Humboldt sagte, er wolle das nicht gehört haben.

Er habe das auch nicht gesagt. Das sei der andere gewesen!

Überprüfen könne es ja keiner, sagte Humboldt nachdenklich.

Eben, sagte Bonpland.

Er habe das nicht gesagt, rief Humboldt.

Was gesagt, fragte Bonpland.

Sie sahen einander ratlos an.

Die Höhe sei notiert, sagte Humboldt dann. Die Gesteinsproben gesammelt. Jetzt schnell hinunter!

Der Abstieg dauerte lange. Sie mußten die Schlucht, über die sie vorhin die Schneebrücke gebracht hatte, in weitem Bogen umgehen. Doch die Sicht war jetzt klar, und Humboldt fand den Weg ohne Schwierigkeiten.

Bonpland stolperte ihm nach. Seine Knie kamen ihm unverläßlich vor. Immer wieder war ihm, als ginge er in fließendem Wasser, und eine optische Brechung verschob seine Beine auf das lästigste. Auch verhielt der Stock in seiner Hand sich ungebührlich: Er schwang aus, stach in den Schnee, betastete Felsbrocken, ohne daß Bonpland etwas anderes tun konnte, als ihm zu folgen. Die Sonne stand bereits niedrig. Humboldt rutschte ein Schotterfeld hinab. Seine Hände und sein Gesicht waren aufgeschürft, sein Mantel zerrissen, doch das Barometer war ganz geblieben.

Der Schmerz habe auch sein Gutes, sagte er mit zu-sammengebissenen Zähnen. Für den Moment sehe er wieder klar. Der Hund sei verschwunden.

Den Hund, sagte Bonpland, habe er wirklich nie leiden können.


Sie müßten es heute noch schaffen, sagte Humboldt.

Die Nacht werde kalt. Sie seien verwirrt. Sie würden nicht überleben. Er spuckte Blut. Um den Hund tue es ihm leid. Den habe er geliebt.

Da sie gerade aufrichtig seien, sagte Bonpland, und man morgen alles auf die Höhenkrankheit schieben könne, wolle er wissen, was Humboldt dort auf der Schneebrücke gedacht habe.

Er habe sich das Nichtdenken befohlen, sagte Humboldt. Also habe er nichts gedacht.

Wirklich gar nichts?

Nicht das geringste.

Bonpland blinzelte in Richtung der allmählich ver-blassenden Bienenwabe. Zwei seiner Begleiter waren davongegangen. Einen mußte er noch loswerden. Vielleicht war das auch gar nicht nötig. Er hatte den Verdacht, daß er es selbst war.

Sie beide, sagte Humboldt, hätten den höchsten Berg der Welt bestiegen. Das werde bleiben, was auch immer in ihrem Leben noch geschehe.

Nicht ganz bestiegen, sagte Bonpland.

Unsinn!

Wer einen Berg besteige, erreiche die Spitze. Wer die Spitze nicht erreiche, habe den Berg nicht bestiegen.

Humboldt betrachtete schweigend seine blutenden Hände.

Dort auf der Brücke, sagte Bonpland, habe er auf einmal bedauert, als zweiter gehen zu müssen.

Das sei nur menschlich, sagte Humboldt.

Aber nicht bloß, weil der erste früher in Sicherheit sei.

Ihm seien seltsame Vorstellungen gekommen. Wäre er der erste gewesen, etwas in ihm hätte gern der Brücke, sobald er hinüber gewesen wäre, einen Tritt versetzt. Der Wunsch sei stark gewesen.

Humboldt antwortete nicht. Er schien in eigene Gedanken versunken.

Bonplands Kopf tat weh, auch fühlte er wieder sein Fieber. Er war todmüde. Es würde lange dauern, bis er sich von diesem Tag erholt hätte. Wer weit reise, sagte er, erfahre viele Dinge. Ein paar davon über sich selbst.

Humboldt bat um Entschuldigung. Er habe leider nichts verstanden. Der Wind!

Bonpland schwieg ein paar Sekunden. Nichts Wichtiges, sagte er dankbar. Geschwätz, Gerede.

Na dann, sagte Humboldt mit unbewegtem Gesicht.

Kein Grund zum Trödeln!

Zwei Stunden später stießen sie auf ihre wartenden Führer. Humboldt verlangte seinen Brief zurück und zerriß ihn sofort. In diesen Dingen dürfe man nicht nachlässig sein. Nichts sei peinlicher als ein Abschiedsschrei-ben, dessen Verfasser noch lebe.

Ihm sei es egal, sagte Bonpland und hielt sich den schmerzenden Kopf. Sie sollten den seinen behalten oder wegwerfen, sie könnten ihn auch abschicken.

In der Nacht schrieb Humboldt, zum Schutz gegen das Schneetreiben zusammengekauert unter einer Decke, zwei Dutzend Briefe, in denen er Europa die Mitteilung machte, daß von allen Sterblichen er am höchsten gelangt sei. Sorgfältig versiegelte er jeden einzelnen. Dann" erst schwanden ihm die Sinne.


Der

Garten


Am späten Abend klopfte der Professor an die Tür des Herrenhauses. Ein junger, hagerer Diener öffnete und sagte, Graf von der Ohe zur Ohe empfange nicht.

Gauß bat ihn, den Namen zu wiederholen.

Der Diener tat es: Graf Hinrich von der Ohe zur Ohe.

Gauß mußte lachen.

Der Diener betrachtete ihn mit einem Ausdruck, als wäre er in einen Kuhfladen getreten. Die Familie des gnä-

digen Herrn heiße seit tausend Jahren so.

Deutschland sei schon ein spaßiger Fleck, sagte Gauß.

Wie auch immer, er komme wegen der Landvermessung. Hindernisse seien wegzuräumen, der Staat müsse Herrn ... Er lächelte. Der Staat müsse dem Herrn Grafen einige Bäume und einen wertlosen Schuppen abkaufen.

Eine reine Formsache, die man schnell hinter sich bringen könne.

Vielleicht könne man, sagte der Diener. Aber gewiß nicht mehr heute abend.

Gauß blickte auf seine schmutzigen Schuhe. Er hatte es befürchtet. Gut, dann übernachte er hier, man solle ihm ein Zimmer richten!

Er glaube nicht, daß Platz sei, sagte der Diener.

Gauß nahm seine Samtkappe ab, wischte sich über die Stirn und fingerte an seinem Kragen. Er fühlte sich un-wohl und verschwitzt. Sein Magen schmerzte. Dies sei ein Mißvetständnis. Er komme nicht als Bittsteller. Er sei Leiter der staatlichen Meßkommission, und wenn man ihn von der Schwelle weise, kehre er in Begleitung wieder. Ob man ihn verstehe?

Der Diener trat einen Schritt zurück.

Ob man ihn verstehe?

Jawohl, sagte der Diener.

Jawohl, Herr Professor!

Herr Professor, wiederholte der Diener.

Und jetzt wünsche er den Grafen zu sehen.

Der Diener runzelte die Brauen so stark, daß seine ganze Stirn zerknitterte. Er habe sich offenbar nicht klar ausgedrückt. Der gnädige Herr habe sich schon zurück-gezogen. Er schlafe!

Nur einen Moment, sagte Gauß.

Der Diener schüttelte den Kopf.

Schlaf sei kein Schicksal. Wer schlafe, den könne man wecken. Je länger er hier stehen müsse, desto später komme der Graf wieder in die Federn, und seine eigene Laune bessere es auch nicht gerade. Er sei hundemüde.

Mit heiserer Stimme bat der Diener, ihm zu folgen.

Er trug den Kerzenhalter so schnell voran, als hoffte er, Gauß davonlaufen zu können. Schwer wäre es nicht gewesen: Gauß’ Füße schmerzten, das Leder seiner Schuhe war zu hart, unter seinem Wollhemd juckte es, und ein Brennen im Nacken zeigte ihm, daß er sich einen neuen Sonnenbrand geholt hatte. Sie gingen durch einen niedrigen Gang mit bläßlichen Tapeten. Eine Magd mit hübscher Figur trug einen Nachttopf vorbei, Gauß sah ihr wehmütig nach. Sie kamen eine Treppe hinunter, dann wieder hinauf, dann wieder hinunter. Die Anlage sollte wohl Besucher verwirren, und vermutlich funktionierte das bei Leuten ohne geometrische Vorstellungskraft ganz gut. Gauß überschlug, daß sie jetzt etwa zwölf Fuß über und vierzig Fuß westlich vom Haupttor waren und sich in südwestlicher Pachtung bewegten. Der Diener klopfte an eine Tür, öffnete, sagte ein paar Worte ins Innere und ließ Gauß eintreten. In einem Schaukelstuhl saß ein alter Mann im Schlafrock mit Holzpantoffeln. Er war groß, hatte hohle Wangen und stechende Augen.

Von der Ohe zur Ohe, angenehm. Worüber lachen Sie?

Er lache nicht, sagte Gauß. Er sei der staatliche Landvermesser. Er lache nie und habe sich bloß vorstellen wollen und für die Gastfreundschaft bedanken.

Der Graf fragte, ob er deshalb geweckt worden sei.

Genau deshalb, sagte Gauß. Jetzt wünsche er eine gute Nacht! Zufrieden folgte er dem Diener eine weitere Treppe hinunter und einen besonders stickigen Gang entlang.

Diese Leute würden ihn nie wieder wie einen Domestiken behandeln!

Sein Triumph hielt nicht lange an. Der Diener brachte ihn in ein fürchterliches Loch. Es stank, auf dem Boden lagen Reste von fauligem Heu, ein Holzbrett diente als Bett, zum Waschen war ein rostiger Eimer mit nicht ganz sauberem Wasser gefüllt, ein Abort nicht zu sehen.

Er habe ja schon einiges erlebt, sagte Gauß. Vor zwei Wochen habe ein Bauer ihm seine Hundehütte angebo-ten. Aber die sei schöner gewesen als das hier.


Das möge sein, sagte der Diener, bereits im Gehen.

Aber etwas anderes gebe es nicht.

Stöhnend zwängte sich Gauß auf die Holzpritsche.

Das Kissen war hart und roch nicht gut. Er legte seine Mütze darauf, aber das half nicht. Lange konnte er nicht einschlafen. Sein Rücken tat weh, die Luft war schlecht, er fürchtete sich vor Geistern, und wie jeden Abend fehlte ihm Johanna. Da war man einen Moment nicht aufmerksam gewesen, und schon hatte man ein Amt, zog durch die Wälder und verhandelte mit Bauern um ihre schiefen Bäume. Heute nachmittag erst hatte er für eine alte Birke das Fünffache ihres Wertes bezahlt. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis seine Helfer endlich den störrischen Stamm durchgesägt hatten und er Eugens Leuchtsignal mit dem Theodoliten anpeilen konnte. Natürlich hatte der Esel zunächst in die falsche Richtung geblinkt! Morgen würden sie sich treffen, und er mußte sich darum kümmern, wie man von dort in höchstens zwei Geraden zum nächsten Knotenpunkt kam. Das war jetzt sein Beruf. Das astronomische Buch war längst erschienen, von der Universität war er beurlaubt. Immerhin war die Arbeit gut bezahlt, und wenn man nicht dumm war, konnte man auf verschiedene Arten noch ein wenig nebenbei verdienen. Über diesen Gedanken schlief er ein.

Am frühen Morgen weckte ihn ein quälender Traum.

Er sah sich selbst auf der Pritsche liegen und davon träumen, daß er auf der Pritsche lag und davon träumte, auf der Pritsche zu liegen und zu träumen. Beklommen setz-

’te er sich auf und wußte sofort, daß das Erwachen noch vor ihm lag. Dann wechselte er in wenigen Sekunden von einer Wirklichkeit in die nächste und wieder nächste, und keine hatte etwas Besseres zu bieten als dasselbe verdreckte Zimmer mit Heu auf dem Boden und einem Wassereimer in der Ecke. Einmal stand eine hohe, ver-schattete Gestalt in der Tür, ein andermal lag ein toter Hund in der Ecke, dann hatte sich ein Kind mit einer hölzernen Maske hereinverirrt, aber bevor er es deutlich sehen konnte, war es schon wieder weg. Als er schließlich erschöpft auf dem Bettrand saß und in den sonnigen Morgenhimmel sah, konnte er das Gefühl nicht loswerden, daß er jene Wirklichkeit, in die er gehörte, um einen Schritt verfehlt hatte. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und dachte an Eugen, den er am Nachmittag treffen würde. Üblicherweise besserte es seine Laune, wenn er ihn anschreien konnte. Er kleidete sich an und ging gähnend hinaus.

Er kam durch Zimmerfluchten mit von der Zeit recht mitgenommenen Gemälden: ernste Männer, ungelenk gemalt, die Farbe zu dick aufgetragen. Möbel aus flecki-gem Holz, viel Staub. Nachdenklich blieb er vor einem Spiegel stehen. Ihm gefiel nicht, was er sah. Er öffnete einige Schubladen, sie waren leer. Erleichtert fand er eine Gittertür in den Garten.

Dieser war mit erstaunlicher Sorgfalt angelegt: Palmen, Orchideen, Orangenbäume, bizarr geformte Kakteen und allerlei Pflanzen, die Gauß noch nicht einmal auf Bildern gesehen hatte. Kies knirschte unter seinen Schuhen, eine Liane streifte ihm die Mütze vom Kopf.

Es duftete süßlich, zerplatzte Früchte lagen auf dem Boden. Der Bewuchs wurde dichter, der Weg schmaler, er mußte geduckt gehen. Was für eine Verschwendung! Er hoffte nur, daß es hier nicht auch noch ftemdartige Insekten gab. Als er sich zwischen zwei Palmenstämmen hindurchschob, blieb er mit der Jacke hängen und wäre fast in einen Dornenstrauch gestolpert. Dann stand er auf einer Wiese. In einem Lehnstuhl, noch immer im Schlafrock, mit wirrem Haar und nackten Füßen, saß der Graf und trank Tee.

Beeindruckend, sagte Gauß.

Früher sei es viel schöner gewesen, sagte der Graf. Gar-tenpersonal sei heute teuer, und die französische Einquar-tierung habe viel zerstört. Erst seit kurzem sei er wieder hier. Er sei in der Schweiz gewesen, ein Ausgewanderter, jetzt hätten die Dinge sich vorübergehend geändert. Ob der Herr Geodät sich nicht setzen wolle?

Gauß sah sich um. Es gab nur einen Stuhl, und in dem saß der Graf. Nicht unbedingt, sagte er zögernd.

Ja nun, sagte der Graf. Dann könne man gleich ver-handeln.

Eine bloße Formsache, sagte Gauß. Um freie Sicht auf den Scharnhorster Meßpunkt zu haben, müsse er drei Bäume des gräflichen Waldes fällen und einen offenbar seit Jahren leerstehenden Schuppen abreißen.

Scharnhorst? So weit könne doch kein Mensch sehen!

Doch, sagte Gauß, sofern man gebündeltes Licht verwende. Er habe ein Instrument entwickelt, welches Blinksignale über ungeahnt weite Strecken senden könne.

Zum erstenmal sei damit eine Verständigung zwischen Erde und Mond möglich.

Erde und Mond, wiederholte der Graf.

Gauß nickte lächelnd. Er sah genau, was sich jetzt im Kopf des alten Dummkopfs tat.

Was Bäume und Schuppen angehe, sagte der Graf, so handle es sich um eine Fehleinschätzung. Der Schuppen sei bitternotwendig. Die Bäume seien wertvoll.

Gauß seufzte. Er hätte sich gern gesetzt. Wie viele solcher Gespräche hatte er schon fuhren müssen? Natürlich, sagte er müde, aber man solle nicht übertreiben. Er wisse gut, was ein bißchen Holz und eine Hütte wert seien.

Gerade in dieser Zeit dürfe man den Staat nicht durch Unmäßigkeit belasten.

Patriotismus, sagte der Graf. Interessant. Besonders, wenn ihn jemand einfordere, der bis vor kurzem franzö-

sischer Beamter gewesen sei.

Gauß starrte ihn an.

Der Graf nippte an seinem Tee und bat, ihn nicht falsch zu verstehen. Er mache niemandem Vorwürfe. Es seien schlimme Zeiten gewesen, und jeder habe sich nach seinen Möglichkeiten verhalten.

Seinetwegen, sagte Gauß, habe Napoleon auf den Beschuß Göttingens verzichtet!

Der Graf nickte. Er sah nicht überrascht aus. Nicht jeder habe das Glück gehabt, vom Korsen geschätzt zu werden.

Und kaum einer die Verdienste, sagte Gauß.

Der Graf bückte versonnen in seine Tasse. Im Geschäftlichen jedenfalls scheine der Herr Geodät nicht so unerfahren, wie er sich gebe.

Gauß fragte, wie er das verstehen solle.

Er könne doch davon ausgehen, daß der Herr Geodät ihn in landesüblicher Konventionalmünze bezahlen werde?

Selbstverständlich, sagte Gauß.

Dann frage er sich aber, ob dem Herrn Geodät diese Ausgaben vom Staat nicht in Gold erstattet würden. Falls dem nämlich so sei, gebe es einen hübschen Kursgewinn.

Um das zu sehen, müsse man kein Mathematiker sein.

Gauß lief rot an.

Jedenfalls nicht der sogenannte Fürst der Mathematiker, sagte der Graf, der so etwas wohl kaum einfach außer acht lasse.

Gauß faltete die Hände auf dem Rücken und betrachtete die auf den Palmenstämmen wachsenden Orchideen.

Nichts davon sei gegen das Gesetz, sagte er mit gepreßter Stimme.

Kein Zweifel, sagte der Graf. Er sei sicher, der Herr Geodät habe das geprüft. Übrigens habe er große Be-wunderung für die Vermessungsarbeit. Es sei eine wunderliche Beschäftigung, monatelang mit Instrumenten herumzuziehen.

Nur wenn man es in Deutschland tue. Wer das gleiche in den Kordilleren unternehme, werde als Entdecker gefeiert.

Der Graf wiegte den Kopf. Hart sei es wohl dennoch, zumal wenn man daheim Familie habe. Der Herr Geodät habe doch Familie? Eine gute Frau?

Gauß nickte. Die Sonne kam ihm zu hell vor, und die Pflanzen beunruhigten ihn. Er fragte, ob sie über den Kauf der Bäume sprechen könnten. Er müsse weiter, seine Zeit sei knapp!

So knapp wohl auch nicht, sagte der Graf. Wenn man Verfasser der Disquisitiones Arithmeticae sei, so müsse man es eigentlich nie wieder eilig haben.

Gauß sah den Grafen verblüfft an.

Bitte keine unnötige Bescheidenheit, sagte der Graf.


Der Abschnitt über die Kreisteilung gehöre zum Bemer-kenswertesten, was er je gelesen habe. Er habe da Gedanken gefunden, von denen sogar er noch habe lernen können.

Gauß lachte auf.

Doch doch, sagte der Graf, er meine es ernst.

Es erstaune ihn, sagte Gauß, hier einen Mann mit solchen Interessen zu treffen.

Er solle lieber von Wissen sprechen, sagte der Graf.

Seine Interessen seien sehr beschränkt. Doch er habe es immer für nötig gehalten, seine Kenntnisse weit über die Grenzen seiner Anteilnahme hinaus auszudehnen. Bei der Gelegenheit: Er habe gehört, der Hetr Geodät wolle ihm etwas sagen.

Bitte?

Es sei schon eine Weile her. Beschwerden, Ärgernisse.

Eine Anklage sogar.

Gauß rieb sich die Stirn. Ihm wurde allmählich heiß. Er hatte keine Ahnung, wovon dieser Mann sprach.

Bestimmt nicht?

Gauß sah ihn verständnislos an.

Dann eben nicht, sagte der Graf. Und was die Bäume anbelange, die gebe er gratis.

Und den Schuppen?

Den auch.

Aber warum, fragte Gauß und erschrak über sich selbst.

Was für ein dummer Fehler!

Brauche man immer Gründe? Aus Liebe zum Staat, wie sie einem Bürger wohl anstehe. Aus Wertschätzung für den Herrn Geodäten.

Gauß bedankte sich mit einer Verbeugung. Er müsse jetzt aufbrechen, sein nichtsnutziger Sohn warte, er habe heute noch die ganze Länge bis Kalbsloh abzuschreiten.

Der Graf erwiderte den Gruß mit einer Flatterbewe-gung seiner dünnen Hand.

Auf dem Weg zum Herrenhaus schien es Gauß einen Moment, als hätte er die Orientierung verloren. Er konzentrierte sich, dann ging er rechts, links und rechts, durch die Gittertür, wieder zweimal rechts, durch noch eine Tür und stand in der Eingangshalle vom Vortag. Der Diener wartete schon, öffnete die Haustür und entschuldigte sich für das Zimmer. Er habe nicht gewußt, um wen es sich gehandelt habe. Es sei nur die Reiter-kammer gewesen, wo man Gesindel und Herumtreiber unterbringe. Droben sei es gar nicht häßlich. Man habe Spiegel und Waschbecken und sogar Bettzeug.

Gesindel und Herumtreiber, wiederholte Gauß.

Ja, sagte der Diener mit unbewegtem Gesicht. Ab-schaum und niederes Gezücht. Und er schloß sanft die Tür.

Gauß atmete tief ein. Er war erleichtert, daß er hinaus war. Er mußte schnell weg, bevor dieser Verrückte seine Zusage bereute. Der hatte also die Disquisitiones gelesen!

Er hatte sich noch immer nicht ans Berühmtsein ge-wöhnt. Selbst damals, als in der schlimmsten Kriegszeit ein Adjutant Napoleons Grüße überbracht hatte, hatte er es für ein Mißverständnis gehalten. Womöglich war es auch eines gewesen; er würde es nie erfahren. Schnellen Schrittes ging er den Hang hinunter in den Wald.

Ärgerlicherweise versteckten sich die gestern markierten Bäume auf das geschickteste. Es war schwül, er schwitzte, und es gab zu viele Fliegen. Auf jedem Baum, der weg mußte, hatte er ein Kreidekreuz angebracht.

Jetzt mußte er ein zweites darüber malen, als Zeichen, daß die Genehmigung zum Fällen vorlag. Eugen hatte ihn kürzlich gefragt, ob sie ihm nicht leid täten, diese Bäume seien so alt und hoch, sie spendeten so viel Schatten und hätten so lange gelebt. Der Junge war zugleich gefühlig und begriffsstutzig. Ein Jammer: Er war so fest entschlossen gewesen, die Begabungen seiner Kinder zu nähren, ihnen das Lernen leicht zu machen und alles zu fördern, was an ihnen außergewöhnlich war. Aber dann war nichts an ihnen außergewöhnlich gewesen. Sie waren nicht einmal besonders intelligent. Joseph machte sich ganz gut als Offiziersanwärter, doch der war ja auch von Johanna. Wilhelmine war immerhin gehorsam und hielt das Haus sauber. Aber Eugen?

Endlich fand er den Schuppen und konnte ihn mar-kieren. Vermutlich würde es Tage dauern, bis die Helfer ihn abgerissen hätten. Dann würde er den Winkel zur Basislinie bestimmen können, und das Netz wäre um ein weiteres Dreieck vergrößert. So mußte er sich Schritt für Schritt hinaufarbeiten, bis zur dänischen Grenze.

Bald würde all das eine Kleinigkeit sein. Man würde in Ballons schweben und die Entfernungen auf magnetischen Skalen ablesen. Man würde galvanische Signale von einem Meßpunkt zum nächsten schicken und die Distanz am Abfallen der elektrischen Intensität erkennen.

Aber ihm half das nicht, er mußte es jetzt tun, mit Maßband, Sextant und Theodolit, in lehmigen Stiefeln, mußte dazu noch Methoden finden, auf dem Weg reiner Mathematik die Ungenauigkeiten der Messung auszugleichen: Winzige Fehler addierten sich jedesmal zur Katastrophe. Noch nie hatte es eine genaue Karte dieser oder irgendeiner Gegend gegeben.

Seine Nase juckte, eine Mücke hatte mitten hinein-gestochen. Er wischte sich den Schweiß ab. Er dachte an Humboldts Bericht über die Moskitos am Orinoko: Menschen und Insekten konnten nicht auf Dauer zusam-menleben, nicht für immer, nicht in alle Zukunft. Erst letzte Woche war Eugen von einer Hornisse gestochen worden. Angeblich kamen auf jeden Menschen eine Million Insekten. Selbst mit viel Glück und Geschick konnte man die nicht alle ausrotten. Er setzte sich auf einen Baumstumpf, holte ein hartes Stück Brot aus der Tasche und biß vorsichtig hinein. Sekunden später schwirrten die ersten Wespen um seinen Kopf. Nüchtern betrachtet mußte man annehmen, daß die Insekten gewinnen würden.

Er dachte an seine Frau Minna. Er hatte sie nie belo-gen. Zuerst hatte er überlegt, Nina zu heiraten, aber in einem langen Brief hatte ihn Bartels überzeugt, daß er das nicht tun dürfe. Also hatte er Minna erklärt, daß er jemanden für die Kinder brauche und für den Haushalt und seine Mutter, daß er nun einmal nicht allein leben könne, und immerhin sei sie Johannas beste Freundin gewesen. Ihre Verlobung mit irgendeinem Schafskopf war erst kurz zuvor gelöst worden, sie war nicht mehr jung, ihre Chancen auf Heirat standen schlecht. Sie hatte verschämt gekichert, war hinausgegangen und wieder zu-rückgekommen und hatte an ihrem Kleid gezupft. Dann hatte sie ein wenig geweint und angenommen. Er dachte an ihre Hochzeit, an den Schrecken, der über ihn gekommen war, als er sie in Weiß gesehen hatte, die großen Zähne zu einem glücklichen Lächeln gebleckt. Da hatte er seinen Fehler erkannt. Das Problem war nicht, daß er sie nicht liebte. Das Problem war, daß er sie nicht ausste-hen konnte. Daß ihre Nähe ihn nervös und unglücklich machte, daß ihre Stimme ihm vorkam, als kratze Kreide auf einer Schiefertafel, daß er sich schon einsam fühlte, wenn er ihr Gesicht nur von weitem sah, und allein der Gedanke an sie ausreichte, ihn wünschen zu lassen, er wäre tot. Warum er Landvermesser geworden war? Um nicht daheim zu sein.

Er bemerkte, daß er schon wieder die Orientierung verloren hatte. Er blickte auf. Die Baumwipfel ragten in einen diesigen Himmel. Der Waldboden federte unter seinen Schritten. Er mußte aufpassen, auf den feuchten Wurzeln rutschte man leicht aus. Zu Mittag würde er wohl bei einem Bauern essen müssen, und wie immer würde er von der Brotsuppe und der fetten Milch Bauch-krämpfe kriegen. Und daß das Schwitzen nicht gesund war, sagte einem jeder Arzt im Land.

Stunden später fand Eugen ihn schimpfend durch den Wald streifen.

Warum erst jetzt, brüllte Gauß.

Eugen beteuerte, daß er nichts für die Verspätung kön-ne, ein Bauer habe ihn in die falsche Richtung geschickt, dann habe er die Markierung am Schuppen übersehen, sie sei zu niedrig aufgemalt gewesen, und eine Ziege habe genau davor gelegen. Als er das Kreuz dann doch bemerkt habe, habe sie ihn auch noch angegriffen. Er sei noch nie von einer Ziege gebissen worden. Daß so etwas passieren könne, habe er nicht gewußt.

Gauß streckte seufzend die Hand aus, in Erwartung einer Ohrfeige zuckte der Junge zurück. Dabei hatte er ihm nur auf die Schulter klopfen wollen. Ärger stieg in Gauß auf, jetzt konnte er die Geste nicht mehr zu Ende fuhren, ohne sich zu blamieren. Also mußte er ihm einen Klaps auf die Wange geben. Der geriet ein wenig zu fest, und Eugen sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

Wie stehst du denn da, sagte Gauß, weil er den Schlag begründen mußte. Halt dich gerade! Er nahm Eugen den zusammengelegten Heliotrop aus den Händen. Kein Zweifel, der Junge hatte Minnas Verstand und vom Vater nur die Neigung zur Melancholie. Zärtlich strich Gauß über die Kristallspiegel, die Skalen und das schwenkbare Teleskop. Diese Erfindung würden die Menschen lange verwenden! Er wünschte, sagte er, er hätte das Gerät dem Grafen demonstrieren können.

Welchem Grafen?

Gauß stöhnte. Er war von klein auf an die Trägheit der Menschen gewöhnt. Aber seinem eigenen Sohn konnte er sie nicht durchgehen lassen. Dummer Esel, sagte er und ging los. Bei dem Gedanken daran, wieviel noch zu tun war, wurde ihm schwindlig. Deutschland war kein Land der Städte, es war bevölkert von Bauern und ein paar kauzigen Aristokraten, es bestand aus Tausenden Wäldern und Dörfchen. Ihm war, als müßte er sie alle aufsuchen.


Die

Hauptstadt


In Neuspanien wartete der erste Reporter.

Fast hätten sie es nicht bis dorthin geschafft, weil der Kapitän des einzigen Schiffes nach Veracruz sich geweigert hatte, Ausländer an Bord zu nehmen. Pässe hin oder her, er sei Neugranadier, Spanien interessiere ihn nicht, und Urquijos Siegel sei bedeutungslos, hier sowieso und jetzt auch drüben. Bestechungsgeld hatte Humboldt aus Prinzip nicht bezahlen wollen, schließlich hatten sie es so gelöst, daß Humboldt das Geld Bonpland gegeben und dieser es dem Kapitän zugesteckt hatte.

Unterwegs hatte eine Eruption des Vulkans Cotopaxi einen Sturm ausgelöst, und da der Kapitän Humboldts Ratschläge ignoriert hatte – er mache das seit Jahren, und es widerspreche dem Seerecht, seinen Navigator zu kritisieren, Besatzungsmitglieder könnten dafür aufgeknüpft werden –, waren sie weit vom Kurs abgetrieben. Damit der Sturm nicht ungenützt vorbeiging, hatte Humboldt sich fünf Meter über der Wasseroberfläche an den Bug binden lassen, um die Höhe der von keiner Küste ge-brochenen Wellen zu messen. Einen ganzen Tag hatte er dort gehangen, von der Morgenstunde bis in die Nacht, das Okular des Sextanten vor dem Gesicht. Danach war er zwar leicht durcheinander, aber auch rot, erfrischt und fröhlich gewesen und hatte nicht begreifen können, warum die Matrosen ihn von da an für den Teufel gehalten hatten.

Am Bootssteg von Veracruz also stand ein schnurrbärtiger Mann. Er heiße Gomez und schreibe für mehrere Journale sowohl Neuspaniens als auch des Mutter-lands. Er bitte untertänig, den Herrn Grafen begleiten zu dürfen.

Nicht Graf, sagte Bonpland. Nur Baron.

Da er seine Reise selbst beschreiben wolle, komme ihm das unnötig vor, sagte Humboldt und sah Bonpland vorwurfsvoll an.

Gomez versprach, daß er ein Schatten sein werde, ein Schemen, praktisch unsichtbar, daß er jedoch alles beobachten wolle, was nach Zeugen verlange.

Humboldt bestimmte zunächst die geographische Position der Hafenstadt. Ein exakter Atlas von Neuspanien, diktierte er Gomez, während er auf dem Rücken lag und das Teleskop auf den Nachthimmel richtete, könne die Besiedlung der Kolonie fördern, die Unterwerfung der Natur beschleunigen, das Geschick des Landes in eine günstige Richtung lenken. Angeblich habe ein deutscher Astronom die Bahn eines neuen Wandelsterns berechnet.

Leider sei es unmöglich, Genaues zu erfahren, die Journale seien hier so rückständig. Manchmal wolle er heim.

Er senkte das Fernrohr und bat Gomez, die letzten beiden Sätze aus seinen Notizen zu streichen.

Sie zogen ins Gebirge. Bonpland hatte sich vom Fiebet erholt: Er sah dürrer und trotz der Sonne blaß aus, er hatte die ersten Falten und deutlich weniger Haare als noch vor ein paar Jahren. Neu war, daß er an den Fingernägeln kaute, und aus Gewohnheit hustete er noch von Zeit zu Zeit. Ihm fehlten jetzt so viele Zähne, daß ihm das Essen schwerfiel.

Humboldt dagegen schien unverändert. In alter Geschäftigkeit arbeitete er an einer Aufrißkarte des Kontinents. Er verzeichnete die Vegetationszonen, den in zunehmender Höhe absinkenden Luftdruck, das Inein-anderfließen der Gesteine im Berginneren. Um die Stein-formationen zu unterscheiden, kroch er in Felslöcher, die so klein waren, daß er mehrmals steckenblieb und Bonpland ihn an den Füßen herausziehen mußte. Er kletterte auf einen Baum, ein Ast brach ab, und Humboldt stürzte auf den mitschreibenden Gomez.

Der fragte Bonpland, was Humboldt für ein Mensch sei.

Er kenne ihn besser als irgendeinen, sagte Bonpland.

Besser als seine Mutter und seinen Vater, besser auch als sich selbst. Er habe es sich nicht ausgesucht, doch so sei es gekommen.

Und?

Bonpland seufzte. Er habe keine Ahnung.

Gomez fragte, wie lange sie schon gemeinsam unterwegs seien.

Er wisse es nicht, sagte Bonpland. Vielleicht ein Leben lang. Vielleicht länger.

Warum habe er all das auf sich genommen?

Bonpland sah ihn mit rot unterlaufenen Augen an.

Warum habe er, wiederholte Gomez, es auf sich genommen? Warum sei er der Assistent –

Nicht Assistent, sagte Bonpland. Mitarbeiter.

Warum also sei er der Mitarbeiter dieses Mannes geblieben, trotz all der Mühen und all die Jahre hindurch?


Bonpland dachte nach. Aus vielen Gründen.

Zum Beispiel?

Eigentlich, sagte Bonpland, habe er bloß immer weg-gewollt aus La Rochelle. Dann habe eines zum anderen geführt. Die Zeit vergehe so absurd schnell.

Das, sagte Gomez, sei keine Antwort.

Er müsse jetzt Kakteen zerschneiden. Bonpland wandte sich ab und erkletterte mit flinken Bewegungen die nächste Anhöhe.

Humboldt stieg unterdessen in die Mine von Taxco hinab. Einige Tage beobachtete er die Silberförderung, inspizierte die Verschalung der Stollen, beklopfte den Stein, unterhielt sich mit den Vorstehern. Mit seiner Atemmaske und der Grubenlampe sah er aus wie ein Dä-

mon. Wo immer er auftauchte, fielen die Arbeiter auf die Knie und riefen Gott um Hilfe an. Mehrmals mußten die Vorarbeiter ihn vor Steinwürfen schützen.

Am meisten faszinierte ihn die Findigkeit der Arbeiter beim Diebstahl. Keiner durfte in den Förderkorb, bevor man ihn auf das genaueste untersucht hatte. Dennoch fanden sie immer wieder Wege, um Erzstücke mitzu-nehmen. Humboldt fragte, ob er sich der Wissenschaft halber an der Leibesvisitation beteiligen dürfe. Er fand Silberklumpen im Haar, in den Achselhöhlen, in den Mündern und selbst im Anus der Männer. Derlei Arbeit widerstrebe ihm, sagte er zum Bergwerksleiter, einem gewissen Don Fernando García Utilla, der ihm träumerisch zusah, wie er den Bauchnabel eines kleinen Jungen betastete; allein, die Wissenschaft und die Staatswohlfahrt verlangten es. Ein geregeltes Ausbeuten der Schätze der tiefen Erde sei nicht denkbar, wenn man nicht den Ein-zelnteressen der Arbeitenden entgegenwirke. Er wiederholte den Satz, damit Gomez mitschreiben konnte. Au-

ßerdem sei es ratsam, die Anlagen zu erneuern. Es gebe zu viele Unfälle.

Man habe genug Leute, sagte Don Fernando. Wer sterbe, könne ersetzt werden.

Humboldt fragte ihn, ob er Kant gelesen habe.

Ein wenig, sagte Don Fernando. Aber er habe Einwände gehabt, Leibniz liege ihm mehr. Er habe deutsche Vorfahren, deshalb kenne er all diese schönen Phantaste-reien.

Am Tag ihrer Weiterreise standen zwei Fesselballons rund und leuchtend neben der Sonne. Das sei jetzt Mode, erklärte Gomez, jeder Mann von Stand und Mut wolle einmal mitfliegen.

Vor Jahren habe er den ersten Ballon über Deutschland gesehen, sagte Humboldt. Glücklich, wer damals geflogen sei. Als es gerade kein Wunder mehr gewesen sei und noch nichts Irdisches. Wie die Entdeckung eines neuen Sterns.

Bei Cuernavaca sprach sie ein junger Nordamerikaner an. Er hatte einen raffiniert gezwirbelten Bart, hieß Wilson und schrieb für den Philadelphia Chronicle.

Das sei ihm jetzt zuviel, sagte Humboldt.

Natürlich stünden die Vereinigten Staaten im Schatten des großen Nachbarn, sagte Wilson. Doch auch ihr junges Staatswesen habe eine Öffentlichkeit, die mit wachsendem Interesse die Taten von General Humboldt verfolge.

Bergwerksassessor, sagte Humboldt, um Bonpland zu-vorzukommen. Nicht General!


Vor der Hauptstadt legte Humboldt Galauniform an.

Eine Delegation des Vizekönigs erwartete sie mit dem Stadtschlüssel auf einer Anhöhe. Seit Paris waren sie in keiner Metropole dieser Größe gewesen. Es gab eine Universität, eine öffentliche Bücherei, einen botanischen Garten, eine Akademie der Künste und eine Bergbauakademie nach preußischem Vorbild unter der Leitung von Humboldts ehemaligem Freiberger Mitschüler Andres del Rio. Über das Wiedersehen schien der sich nicht mehr als nötig zu freuen. Er legte Humboldt die Hände auf die Schultern, hielt ihn auf Armeslänge von sich und betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen.

Also sei es wahr, sagte er in gebrochenem Deutsch.

Trotz allen Geredes.

Welchen Geredes? Seit der Begegnung mit Brombacher hatte Humboldt nicht mehr seine Muttersprache verwendet. Sein Deutsch klang hölzern und unsicher, immer wieder mußte er nach Worten suchen.

Gerüchte, sagte Andres. Etwa, daß er ein Spion der Vereinigten Staaten sei. Oder einer der Spanier.

Humboldt lachte. Ein spanischer Spion in der spanischen Kolonie?

Aber ja, sagte Andres. Lange werde man nicht mehr Kolonie sein. Drüben wisse man das, und hier wisse man es erst recht.

Nahe dem Hauptplatz hatte man begonnen, die Reste des von Cortés zerstörten Tempels auszugraben. Im Schatten der Kathedrale standen gähnende Arbeiter, der stechende Geruch von Maisfladen hing in der Luft. Auf dem Boden lagen Knochenschädel mit Edelsteinaugen, Dutzende Obsidianmesser, kunstvoll in Stein geritzte Bilder menschlicher Schlachtungen, kleine Tonfiguren mit offenem Brustkotb. Da war auch ein Steinaltar aus grob gehauenen Totenköpfen. Der Maisgeruch störte Humboldt, ihm war nicht wohl. Als er sich umdrehte, sah er Wilson und Gomez mit ihren Notizblöcken.

Er bat sie, ihn allein zu lassen, er müsse sich konzentrieren.

So arbeite ein großer Forscher, sagte Wilson.

Allein sein, um sich zu konzentrieren, sagte Gomez.

Das solle die Welt erfahren!

Humboldt stand vor einem riesigen Rad aus Stein. Ein Gewirbel aus Echsen, Schlangenköpfen und in geometrische Splitter zerbrochenen Menschenfiguren. In der Mitte ein Gesicht mit herausgestreckter Zunge und lidlosen Augen. Er sah lange hin. Allmählich ordnete sich das Chaos; er erkannte Entsprechungen, Bilder, die einander ergänzten, Symbole, die, nach feinen Gesetzmäßigkeiten wiederholt, Zahlen verschlüsselten. Das hier war ein Kalender.

Er versuchte ihn abzuzeichnen, aber es gelang nicht, und das hatte irgend etwas mit dem Gesicht in der Mitte zu tun. Er fragte sich, wo er diesem Blick schon begegnet war.

Der Jaguar fiel ihm ein, dann der Junge in der Lehmhüt-te. Beunruhigt sah er auf seinen Block. Er würde hierfür einen professionellen Zeichner brauchen. Er starrte in das Gesicht, und es lag wohl an der Hitze oder am Maisgeruch, daß er sich auf einmal abwenden mußte.

Zwanzigtausend, sagte ein Arbeiter vergnügt. Zur Einweihung des Tempels seien zwanzigtausend Menschen geopfert worden. Einer nach dem anderen: Herz raus, Kopf ab. Die Reihen der Wartenden hätten bis zum Rand der Stadt gereicht.


Guter Mann, sagte Humboldt. Reden Sie keinen Unsinn!

Der Arbeiter sah ihn beleidigt an.

Zwanzigtausend an einem Ort und Tag, das sei undenkbar. Die Opfer würden es nicht dulden. Die Zuschauer würden es nicht dulden. Ja mehr noch: Die Ordnung der Welt vertrüge derlei nicht. Wenn so etwas wirklich geschähe, würde das Universum enden.

Dem Universum, sagte der Arbeiter, sei das scheiß-

egal.

Am Abend aß Humboldt beim Vizekönig. Andres del Rio und mehrere Mitglieder der Regierung waren gekommen, ein Museumsdirektor, einige Offiziere und ein kleiner, schweigsamer Herr mit dunkler Hautfarbe und außergewöhnlich eleganter Kleidung: der Conde de Moctezuma, Ururenkel des letzten Gottkönigs und Grande des spanischen Reichs. Er bewohnte ein Schloß in Kastilien und wat geschäftehalber für ein paar Monate in der Kolonie. Seine Frau, eine großgewachsene Schönheit, sah Humboldt mit unverhohlenem Interesse an.

Zwanzigtausend sei schon richtig, sagte der Vizekönig.

Vielleicht auch mehr, die Schätzungen gingen auseinander. Unter Tlacaelel, dem letzten Hohepriester, sei das Reich ganz dem Blut verfallen.

Nicht daß das Hohepriesterdasein wünschenswert gewesen sei, sagte Andres. Man habe sich selbst regelmäßig verstümmeln müssen. Beispielsweise habe man, er bitte die Damen um Verzeihung, zu wichtigen Festen seinem Gemächt Blut abgezapft.

Humboldt räusperte sich und begann von Goethe zu sprechen, auch von seinem älteren Bruder und deren gemeinsamem Interesse für die Sprachen alter Völker.

Diese hielten sie für eine Art besseres Latein, reiner und näher am Ursprung der Welt. Er frage sich, ob das auch fürs Aztekische zutreffe.

Der Vizekönig sah fragend den Conde an.

Er könne keine Auskunft geben, sagte der, ohne von seinem Teller aufzuschauen. Er spreche nur Spanisch.

Um das Thema zu wechseln, fragte der Vizekönig Humboldt nach seiner Meinung über die Silberminen.

Ineffektiv, sagte Humboldt geistesabwesend, überall Dilettantismus und Stümperei. Er schloß einen Moment die Augen, sofort erschien das Steingesicht vor ihm. Etwas hatte ihn gesehen, das spürte er, und würde ihn nicht mehr vergessen. Nur der gewaltige Überschuß von Silber, hörte er sich sagen, erlaube die Vortäuschung von Effi-zienz. Die Mittel seien überholt, die Diebstahlsquote sei enorm, das Personal ungenügend ausgebildet.

Einige Sekunden war es still. Der Vizekönig warf dem blaß gewordenen Andres del Rio einen Blick zu.

Das sei natürlich übertrieben formuliert, sagte Humboldt, erschrocken über sich selbst. Vieles habe ihn beeindruckt!

Der Conde sah ihn schwach lächelnd an.

Neuspanien brauche einen fähigen Bergwerksminister, sagte der Vizekönig.

Humboldt fragte, an wen er da denke.

Der Vizekönig schwieg.

Unmöglich, sagte Humboldt und hob die Hände. Er sei Preuße, er könne nicht für ein anderes Land Dienst tun.


Erst später am Abend brachte er es fertig, ein paar Worte mit dem Conde zu wechseln. Leise fragte er ihn, was er über ein riesiges Kalenderrad aus Stein wisse.

Etwa fünf Ellen im Radius?

Humboldt nickte.

Mit gefiederten Schlangen, ein starres Gesicht im Mittelpunkt?

Ja, rief Humboldt.

Darüber wisse er nicht das geringste, sagte der Conde.

Er sei kein Indianer, sondern spanischer Grande.

Humboldt fragte, ob es keine Familienüberlieferung gebe.

Der Conde richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und reichte nun bis zu Humboldts Brust. Sein Vorfahr habe sich von Cortés kidnappen lassen. Er habe um sein Leben gefleht wie eine Frau, habe gejammert und geweint und schließlich, nach Wochen der Gefangenschaft, die Seiten gewechselt. Es seien Azteken gewesen, die ihn mit Steinwürfen getötet hätten, Wenn er, der Conde de Moctezuma, jetzt auf den Hauptplatz ginge, er würde keine fünf Minuten leben. Der Conde überlegte. Vielleicht, sagte er dann, würde auch gar nichts passieren. Alles sei lange her, die Menschen erinnerten sich kaum noch. Er faßte den Ellenbogen seiner Frau und blickte mit schmalen Augen an Humboldt hinauf. Wer immer ihn treffe, forsche in seinem Gesicht nach einem Abglanz der Züge des Gottkönigs. Jeder, der seinen Namen erfahre, blicke durch ihn hindurch in die Vergangenheit. Ob Humboldt sich vorstellen könne, wie es sei, das Leben als Schatten eines großen Verwandten zu fuhren?

Manchmal könne er das, antwortete Humboldt.


Familienüberlieferung, wiederholte der Conde abfällig. Er und seine Frau gingen ohne Gruß.

Früh am Morgen bemerkte Humboldt, daß Bonpland nicht da war. Sofort machte er sich auf die Suche. Die Straßen waren voller Händler: Ein Mann verkaufte getrocknete Früchte, ein zweiter Wundermittel gegen alle Krankheiten außer der Gicht, ein dritter schlug sich mit einem Beil die linke Hand ab, welche er dann herum-geben und von der Menge untersuchen ließ, während er unter Schmerzen wartete, bis er sie zurückbekam. Er preßte sie an den Stumpf und beträufelte sie mit Tinktur.

Bleich vom Blutverlust hieb er dann ein paarmal auf den Tisch, um zu zeigen, daß sie angewachsen war. Die Umstehenden klatschten und kauften ihm alle Tinkturvorräte ab. Ein vierter hatte Wundermittel gegen Gicht, ein fünfter billig gedruckte illustrierte Broschüren. In einer davon wurde die Geschichte eines wundertätigen Priesters erzählt, in einer anderen das Leben des Indiojungen, dem die Madonna von Guadaloupe erschienen war, in einer dritten die Abenteuer eines deutschen Barons, der ein Boot durch die Hölle des Orinoko gesteuert und den höchsten Berg der Welt bestiegen hatte. Die Bilder waren gar nicht übel, besonders Humboldts Uniform war gut getroffen.

Er fand Bonpland, wo er ihn vermutet hatte. Das Haus war aufwendig geschmückt, die Fassade bedeckt mit chi-nesischen Kacheln. Ein Pförtner bat ihn zu warten. Minuten später tauchte Bonpland in hastig übergestreifter Kleidung auf.

Humboldt fragte, wie oft er ihn noch an ihre Abmachung erinnern solle.


Das sei ein Hotel wie jedes andere, antwortete Bonpland, und die Abmachung sei eine Zumutung. Er habe ihr nie zugestimmt.

So oder so, sagte Humboldt, es sei jedenfalls eine Abmachung.

Bonpland forderte ihn auf, sich die Predigten zu sparen.

Am nächsten Tag erstiegen sie den Popocatepetl. Ein Pfad führte fast bis zum Gipfel: Gomez und Wilson, der Bürgermeister der Hauptstadt, drei Zeichner und fast hundert Schaulustige folgten ihnen. Wann immer Bonpland eine Pflanze abschnitt, mußte er sie herum-zeigen. Meist kam sie so abgegriffen zurück, daß er sie nicht mehr in die Botanisiertrommel zu legen brauchte.

Als Humboldt vor einem Erdloch seine Atemmaske anschnallte, brandete Applaus auf. Und während er mit dem Barometer die Höhe des Gipfels bestimmte und sein Thermometer in den Krater hinabließ, verkauften Händler Erfrischungen.

Beim Abstieg sprach sie ein Franzose an. Er heiße Duprés und schreibe für mehrere Pariser Zeitschriften.

Eigentlich sei er wegen der von Baudin geleiteten Expedition der Akademie angereist. Aber nun sei Baudin nicht aufgetaucht, und er habe kaum sein Glück fassen können, als er erfahren habe, daß ein viel Größerer im Land sei.

Für einen Moment gelang es Humboldt nicht, ein selbstgefälliges Lächeln zu unterdrücken. Er hoffe immer noch, sich Baudin anzuschließen und mit ihm zu den Philippinen zu fahren. Er trage sich mit dem Gedanken, den Kapitän in Acapulco abzufangen, damit man sich gemeinsam der Untersuchung der seligen Inseln widmen könne.

Gemeinsam, wiederholte Duprés. Der seligen Untersuchung der Inseln.

Der Untersuchung der seligen Inseln!

Duprés strich es durch, schrieb es neu und bedankte sich.

Dann besuchten sie die Ruinen von Teotihuacan. Sie schienen zu groß für menschliche Erbauer. Auf einer geraden Chaussee gelangten sie zu einem von Tempeln um-standenen Platz. Humboldt setzte sich auf den Boden und rechnete, die Menge beobachtete ihn aus der Entfernung.

Bald wurde es den ersten langweilig, manche begannen zu schimpfen, nach einer Stunde waren die meisten und nach neunzig Minuten die allerletzten gegangen. Nur die drei Journalisten blieben. Bonpland kam verschwitzt von der Spitze der größten Pyramide zurück.

So hoch habe er es sich nicht vorgestellt!

Humboldt, den Sextanten in Händen, nickte.

Vier Stunden später, längst war es Abend, saß er immer noch da, in der gleichen Haltung über das Papier gebeugt, Bonpland und die Journalisten waren frierend eingeschlafen. Als Humboldt kurz darauf seine Instrumente einpackte, wußte er, daß die Sonne am Tag des Solstitiums von der Chaussee aus gesehen genau über der Spitze der größten Pyramide auf- und durch die Spitze der zweitgrößten unterging. Diese ganze Stadt war ein Kalender. Wer hatte das erdacht? Wie gut hatten die Menschen die Sterne gekannt, und was hatten sie mitteilen wollen? Seit über tausend Jahren war er der erste, der ihre Botschaft lesen konnte.


Warum er so bedrückt sei, fragte Bonpland, der vom Klappern der Instrumente wach geworden war.

So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit, sagte Humboldt. Was für eine Paarung! Gleichsam der Gegen-satz zu allem, wofür Deutschland stehe.

Vielleicht sei es Zeit zur Heimkehr, sagte Bonpland.

In die Stadt?

Nicht in diese.

Eine Weile sah Humboldt in den bestirnten Nachthimmel. Gut, sagte er dann. Er werde diese erschreckend intelligent geschichteten Steine verstehen lernen, als wä-

ren sie Teil der Natur. Danach werde er Baudin allein zu den Philippinen aufbrechen lassen und das erste Schiff nach Nordamerika nehmen. Von dort würden sie zurück nach Europa fahren.

Zuvor aber reisten sie zum Vulkan Jorullo, der vor fünfzig Jahren ganz plötzlich unter Donner, Feuersturm und Ascheregen aus der Ebene gestiegen war. Als er in der Ferne auftauchte, klatschte Humboldt vor Aufregung in die Hände. Dort hinauf müsse er noch, diktierte er den Journalisten, davon sei die endgültige Widerlegung der neptunistischen Thesen zu erwarten. Wenn er an den großen Abraham Werner denke, er buchstabierte den Namen, tue ihm das beinahe leid.

Am Fuß des Vulkans empfing sie der Gouverneur der Provinz Guanajuato mit großem Gefolge, darunter der Erstbesteiger, ein alter Herr namens Don Ramon Espei-de. Der bestand darauf, die Expedition anzuführen. Die Sache sei zu gefährlich, um sie Laien zu überlassen!

Humboldt beteuerte, daß er mehr Berge erklettert habe als irgendein Mensch.


Ungerührt gab Don Ramón ihm den Ratschlag, nicht direkt in die Sonne zu schauen und bei jedem Aufsetzen des rechten Fußes die Madonna von Guadaloupe anzu-rufen.

Sie kamen schleppend voran. Immer wieder mußten sie auf den einen oder anderen Begleiter warten; besonders Don Ramón rutschte immer wieder aus oder konnte vor Erschöpfung nicht weiter. Regelmäßig ließ sich Humboldt unter staunenden Blicken auf alle viere nieder, um mit dem Hörrohr den Felsboden zu behorchen. Oben angekommen, seilte er sich in den Krater ab.

Der Kerl, sagte Don Ramón, sei ja vollkommen irre, so etwas habe er noch nie erlebt.

Als man Humboldt wieder heraufzog, war er grün angelaufen, hustete erbärmlich, und seine Kleidung war angesengt. Der Neptunismus, rief er blinzelnd, sei mit diesem Tag zu Grabe getragen!

Ein Jammer eigentlich, sagte Bonpland. Er habe Poesie gehabt.

In Veracruz nahmen sie das erste Schiff zurück nach Havanna. Er müsse zugeben, sagte Humboldt, während die Küste im Dunst versank, er sei froh, daß es zu Ende gehe. Er lehnte sich an die Reling und schaute mit schmalen Augen in den Himmel. Bonpland fiel auf, daß er zum erstenmal nicht mehr wie ein junger Mann aussah.

Sie hatten Glück: In Havanna legte gerade ein Schiff ab, das den Kontinent hinauf und dann den Delaware-Fluß entlang nach Philadelphia fahren würde. Humboldt wandte sich an den Kapitän, zeigte einmal noch seinen spanischen Paß und erbat eine Passage.

Herrgott, sagte der Kapitän. Sie!


Himmel, sagte Humboldt.

Ratlos sahen sie einander an.

Er halte das für keine gute Idee, sagte der Kapitän.

Er müsse aber nun einmal dort hinauf, sagte Humboldt und versprach, unterwegs keine Positionsbestim-mungen durchzuführen. Er vertraue ihm völlig. Die Ozeanüberquerung damals habe er als Glanzstück der Seefahrerkunst in Erinnerung. Trotz der Seuche, des un-fähigen Schiffsarztes und der falschen Berechnungen.

Und dann ausgerechnet Philadelphia, sagte der Kapitän.

Seinetwegen könnten alle aufständischen Kolonialisten krepieren, die dort und die hier.

Er habe vierzehn Kisten mit Gesteins- und Pflanzenproben, sagte Humboldt, dazu vierundzwanzig Käfige mit Affen und Vögeln sowie einige Glasschatullen mit Insekten und Spinnentieren, die nach umsichtiger Behandlung verlangten. Wenn es recht sei, könne sofort aufgeladen werden.

Dies sei ein belebter Hafen, sagte der Kapitän. Sicher komme bald ein anderes Schiff.

Er hätte nichts dagegen, sagte Humboldt. Aber er habe nun einmal diesen Paß, und die katholischen Majestäten erwarteten, daß er sich beeile.

Humboldt hielt sich an sein Versprechen und mischte sich nicht in die Navigation. Wäre nicht ein Affe ausge-brochen, der ganz allein den halben Proviant verzehrte, zwei Taranteln befreite und in der Kapitänskajüte alles in Fetzen riß, wäre die Reise ohne Störungen vorbeige-gangen. Er verbrachte die Fahrt auf dem Hinterdeck, schlief mehr als sonst und setzte Briefe an Goethe, seinen Bruder und Präsident Thomas Jefferson auf. Während in Philadelphia die Kisten abgeladen wurden, verabschiede-ten er und der Kapitän sich von neuem.

Er hoffe sehr auf ein Wiedersehen, sagte Humboldt steif.

Gewiß nicht mehr als er, antwortete der Kapitän, dessen Uniform notdürftig geflickt worden war.

Beide salutierten.

Eine Kutsche wartete, um sie in die Hauptstadt zu bringen. Ein Bote übergab eine formelle Einladung: Der Präsident ersuche um die Ehre, sie im neu gebauten Re-gierungssitz beherbergen zu dürfen; er sei begierig, alles und mehr über Herrn von Humboldts bereits legendäre Reise zu erfahren.

Erhebend, sagte Duprés.

Ein zu kleines Wort, sagte Wilson. Humboldt und Jefferson! Und er dürfe dabeisein!

Wieso Herrn von Humboldts Reise, fragte Bonpland.

Wieso eigentlich niemals die Humboldt-Bonplandsche Reise? Oder die Bonpland-Humboldt-Reise? Die Bonpland-Expedition? Ob ihm das einmal jemand erklären könne?

Ein Hinterwäldlerpräsident, sagte Humboldt. Wen interessiere schon, was der denke!

Die Stadt Washington befand sich im Aufbau. Überall waren Baugerüste, Gruben und Ziegelhaufen, überall hörte man Sägen und Hammerschläge. Der Regierungssitz, gerade fertiggestellt und noch nicht zu Ende gestrichen, war ein klassizistischer Kuppelbau, umgeben von Säulen. Er freue sich, sagte Humboldt, als sie aus der Kutsche stiegen, einmal wieder ein Zeugnis für den Einfluß des großen Winckelmann zu sehen!


Ein Spalier ungeschickt salutierender Soldaten hatte Aufstellung genommen, ein Trompetensignal wehte durch den Himmel, eine Fahne blähte sich im Wind.

Humboldt hielt sich sehr gerade und hob den Handrücken an den Rand seiner Kappe. Vom Gebäude her näherten sich Männer in dunklen Gehröcken; voran der Präsident, hinter ihm der Außenminister Madison.

Humboldt sagte etwas von der Ehre hierzusein, seinem Respekt vor der liberalen Idee, von der Freude, die Sphäre einer drückenden Despotie verlassen zu haben.

Ob er schon gegessen habe, fragte der Präsident und schlug ihm auf die Schulter. Sie müssen doch etwas essen, Baron!

Das Galadiner war miserabel, doch die Würdenträger der Republik hatten sich alle versammelt. Humboldt sprach von der Eiseskälte der Kordilleren und den Mük-kenschwärmen am Orinoko. Er erzählte gut, bloß verlor er sich immer wieder in Fakten: Er berichtete so detail-liert über Ströme und Druckschwankungen, über das Verhältnis von Höhenlage und Vegetationsdichte, über die feinen Unterschiede der Insektenarten, daß mehrere Damen zu gähnen begannen. Als er sein Notizbuch hervorholte und anfing, Meßergebnisse vorzutragen, ver-setzte Bonpland ihm unter dem Tisch einen Tritt. Humboldt trank einen Schluck Wein und kam auf die Last des Despotismus und die Ausbeutung der Bodenschätze zu reden, welche einen sterilen Reichtum erzeuge, von dem die Volkswirtschaft niemals profitieren könne. Er sprach über den Alpdruck der Sklaverei. Wieder spürte er einen Tritt. Er sah Bonpland böse an, dann erst begriff er, daß es der Außenminister gewesen war.


Jefferson habe Ländereien, flüsterte Madison.

Und?

Mit allem, was dazugehöre.

Humboldt wechselte das Thema. Er erzählte vom schmutzigen Hafen Havannas, vom Hochland von Caxamarca, von Atahualpas versunkenem Goldgarten, von den Tausende Meilen langen Steinwegen, mit denen das Inkavolk die unzähligen Anhöhen verbunden hatte. Er hatte schon mehr getrunken, als er es gewöhnt war, sein Gesicht rötete sich, seine Bewegungen wurden ausladender. Immer schon sei er unterwegs gewesen, seit seinem achten Lebensjahr. Nie habe er mehr als sechs Monate an einem Ort verbracht. Er kenne alle Kontinente und habe die Fabelwesen gesehen, von denen die orientalischen Märchenerzähler berichteten: fliegende Hunde, mehr-köpfige Schlangen und äußerst polyglotte Papageien.

Leise vor sich hin lachend, ging er schlafen.

Am nächsten Tag hatte er, trotz seiner Kopfschmerzen, eine lange Unterredung im elliptisch geformten Arbeits-zimmer des Präsidenten. Jefferson lehnte sich zurück und nahm seine Brille ab.

Bifokalgläser, erklärte er, sehr brauchbar, eine der vielen Erfindungen seines Freundes Franklin. Offen gesagt, der Mann sei ihm immer unheimlich gewesen, er habe ihn nie begriffen. Ja natürlich, gern. Hier!

Während Humboldt die Brille untersuchte, faltete Jefferson die Hände auf der Brust und begann Fragen zu stellen. Wenn Humboldt abschweifte, schüttelte er mild den Kopf, unterbrach und fragte noch einmal. Auf dem Tisch lag wie zufällig eine Karte von Mittelamerika. Er wollte alles über Neuspanien, dessen Transportwege und Bergwerke wissen. Es interessierte ihn, wie die Admi-nistration arbeitete, wie im Land und über den Ozean hinweg Befehle übermittelt wurden, wie die Stimmung unter den Adeligen war, wie groß die Armee, wie ausgerüstet, wie gut ausgebildet. Wenn man eine Großmacht zum Nachbarn habe, könne man nie genug Information besitzen. Dennoch mache er den Herrn Baron darauf aufmerksam, daß er im Auftrag der spanischen Krone gereist sei. Womöglich verpflichte ihn das zu Verschwie-genheit.

Ach warum, sagte Humboldt. Wem solle es schaden? Er beugte sich über die Karte, deren zahlreiche Fehler er gerade berichtigt hatte, und markierte mit genau gesetzten Kreuzen die Standorte der wichtigsten Garnisonen.

Jefferson bedankte sich seufzend. Was wisse man hier schon? Man sei eine kleine Protestantengemeinde am Rand der Welt. Unendlich weit von allem.

Humboldt warf einen Blick durchs Fenster. Zwei Arbeiter schleppten eine Leiter vorbei, ein dritter hob eine Kiesgrube aus. Um ehrlich zu sein, er könne es nicht erwarten, wieder nach Hause zu kommen.

Nach Berlin?

Humboldt lachte. Kein Mensch von Verstand könne diese greuliche Stadt sein Zuhause nennen. Er meine natürlich Paris. In Berlin, soviel sei sicher, werde er nie wieder wohnen.


Der

Sohn


Mißmutig legte Gauß seine Serviette weg. Das Essen hatte ihm gar nicht geschmeckt. Aber da er sich schlecht darüber beschweren konnte, begann er über die Stadt zu schimpfen. Er fragte, wie man es hier aushalten könne.

Es habe auch Vorteile, sagte Humboldt unbestimmt.

Welche?

Humboldt sah ein paar Sekunden starr auf die Tischplatte. Ihm schwebe vor, sagte er dann, die Erde mit einem Netz magnetischer Beobachtungsstationen zu über-ziehen. Er wolle herausfinden, ob es einen, zwei oder unzählige Magneten in ihrem Inneren gebe. Die Royal Society habe er schon dafür gewonnen, aber er brauche noch die Hilfe des Fürsten der Mathematiker!

Dazu brauche man keinen besonderen Mathematiker, sagte Gauß. Er habe sich schon mit fünfzehn mit Magnetismus beschäftigt. Kinderkram. Bekomme man hier auch Tee?

Konsterniert schnippte Humboldt mit den Fingern.

Es war früher Nachmittag, und der Professor hatte sechzehn Stunden Schlaf hinter sich. Humboldt dagegen war wie jeden Tag um fünf Uhr morgens aufgestanden, hatte nicht gefrühstückt, sondern ein paar Versuche über die Fluktuation des Erdmagnetfelds gemacht, dann ein Memorandum über Kosten und möglichen Nutzen einer Robbenzucht in Warnemünde diktiert, vier Briefe an zwei Akademien aufgesetzt, mit Daguerre über das offenbar unlösbare Problem der chemischen Bildfixierung auf Kupferplatten diskutiert, zwei Tassen Kaffee getrunken, sich zehn Minuten ausgeruht und drei Kapitel seines Reisewerkes mit Fußnoten zur Kordillerenflora versehen.

Er hatte mit dem Sekretär der Naturforschergesellschaft über den Ablauf des für den Abend geplanten Empfangs gesprochen, für den neuen mexikanischen Premiermini-ster eine kleine Denkschrift über die Abpumpung von Grubenwasser geschrieben und die Fragebriefe zweier Biographen beantwortet. Dann war Gauß, schläfrig und schlecht gelaunt, aus dem Gästezimmer gekommen und hatte nach Frühstück verlangt.

Was Berlin betreffe, sagte Humboldt, so habe er kaum eine Wahl gehabt. Nach langen Jahren in Paris sei ihm ...

Er strich seine weißen Haare aus dem Gesicht, holte ein Taschentuch hervor, schneuzte sich leise, faltete es und strich es glatt, bevor er es zurück in die Tasche schob.

Wie solle er das nun sagen?

Das Geld ausgegangen?

Eine zu drastische Formulierung. Aber die Doku-mentation der Reise habe seine Mittel mehr oder minder aufgebraucht. Vierunddreißig Bände. All die Tafeln und Stiche, die Karten und Illustrationen. Und das in Kriegszeiten, bei Materialknappheit und stark erhöhten Löhnen. Er habe ganz allein eine Akademie sein müssen.

Und so sei er nun eben Kammerherr, speise bei Hof und sehe täglich den König. Es gebe Schlimmeres.

Offenbar, sagte Gauß.

Immerhin schätze Friedrich Wilhelm die Forschung!


Napoleon habe ihn und Bonpland immer gehaßt, weil dreihundert seiner Wissenschaftler in Ägypten weniger ausgerichtet hätten als sie beide in Südamerika. Nach ihrer Rückkehr seien sie monatelang Stadtgespräch gewesen. Napoleon sei das gar nicht recht gewesen. Du-prés habe einige sehr schöne Reminiszenzen dieser Zeit in Humboldt – Grand voyageur aufgenommen. Ein Buch, das den Fakten geringere Gewalt antue als etwa Wilsons Scientist and Traveller: My Journeys with Count Humboldt in Central America.

Eugen fragte, was aus Herrn Bonpland geworden sei.

Man sah ihm an, daß er nicht gut geschlafen hatte. Gemeinsam mit zwei Dienstboten hatte er in einer stickigen Kammer im Nebenhaus übernachten müssen. Er hatte nicht gewußt, daß Menschen so laut schnarchen konnten.

Bei seiner einzigen Audienz, erzählte Humboldt, habe der Kaiser ihn gefragt, ob er Pflanzen sammle. Er habe bejaht, der Kaiser habe gesagt, ganz wie seine Frau, und sich brüsk abgewandt.

Seinetwegen, sagte Gauß, habe Bonaparte auf den Beschuß Göttingens verzichtet.

Das habe er gehört, sagte Humboldt, aber er bezweifle das, es habe wohl eher strategische Gründe gehabt. Wie auch immer, später habe Napoleon ihn als preußischen Spion aus dem Land weisen wollen. Die gesamte Akademie habe sich zusammentun müssen, um es zu verhindern. Dabei habe er niemanden – Humboldt warf dem Sekretär einen Blick zu, der schlug sofort den Schreibblock auf –, dabei habe er niemanden aushorchen wollen außer der Natur, habe keine anderen Geheimnisse gesucht als die so offen liegenden Wahrheiten der Schöpfung.

Offen liegenden Wahrheiten der Schöpfung, wiederholte der Sekretär mit gespitzten Lippen.

Die so offen liegenden!

Der Sekretär nickte. Der Diener brachte ein Tablett mit silbernen Täßchen.

Aber Bonpland, wiederholte Eugen.

Eine schlimme Sache. Humboldt seufzte. Eine sehr traurige Geschichte. Aber hier sei nun endlich der Tee –

ein Geschenk des Zaren, dessen Finanzminister ihn wiederholt nach Rußland eingeladen habe. Natürlich habe er abgesagt, aus politischen Gründen wie auch, es verstehe sich von selbst, seines Alters wegen.

Richtig entschieden, sagte Eugen. Die schlimmste Despotie der Welt! Er wurde rot vor Schreck über sich selbst.

Gauß bückte sich, hob ächzend den Knotenstock auf, zielte und stieß unter dem Tisch nach Eugens Fuß. Er verfehlte und stieß noch einmal. Eugen zuckte zusammen.

Da könne er nicht ganz widersprechen, sagte Humboldt. Er winkte ab, sofort hörte der Sekretär mit dem Mitschreiben auf. Die Restauration liege wie Mehltau auf Europa. Daran sei, er könne es nicht verschweigen, auch sein Bruder schuld. Die Hoffnungen seiner Jugend seien fern und unwirklich geworden. Auf der einen Seite die Tyrannei, auf der anderen die Freiheit der Toren.

Wenn drei Männer auf der Straße stünden, sie hätten es ja erlebt, sei dies eine Zusammenrottung. Wenn dreißig in einem Hinterzimmer Geister anriefen, so habe keiner etwas einzuwenden. Dutzende Wirrköpfe zögen durchs Land, predigten die Freiheit und ließen sich von arglosen Narren durchfüttern. Europa sei zum Schauplatz eines Alptraums geworden, aus dem keiner mehr erwachen könne. Vor Jahren habe er eine Reise nach Indien vorbereitet, habe das Geld beisammen gehabt, alle Instrumente, den Plan. Es hätte die krönende Unternehmung seiner Erdentage werden sollen. Dann hätten es die Engländer verhindert. Keiner wolle einen Feind der Sklaverei in seinem Land haben. In Lateinamerika wiederum seien Dutzende neue Staaten entstanden, ohne Zweck und Sinn. Das Lebenswerk seines Freundes Bolivar liege in Trümmern. Ob die Herren übrigens wüßten, wie der große Befreier ihn tituliert habe?

Er schwieg. Erst nach einer Weile wurde klar, daß er auf Antwort wartete.

Na wie denn, fragte Gauß.

Den wahren Entdecker Südamerikas! Humboldt lä-

chelte in seine Tasse. Das könne man in Gomez’ El Baron Humboldt nachlesen. Ein unterschätztes Buch. Apropos, er habe gehört, der Herr Professor beschäftige sich jetzt mit Wahrscheinlichkeitsrechnung?

Sterbestatistik, sagte Gauß. Er nahm einen Schluck Tee, verzog angewidert das Gesicht und stellte die Tasse so weit von sich, wie er konnte. Man denke, man bestimme sein Dasein selbst. Man erschaffe und entdecke, erwerbe Güter, finde Menschen, die man mehr liebe als sein Leben, zeuge Kinder, vielleicht kluge, vielleicht auch idiotische, sehe den Menschen, den man liebe, sterben, werde alt und dumm, erkranke und gehe unter die Erde.

Man meine, man habe alles selbst entschieden. Erst die Mathematik zeige einem, daß man immer die breiten Pfade genommen habe. Despotie, wenn er das schon höre! Fürsten seien auch nur arme Schweine, die lebten, litten und stürben wie alle anderen. Die wahren Tyrannen seien die Naturgesetze.

Aber der Verstand, sagte Humboldt, forme die Gesetze!

Der alte kantische Unsinn. Gauß schüttelte den Kopf.

Der Verstand forme gar nichts und verstehe wenig. Der Raum biege und die Zeit dehne sich. Wer eine Gerade zeichne, immer weiter und weiter, erreiche irgendwann wieder ihren Ausgangspunkt. Er zeigte auf die niedrig im Fenster stehende Sonne. Nicht einmal die Strahlen dieses ausbrennenden Sterns kämen auf geraden Linien herab. Die Welt könne notdürftig berechnet werden, aber das heiße noch lange nicht, daß man irgend etwas verstehe.

Humboldt verschränkte die Arme. Erstens, die Sonne brenne nicht aus, sie erneuere ihr Phlogiston und werde in Ewigkeit scheinen. Zweitens, was sei das mit dem Raum? Am Orinoko habe er Ruderer gehabt, die ähnliche Witze gemacht hätten. Er habe das Gefasel nie verstanden. Auch hätten sie oft sinnverwirrende Substanzen eingenommen.

Gauß erkundigte sich, was ein Kammerherr eigentlich zu tun habe.

Verschiedenes, dies und das. Dieser Kammerherr jedenfalls berate den König bei wichtigen Entscheidungen, führe seine Erfahrung ins Feld, wo immer sie von Nutzen sei. Oft werde er bei diplomatischen Gesprächen zu Rate gezogen. Der König wünsche seine Anwesenheit bei fast jeder Abendmahlzeit. Er sei ganz versessen auf Berichte aus der Neuen Welt.


Also werde man fürs Essen und Plaudern bezahlt?

Der Sekretär kicherte, wurde blaß und bat um Entschuldigung, er habe Husten.

Die wahren Tyrannen, sagte Eugen in die Stille, seien nicht die Naturgesetze. Es gebe starke Bewegungen im Land, Freiheit sei nicht mehr bloß ein Schillersches Wort.

Bewegungen von Eseln, sagte Gauß.

Er habe sich immer besser mit Goethe verstanden, sagte Humboldt. Schiller sei seinem Bruder näher gewesen.

Von Eseln, sagte Gauß, die es nie zu etwas brächten.

Die vielleicht etwas Geld erben würden und einen guten Namen, aber keine Intelligenz.

Sein Bruder, sagte Humboldt, habe erst kürzlich eine tiefsinnige Studie über Schiller verfaßt. Ihm selbst habe Literatur ja nie viel gesagt. Bücher ohne Zahlen beunruhigten ihn. Im Theater habe er sich stets gelangweilt.

Ganz richtig, rief Gauß.

Künstler vergäßen zu leicht ihre Aufgabe: das Vorzeigen dessen, was sei. Künstler hielten Abweichungen für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Stilisierung verfälsche die Welt. Bühnenbilder etwa, die nicht verbergen wollten, daß sie aus Pappe seien, englische Gemälde, deren Hintergrund in Ölsauce verschwimme, Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde.

Abscheulich, sagte Gauß.

Er arbeite an einem Katalog von Pflanzen- und Na-turmerkmalen, an welche sich zu halten man die Maler gesetzlich verpflichten müsse. Ähnliches sei für die dra-matische Dichtung zu empfehlen. Er denke an Listen der Eigenschaften wichtiger Persönlichkeiten, von denen ab-zuweichen dann nicht mehr in der Freiheit eines Autors liegen dürfe. Falls Herrn Daguerres Erfindung eines Tages zur Perfektion komme, würden die Künste ohnehin überflüssig.

Der da schreibe Gedichte. Gauß wies mit dem Kinn auf Eugen.

Tatsächlich, fragte Humboldt.

Eugen wurde rot.

Gedichte und dummes Zeug, sagte Gauß. Schon seit der Kindheit. Er zeige sie nicht vor, aber manchmal sei er so blöd, die Zettel herumliegen zu lassen. Ein mieser Wissenschaftler sei er, aber als Literat noch übler.

Sie hätten Glück mit dem Wetter, sagte Humboldt.

Letzten Monat habe es viel geregnet. Jetzt könne man auf einen schönen Herbst hoffen.

Der lasse sich nämlich aushalten. Sein Bruder sei wenigstens beim Militär. Der da habe nichts gelernt, könne nichts. Aber Gedichte!

Er studiere die Rechte, sagte Eugen leise. Und dazu Mathematik!

Und wie, sagte Gauß. Ein Mathematiker, der eine Dif-ferentialgleichung erst erkenne, wenn sie ihn in den Fuß beiße. Daß ein Studium allein nichts zähle, wisse jeder: Jahrzehntelang habe er in die blöden Gesichter junger Leute starren müssen. Von seinem eigenen Sohn habe er Besseres erwartet. Warum ausgerechnet Mathematik?

Er habe es ja nicht gewollt, sagte Eugen. Er sei ge-zwungen worden!


Ach, und von wem?

Der Wechsel von Wetter und Jahreszeiten, sagte Humboldt, mache die eigentliche Schönheit dieser Breiten aus. Der Vielfältigkeit der tropischen Flora stehe in Europa das jährliche Schauspiel einer wiedererwachenden Schöpfung gegenüber.

Von wem wohl, rief Eugen. Wer habe denn einen Ge-hilfen für die Vermessung gebraucht?

Ein grandioser Gehilfe. Meilen um Meilen habe er zweimal messen müssen wegen all der Fehler.

Fehler in der fünften Nachkommastelle! Die hätten keinerlei Auswirkungen, die seien völlig gleichgültig.

Einen Moment, sagte Humboldt. Meßfehler seien nie gleichgültig.

Und der zerbrochene Heliotrop, fragte Gauß. Der sei dann auch egal?

Messen sei eine hohe Kunst, sagte Humboldt. Eine Verantwortung, die man nicht leichtnehmen dürfe.

Eigentlich sogar zwei Heliotropen, sagte Gauß. Den anderen habe zwar er fallen gelassen, aber nur weil ein Tölpel ihn auf den falschen Waldweg geführt habe.

Eugen sprang auf, griff nach seinem Knotenstock und der roten Mütze und lief hinaus. Die Wohnungstür knallte hinter ihm ins Schloß.

Das habe man davon, sagte Gauß. Dankbarkeit sei zu einem Fremdwort geworden.

Natürlich sei es nicht einfach mit jungen Menschen, sagte Humboldt. Aber man dürfe auch nicht zu streng sein, manchmal helfe etwas Ermutigung mehr als jeder Vorwurf.

Wo nichts sei, könne nichts werden. Und was den Magnetismus betreffe, so sei die Frage falsch gestellt: Es gehe nicht darum, wie viele Magneten es im Erdinneren gebe.

So oder so erhalte man zwei Pole und ein Feld, das man durch die Stärke der Magnetkraft und den Inklinations-winkel der Nadel beschreiben könne.

Er habe immer eine Inklinationsnadel mitgeführt, sagte Humboldt. So habe er mehr als zehntausend Ergebnisse gesammelt.

Herr im Himmel, sagte Gauß. Schleppen reiche nicht, man müsse auch denken. Die horizontale Komponente der Magnetkraft lasse sich als Funktion der geographi-schen Breite und Länge darstellen. Die vertikale Komponente entwickle man am besten in einer Potenzreihe nach dem reziproken Erdradius. Einfache Kugelfunktionen. Er lachte leise.

Kugelfunktionen. Humboldt lächelte. Er hatte kein Wort verstanden.

Er sei aus der Übung, sagte Gauß. Mit zwanzig habe er keinen Tag für solche Kindereien gebraucht, heute müsse er sich eine Woche ausbitten. Er tippte sich an die Stirn.

Das hier spiele nicht mehr mit wie früher. Er wünschte, er hätte damals Curare getrunken. Das Menschenhirn sterbe jeden Tag ein wenig ab.

Man könne soviel Curare trinken, wie man wolle, sagte Humboldt. Man müsse es in den Blutstrom träufeln, damit es töte.

Gauß starrte ihn an. Sicher?

Natürlich sei er sicher, sagte Humboldt indigniert. Er habe das Zeug praktisch entdeckt.

Gauß schwieg einen Moment. Was, fragte er dann, sei denn nun wirklich mit diesem Bonpland passiert?


Es werde Zeit! Humboldt stand auf. Die Versammlung warte nicht. Nach seiner Eröffnungsansprache gebe es einen kleinen Empfang für den Ehrengast. Hausarrest!

Wie bitte?

Bonpland stehe in Paraguay unter Hausarrest. Nach der Rückkehr habe er sich in Paris nicht mehr zurechtge-funden. Ruhm, Alkohol, Frauen. Sein Leben habe Klarheit und Richtung verloren, die einzige Sache, die einem nie passieren dürfe. Eine Zeitlang sei er Vorstand der kai-serlichen Ziergärten gewesen und ein wunderbarer Or-chideenzüchter. Nach Napoleons Sturz sei er wieder über den Ozean. Drüben habe er einen Gutshof und Familie, aber in einem der Bürgerkriege habe er sich den falschen Leuten angeschlossen, oder eben den richtigen, auf jeden Fall den Verlierern. Ein verrückter Diktator namens Francia, ein Doktor auch noch, habe ihn auf seinem Hof festgesetzt und halte ihn unter ständiger Todesdrohung.

Nicht einmal Simon Bolivar habe etwas für Bonpland ausrichten können.

Schrecklich, sagte Gauß. Aber wer sei der Kerl eigentlich? Er habe nie von ihm gehört.


Der

Vater


Eugen Gauß irrte durch Berlin. Ein Bettler hielt ihm seine offene Hand entgegen, ein Hund winselte an seinem Bein empor, ein Droschkenpferd hustete in sein Gesicht, ein Schutzmann herrschte ihn an, nicht herumzugam-meln. An einer Ecke kam er mit einem jungen Priester ins Gespräch, aus der Provinz wie er, ebenfalls sehr eingeschüchtert.

Mathematik, sagte der Priester, interessant!

Ach, sagte Eugen.

Er heiße Julian, sagte der Priester.

Sie wünschten einander Glück und nahmen Abschied.

Ein paar Schritte weiter sprach ihn eine Frau an. Die Knie wurden ihm weich vor Schreck, denn von solchen Dingen hatte er gehört. Eilig ging er weiter, drehte sich auch nicht um, als sie ihm nachlief, und erfuhr nie, daß sie ihm bloß hatte sagen wollen, daß er seine Mütze verloren hatte. In einem Wirtshaus trank er zwei Gläser Bier. Die Arme verschränkt, betrachtete er die nasse Tischplatte. Er war noch nie so traurig gewesen. Nicht seines Vaters wegen, denn der war fast immer so, auch nicht wegen seiner Einsamkeit. Es lag an der Stadt selbst.

Der Menge der Menschen, der Höhe der Häuser, dem schmutzigen Himmel. Er schrieb ein paar Gedichtzeilen.

Sie gefielen ihm nicht. Er starrte vor sich hin, bis zwei Studenten in Schlapphosen und mit modisch langem Haar sich zu ihm setzten.

Göttingen, fragte der eine Student. Ein berüchtigter Platz. Da gehe es hoch her!

Eugen nickte verschwörerisch, obwohl er davon nichts wußte.

Aber sie werde kommen, sagte der andere Student, die Freiheit, trotz allem.

Sie werde sicherlich kommen, sagte Eugen.

Ungesäumt und wie ein Dieb in der Nacht, sagte der erste.

Nun wußten sie, daß sie etwas gemeinsam hatten.

Eine Stunde später waren sie auf dem Weg. Wie es unter Studenten Sitte war, ging Eugen mit dem einen von ihnen eingehängt, der andere folgte in dreißig Schritten Abstand, damit kein Gendarm sie aufhielt. Eugen verstand nicht, daß man so lange unterwegs sein konnte: Immer neue Straßen, immer noch eine Kreuzung, und auch der Vorrat an umhergehenden Leuten schien uner-schöpflich. Wohin wollten die alle, und wie konnte man so leben?

Humboldts neue Universität, erzählte der Student neben Eugen, sei die beste der Welt, organisiert wie keine andere, mit den namhaftesten Lehrern des Landes. Der Staat fürchte sie wie die Hölle.

Humboldt habe eine Universität gegründet?

Der ältere, erklärte der Student. Der anständige. Nicht der Franzosenknecht, der den Krieg über in Paris gehockt habe. Sein Bruder habe ihn öffentlich zu den Waffen gerufen, aber er habe getan, als wäre das Vaterland nichts.

Während der Besatzung habe er am Eingang seines Berliner Schlosses ein Schild anbringen lassen, man solle nicht plündern, der Eigentümer sei Mitglied der Pariser Akademie. Widerlich!

Die Straße führte steil aufwärts, dann schräg hinab. Vor einer Haustür standen zwei junge Männer und fragten nach der Losung.

Frei im Kampf.

Das sei die vom letzten Mal.

Der zweite Student trat zu ihnen. Die beiden flüsterten miteinander. Germania?

Schon lange nicht mehr.

Deutsch und frei?

Ach je. Die Wächter tauschten einen Blick. Dann sollten sie eben so hinein.

Über eine Treppe gelangten sie in einen nach Schimmel riechenden Kellerraum. Kisten standen auf dem Boden, in den Ecken stapelten sich Weinfässer. Die zwei Studenten schlugen ihre Rockaufschläge um und entblößten schwarzrote Kokarden, durchwirkt mit Goldfä-

den. Sie öffneten eine Luke im Boden. Eine enge Stiege führte in einen zweiten, tiefer gelegenen Keller.

Sechs Stuhlreihen vor einem wackligen Stehpult. An den Wänden hingen schwarzrote Wimpel, etwa zwanzig Studenten warteten schon. Alle hatten Stöcke, einige trugen polnische Mützen, andere altdeutsche Hüte. Ein paar steckten in selbstgeschneiderten Schlapphosen mit breiten, mittelalterlichen Gürteln. An den Wänden angebrachte Fackeln warfen tanzende Schatten. Eugen setzte sich, ihm war schwindlig von der schlechten Luft und der Aufregung. Man sage, flüsterte jemand, daß er selbst kommen werde. Er oder einer wie er, man wisse es nicht, er sei in Freyburg an der Unstrut festgesetzt, doch angeblich ziehe er immer wieder inkognito durchs Land.

Nicht auszudenken, wenn er es wirklich wäre. Das Herz hielte es ja nicht aus, ihn leibhaftig zu sehen.

Immer mehr Studenten trafen ein, stets in Zweiergruppen, stets eingehängt, meist über die Parole diskutierend, die offenbar keiner gewußt hatte. Hier und dort blätterte einer in einem Gedichtband oder in der Deutschen Turnkunst. Manche bewegten die Lippen wie beim Gebet. Eugens Herz klopfte stark. Längst waren alle Stühle belegt; wer jetzt noch kam, mußte sich in einen Winkel zwängen.

Ein Mann stieg mit schweren Schritten die Treppe herab, und es wurde still. Er war schlank und sehr groß, hatte eine Glatze und einen langen grauen Bart. Es war, und seltsamerweise überraschte das Eugen nicht, ihr Tisch-nachbar in der Gastwirtschaft, der sich am Vortag in ihren Streit mit dem Polizisten gemischt hatte. Langsam, die Arme schwingend, ging er zum Pult. Dort streckte er sich, wartete, bis ein Student mit zittriger Hand, denn zunächst gelang es nicht, und er mußte es mehrmals versuchen, die Kerzen darauf angezündet hatte, und sagte dann mit trockener, hoher Stimme: Meinen Namen sollt ihr nicht wissen!

Ein Student weit hinten stöhnte auf. Ansonsten war es völlig still.

Der Bärtige hob den Arm, winkelte ihn an, wies mit der anderen Hand darauf und fragte, ob man erkenne, was das sei.

Keiner antwortete, keiner atmete. So sagte er es selbst: Muskeln.


Ihr Braven, fuhr er nach einer langen Pause fort, ihr Jungen, ihr Kraftvollen, ihr müßt stärker werden! Er räusperte sich. Denn wer denken wolle, tief und we-sensberührend und bis zum Grund, habe den Körper zu straffen. Ein Denken ohne Muskeln sei schwach und matt, sei labbriges Franzosenzeug. Das Kind bete fürs Vaterland, der Jüngling schwärme, der Mann jedoch streite und leide. Er bückte sich und verharrte einen Moment, bevor er in rhythmischen Bewegungen sein Hosenbein hochkrempelte. Auch hier! Er klopfte mit der Faust an seine Wade. Rein und stark, felgaufschwungsfest, klimm-zugshart, wer wolle, könne fühlen. Er richtete sich auf und stierte ein paar Sekunden in den Raum, bevor er mit Donnerstimme schrie: Wie dieses Bein sei, so müsse Deutschland werden!

Eugen brachte es fertig, sich umzusehen. Mehreren Zuhörern stand der Mund weit offen, vielen liefen Trä-

nen über das Gesicht, einer hatte zitternd die Augen geschlossen, sein Nebenmann biß sich vor Erregung in die Finger. Eugen blinzelte. Die Luft war noch schlechter geworden, und durch das Schattenspiel der Fackeln war ihm, als wäre er Teil einer viel größeren Menge. Er bemühte sich, das in ihm aufsteigende Schluchzen zu-rückzudrängen .

Den Burschen, sagte der Bärtige, dürfe nichts beugen.

Die Stirn dem Freund, die Brust dem Feind. Was das Volk bedränge, sei nicht Feindeskraft, sondern eigene Schwäche. Eingeschnürt sei es. Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. Könne nicht atmen, kön-ne sich nicht rühren, wisse nicht, wohin mit ureigenem Willen und braver Frömmigkeit. Fürst, Franzose und Pfaffe hielten es in Bann, in welscher Verzärtelung und Verlullung, im Daumenlutschschlaf. Burschentum aber, das sei: Zusammenstehen, keusch und fromm. Denken!

Er ballte die Faust und klopfte sich an die Stirn. Ein Denken, dessen heiliges Eintrachtsband kein Teufel zerreißen könne. Endlich werde es doch zur wahren deutschen Kirche fuhren und das Sein bezwingen. Was aber heiße das, Burschen? Er streckte die Arme aus, ging langsam in die Knie und richtete sich wieder auf. Das heiße, den Körper fassen, den Körper schulen, durch Aufschwung, Abschwung, Klimmzug und Reckbeuge, bis der Kerl ein ganzer sei. Aber wo stehe man heute? Gerade erst, ver-borgen reisend, sei er Zeuge geworden, wie ein Greis und ein Student, ein deutscher Vater und sein Sohn, zwei treue Männer, polizeischikaniert worden seien, weil sie kein Papierzeug bei sich gehabt hatten. Beherzt habe er eingegriffen, wie ein Deutscher es müsse, habe gottlob den Tyrannenbüttel überwältigt. Täglich begegne man dem Unrecht, allenthalben und überall, wer solle ihm wehren, wenn nicht gute Burschen, die Alkohol und Weib entsagt und sich der Kraft gewidmet hätten, die Deutschlands Mönche seien, frisch und fromm, fröhlich und frei? Den Franzmann habe man vertrieben, nun sei der Fürst an der Reihe, die Unheilige Allianz werde nicht lange mehr stehen, die Philosophie habe die Wirklichkeit zu packen und durchzuwalken, Herrschartszeit noch einmal! Er hieb auf das Pult, und Eugen hörte sich und die anderen Hurra rufen. Der Bärtige stand ruhig und’

hoch aufgereckt, die stechenden Augen in die Menge gerichtet. Plötzlich änderte sich seine Miene, und er wich zurück.


Eugen spürte einen Luftzug. Das Geschrei erstarb. Fünf Männer waren hereingekommen: ein kleiner Alter und vier Gendarmen.

Großer Gott, sagte Eugens Nebenmann. Der Pedell!

Er habe es ja gewußt, sagte der alte Mann zu den Gendarmen. Man habe nur beobachten müssen, wie sie alle in Zweiergruppen losmarschiert seien. Zum Glück seien die so dumm.

Drei Gendarmen blieben vor den Stufen stehen, einer ging auf das Rednerpult zu. Der Bärtige sah plötzlich viel schmaler und auch nicht mehr groß aus. Er hob die Hand über den Kopf, aber die drohende Geste mißlang, und schon trug er Handschellen.

Er werde nicht weichen, rief er, während der Polizist ihn zu den Stiegen führte, dem Zwang nicht und keiner Bitte. Die wackeren Burschen würden es nicht erlauben.

Dies sei der Moment, da der Sturm beginne. Dann, während er die Stufen hinaufgeschoben wurde: Es sei alles ein Mißverständnis, er könne es erklären. Dann war er schon hinaus.

Er hole Verstärkung, sagte der Pedell und stieg eilig die Treppe hoch.

Keine Gespräche, sagte einer der Gendarmen. Kein Wort, von keinem zu keinem. Sonst gebe es unglaublich was auf den Schädel.

Eugen begann zu weinen.

Er war nicht der einzige. Mehrere junge Männer schluchzten hemmungslos. Ein paar, die aufgesprun-gen waren, setzten sich wieder. Fünfzig Studenten mit Knotenstöcken, dachte Eugen, und drei Polizisten. Einer mußte angreifen, dann würden die anderen folgen.


Und wenn das nun er wäre? Er konnte es tun. Ein paar Sekunden stellte er es sich vor. Dann wußte er, daß er zu feige war. Er wischte sich die Tränen weg und blieb schweigend sitzen, bis der Pedell mit zwanzig Gendarmen, befehligt von einem großen Offizier mit Seehund-schnurrbart, zurückkam.

Mitnehmen, befahl der Offizier, im Kotter erste Ver-nehmung, um den Stand festzustellen, morgen Übergabe an die Zuständigen!

Ein schmächtiger Junge fiel vor ihm auf die Knie, umklammerte seine Stiefel und bettelte um Milde. Der Offizier sah peinlich berührt an die Decke, ein Gendarm zerrte den Jungen fort. Eugen benützte den Moment, um eine Seite aus seinem Notizbuch zu reißen und eine Nachricht an seinen Vater zu schreiben. Bevor ihm Handschellen angelegt wurden, konnte er den Zettel zu-sammenknüllen und in der Faust verstecken.

Auf der Straße warteten Polizeifuhrwerke. Die Fest-genommenen saßen zusammengedrängt auf langen Bänken, hinter ihnen standen Gendarmen. Zufällig kam Eugen schräg gegenüber vom dumpf vor sich hin starrenden Bärtigen zu sitzen.

Sollen wir ausbrechen, flüsterte ein Student.

Das sei ein Mißverständnis, antwortete der Bärtige, er heiße Kösselrieder und komme aus Schlesien, er sei da in etwas hineingeraten. Ein Gendarm schlug ihm mit seinem Eisenstock auf die Schulter, leise brummend sank er in sich zusammen.

Noch jemand, fragte der Gendarm.

Keiner rührte sich. Die Türen schlossen sich knallend, und sie fuhren los.


Der

Aether


Mit halbgeschlossenen Augen sprach Humboldt von Sternen und Strömen. Seine Stimme war leise, aber im ganzen Saal zu hören. Er stand vor der riesigen Kulisse eines Nachthimmels, auf dem sich Sterne zu konzen-trischen Kreisen ordneten: Schinkels Bühnenbild zur Zauberflöte, für diesen Anlaß noch einmal aufgespannt.

Zwischen die Sterne hatte man die Namen deutscher Forscher geschrieben: Buch, Savigny, Hufeland, Bessel, Klaproth, Humboldt und Gauß. Der Saal war gefüllt bis zum letzten Platz: Monokel und Brillen, sehr viele Uniformen, sanft bewegte Fächer, sowie, in der Zentrums-loge, die reglosen Gestalten des Kronprinzen und seiner Frau. Gauß saß in der ersten Reihe.

Ach was, flüsterte ihm der gutgelaunte Daguerre ins Ohr, das werde noch Jahre dauern, bis er ein Bild machen könne. Zwar werde es mit der Belichtung irgendwann schon hinkommen, aber er und sein Kompagnon Niepce hätten nicht die geringste Idee, wie man das Silberjodid fixieren solle.

Gauß zischte, Daguerre zuckte die Achseln und verstummte.

Wer in den Nachthimmel sehe, sagte Humboldt, mache sich keine rechte Vorstellung von den Erstreckun-gen dieses Gewölbes. Der Lichtnebel der Magellanschen Wolken über der südlichen Hemisphäre sei keine amor-phe Substanz, kein Dunst oder Gas, sondern bestehe aus Sonnen, welche bloß die schiere Entfernung optisch in eins fließen lasse. Ein Milchstraßenabschnitt von zwei Grad Breite und fünfzehn Grad Länge, wie ihn das Okular eines Fernrohres erfasse, enthalte mehr als fünfzigtau-send zählbare Sterne und wohl an die einhunderttausend, die man ob ihrer Lichtschwäche nicht mehr unterscheiden könne. Somit bestehe die Milchstraße aus zwanzig Millionen Sonnen, die ein von ihr um einen Durchmesser ihrer selbst entferntes Auge allerdings nur mehr als matten Schimmer wahrnehmen würde, als einen jener Nebelflecke, von denen die Astronomen mehr als drei-tausend gezählt hätten. Man frage sich also, warum bei so viel Sternen nicht der ganze Himmel ständig von Licht erfüllt, wieso da draußen so viel Schwärze sei, und komme nicht umhin, ein der Helligkeit entgegengesetztes Prinzip, etwas Hemmendes in den Zwischenräumen, einen lichtlöschenden Äther anzunehmen. Einmal mehr beweise sich so die vernünftige Einrichtung der Natur, denn schließlich hebe jede menschliche Kultur mit der Beobachtung der Bahnen der Himmelskörper an.

Humboldt öffnete zum erstenmal weit die Augen.

Einer dieser im schwarzen Äther schwimmenden Körper sei die Erde. Ein Feuerkern, umschlossen von einer starren, einer tropfbar flüssigen und einer elastisch flüssigen Hülle, welche alle drei dem Leben Heimat böten.

Selbst in unterirdischen Tiefen habe er lichtlos wuchern –

des Pflanzenzeug gefunden. Dem Feuerkern der Erde dienten die Vulkane als natürliche Ventile, die steinerne Kruste wiederum sei von zwei Meeren bedeckt, einem aus Wasser und einem aus Luft. Durch beide laufe ein beständiges Strömen: etwa jener berühmte Strom des Golfs, welcher die Wasser des atlantischen Meeres über die Landenge von Nicaragua und Yucatan treibe, dann durch den Kanal von Bahama nordöstlich gegen die Bank von Neurundland und von dort südöstlich zu den Azoren, worin man auch die Ursache für die wunderliche Erscheinung von Palmenfrüchten, fliegenden Fischen und manchmal sogar lebenden Eskimos in ihren Paddelbooten zu sehen habe, die man immer wieder an der irischen Küste antreffe. Er selbst habe im stillen Meer einen nicht minder wichtigen Strom entdeckt, der längs Chile und Peru das kalte Nordwasser an die Wendekreise führe. All sein Bitten, er lächelte halb eitel und halb verlegen, habe den Seeleuten nicht austreiben können, ihn den Humboldtstrom zu nennen. Ähnlich bewirkten die Ströme des Luftozeans, in Bewegung gehalten von den Schwankungen der Sonnenwärme und gebrochen an den Schräghängen der großen Steinmassive, daß die Verteilung der Gewächsarten nicht den Brei-tengraden, sondern isothermisch geschwungenen Linien folge. Dieses System der Ströme verbinde die Erdteile zur wirkenden Einheit. Humboldt schwieg einen Moment, als ob der kommende Gedanke ihn rührte. Wie in den Erdhöhlungen, so auch im Meer, so auch an der Luft: Überall gediehen Pflanzen. Vegetation, das sei die offen liegende, die in stumme Reglosigkeit aufgefaltete Spiel-art des Lebens. Pflanzen besäßen keine Innerlichkeit, nichts Verstecktes, alles an ihnen sei Außen. Ausgesetzt und wenig geschützt, an die Erde und deren Bedingungen gefesselt, lebten sie doch und überdauerten. Insekten hingegen und Tiere und Menschen seien geschützt und gepanzert. Die konstante Temperatur ihres Inneren setze sie instand, wechselnde Bedingungen zu ertragen. Wer ein Tier ansehe, wisse noch nichts, während das Gewächs jedem Blick sein Wesen offenbare.

Jetzt werde er sentimental, flüsterte Daguerre.

So steige das Leben durch Stadien wachsender Verber-gung seiner Organisation, bis es jenen Sprung mache, den man getrost den weitestmöglichen nennen könne: dem Blitzschlag der Vernunft. Hin zu ihm finde keine Entwicklung in Graden statt. Die zweitgrößte Beleidi-gung des Menschen sei die Sklaverei. Die größte jedoch die Idee, er stamme vom Affen ab.

Mensch und Affe! Daguerre lachte.

Humboldt legte den Kopf in den Nacken und schien den eigenen Worten nachzuhorchen. Das Verständnis des Kosmos sei weit fortgeschritten. Mit Fernrohren erkunde man das Universum, man kenne den Aufbau der Erde, ihr Gewicht und ihre Bahn, habe die Geschwindigkeit des Lichtes bestimmt, verstehe die Ströme des Meeres und die Bedingungen des Lebens, und bald werde man das letzte Rätsel, die Kraft der Magneten, gelöst haben. Das Ende des Wegs sei in Sicht, die Vermessung der Welt fast abgeschlossen. Der Kosmos werde ein begriffener sein, alle Schwierigkeiten menschlichen Anfangs, wie Angst, Krieg und Ausbeutung, würden in die Vergangenheit sinken, wozu gerade Deutschland und nicht zuletzt die Forscher dieser Versammlung den vordringlichsten Beitrag leisten müßten. Die Wissenschaft werde ein Zeitalter der Wohlfahrt herbeiführen, und wer könne wissen, ob sie nicht eines Tages sogar das Problem des Todes lösen werde. Einige Sekunden stand Humboldt unbewegt. Dann verbeugte er sich.

Seit der Rückkehr aus Paris, flüsterte Daguerre in den Applaus, sei der Baron nicht mehr der alte. Es falle ihm schwer, sich zu konzentrieren. Auch neige er zu Wieder-holungen.

Gauß fragte, ob er wirklich aus Geldmangel zurückgekommen sei.

Vor allem eines Befehls wegen, sagte Daguerre. Der König habe nicht mehr dulden wollen, daß sein berühmtester Untertan im Ausland lebe. Humboldt habe alle Briefe des Hofes mit Ausflüchten beantwortet, aber der letzte habe eine so klare Anweisung enthalten, daß er sich nur durch offenen Bruch hätte widersetzen können. Und für den, Daguerre lächelte, hätten dem alten Herrn die Mittel gefehlt. Sein lang erwarteter Reisebericht habe das Publikum enttäuscht: Hunderte Seiten voller Meßergebnisse, kaum Persönliches, praktisch keine Abenteuer. Ein tragischer Umstand, der seinen Nachruhm schmälern werde. Ein berühmter Reisender werde nur, wer gute Geschichten hinterlasse. Der arme Mann habe einfach keine Ahnung, wie man ein Buch schreibe! Jetzt sitze er in Berlin, baue eine Sternwarte, habe tausend Projekte und gehe dem ganzen Stadtrat auf die Nerven. Die jüngeren Wissenschaftler lachten über ihn.

Er wisse ja nicht, wie es in Berlin sei. Gauß stand auf.

Aber in Göttingen habe er keinen jungen Wissenschaftler getroffen, der kein Esel sei.

Sogar mit dem höchsten Berg sei es nichts, sagte Daguerre und folgte Gauß zum Ausgang. Man habe inzwischen herausgefunden, daß der Himalaja viel höhere habe. Ein schwerer Schlag für den alten Herrn. Jahrelang habe er es nicht wahrhaben wollen. Außerdem habe er sich nie davon erholt, daß seine Indienexpedition ge-scheitert sei.

Auf dem Weg zum Foyer rempelte Gauß eine Frau an, trat einem Mann auf den Fuß und schneuzte sich zweimal so laut, daß mehrere Offiziere ihn verächtlich ansa-hen. Er war es nicht gewöhnt, sich unter so vielen Menschen zu bewegen. Helfend faßte Daguerre nach seinem Ellenbogen, aber Gauß fuhr ihn an. Was ihm einfalle! Er überlegte einen Moment, dann sagte er: Salzlösung.

Aber ja, antwortete Daguerre mitleidig.

Gauß forderte ihn auf, nicht so blöd zu glotzen. Man könne Silberjodid mit gewöhnlicher Salzlösung fixieren.

Daguerre blieb abrupt stehen. Gauß schob sich durch das Getümmel auf Humboldt zu, den er am Eingang des Foyers gesehen hatte. Salzlösung, rief Daguerre hinter ihm. Wieso?

Dafür müsse man kein Chemiker sein, rief Gauß über seine Schulter, ein wenig Verstand reiche. Zögernd trat er ins Foyer, Applaus setzte ein, und hätte Humboldt ihn nicht sofort am Arm gefaßt und weitergeschoben, wäre er davongelaufen. Über dreihundert Menschen hatten auf ihn gewartet.

Die nächste halbe Stunde war eine Qual. Ein Kopf nach dem anderen schob sich vor ihn hin, eine Hand nach der anderen faßte nach der seinen und gab sie an die nächste weiter, während Humboldt ihm mit Flüsterstim-me eine sinnlose Reihe von Namen ins Ohr sagte. Gauß überschlug, daß er daheim ziemlich genau ein Jahr und sieben Monate brauchte, um so vielen Leuten zu begegnen. Er wollte nach Hause. Die Hälfte der Männer trug Uniform, ein Drittel hatte Schnurrbärte. Nur ein Sieben-tel der Anwesenden waren Frauen, nur ein Viertel davon unter dreißig, nur zwei nicht häßlich, und nur eine hätte er gern berührt, aber Sekunden nachdem sie vor ihm ge-knickst hatte, war sie schon wieder weg. Ein Mann mit zweiunddreißig Ordensspangen hielt Gauß’ Hand nachlässig zwischen drei Fingern, mechanisch machte Gauß eine Verbeugung, der Kronprinz nickte und ging weiter.

Er fühle sich nicht wohl, sagte Gauß, er müsse ins Bett.

Er bemerkte, daß seine Samtmütze abhanden gekommen war; irgend jemand hatte sie ihm abgenommen, und er wußte nicht, ob sich das so gehörte oder man ihn be-stohlen hatte. Ein Mann klopfte ihm auf die Schulter, als hätten sie sich seit Jahren gekannt, und womöglich war das auch der Fall. Während ein Uniformierter die Hak-ken zusammenschlug und ein Brillenträger im Gehrock beteuerte, das sei der größte Moment seines Daseins, spürte er Tränen aufsteigen. Er dachte an seine Mutter.

Plötzlich wurde es still.

Ein dünner, alter Herr mit wächsernem Gesicht und unnatürlich aufrechter Haltung war hereingekommen.

Mit kleinen Schritten, scheinbar ohne die Beine zu bewegen, glitt er auf Humboldt zu. Beide streckten die Arme aus, faßten einandet an den Schultern und beugten den Kopf wenige Zentimeter vor, dann trat jeder einen Schritt zurück.

Welche Freude, sagte Humboldt.

In der Tat, sagte der andere.

Die Umstehenden applaudierten. Beide warteten, bis das Klatschen vorbei war, dann wandten sie sich Gauß zu.

Das, sagte Humboldt, sei sein geliebter Bruder, der Minister.

Wisse er, sagte Gauß. Man habe sich vor Jahren in Weimar kennengelernt.

Der Erzieher Preußens, sagte Humboldt, welcher Deutschland seine Universität und der Welt die gültige Theorie der Sprache geschenkt habe.

Einer Welt, sagte der Minister, deren Gestalt niemand anderer als sein Bruder dem Begreifen erschlossen habe.

Seine Hand fühlte sich kalt und leblos an, sein Blick war starr wie der einer Puppe. Überhaupt sei er schon lange kein Erzieher mehr. Nur Privatmann und Dichter.

Dichter? Gauß war froh, als er die Hand loslassen konnte.

Er diktiere seinem Sekretär jeden Tag zwischen sieben und halb acht Uhr abends ein Sonett. So halte er es seit zwölf Jahren, und das werde er fortführen bis zu seinem Ableben.

Gauß fragte, ob es gute Sonette seien.

Er sei zuversichtlich, sagte der Minister. Nun aber müsse er aufbrechen.

Sehr bedauerlich, sagte Humboldt.

Allerdings, sagte der Minister, ein wunderbarer Abend, ein großes Vergnügen.

Die beiden streckten die Arme aus und wiederholten das Ritual von vorhin. Der Minister drehte sich zur Tür"

und ging mit wohlgesetzt kleinen Schritten hinaus.

Eine unverhoffte Freude, wiederholte Humboldt.

Plötzlich sah er bedrückt aus.


Er wolle heim, sagte Gauß.

Ein wenig noch, sagte Humboldt. Das sei Gendarmeriekommandant Vogt, dem die Wissenschaft viel verdanke. Er plane, alle Berliner Gendarmen mit Kom-passen auszustatten. So könne man neue Daten über die Feldfluktuation in der Hauptstadt sammeln. Der Gendarmeriekommandant war zwei Meter groß, hatte den Schnurrbart eines Seehundes, und sein Händedruck war fürchterlich. Und das hier, fuhr Humboldt fort, sei der Zoologe Malzacher, das der Chemiker Rotter, das der Physiker Weber aus Halle mit seiner Gattin.

Erfreut, sagte Gauß, erfreut. Er war nahe am Loswei-nen. Immerhin, die junge Frau hatte ein kleines, wohlge-formtes Gesicht, dunkle Augen und ein tief ausgeschnit-tenes Kleid. Er heftete den Blick auf sie in der Hoffnung, daß ihn das aufheitern werde.

Er sei Experimentalphysiker, sagte Weber. Den elektrischen Kräften auf der Spur. Sie versuchten sich zu verbergen, aber er gebe ihnen keine Chance.

So habe er es auch gemacht, sagte Gauß, ohne die Augen von der hübschen Frau zu wenden. Mit den Zahlen.

Vor langer Zeit.

Das wisse er, sagte Weber. Er habe die Disquisitiones genauer studiert als die Bibel. Welche er allerdings nicht sehr genau studiert habe.

Die Frau hatte zarte, sehr geschwungene Brauen. Ihr Kleid ließ die Schultern nackt. Gauß fragte sich, wie es wäre, seine Lippen auf diese Schultern zu drücken.

Er träume davon, hörte er Doktor Weber aus Halle weitersprechen, daß sich einmal ein Geist wie der des Herrn Professor, also nicht ein speziell mathematischer, sondern ein universeller, der Probleme löse, wo immer sie sich darböten, der experimentellen Welterkundung widmen möge. Er habe so viele Fragen. Es sei sein größter Wunsch, sie Professor Gauß vorzutragen.

Er habe wenig Zeit, sagte Gauß.

Das möge sein, sagte Weber. Aber in aller Bescheidenheit, es sei nötig, und er sei nicht irgendwer.

Gauß sah ihn zum erstenmal an. Vor ihm stand ein junger Mann mit schmalem Gesicht und hellen Augen.

Er müsse das sagen, erklärte Weber lächelnd, um der Sache willen. Er habe die Wellenbewegungen elektrischer Felder studiert. Seine Schriften würden weithin gelesen.

Gauß fragte nach seinem Alter.

Vierundzwanzig. Weber wurde rot.

Eine schöne Frau haben Sie, sagte Gauß.

Weber dankte. Seine Frau machte einen Knicks, aber sie sah nicht verlegen aus.

Ihre Eltern sind stolz auf Sie?

Er vermute es, sagte Weber.

Er solle ihn morgen nachmittag besuchen, sagte Gauß.

Eine Stunde bekomme er, dann müsse er sich trollen.

Das werde reichen, sagte Weber.

Gauß nickte und ging zur Tür. Humboldt rief, er müsse bleiben, der König werde erwartet, aber er konnte nicht mehr, er war todmüde. Der schnurrbärtige Gendarmeriekommandant trat ihm in den Weg, jeder versuchte rechts und links und wieder rechts am anderen vorbeizukommen, und es dauerte eine peinliche Weile, bis sie es schafften. An der Garderobe stand ein warziger Mann, umringt von Studenten, und schimpfte in brei-tem Schwäbisch: Naturforscher, Besserwisser, verloren im Ansich, logikfern, geistlos, die Sterne seien auch nur Materie! Gauß lief hinaus auf die Straße.

Er hatte Magenschmerzen. Stimmte es, daß es in der Großstadt Fuhrwerke gab, die man einfach anhielt, damit sie einen heimbrachten? Aber da war keines. Es stank. Zu Hause hätte er längst im Bett gelegen, und obwohl er Minna nicht gern sah, ihre Stimme nicht hören wollte und nichts ihn so nervös machte wie ihre Anwesenheit, fehlte sie ihm aus reiner Gewohnheit. Er rieb sich die Augen. Wieso war er so alt geworden? Man ging nicht mehr gut, man sah nicht mehr richtig, und man dachte so langsam. Altern, das war nichts Tragisches. Es war lä-

cherlich.

Er konzentrierte sich und rief sich in allen Einzelheiten den Weg zurück, den Humboldts Kutsche vorhin vom Packhof Nummer vier zum Singverein genommen hatte.

Er bekam nicht mehr alle Kurven richtig zusammen, aber die Richtung schien eindeutig: schräg nach links, nordöstlich wohl. Daheim hätte er es durch einen Blick nach oben geklärt, aber in dieser Kloake konnte man keine Sterne sehen. Der lichtauslöschende Äther. Wenn man hier lebte, konnte einem solcher Blödsinn wohl einfallen!

Nach jedem Schritt sah er sich um. Er hatte Angst vor Räubern, vor Hunden und vor Dreckpfützen. Er hatte Angst, daß die Stadt so groß war, daß er nie mehr herausfinden, daß ihr Labyrinth ihn festhalten und nicht zurück nach Hause lassen würde. Aber nein, man durfte sich in nichts hineinsteigern! Eine Stadt, das waren auch nur Häuser, und in hundert Jahren würden die kleinsten größer sein als diese, und in dreihundert – er runzelte die Stirn, es war nicht leicht, eine exponentielle Wachstums-kurve zu überschlagen, wenn man nervös und traurig war und einen der Bauch schmerzte –, in dreihundert Jahren also würden in den meisten Städten mehr Menschen leben als heute in allen deutschen Staaten zusammen. Menschen wie Insekten, in Waben hausend, niederen Arbeiten nachgehend, Kinder zeugend und sterbend. Natürlich würde man die Leichen verbrennen müssen, kein Fried-hof könnte das fassen. Und all die Exkremente? Er nieste und fragte sich, ob er nun auch noch krank wurde.

Als sein Gastgebet zwei Stunden später heimkam, fand er Gauß im großen Lehnsessel, pfeiferauchend, die Füße auf einem mexikanischen Steintischchen.

Wohin er so plötzlich verschwunden sei, rief Humboldt, man habe ihn gesucht, habe das Schlimmste vermutet, ein vorzügliches Buffet habe es auch gegeben! Der König sei enttäuscht gewesen.

Ums Buffet tue es ihm leid, sagte Gauß.

Das sei doch keine Art. Viele Leute seien eigens angereist. Das könne man nicht tun!

Dieser Weber gefalle ihm, sagte Gauß. Aber licht-schluckender Äther. So ein Unsinn.

Humboldt verschränkte die Arme.

Occam’s razor, sagte Gauß. Die Anzahl der zu einer Erklärung nötigen Annahmen sei so klein wie möglich zu halten. Im übrigen sei der Raum zwar leer, aber ge-krümmt. Die Sterne wanderten durch ein sehr unheimliches Gewölbe.

Schon wieder, sagte Humboldt. Astrale Geometrie. Er wundere sich, daß ein Mann wie Gauß diese seltsame Richtung vertrete.


Tue er nicht, sagte Gauß. Er habe früh beschlossen, nie darüber zu publizieren. Er habe keine Lust gehabt, sich dem Gespött auszusetzen. Zu viele Leute hielten ihre Gewohnheiten für Grundregeln der Welt. Er ließ zwei Rauchwölkchen an die Decke steigen. Was für ein Abend!

Fast hätte er nicht heimgefunden, und um von dem faulen Personal hereingelassen zu werden, habe er das ganze Haus wachläuten müssen. So dreckige Straßen gebe es kein zweites Mal.

Er sei vermutlich etwas weiter herumgekommen, sagte Humboldt scharf. Und er versichere ihm, es gebe drek-kigere. Und es sei ein großer Fehler, sich einfach zu ent-fernen, wenn so viele Leute zusammenkämen, mit denen man Projekte in die Welt setzen könne.

Projekte, schnaubte Gauß. Gerede, Pläne, Intrigen.

Palaver mit zehn Fürsten und hundert Akademien, bis man irgendwo ein Barometer aufstellen dürfe. Das sei nicht Wissenschaft.

Ach, rief Humboldt, was sei Wissenschaft denn dann?

Gauß sog an der Pfeife. Ein Mann allein am Schreibtisch. Ein Blatt Papier vor sich, allenfalls noch ein Fernrohr, vor dem Fenster der klare Himmel. Wenn dieser Mann nicht aufgebe, bevor er verstehe. Das sei vielleicht Wissenschaft.

Und wenn dieser Mann sich auf Reisen mache?

Gauß zuckte die Schultern. Was sich in der Ferne verstecke, in Löchern, Vulkanen oder Bergwerken, sei Zufall und unwichtig. Die Welt werde so nicht klarer.

Dieser Mann am Schreibtisch, sagte Humboldt, brauche natürlich eine fürsorgliche Frau, die ihm die Füße wärme und Essen koche, sowie folgsame Kinder, die seine Instrumente putzten, und Eltern, die ihn wie ein Kind versorgten. Und ein sicheres Haus mit gutem Dach gegen den Regen. Und eine Mütze, damit ihm nie die Ohren schmerzten.

Gauß fragte, wen er damit meine.

Er meine das ganz allgemein.

In diesem Fall: Ja, all das brauche er und mehr. Wie solle es ein Mann sonst aushalten?

Der Diener, bereits im Schlafrock, trat herein.

Humboldt fragte, was das für Sitten seien, ob er nicht klopfen könne?

Der Diener reichte ihm ein Blatt Papier. Das sei eben abgegeben worden, von einem Straßenjungen. Es scheine wichtig.

Uninteressant, sagte Humboldt. Er nehme nicht von irgend jemandem nächtliche Briefe entgegen. Das sei ja wie in einem Stück von Kotzebue! Widerwillig entfaltete er das Papier und las. Merkwürdig, sagte er. Ein Gedicht.

Unbeholfen gereimt. Etwas über die Bäume, den Wind und das Meer. Ein Raubvogel komme auch vor und ein König aus dem Mittelalter. Dann breche es ab. Offenbar mangels eines Reimworts auf Silber.

Der Diener bat ihn, das Blatt umzudrehen.

Humboldt tat es und las. Großer Gott, sagte er leise.

Gauß setzte sich auf.

Offenbar sei der junge Herr Eugen in Schwierigkeiten geraten. Diesen Zettel habe er aus dem Polizeigefängnis geschmuggelt.

Gauß blickte reglos an die Decke.

Das sei wirklich nicht angenehm, sagte Humboldt. Er sei immerhin Staatsbeamter.


Gauß nickte.

Und helfen könne er auch nicht. Die Dinge würden ihren Gang nehmen. Übrigens könne man sich auf die preußische Justiz verlassen, da geschehe kein Unrecht.

Wer nichts begangen habe, könne vertrauen.

Gauß betrachtete seine Pfeife.

Beschämend sei das, sagte Humboldt, sehr unerfreulich.

Immerhin handle es sich um seinen Gast.

Mit dem Jungen sei nie etwas anzufangen gewesen, sagte Gauß. Er schob sich den Pfeifenstiel zwischen die Lippen.

Eine Weile schwiegen sie. Humboldt trat ans Fenster und sah in den dunklen Hof hinunter.

Was könne man schon tun?

Ja, sagte Gauß.

Es sei ein langer Tag gewesen, sagte Humboldt. Sie seien beide müde.

Und nicht mehr die Jüngsten, sagte Gauß.

Humboldt ging zur Tür und wünschte eine gute Nacht.

Er rauche noch die Pfeife fertig, sagte Gauß.

Humboldt nahm den Kerzenleuchter mit und schloß die Tür hinter sich.

Gauß verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das einzige Licht kam vom Glimmen seiner Pfeife. Auf der Straße rollte mit blechernem Lärm ein Fuhrwerk vorbei.

Gauß nahm die Pfeife aus dem Mund und drehte sie zwischen den Fingern. Er spitzte die Lippen und horchte in die Luft. Schritte näherten sich, die Tür flog auf.

So gehe das nicht, rief Humboldt. Er könne das nicht hinnehmen!

So, sagte Gauß.


Aber man habe wenig Zeit. Heute nacht sei Eugen noch in der Obhut det Gendarmen. Morgen früh werde ihn die Geheimpolizei vernehmen, dann sei nichts mehr aufzuhalten. Wenn sie ihn herausholen wollten, müsse es jetzt sein.

Gauß fragte, ob er wisse, wie spät es sei.

Humboldt starrte ihn an.

Er sei seit Jahren nicht um diese Zeit unterwegs gewesen! Wenn er es recht bedenke, überhaupt noch nie.

Humboldt stellte ungläubig den Kerzenhalter ab.

Na gut. Gauß legte schnaufend die Pfeife weg und stand auf. Das werde ihn unfehlbar noch kränker machen.

Auf ihn wirke er recht gesund, sagte Humboldt.

Das reiche jetzt, rief Gauß. Es sei alles schon schlimm genug. Er müsse sich nicht auch noch beleidigen lassen!


Die

Geister


Gendarmeriekommandant Vogt war ausgegangen. Seine Frau, gewickelt in einen wollenen Hausrock, Gesicht und Haare noch wirr vom Schlaf, sagte ihnen, er sei nach dem Empfang in der Singakademie kurz heimgekommen und dann weggerufen worden, offenbar habe es Verhaftungen gegeben. Kurz vor Mitternacht sei er noch einmal zurückgekehrt, habe sich zivil gekleidet und sei wieder losgefahren. Er halte das einmal die Woche so. Nein, wohin wisse sie nicht.

Da sei wohl nichts zu machen, sagte Humboldt. Er verbeugte sich und wollte gehen.

Er meine schon, sagte Gauß.

Beide sahen ihn fragend an.

Er meine schon, daß man da etwas machen könne.

Humboldt sei eben nie verheiratet gewesen und wisse nicht, wie das ablaufe. Eine Frau, deren Mann einmal die Woche nachts weggehe, wisse sehr genau, wo er stecke, und wenn er es nicht verrate, dann erfahre sie es trotzdem. Sie könne jetzt zwei alten Herren einen großen Gefallen tun.

Sie dürfe wirklich nichts sagen, murmelte Frau Vogt.

Gauß trat einen Schritt näher, legte die Hand auf ihren Arm und fragte, warum sie es ihnen so schwer mache. Ob er und sein Freund wie Denunzianten aussä-


hen, wie Leute, die kein Geheimnis bewahren könnten?

Er senkte den Kopf und lächelte sie an. Es sei wirklich wichtig.

Aber niemand dürfe wissen, daß es von ihr gekommen sei.

Das sei doch selbstverständlich, sagte Gauß.

Es sei ja nichts Verbotenes. Und auch nur seit dem Tod der Großmutter. Man vermute, daß es verstecktes Geld gebe, aber niemand wisse, wo. Da versuche man eben, was man könne.

Da sehe man es wieder, sagte Gauß, während sie die Treppe hinuntergingen. Frauen könnten nichts für sich behalten. Was einmal die Gattin wisse, erfahre jeder. Ob sie wohl kurz beim Polizeigefängnis halten könnten? Er wolle nach dem Nichtsnutz sehen.

Unmöglich, sagte Humboldt. Er dürfe sich dort nicht blicken lassen.

Der führende Republikaner Europas könne nicht das Polizeigefängnis betreten?

Gerade der führende Republikaner nicht, sagte Humboldt. Seine Position sei fragiler, als es auf den ersten Blick scheine. Auch der Ruhm sei nicht immer ein Schutz. Die Orientierung sei auf dem Orinoko leichter gewesen als in dieser Stadt. Er dämpfte die Stimme. Im Polizeigefängnis trenne die Gendarmerie die Verhafteten nur nach ihrem Stand, die Personalien aber würden erst am nächsten Morgen von der geheimen Polizei aufgenommen. Wenn sie Vogt dazu brächten, den jungen Mann sofort heimzuschicken, würde keine Spur zurückbleiben.

Mit dem Jungen sei es hoffnungslos, sagte Gauß. Dieser Weber gefalle ihm besser.


Man könne es sich nicht aussuchen, sagte Humboldt.

Wahrscheinlich nicht, sagte Gauß und schwieg, bis die Kutsche hielt.

Sie gingen durch einen schmutzigen Hof, eine Treppe hinauf. Zweimal mußten sie stehenbleiben, damit Gauß wieder zu Atem kommen konnte. Sie erreichten den vier-ten Stock, Humboldt klopfte an die Wohnungstür. Ein blasser Mann mit gezwirbeltem Spitzbart öffnete. Er trug ein goldbesticktes Hemd, Samthosen und abgenutzte Pantoffeln.

Lorenzi, sagte er. Erst nach ein paar Sekunden verstanden sie, daß er sich vorgestellt hatte.

Humboldt fragte, ob der Gendarmeriekommandant hier sei.

Der sei hier, sagte Herr Lorenzi in stockendem Deutsch, und manch anderer auch. Wer aber hereinwol-le, müsse in den Kreis treten.

Na gut, sagte Gauß.

Der Kreis dürfe nicht gebrochen werden, sagte Lorenzi, sollten Diesseits und Totenreich nicht durcheinander-kommen. Mit anderen Worten, es koste Geld.

Gauß schüttelte den Kopf, aber Humboldt steckte Lorenzi ein paar Goldmünzen zu, und dieser wich mit einer gewundenen Verbeugung zur Seite.

Der Flur war mit abgewetzten Teppichen ausgelegt.

Durch eine halboffene Tür hörte man das Jammern einer Frauenstimme. Sie gingen hinein.

Nur eine einzige Kerze erhellte das Zimmer. Menschen saßen um einen runden Tisch. Das Jammern kam von einem etwa siebzehn Jahre alten Mädchen. Sie trug ein weißes Nachthemd, ihr Gesicht war verschwitzt, die Haare klebten ihr in der Stirn. Zu ihrer Linken saß mit geschlossenen Augen Gendarmeriekommandant Vogt.

Neben ihm ein Mann mit Glatze, auch drei ältere Damen, eine Frau in Schwarz, mehrere Herren im dunklen Anzug. Das Mädchen rollte den Kopf und stöhnte.

Humboldt wollte wieder hinausgehen, Gauß hielt ihn auf. Lorenzi rückte zwei Stühle heran. Zögernd setzten sie sich an den Tisch.

Und jetzt, sagte Lorenzi, müßten alle einander an den Händen nehmen!

Nie im Leben, sagte Humboldt.

Es sei doch nicht weiter schlimm, sagte Gauß und faßte Lorenzis Hand. Wenn man sie hinauswürfe, wäre ihnen auch nicht geholfen.

Nein, sagte Humboldt.

Sonst gehe es nicht, sagte Lorenzi.

Gauß seufzte und griff nach Humboldts linker Hand, zugleich packte die Frau auf der anderen Seite, sie war ungefähr sechzig und sah wie eine verwitterte Statue aus, die rechte. Humboldt erstarrte.

Das Mädchen warf den Kopf zurück und schrie. Von den Verrenkungen verrutschte ihr Nachthemd. Gauß betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen. Ihr Körper fuhr in die Höhe, als wollte sie aufspringen, aber die zwei Männer neben ihr hielten sie fest; sie entblößte die Zähne, verdrehte die Augen, ruckte wimmernd hin und her. Sie habe König Salomon gesehen, ächzte sie, aber er habe nicht kommen wollen, jetzt kündige sich ein anderer an.

Er halte das nicht mehr aus, sagte Humboldt.


Das sei doch eigentlich ganz lustig, sagte Gauß. Und die Kleine sei nicht übel.

Sie schrie auf, eine Zuckung ließ ihren Körper nach hinten schnellen; hätten die Männer sie nicht festge-halten, wäre sie mit ihrem Stuhl umgekippt. Dann beruhigte sie sich, legte den Kopf schief und starrte auf die Tischplatte. Einer sei hier, sagte sie. Dem lasse sein Onkel ausrichten, alles sei verziehen. Ein Sohn erwarte seine Mutter. Weiter sehe sie Bonaparte, den Teufel in Menschengestalt, wie er in der Hölle brenne. Furchtbare Lästerungen stoße er aus und wolle nicht bereuen. Sie drehte horchend den Kopf. Ihr Nachthemd stand bis unter die Brust offen. Ihre Haut glänzte feucht. Von einem anderen erblicke sie den Bruder, er sage, sein Tod sei na-türlich und in der Ordnung gewesen, man solle nicht mehr nachforschen. Von einem anderen die Mutter. Sie sei sehr enttäuscht. Sein Werk werde ohne Bedeutung sein, sie wisse jetzt, daß er nur auf ihren Tod gewartet habe, um sich davonzumachen wie ein Herumtreiber, und in der Höhle damals habe er getan, als sehe er sie nicht. Dann sei da ein Kind, das seinen Eltern mitteilen lasse, es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, die Halle sei groß, man fliege immerzu, und wenn man sich vorsehe, werde einem kein Schmerz zugefügt. Und eine alte Frau lasse sagen, sie habe kein Geld versteckt und könne nicht helfen. Das Mädchen stöhnte, alle beugten sich vor, aber es kam nichts mehr. Sie gab einen wür-genden Laut von sich, dann hob sie den Kopf, löste mit einer leichten Bewegung ihre Hände aus dem Griff der Männer, zog ihr Nachthemd zurecht und lächelte verwirrt vor sich hin.


Na gut, sagte Gauß.

Vogt sah ihn erschrocken über die Tischplatte an. Er hatte sie jetzt erst bemerkt.

Auf ein Wort, sagte Humboldt. Er war blaß, sein Gesicht maskenhaft starr.

Faszinierend, sagte die schwarzgekleidete Frau.

Ein einmaliger Moment der Kommunikation zwischen den Welten, sagte Lorenzi. Alle sahen ihn vorwurfsvoll an, er hatte ohne italienischen Akzent gesprochen; eilig wiederholte er es, wie es sich gehörte. Das Mädchen schaute sich verlegen um. Gauß beobachtete sie aufmerksam.

Vogt fragte, ob sie ihm gefolgt seien.

Gewissermaßen, sagte Humboldt. Einer Bitte wegen.

Ein Gespräch unter vier Augen. Er machte Gauß ein Zeichen, daß er bleiben solle, und ging mit Vogt hinaus in den Flur.

Er sei wegen seiner Großmutter hier, flüsterte Vogt.

Niemand wisse, wo das Geld sei. Seine Lage sei nicht leicht. Ein Gentleman müsse seine Schulden bezahlen, komme, was wolle. Und da versuche er eben alles.

Humboldt räusperte sich. Er schloß ein paar Sekunden lang die Augen, als müßte er sich zur Ordnung rufen. Ein junger Mann, sagte er dann, der Sohn des Astronomen dort drüben, sei auf einer törichten Versammlung verhaftet worden. Noch sei Zeit, ihn einfach heimzuschicken.

Vogt strich über seinen Schnurrbart.

Man würde dem Land einen Dienst erweisen. Preußen sei viel an der Zusammenarbeit mit diesem Mann gelegen. Es sei im höchsten Interesse, ihn nicht zu ver-prellen.

Im höchsten Interesse, wiederholte Vogt.


Anderswo, sagte Humboldt, gebe es Orden für so etwas.

Vogt lehnte sich an die Wand. Was man diesen Leuten vorwerfe, sei keine Kleinigkeit. Eine zutiefst bedenk-liche Geheimversammlung. Zunächst habe man sogar geglaubt, der verabscheuungswürdige Verfasser der Deutschen Turnkunst habe selbst gesprochen. Nun scheine es gottlob, daß der Redner bloß einer der vielen Nachahmer sei, die unter seinem Namen das Land durchstreiften. Ein Eilbote sei jedenfalls unterwegs nach Freyburg, um für Gewißheit zu sorgen.

Die Pest der vorgetäuschten Identitäten, sagte Humboldt. Zwei Mitarbeiter von ihm, Daguerre und Niepce, arbeiteten an einer Erfindung, die Abhilfe schaffen werde.

Dann werde die Obrigkeit offizielle Abbilder haben, und man werde sich nicht mehr als Berühmtheit ausgeben können. Er kenne das Problem gut, kürzlich erst habe in Tirol ein Mann monatelang auf Gemeindekosten gelebt, weil er behauptet habe, Humboldt zu sein und zu wissen, wie man Gold finde.

In jedem Fall, sagte Vogt, die Lage sei ernst. Et sage nicht, daß sich nichts machen lasse. Erwartungsvoll sah er Humboldt an. Aber leicht sei es nicht.

Et müsse nur ins Polizeigefängnis gehen und den jungen Mann heimschicken, sagte Humboldt. Der Name sei noch nicht aufgeschrieben. Keiner werde es erfahren.

Ein Risiko sei dabei, sagte Vogt.

Aber ein geringes.

Gering oder nicht, unter zivilisierten Leuten gebe es für so etwas Abgeltungen.

Humboldt versprach Dankbarkeit.


Die könne sich auf verschiedene Arten äußern.

Humboldt versicherte, daß er in ihm immer einen Freund haben werde. Auch sei er bereit zu jedem Gefallen.

Gefallen. Vogt seufzte. Da gebe es solche und solche.

Humboldt fragte, was er meine.

Vogt stöhnte. Ratlos blickten sie einander an.

Herrgott, sagte Gauß’ Stimme neben ihnen. Ob er denn wirklich nicht verstehe? Der Kerl wolle bestochen werden.

Vogt wurde bleich.

Gekauft wolle er werden, sagte Gauß ruhig. Das elende Bürschchen. Der kleine Dreckfresser.

Dagegen verwahre er sich, rief Vogt mit schriller Stimme. Das müsse er sich nicht anhören!

Humboldt machte Gauß hektische Handzeichen. Neugierig kamen die Leute aus dem Salon: Der Glatzkopf und die schwarzgekleidete Frau tuschelten, das Mädchen im Nachthemd sah ihnen über die Schulter.

Müsse er schon, sagte Gauß. Wenn man ein Kotkerl sei, ein ehrloser Lippenbär, ein gieriger Scheißzwerg, solle man auch die Wahrheit vertragen können.

Das reiche jetzt, schrie Vogt.

Aber noch lange nicht, sagte Gauß.

Er werde morgen früh seine Sekundanten schicken!

Um Gottes willen, rief Humboldt, es sei alles ein Miß-

verständnis.

Die werde er rauswerfen, sagte Gauß. Schöne Tunicht-gute müßten das sein, sich von einem Mistkäfer herum-schicken zu lassen. Fußtritte könnten die sich holen, in den Arsch und anderswohin!


Mit gepreßter Stimme fragte Vogt, ob das heiße, der Herr verweigere ihm Genugtuung.

Na sicher. So weit komme es noch, daß er sich von einem Stinkmolch totschießen lasse!

Vogt öffnete und schloß den Mund, ballte die Fäuste und starrte an die Decke. Sein Kinn zitterte. Wenn er recht verstanden habe, so habe der Sohn des Herrn Professors Schwierigkeiten. Der Herr Professor solle nicht damit rechnen, seinen Sohn bald wiederzusehen. Er stolperte zum Garderobenständer, packte seinen Mantel, riß einen Hut an sich und rannte hinaus.

Aber das sei sein Hut, rief der Glatzkopf und lief ihm nach.

Das sei ja nun nichts gewesen, sagte Gauß schließlich in das Schweigen. Er warf noch einen langen Blick auf das Medium, dann schob er die Hände in die Taschen und verließ die Wohnung.

Ein schrecklicher Irrtum, sagte Humboldt, als er ihn auf der Treppe eingeholt hatte. Der Mann habe doch kein Geld gewollt!

Ha, sagte Gauß.

Ein hoher Beamte des preußischen Staates sei nicht bestechlich. So etwas habe es nie gegeben.

Ha!

Dafür lege er seine Hand ins Feuer!

Gauß lachte.

Sie traten ins Freie und stellten fest, daß ihre Kutsche weggefahren war.

Dann eben zu Fuß, sagte Humboldt. Es sei schließlich nicht weit, seinerzeit habe er ganz andere Entfernungen gemeistert.


Bitte nicht schon wieder, sagte Gauß. Er könne es nicht mehr hören.

Die beiden sahen einander wütend an, dann gingen sie los.

Es sei das Alter, sagte Humboldt nach einer Weile.

Früher habe er jeden überzeugen können. Habe jede Blockade überwunden und jeden Paß bekommen, den er gewollt habe. Ihm habe niemand widerstanden.

Gauß antwortete nicht. Sie gingen schweigend neben-einanderher.

Gut, sagte Gauß schließlich. Er gebe es zu. Klug sei das von ihm nicht gewesen. Aber es habe ihn nun einmal so geärgert!

Solch einem Medium gehöre das Handwerk gelegt, sagte Humboldt. So nähere man sich den Toten nicht.

Ungebührlich sei es, dreist und vulgär! Er sei mit Geistern aufgewachsen und wisse, wie man sich ihnen gegenüber benehme.

Diese Laternen, sagte Gauß. Bald würden sie mit Gas funktionieren, dann werde die Nacht abgeschafft. Sie seien beide in einer zweitklassigen Zeit alt geworden. Was werde jetzt aus Eugen?

Ausschluß vom Studium. Wahrscheinlich Gefängnis.

Unter Umständen könne man eine Verbannung arran-gieren.

Gauß schwieg.

Manchmal müsse man akzeptieren, sagte Humboldt, daß man Menschen nicht helfen könne. Er habe Jahre gebraucht, um sich damit abzufinden, daß er nichts für Bonpland zu tun vermöge. Er könne sich deshalb nicht jeden Tag grämen.


Nur müsse er es Minna beibringen. Sie hänge ganz idiotisch an dem Jungen.

Was nun einmal fallen wolle, sagte Humboldt, das müsse man fallen lassen. Schön klinge das nicht, aber es sei nur die härtere Seite, die brutale gewissermaßen, des gelingenden Lebens.

Sein Leben liege hinter ihm, sagte Gauß. Er habe ein Heim, das ihm nichts bedeute, eine Tochter, die keiner wolle, und einen ins Unglück geratenen Sohn. Auch seine Mutter werde nicht mehr lange dasein. Die letzten fünfzehn Jahre habe er Hügel vermessen. Er blieb stehen und sah in den Nachthimmel. Alles in allem könne er nicht erklären, weshalb er sich so leicht fühle.

Er könne es auch nicht, sagte Humboldt. Aber ihm gehe es ähnlich.

Vielleicht sei dies und das noch möglich. Magnetismus.

Geometrie des Raumes. Sein Kopf sei nicht mehr wie früher, aber doch noch nicht unbrauchbar.

Er sei nie in Asien gewesen, sagte Humboldt. Das sei doch kein Zustand. Auf einmal frage er sich, ob es nicht ein Fehler sei, die Einladung nach Rußland auszuschla-gen.

Natürlich brauche er neue Mitarbeiter. Allein könne er es nicht mehr. Der ältere Sohn sei beim Militär, der Kleine noch zu jung, und Eugen falle aus. Aber dieser Wilhelm Weber habe ihm gefallen! Der habe auch eine hübsche Frau. In Göttingen werde eine Physikprofessur frei.

Einfach werde es nicht, sagte Humboldt. Die Regie-tung werde jeden seiner Schritte kontrollieren wollen.

Doch falls man ihn für schwach und nachgiebig halte, habe man sich geirrt. Von Indien hätten sie ihn fernge-halten. Nach Rußland werde er gehen.

Experimentalphysik, sagte Gauß. Das sei etwas Neues.

Darüber müsse er nachdenken.

Mit etwas Glück, sagte Humboldt, könne er bis nach China kommen.


Die

Steppe


Was, meine Damen und Herren, ist der Tod? Im Grunde nicht erst das Verlöschen und die Sekunden des Über-gangs, sondern schon das lange Nachlassen davor, jene sich über Jahre dehnende Erschlaffung; die Zeit, in der ein Mensch noch da ist und zugleich nicht mehr und in der er, ist auch seine Größe lange dahin, noch vorgeben kann, es gäbe ihn. So umsichtig, meine Damen und Herren, hat die Natur unser Sterben eingerichtet!

Als der Applaus zu Ende war, hatte Humboldt das Podium schon verlassen. Vor der Singakademie wartete eine Kutsche, die ihn ans Krankenbett seiner Schwägerin brachte. Sie ließ leise und ohne Schmerzen nach, halb im Schlaf und halb dämmernd, Öffnete nur noch einmal die Augen, sah zunächst Humboldt an und dann, leicht erschrocken, ihren Ehemann, als fiele es ihr schwer, die beiden zu unterscheiden. Sekunden später war sie tot.

Danach saßen die Brüder einander gegenüber, Humboldt hielt die Hand des Älteren, weil er wußte, daß die Situation das verlangte; aber für einige Zeit vergaßen sie völlig, geradezusitzen und klassische Dinge zu sagen.

Ob er sich noch an den Abend erinnere, fragte der Ältere schließlich, als sie die Geschichte von Aguirre gelesen hätten und er beschlossen habe, zum Orinoko zu ziehen?

Das Datum sei für die Nachwelt bezeugt!


Natürlich erinnere er sich, sagte Humboldt. Aber er glaube nicht mehr, daß es die Nachwelt interessieren werde, er zweifle auch an der Bedeutung der Flußreise selbst.

Der Kanal habe keine Wohlfahrt für den Kontinent gebracht, er liege verlassen und unter Mückenwolken wie je, Bonpland habe recht gehabt. Wenigstens sei ihm das Leben ohne Langeweile vergangen.

Ihm habe Langeweile nie etwas ausgemacht, sagte der Ältere. Nur allein habe er nicht sein wollen.

Er sei immer allein gewesen, sagte Humboldt, vor der Langeweile aber habe er Todesangst.

Er habe sehr darunter gelitten, sagte der Ältere, daß er nie Kanzler geworden sei, Hardenberg habe es verhindert, dabei sei es ihm doch bestimmt gewesen!

Niemand, sagte Humboldt, habe eine Bestimmung.

Man entschließe sich nur, eine vorzutäuschen, bis man es irgendwann selbst glaube. Doch so vieles passe nicht dazu, man müsse sich entsetzliche Gewalt antun.

Der Ältere lehnte sich zurück und sah ihn lange an.

Immer noch die Knaben?

Das hast du gewußt?

Immer.

Lange sprach keiner von ihnen, dann stand Humboldt auf, und sie umarmten einander so förmlich wie stets.

Sehen wir uns wieder?

Sicher. Im Fleische oder im Licht.

In der Akademie warteten seine Reisebegleiter, der Zoologe Ehrenberg und der Mineraloge Rose. Ehrenberg war klein, dick und spitzbärtig, Rose war über zwei Meter groß und schien stets feuchte Haare zu haben.

Beide trugen dicke Brillen. Der Hof hatte sie Humboldt als Assistenten beigegeben. Gemeinsam überprüften sie die Ausrüstung: das Cyanometer, das Teleskop und die Leydener Flasche von seiner Tropenreise, eine englische Uhr, die genauer ging als die alte französische, und für die Magnetmessungen ein besseres Inklinatorium, angefertigt von Gambey persönlich, sowie ein eisenfreies Zelt. Dann fuhr Humboldt ins Charlottenburger Schloß.

Er begrüße diese Reise ins Reich seines Schwieger-sohns, sagte Friedrich Wilhelm schwerfällig. Darum er-nenne er Kammerherrn Humboldt zum Wirklichen Geheimen Rat, der von nun an mit Exzellenz anzusprechen sei.

Humboldt mußte sich abwenden, so stark war seine Bewegung.

Was ist Ihnen, Alexander?

Es sei nur, sagte Humboldt schnell, wegen des Todes seiner Schwägerin.

Er kenne Rußland, sagte der König, er kenne auch Humboldts Ruf. Er wünsche keine Beschwerden! Es sei nicht nötig, über jeden unglücklichen Bauern in Tränen auszubrechen.

Er habe es dem Zaren versichert, sagte Humboldt in einem Ton, als hätte er es auswendig gelernt. Er werde sich mit der unbelebten Natur befassen, die Verhältnisse der unteren Volksklassen aber nicht studieren. Diesen Satz hatte er bereits zweimal an den Zaren und dreimal an preußische Hofbeamte geschrieben.

Daheim lagen zwei Briefe. Einer des älteren Bruders, der sich für Besuch und Beistand bedankte. Ob wir uns wiedersehen oder nicht, jetzt sind es wieder, wie im Grunde immer schon, nur wir beide. Man hat uns früh eingeschärft, daß ein Leben Publikum benötigt. Beide meinten wir, das unsere sei die ganze Welt. Nach und nach wurden die Kreise kleiner, und wir mußten begreifen, daß das eigentliche Ziel unserer Bemühungen nicht der Kosmos, sondern bloß der andere war. Deinetwegen wollte ich Minister werden, meinetwegen mußtest Du auf den höchsten Berg und in die Höhlen, für Dich habe ich die beste Universität erfunden, für mich hast Du Südamerika entdeckt, und nur Dummköpfen, die nicht verstehen, was ein Leben in Verdoppelung bedeutet, würde dafür das Wort Rivalität einfallen: Weil es Dich gab, mußte ich Lehrer eines Staates, weil ich existierte, hattest Du der Erforscher eines Weltteils zu werden, alles andere wäre nicht angemessen gewesen. Und für Angemessen-heit hatten wir immer das sicherste Gespür. Ich ersuche Dich, diesen Brief nicht mit dem Rest unserer Korre-spondenz auf die Zukunft kommen zu lassen, auch wenn Du, wie Du mir gesagt hast, von der Zukunft nichts mehr hältst.

Der andere Brief war von Gauß. Auch er schickte gute Wünsche sowie einige Formeln für die magnetischen Messungen, von denen Humboldt keine Zeile verstand.

Außerdem empfahl er, unterwegs die russische Sprache zu lernen. Er selbst habe, nicht zuletzt eines vor langer Zeit gegebenen Versprechens wegen, damit begonnen.

Falls Humboldt einen gewissen Puschkin träfe, möge er nicht unterlassen, ihn seiner Hochachtung zu versi-chern.

Der Diener kam herein und meldete, es sei alles bereit, die Pferde habe man gefüttert, die Instrumente aufgeladen, in der Morgendämmerung könne es losgehen.


Tatsächlich half das Russische Gauß über den Ärger daheim, das ständige Jammern und die Vorwürfe Minnas, das triste Gesicht seiner Tochter und all die Fragen nach Eugen. Nina hatte ihm zum Abschied das russische Wörterbuch geschenkt: Sie war zu ihrer Schwester nach Ostpreußen gegangen, hatte Göttingen für immer verlassen. Für einen Moment hatte er sich gefragt, ob vielleicht sie, und nicht Johanna, die Frau seines Lebens gewesen war.

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