Er war milder geworden. In letzter Zeit brachte er es sogar fertig, Minna ohne Abneigung anzusehen. Etwas an ihrem dünnen, ältlichen, stets anklagenden Gesicht würde ihm fehlen, wäre sie einmal nicht mehr da.
Weber schrieb ihm jetzt häufig. Es sah ganz so aus, als ob er bald nach Göttingen käme. Die Professur wurde frei, und Gauß’ Wort hatte Gewicht. Ein Jammer, sagte er zu seiner Tochter, daß du so häßlich bist und er eine Frau hat!
Auf der Rückfahrt von Berlin, als ihm vom Schwanken der Kutsche so schlecht geworden war wie noch nie zuvor im Leben, hatte er sich helfen wollen, indem er das Zittern, Schaukeln und Schlingern bis ins Innerste durchdachte. Nach und nach war es ihm gelungen, sich alle Teile in ihrem Zusammenwirken vorzustellen.
Geholfen hatte es kaum, aber ihm war dabei das Prinzip des geringstmöglichen Zwangs klar geworden: Jede Bewegung stimmte so lange mit der des Gesamtsystems überein, wie sie konnte. Sofort nachdem er in den frühen Morgenstunden in Göttingen eingetroffen war, hatte er Weber seine Notizen darüber geschickt, der hatte sie mit klugen Anmerkungen zurückgesandt. In wenigen Monaten würde die Abhandlung erscheinen. So war er nun also Physiker geworden.
Nachmittags machte er lange Spaziergänge durch die Wälder. Inzwischen verirrte er sich nicht mehr, er kannte diese Gegend besser als irgend jemand sonst, schließlich hatte er all dies auf der Karte fixiert. Manchmal war ihm, als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskup-pen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte, war noch oder konnte je sein wie zuvot.
Gauß fragte sich, ob Humboldt das begreifen würde. Es begann zu regnen, er stellte sich zum Schutz unter einen Baum. Das Gras zitterte, es roch nach frischer Erde, und er hätte nirgendwo anders sein wollen als hier.
Humboldts Troß kam nicht gut voran. Seine Abreise war in die Zeit der Schneeschmelze gefallen; ein Pla-nungsfehler, wie er ihm früher nicht unterlaufen wäre.
Die Kutschen sanken im Lehm ein und kamen ständig von der durchnäßten Straße ab, immer wieder mußten sie anhalten und warten. Die Kolonne war zu lang, sie waren zu viele Menschen. Schon Königsberg erreichten sie später als berechnet. Professor Bessel empfing Humboldt mit einem Redeschwall, führte sie durch die neue Sternwarte und ließ seinen Gästen die größte Bernstein-kollektion des Landes zeigen.
Humboldt fragte ihn, ob er nicht früher mit Professor Gauß gearbeitet habe.
Der Höhepunkt seines Lebens, sagte Bessel, wenn auch nicht einfach. Von dem Moment, als der Fürst der Mathematiker ihm in Bremen empfohlen habe, die Wissenschaft aufzugeben und Koch zu werden oder Huf-schmied, falls das nicht schon zu anspruchsvoll für ihn sei, habe er sich lange nicht erholt. Immerhin habe er noch Glück gehabt, sein Freund Bartels in Petersburg habe es mit diesem Mann schlimmer getroffen. Gegen solche Überlegenheit helfe nur Sympathie.
Auf der Weiterfahrt nach Tilsit war die Straße vereist, mehrmals brachen die Wagen ein. An der russischen Grenze stand ein Kosakentrupp, der angewiesen war, sie zu begleiten.
Das sei wirklich nicht nötig, sagte Humboldt.
Er solle ihm vertrauen, sagte der Kommandant, es sei nötig.
Er habe Jahre ohne Begleitschutz in der Wildnis verbracht!
Dies sei nicht die Wildnis, sagte der Kommandant.
Dies sei Rußland.
Vor Dorpat warteten ein Dutzend Journalisten sowie die gesamte naturwissenschaftliche Fakultät. Sofort wollte man ihnen die mineralogischen und botanischen Sammlungen zeigen.
Gern, sagte Humboldt, allerdings sei er nicht der Mu-seen, sondern der Natur wegen hier.
Um die könne sich einstweilen er kümmern, sagte Rose diensteifrig, daran solle es nicht scheitern, dafür sei er ja mitgereist!
Während Rose die Hügel um die Stadt vermaß, führten der Bürgermeister, der Universitätsdekan und zwei Offiziere Humboldt durch eine unwirklich lange Flucht schlecht gelüfteter Zimmer voller Bernsteinproben. In einem der Steine gab es eine Spinne, wie Humboldt noch nie eine gesehen hatte, in einem anderen einen wunderlich geflügelten Skorpion, den man wohl ein Fabelwesen nennen mußte. Humboldt hielt sich den Stein nahe vor die Augen und blinzelte, aber es half nichts, er sah nicht mehr gut. Davon müsse er eine Zeichnung anfertigen!
Selbstverständlich, sagte der plötzlich hinter ihm stehende Ehrenberg, nahm ihm den. Stein aus der Hand und trug ihn weg. Humboldt wollte ihn zurückrufen, aber dann ließ er es. Es hätte seltsam gewirkt vor all den Leuten. Die Zeichnung bekam er nicht, und er sah den Stein nie wieder. Als er Ehrenberg später danach fragte, konnte der sich nicht erinnern.
Sie verließen Dorpat in Richtung Hauptstadt. Ein Kurier der Krone ritt voran, zwei Offiziere hatten sich ihnen angeschlossen, auch drei Professoren sowie ein Geologe der Petersburger Akademie, ein gewisser Wolodin, dessen Anwesenheit Humboldt immer wieder vergaß, so daß er jedesmal zusammenzuckte, wenn Wolodin mit seiner lei-sen und ruhigen Stimme etwas einwarf. Es war, als widerstünde etwas an diesem blassen Wesen der Fixierung im Gedächtnis oder als beherrschte es in besonderer Perfektion die Kunst der Tarnung. Am Narwa-Fluß mußten sie zwei Tage aufs Nachlassen des Eisgangs warten. Sie waren mittlerweile so zahlreich, daß sie zum Übersetzen die große Fähre brauchten, die nur fahren konnte, wenn der Fluß frei war. So erreichten sie Sankt Petersburg mit Verspätung.
Der preußische Gesandte begleitete Humboldt zur Audienz. Der Zar drückte ihm lange die Hand, versicherte ihm, daß sein Besuch eine Ehre für Rußland sei, und fragte nach Humboldts älterem Bruder, den er vom Kongreß in Wien in deutlicher Erinnerung habe.
In guter?
Nun ja, sagte der Zar, offen gestanden, habe er ihn immer ein wenig gefürchtet.
Jeder europäische Botschafter gab für Humboldt einen Empfang. Mehrmals dinierte er mit der Zarenfami-lie. Der Finanzminister, Graf Cancrin, verdoppelte das zugesagte Reisegeld.
Er sei dankbar, sagte Humboldt, wenngleich er mit Wehmut an die Tage denke, als er sich das Reisen noch selbst finanziert habe.
Kein Grund zur Wehmut, sagte Cancrin, er genieße jede Freiheit, und dies, er schob Humboldt ein Blatt hin, sei die bewilligte Route. Er werde unterwegs eskortiert, man erwarte ihn an jeder Station, alle Provinzgouverneu-re hätten Anweisung, für seine Sicherheit zu sorgen.
Er wisse nicht recht, sagte Humboldt. Er wolle sich frei bewegen. Ein Forscher müsse improvisieren.
Nur wenn er nicht gut geplant habe, wandte Cancrin lächelnd ein. Und dieser Plan, das verspreche er, sei ganz vortrefflich.
Vor der Weiterreise nach Moskau bekam Humboldt nochmals Post: zwei Schreiben vom älteren Bruder, den die Einsamkeit geschwätzig machte. Einen langen Brief von Bessel. Und eine Karte des tief in Magnetexperimente versunkenen Gauß. Er nehme die Sache jetzt ernst, er habe eigens eine fensterlose Hütte errichten lassen, die Tür luftdicht, die Nägel aus nicht magnetisierbarem Kupfer.
Zunächst hatten die Stadträte ihn für verrückt gehalten. Aber Gauß hatte sie so lange beschimpft, hatte ge-droht und gejammert und ihnen völlig erfundene Vorteile für Handel, Staatsrenommee und Wirtschaft in Aussicht gestellt, daß sie schließlich zugestimmt und die Hüt-te neben der Sternwarte gebaut hatten. Nun verbrachte er den Großteil seiner Tage vor einer langen, in einer Verstärkerspule pendelnden Eisennadel. Ihre Bewegung war so schwach, daß man sie mit freiem Auge nicht sah; man mußte ein Fernrohr auf einen über der Nadel ange-brachten Spiegel richten, um die feinen Schwankungen der beweglichen Skala zu sehen. Humboldts Vermutung traf zu: Das Erdfeld fluktuierte, seine Stärke änderte sich periodisch. Aber Gauß maß in kürzeren Intervallen als er, er maß genauer, und natürlich rechnete er besser; es belustigte ihn, daß Humboldt entgangen war, daß man die Dehnung des Fadens berücksichtigen mußte, an dem die Nadel hing.
Stundenlang beobachtete Gauß beim Licht einer Öllampe dieses Pendeln. Kein Laut drang zu ihm herein. So wie ihm damals die Ballonfahrt mit Pilâtre gezeigt hatte, was der Raum war, würde er jetzt irgendwann die Unruhe im Herzen der Natur verstehen. Man brauchte nicht auf Berge zu klettern oder sich durch den Dschungel zu quä-
len. Wer diese Nadel beobachtete, sah ins Innere der Welt.
Manchmal schweiften seine Gedanken zur Familie ab.
Eugen fehlte ihm, und Minna ging es schlecht, seit er weg war. Sein Jüngster würde bald mit der Schule fertig sein.
Auch der war nicht besonders intelligent, er würde wohl nicht studieren. Man mußte sich damit abfinden, man durfte die Menschen nicht überschätzen. Wenigstens verstand er sich mit Weber immer besser, und erst vor kurzem hatte ein. russischer Mathematiker ihm eine Abhandlung geschickt, in der die Vermutung geäußert wurde, daß Euklids Geometrie nicht die wahre sei und parallele Linien einander berührten. Seit er zurückgeschrieben hatte, daß ihm keiner dieser Gedanken neu war, hielt man ihn in Rußland für einen Angeber. Bei dem Gedanken, daß andere bekanntmachen würden, was er so lange schon wuß-
te, fühlte er ein ungewohntes Stechen. So alt hatte er also werden müssen, um zu lernen, was Ehrgeiz war. Hin und wieder, wenn er die Nadel anstarrte und nicht zu atmen wagte, um ihren lautlosen Tanz nicht zu stören, kam er sich wie ein Magier der dunklen Zeit vor, wie ein Alchimist auf einem alten Kupferstich. Aber warum nicht? Die Scientia Nova war aus der Magie hervorgegangen, und etwas davon würde ihr immer anhaften.
Vorsichtig faltete er die Karte Rußlands auseinander.
Man mußte Hütten wie diese über die Leere Sibiriens verteilen, bewohnt von zuverlässigen Männern, die es verstanden, auf Geräte zu achten, Stunden um Stunden vor Teleskopen zu verbringen und ein stilles, aufmerksames Leben zu fuhren. Humboldt konnte organisieren; vermutlich sogar das. Gauß dachte nach. Als er mit der Liste der geeigneten Standorte fertig war, riß sein jüngster Sohn die Tür auf und brachte einen Brief. Wind schoß herein, Blätter flogen durch die Luft, die Nadel schlug panisch aus, und Gauß gab dem Kleinen zwei Ohrfeigen, die er nicht so bald vergessen würde. Erst nach einer halben Stunde des StÜlsitzens und Wartens hatte sich der Kompaß soweit beruhigt, daß Gauß es wagte, sich zu bewegen und den Brief zu öffnen. Man müsse die Pläne ändern, schrieb Humboldt, er könne nicht, wie er wolle, man habe ihm eine Route vorgeschrieben, von der abzu-weichen ihm nicht vernünftig erscheine, auf ihr könne er messen, anderswo nicht, und er ersuche, die Berechnungen anzupassen. Gauß legte traurig lächelnd den Brief weg. Zum erstenmal tat Humboldt ihm leid.
In Moskau stockte alles. Es sei ganz unmöglich, sagte der Bürgermeister, daß sein Ehrengast schon weiterfahre.
Günstige Jahreszeit hin oder her, die Gesellschaft erwarte ihn, er könne unmöglich Moskau versagen, was er Petersburg gewährt habe. Also mußte Humboldt auch hier jeden Abend, während Rose und Ehrenberg in der Umgebung Steinproben sammelten, ein Diner besuchen; Toasts wurden ausgebracht, Frackträger riefen gläser-schwenkend Vivat, und Blasmusiker ließen verstimmte Instrumente schmettern, und teilnehmend fragte immer wieder jemand, ob Humboldt nicht wohl sei. Doch, antwortete er dann und sah nach der untergehenden Sonne, nur habe Musik ihm nie viel gesagt, und müsse es wirklich so laut sein?
Erst nach Wochen gestattete man ihnen, zum Ural weiterzufahren. Noch mehr Begleiter hatten sich angeschlossen, es dauerte allein einen Tag, bis alle Kutschen fahrbereit waren.
Das sei unglaublich, sagte Humboldt zu Ehrenberg, das werde er nicht dulden, das sei doch keine Expedition mehr!
Man könne nicht immer, wie man wolle, mischte sich Rose ein.
Und außerdem, fragte Ehrenberg, was spreche dagegen?
Alles kluge, ehrenwerte Menschen, sie könnten ihm Arbeit abnehmen, die ihm vielleicht schwerfalle. Humboldt lief rot an, aber bevor er etwas sagen konnte, setzte sich die Kutsche in Bewegung, und seine Antwort ging im Räderknirschen und Klappern der Hufe unter.
Bei Nischnij Nowgorod bestimmte er mit dem Sextanten die Breite der Wolga. Eine halbe Stunde starrte er durch das Okular, schwenkte die Alhiade, murmelte Berechnungen. Die Mitreisenden sahen respektvoll zu. Das sei, sagte Wolodin zu Rose, als erlebte man eine Reise in der Zeit, als wäre man in ein Geschichtsbuch versetzt, so erhaben sei es. Ihm sei zum Weinen!
Endlich verkündete Humboldt, daß der Fluß fünftau-sendzweihundertvierzig Komma sieben Fuß breit sei.
Aber natürlich, sagte Rose begütigend.
Zweihundertvierzig Komma neun, um genau zu sein, sagte Ehrenberg. Doch müsse er zugeben, angesichts einer so alten Methode ein ziemlich gutes Ergebnis.
In der Stadt bekam Humboldt Salz, Brot und einen goldenen Schlüssel, wurde zum Ehrenbürger ernannt, hatte den Darbietungen eines Kinderchores zuzuhören und mußte an vierzehn offiziellen und einundzwanzig privaten Empfängen teilnehmen, bevor sie mit einem Wachtschiff die Wolga hinaufdurften. Bei Kasan bestand er darauf, eine Magnetmessung durchzuführen. Auf freiem Feld ließ er das eisenfreie Zelt aufstellen, bat um Ruhe, kroch hinein und befestigte den Kompaß an den vorgesehenen Aufhängungen. Er brauchte länger als gewohnt, weil seine Hände zitterten, auch hatten seine Augen vom Wind zu tränen angefangen. Zögernd pendelte die Nadel, beruhigte sich, verharrte für einige Minuten, bis sie wieder zu pendeln begann. Humboldt dachte an Gauß, der jetzt, ein Sechstel des Erdumkreises entfernt, das gleiche tat. Der arme Mann hatte nie etwas von der Welt gesehen. Humboldt lächelte melancholisch, plötzlich tat Gauß ihm leid. Rose pochte von draußen auf die Zeltplane und fragte, ob die Möglichkeit bestehe, die Sache schneller abzuwickeln.
Auf der Weiterreise kamen sie an einem Zug Strafgefangener Frauen vorbei, eskortiert von Lanzenreitern.
Humboldt wollte anhalten und mit ihnen sprechen.
Ausgeschlossen, sagte Rose.
Ganz und gar undenkbar, stimmte Ehrenberg zu. Er klopfte ans Dach, die Kutsche nahm Fahrt auf, Minuten später hatte ihre Staubwolke den Gefangenenzug ver-schluckt.
In Perm, es war schon Routine, machten sich Ehrenberg und Rose ans Steinesammeln, während Humboldt mit dem Gouverneur zu Abend aß. Der Gouverneur hatte vier Brüder, acht Söhne, fünf Töchter, siebenundzwanzig Enkel und neun Urenkel sowie eine unklare Anzahl von Cousins. Alle waren da und wollten Geschichten über das Land jenseits des Meeres hören. Er wisse nichts, sagte Humboldt, er könne sich kaum erinnern, er wolle sehr gern zu Bett.
Am nächsten Morgen gab er Anweisung, die Sammlung zu teilen: Man brauche zwei Exemplare von jeder Probe, welche getrennt transportiert werden müßten.
Aber man arbeite längst mit geteilten Sammlungen, sagte Rose.
Schon die ganze Zeit, sagte Ehrenberg.
Kein vernünftiger Forscher mache es anders, sagte Rose.
Jeder kenne schließlich Humboldts Schriften.
Sie erreichten Jekaterinenburg. Der Kaufmann, bei dem Humboldt untergebracht war, trug wie alle Männer hier einen Bart, einen langen Überrock und einen Leibgurt. Ais Humboldt spätabends vom Empfang beim Bürgermeister heimkam, wollte sein Gastgeber mit ihm trinken. Humboldt lehnte ab, der Mann begann zu schluchzen wie ein Kind, schlug sich an die Brust und rief in schlechtem Französisch, er sei elend, elend, elend und wolle sterben.
Nun ja, sagte Humboldt beklommen, aber nur ein Glas!
Vom Wodka wurde Humboldt so schlecht, daß er zwei Tage im Bett bleiben mußte. Aus Gründen, die keiner begriff, stellte die Regierung eine Kosakenwache vor das Haus, und zwei Offiziere waren nicht davon abzubringen, schnarchend in einer Ecke seines Zimmers zu übernachten.
Als er wieder aufstehen konnte, führten Ehrenberg, Rose und Wolodin ihn in ein Goldseifenwerk. Den Berg-hauptmann namens Ossipow beschäftigte die Frage, was man gegen das Grubenwasser tun könne. Er brachte Humboldt in einen überschwemmten Stollen: Das Wasser stand hüfthoch, es roch nach Schimmel. Mißmutig sah Humboldt auf seine durchnäßten Hosenbeine hinab.
Da müsse man besser pumpen!
Man habe nicht genug Geräte, sagte Ossipow kum-mervoll.
Dann, sagte Humboldt, brauche man eben mehr.
Ossipow fragte, wie man die bezahlen solle.
Weniger Überschwemmungen, sagte Humboldt langsam, und man könne mehr fördern.
Ossipow sah ihn fragend an.
Somit bezahlten die Pumpen sich selbst, nicht wahr?
Ossipow überlegte, dann packte er Humboldt und drückte ihn an seine Brust.
Auf der Weiterfahrt bekam Humboldt Fieber. Er hatte Halsschmerzen, und seine Nase lief ununterbrochen. Eine Erkältung, sagte er und wickelte sich fester in seine Wolldecke. Ob der Kutscher nicht langsamer fahren könne, er sehe gar nichts von den Tannenwäldern!
Leider, sagte Rose, sei das von russischen Kutschern nicht zu verlangen, so hätten sie fahren gelernt, anders nicht.
Sie hielten erst vor dem Magnetberg. Mitten in der Ebene von Wissokaja Gora erhob sich eine Erzmasse aus weißgelbem Ton, alle Kompasse verloren die Orientierung, und Humboldt machte sich an den Aufstieg. Wohl der Erkältung wegen fiel es ihm schwerer als früher; einige Male mußte er sich von Ehrenberg stützen lassen, und als er sich nach einem Stein bücken wollte, tat ihm der Rücken so weh, daß er Rose bat, das Sammeln zu übernehmen. Das war aber überflüssig, da der Vorstand des lokalen Eisenwerks schon auf dem Gipfel wartete, um ein Kästchen mit sorgfältig geordneten Erzproben zu überreichen. Humboldt bedankte sich heiser. Der Wind zerrte wütend an seinem Wollschal.
Also, sagte Rose, wieder hinunter?
Im Eisenwerk wurde ein kleiner Junge herbeigeführt.
Der heiße Pavel, sagte der Bergwerksvorstand, sei vierzehn und blöd. Aber er habe diesen Stein gefunden. Der Kleine öffnete eine schmutzige Hand.
Eindeutig ein Diamant, sagte Humboldt nach einge-hender Untersuchung.
Ungeheurer Jubel brach aus, die Minenaufseher schlugen einander auf die Schultern, Arbeiter tanzten, der Männerchor begann von neuem zu singen, mehrere der Kumpel gaben Pavel freundschaftliche, doch sehr feste Ohrfeigen.
Nicht übel, sagte Wolodin. Nur einige Wochen im Land und schon den ersten Diamanten Rußlands gefunden, da spüre man die Hand des Meisters.
Er habe ihn nicht gefunden, sagte Humboldt.
Wenn er ihm etwas raten dürfe, sagte Rose, es sei besser, diesen Satz nicht zu wiederholen.
Es gebe eine oberflächliche Wahrheit und eine tiefere, sagte Ehrenberg, gerade als Deutscher wisse man das.
Sei es denn zuviel verlangt, fragte Rose, den Leuten für einen Moment zu geben, was sie wollten?
Wenige Tage später holte sie ein völlig erschöpfter Reiter mit einem Dankschreiben des Zaren ein.
Humboldts Erkältung wurde nicht besser. Sie fuhren durch die mückenschwirrende Taiga. Der Himmel war sehr hoch, und die Sonne schien nicht mehr unterzuge-hen, so daß die Nacht zu einer vagen Erinnerung wurde.
Die Ferne mit ihren grasigen Mooren, niedrigen Bäumen und den Schlangenlinien der Bäche zerfloß in wei-
ßem Dunst. Manchmal, wenn Humboldt erschrocken aus sekundenlangem Schlaf auffuhr und feststellte, daß der Zeiger des Chronometers schon wieder eine Stunde übersprungen hatte, schien ihm der Himmel mit seinen Faserwölkchen und der unablässig brennenden Sonne in Segmente aufgeteilt und von Rissen durchzogen, die sich, bewegte er den Kopf, mit seinem Blickfeld verscho-ben.
Lauernd fragte Ehrenberg, ob noch eine Decke gefällig sei.
Er habe noch nie zwei Decken gebraucht, sagte Humboldt. Doch Ehrenberg hielt ihm ungerührt die Decke hin, und dann siegte die Schwäche über den Ärger, und er griff zu, wickelte sich fest in die weiche Baumwolle und fragte, vielleicht bloß, um sich gegen den Schlaf zu stemmen, wie weit es noch bis Tobolsk sei.
Sehr weit, sagte Rose.
Und auch nicht, sagte Ehrenberg. Das Land sei so unsinnig groß, daß Entfernungen keine Bedeutung hätten.
Distanzen lösten sich in abstrakte Mathematik auf.
Etwas an dieser Antwort kam Humboldt impertinent vor, doch er war zu müde, um darüber nachzudenken.
Ihm fiel ein, daß Gauß von einer absoluten Länge gesprochen hatte, einer Geraden, der nichts mehr hinzu-gefügt werden konnte und die sich, wiewohl endlich, so weit dehnte, daß jede mögliche Distanz nur ein Teil von ihr war. Für ein paar Sekunden, im Zwischenreich von Wachen und Schlaf, hatte er das Gefühl, daß diese Gerade etwas mit seinem Leben zu tun hatte und alles hell und deutlich wäre, wenn er nur begriffe, was. Die Antwort schien nahe. Er wollte an Gauß schreiben. Doch dann schlief er ein.
Gauß hatte errechnet, daß Humboldt noch drei bis fünf Jahre zu leben hatte. Seit kurzem beschäftigte er sich wieder mit Sterbestatistik. Es war ein Auftrag der staatlichen Assekuranzkasse, gut bezahlt, zudem mathematisch nicht uninteressant. Gerade hatte er die Lebenserwartungen alter Bekannter überschlagen. Wenn er eine Stunde lang die an der Sternwarte vorbeigehenden Menschen zählte, konnte er abschätzen, wie viele davon in einem Jahr, in drei Jahren, in zehn Jahren unter der Erde sein würden.
Das, sagte er, sollten die Astrologen nachmachen!
Man dürfe, antwortete Weber, die Horoskope nicht unterschätzen, eine vollkommene Wissenschaft werde auch sie einzusetzen verstehen, so wie man jetzt beginne, die galvanische Kraft zu nutzen. Außerdem ändere die Glockenkurve der Wahrscheinlichkeit nichts an der simplen Wahrheit, daß keiner ahne, wann er sterben werde; ein Würfel falle immer zum erstenmal.
Gauß bat ihn, keine Torheiten zu reden. Seine Frau Minna, denn sie sei kränklich, werde vor ihm sterben, dann seine Mutter, dann er selbst. Das sage die Statistik, so werde es eintreten. Er starrte noch eine Weile durch das Fernrohr auf die Spiegelskala über dem Empfänger, aber die Nadel schlug nicht aus, Weber antwortete nicht mehr. Wahrscheinlich waren die Impulse wieder unterwegs verlorengegangen.
So plauderten sie häufig. Weber saß drüben in der Stadtmitte im physikalischen Kabinett vor einer zweiten Spule mit einer ebensolchen Nadel. Mit Induktionsgerä-
ten sandten sie zu verabredeten Zeiten Signale hin und her. Etwas ähnliches hatte Gauß vor Jahren mit Eugen und den Heliotropen versucht, aber der Junge hatte sich das diadische Alphabet nicht merken können. Weber hielt das Ganze für eine einzigartige Erfindung, die der Professor nur bekanntmachen müsse, um reich und berühmt zu werden. Er sei schon berühmt, antwortete Gauß dann, und eigentlich auch ziemlich reich. Die Idee sei so naheliegend, daß er sie gern den Dummköpfen überlasse.
Da von Weber nichts mehr kam, stand Gauß auf, schob seine Samtkappe in den Nacken und begab sich auf einen Spaziergang. Der Himmel war überzogen von durchscheinendem Gewölk, es sah nach Regen aus.
Wie viele Stunden hatte er vor dieser Empfangsanlage auf ein Zeichen von ihr gewartet? Wenn Johanna dort draußen war, genauso wie Weber, nur weiter entfernt und anderswo, warum nutzte sie dann nicht die Gelegenheit? Wenn Tote sich von Mädchen im Nachthemd heran- und zurückholen ließen, weshalb verschmähten sie diese erstklassige Vorrichtung? Gauß blinzelte: Etwas mit seinen Augen stimmte nicht, das Firmament schien ihm von Rissen zerfurcht. Er spürte die ersten Regentropfen.
Vielleicht sprachen die Toten ja nicht mehr, weil sie in einer stärkeren Wirklichkeit waren, weil ihnen diese hier schon wie ein Traum und eine Halbheit, wie ein längst gelöstes Rätsel erschien, auf dessen Verstrickungen sie sich noch einmal würden einlassen müssen, wollten sie sich darin bewegen und äußern. Manche versuchten es. Die Klügeren verzichteten. Er setzte sich auf einen Stein, das Regenwasser rann ihm über den Kopf und die Schultern.
Der Tod würde kommen als eine Erkenntnis von Unwirklichkeit. Dann würde er begreifen, was Raum und Zeit waren, was die Natur einer Linie, was das Wesen der Zahl.
Vielleicht auch, warum er sich immer wieder wie eine nicht ganz gelungene Erfindung vorkam, wie die Kopie eines ungleich wirklicheren Menschen, von einem schwachen Erfinder in ein seltsam zweitklassiges Universum gestellt. Er blickte um sich. Etwas Blinkendes zog über den Himmel, auf gerader Linie, sehr hoch oben. Die Straße vor ihm kam ihm breiter vor, die Stadtmauer war nicht mehr zu sehen, und zwischen den Häusern erhoben sich spiegelnde Türme aus Glas. Metallene Kapseln schoben sich in Ameisenkolonnen die Straßen entlang, ein tiefes Brummen erfüllte die Luft, hing unter dem Himmel, schien sogar von der schwach vibrierenden Erde aufzustei-gen. Der Wind schmeckte säuerlich. Es roch verbrannt.
Da war auch etwas Unsichtbares, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte: ein elektrisches Schwingen, zu erkennen nur an einem schwachen Unwohlsein, einem Schwanken in der Realität selbst. Gauß beugte sich vor, und seine Bewegung hob alles auf; mit einem Schrek-kenslaut erwachte er. Durch und durch naß stand er auf und ging schnell zur Sternwarte zurück. Alt sein, das hieß auch, daß man an jedem Ort einnicken konnte.
Humboldt hatte in so vielen Kutschen gedöst, wat von so vielen Pferden gezogen worden und hatte so viele krautbewachsene Ebenen gesehen, die immer dieselbe Ebene, so viele Horizonte, die immer der gleiche Horizont waren, daß er sich selbst nicht mehr wirklich vorkam. Seine Begleiter trugen Masken gegen die Mücken-angriffe, ihn aber störten sie nicht, sie erinnerten ihn an seine Jugend und die Monate, in denen er sich am leben-digsten gefühlt hatte. Ihre Eskorte war vergrößert worden, fast hundert Soldaten ritten mit ihnen in solchem Tempo durch die Taiga, daß ans Sammeln und Messen nicht zu denken war. Nur einmal, im Gouvernement Tobolsk, hatte es Schwierigkeiten gegeben: In Ischim war Humboldt zum Mißfallen der Polizei mit polnischen Strafgefangenen ins Gespräch gekommen, dann hatte er sich davongeschlichen, einen Hügel bestiegen und sein Teleskop aufgebaut. Minuten später hatten ihn Soldaten umstellt. Was er da tue, weshalb er ein Rohr auf die Stadt richte? Seine Begleiter hatten ihn befreit, aber Rose hatte ihn vor allen Leuten zurechtgewiesen: Er habe bei der Eskorte zu bleiben, was seien denn das für Ideen!
Ihre Sammlungen wuchsen beständig. Überall warteten Forscher und übergaben ihnen sorgfältig beschriftete Stein- und Pflanzenproben. Ein bärtiger Universitäts-professor mit Glatze und runden Brillengläsern schenkte ihnen eine winzige Glasflasche mit kosmischem Äther, den er durch eine komplizierte Filteranlage von der Luft getrennt hatte. Das Fläschchen war so schwer, daß man es nur mit zwei Händen heben konnte, und sein Inhalt strahlte solche Dunkelheit aus, daß noch in einiger Entfernung die Dinge undeutlich wurden. Man müsse die Substanz vorsichtig lagern, sagte der Professor und putzte seine beschlagenen Gläser, sie sei leicht entflammbar. Was ihn betreffe, so habe er die Versuchsanordnung abgebaut, außer dem hier sei nichts mehr übrig, und er empfehle, es tief in der Erde zu vergraben. Auch betrachte man es besser nicht lange, das sei nicht gut fürs Gemüt.
Immer öfter hatten die Holzhütten runde Pagodendä-
cher, die Augen der Menschen schienen schmaler, in der Leere des Landes waren immer mehr Jurten kirgisischer Nomaden aufgeschlagen. Vor der Grenze trat ein salutierendes Kosakenregiment an, Fahnen flatterten, eine Trompete schmetterte. Einige Minuten fuhren sie durch bemoostes Niemandsland, dann begrüßte sie ein chinesischer Offizier. Humboldt hielr eine Ansprache übe/
Abend und Morgen, Orient, Okzident und die Menschheit als Ganzes. Dann sprach der Chinese. Dolmetscher gab es nicht.
Er habe einen Bruder, sagte Humboldt leise zu Ehrenberg, der sogar diese Sprache studiert habe.
Der Chinese hob lächelnd beide Hände. Humboldt schenkte ihm einen Ballen blauen Tuchs, der Chinese gab ihm eine Pergamentrolle. Humboldt öffnete sie, sah, daß sie beschrieben war, und starrte beunruhigt auf die Schriftzeichen.
Nun müßten sie aber zurück, flüsterte Ehrenberg, das hier strapaziere schon sehr das Wohlwollen des Zaren, ein Grenzübertritt komme überhaupt nicht in Frage.
Auf dem Rückweg kamen sie an einem kalmückischen Tempel vorbei. Hier gingen düstere Kulte vonstatten, sagte Wolodin, das müsse man sich einmal ansehen.
Ein Tempeldiener in gelber Robe und mit geschorenem Kopf führte sie ins Innere. Goldstatuen lächelten, es roch nach verbranntem Kraut. Ein kleiner, rotgelb ange-zogener Lama erwartete sie. Der Lama sprach chinesisch mit dem Tempeldiener, dieser in gebrochenem Russisch mit Wolodin.
Er habe schon gehört, daß ein Mann unterwegs sei, der alles wisse.
Humboldt protestierte: Er wisse nichts, aber er habe sein Leben damit hingebracht, diesen Umstand zu ändern, er habe Kenntnisse erworben und die Welt bereist, das sei alles.
Wolodin und der Tempeldiener übersetzten, der Lama lächelte. Er klopfte mit der Faust an seinen dicken Bauch.
Immer das hier!
Wie bitte, fragte Humboldt.
Hier drinnen stark und groß werden, sagte der Lama.
Genau das habe er immer erstrebt, sagte Humboldt.
Der Lama berührte mit seiner weichen Kinderhand Humboldts Brust. Aber da sei nichts. Wer das nicht verstehe, werde rastlos, laufe durch die Welt wie der Sturm, erschüttere alles und wirke nicht.
Er glaube nicht ans Nichts, sagte Humboldt mit belegter Stimme. Er glaube an Fülle und Reichtum der Natur.
Die Natur sei unerlöst, sagte der Lama, sie atme Verzweiflung.
Ratlos fragte Humboldt, ob Wolodin richtig übersetzt habe.
Zum Teufel, antwortete Wolodin, woher solle er das wissen, das alles ergebe keinen Sinn.
Der Lama fragte, ob Humboldt seinen Hund wecken könne.
Er bedauere, sagte Humboldt, aber er verstehe diese Metapher nicht.
Wolodin beriet sich mit dem Tempeldiener. Keine Metapher, sagte er dann, des Lamas Lieblingshündchen sei vorgestern gestorben, jemand sei irrtümlich daraufge-treten. Der Lama habe den Körper aufgehoben und bitte Humboldt, den er für sehr kenntnisreich halte, das Tier zurückzurufen.
Das könne er nicht, sagte Humboldt.
Wolodin und der Tempeldiener übersetzten, der Lama verbeugte sich. Er wisse, daß ein Eingeweihter das nur selten dürfe, aber er erbitte diese Gunst, der Hund liege ihm sehr am Herzen.
Er könne das wirklich nicht, wiederholte Humboldt, dem vom Kräuterdampf allmählich schwindlig wurde. Er könne nichts und niemanden aus dem Tod wecken!
Er verstehe, sagte der Lama, was der kluge Mann ihm damit sagen wolle.
Er wolle gar nichts sagen, rief Humboldt, er könne es einfach nicht!
Er verstehe, sagte der Lama, ob er dem klugen Mann wenigstens eine Tasse Tee anbieten dürfe?
Wolodin riet zur Vorsicht, man werfe in dieser Gegend ranzige Butter in den Tee. Wenn man nicht daran gewöhnt sei, werde einem furchtbar schlecht.
Humboldt lehnte dankend ab, er vertrage keinen Tee.
Er verstehe, sagte der Lama, auch diese Botschaft.
Es gebe keine Botschaft, rief Humboldt.
Er verstehe, sagte der Lama.
Unschlüssig verbeugte sich Humboldt, der Lama tat es ihm gleich, und sie machten sich wieder auf den Weg.
Vor Orenburg stieß eine weitere Hundertschaft Kosaken zu ihnen, um sie gegen Überfälle der Reiterhorden zu schützen. Sie waren nun über fünfzig Reisende in zwölf Kutschen, mit mehr als zweihundert Soldaten Eskorte.
Ständig fuhren sie mit höchster Geschwindigkeit, und trotz Humboldts Bitten gab es keinen Zwischenhalt.
Es sei zu gefährlich, sagte Rose.
Der Weg sei weit, sagte Ehrenberg.
Man habe viel vor, sagte Wolodin.
In Orenburg warteten drei kirgisische Sultane, die mit großem Gefolge angereist waren, um den Mann zu treffen, der alles wußte. Kleinlaut fragte Humboldt, ob er ein paar Hügel besteigen dürfe, das Gestein interessiere ihn sehr, auch habe er lange nicht den Luftdruck gemessen.
Später, sagte Ehrenberg, jetzt gebe es Spiele!
Am Abend vor der Weiterfahrt gelang es Humboldt, heimlich in seinem Schlafzimmer eine Magnetmessung durchzuführen. Am nächsten Morgen hatte er Rücken-schmerzen, von da an ging er ein wenig gebückt. Rück-sichtsvoll half Rose ihm in die Kutsche. Als sie an einem Gefangenenzug vorbeikamen, zwang er sich, nicht aus dem Fenster zu sehen.
Bei Astrachan betrat Humboldt das erste Dampfschiff seines Lebens. Zwei Motoren trieben stinkenden Rauch in die Luft, der Stahlkörper des Bootes wälzte sich schwer und widerwillig ins Meer. Die Gischt schien in der Morgendämmerung schwach zu leuchten. Auf einer winzigen Insel gingen sie an Land. Die Füße eingegrabener Taranteln ragten aus dem Sand. Wenn Humboldt sie berührte, zuck-ten sie, aber die Tiere flohen nicht. Mit fast glücklichem Ausdruck machte er einige Skizzen. Darüber werde er ein langes Kapitel in seine Reisebeschreibung aufnehmen.
Das glaube er weniger, sagte Rose. Mit der Beschreibung sei er betraut, damit brauche Humboldt sich nicht abzugeben.
Er wolle es aber selbst tun, sagte Humboldt.
Er dränge sich nicht vor, sagte Rose, aber er habe nun einmal den Auftrag des Königs.
Das Schiff legte ab, nach kurzem war die Insel außer Sicht. Dichter Nebel umgab sie, Wasser und Himmel waren nicht mehr zu unterscheiden. Nur dann und wann tauchte der bärtige Kopf eines Seehunds auf. Humboldt stand am Bug, starrte hinaus und reagierte zunächst nicht, als Rose sagte, es sei Zeit zum Zurückfahren.
Zurück wohin?
Zunächst ans Ufer, sagte Rose, dann nach Moskau, dann nach Berlin.
Also sei dies der Abschluß, sagte Humboldt, der Schei-telpunkt, die endgültige Wende? Weiter werde er nicht kommen?
Nicht in diesem Leben, sagte Rose.
Es stellte sich heraus, daß das Schiff vom Kurs abge-kommen war. Niemand hatte mit solchem Nebel gerechnet, der Kapitän führte keine Karten mit, keiner wußte, in welcher Richtung das Festland lag. Sie kreuzten ziellos, der Nebel schluckte jedes Geräusch bis auf das Stampfen der Motoren. Allmählich werde es gefährlich, sagte der Kapitän, der Treibstoff reiche nicht ewig, und wenn sie zu weit hinaus gerieten, könnte ihnen nicht einmal Gott helfen. Wolodin und der Kapitän umarmten einander, mehrere Professoren begannen zu trinken, weinerliche Hochstimmung breitete sich aus.
Rose ging zu Humboldt an den Bug. Man brauche jetzt die Hilfe des großen Navigators, ohne ihn würden sie sterben.
Und nie zurückkehren, fragte Humboldt.
Rose nickte.
Einfach verschwinden, sagte Humboldt, am Höhepunkt des Lebens aufs Kaspische Meer fahren und nie zurückkommen?
Ganz genau, sagte Rose.
Eins werden mit der Weite, endgültig verschwinden in Landschaften, von denen man als Kind geträumt habe, ein Bild betreten, davongehen und nie heimkehren?
Gewissermaßen, sagte Rose.
Dorthin. Humboldt zeigte nach links, wo das Grau etwas heller zu sein schien, durchzogen von weißlichen Schlieren.
Rose ging zum Kapitän und wies ihn in die entgegengesetzte Richtung. Eine halbe Stunde später erreichten sie die Küste.
In Moskau gab es den größten Ball, den sie bisher erlebt hatten. Humboldt erschien im blauen Frack, wurde hier- und dorthin geschoben, Offiziere salutierten vor ihm, Damen knicksten, Professoren verbeugten sich, dann wurde es still, und der Offizier Glinka trug ein Gedicht vor, das mit dem Brand Moskaus begann und mit einer Strophe über Baron Humboldt, den Pro-metheus der neuen Zeit, endete. Der Applaus dauerte über eine Viertelstunde. Als Humboldt, etwas heiser und mit zaghafter Stimme, vom Erdmagnetismus sprechen wollte, unterbrach ihn der Rektor der Universität, um ihm einen Zopf aus den Haaren Peters des Großen zu schenken. Gerede und Geschwätz, flüsterte Humboldt in Ehrenbergs Ohr, keine Wissenschaft. Er müsse Gauß unbedingt sagen, daß er jetzt besser verstehe.
Ich weiß, daß Sie verstehen, antwortete Gauß. Sie haben immer verstanden, armer Freund, mehr, als Sie wußten. Minna fragte, ob ihm nicht wohl sei. Er bat sie, ihn in Ruhe zu lassen, er habe laut gedacht. Er war in gereizter Stimmung, allein schon des lächelnden Chinesen wegen, der ihn die ganze Nacht angesehen hatte, so ein Benehmen war nicht einmal im Traum akzeptabel. Au-
ßerdem hatte er schon wieder eine Abhandlung über die astrale Geometrie des Raums zugeschickt bekommen, diesmal von niemand anderem als dem alten Martin Bartels. Also hat er mich doch nach all den Jahren überflü-
gelt, sagte er, und ihm war, als antwortete nicht Minna, sondern der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt Petersburg rasende Humboldt: Die Dinge sind, wie sie sind, und wenn wir sie erkennen, sind sie genauso, wie wenn es andere tun oder keiner. Wie meinen Sie das, fragte der Zar, der Humboldt gerade das Band des Sankt-Annen-Ordens hatte umhängen wollen, und hielt in der Bewegung inne. Hastig versicherte Humboldt, er habe nur gesagt, man dürfe die Leistungen eines Wissenschaftlers nicht überschätzen, der Forscher sei kein Schöpfer, er erfinde nichts, er gewinne kein Land, er ziehe keine Frucht, weder säe noch ernte er, und ihm folgten andere, die mehr, und wieder andere, die noch mehr wüßten, bis schließlich alles wieder versinke. Stirnrunzelnd legte der Zar das Band um seine Schultern, es wurde Vivat gerufen und Bravo, und Humboldt bemühte sich, nicht gebeugt zu stehen. Zuvor auf den Prunkstiegen waren ihm offene Knöpfe an seinem Frackhemd aufgefallen, und errötend hatte er Rose bitten müssen, sie zu schließen, seit neue-stem seien seine Finger so klamm. Nun verschwamm ihm der Goldsaal vor Augen, die Lüster strahlten, als käme ihr Licht von anderswo, alles klatschte, und ein dunkelhäutiger Dichter trug mit weicher Stimme ein Poem vor.
Humboldt hätte Gauß gern von dem Brief erzählt, der ihn nach über einem Jahr der Reise zerknittert und flek-kig in Petersburg erwartet hatte. Schwer und langsam, schrieb Bonpland darin, vergingen seine Tage, die klein gewordene Erde enthalte nur mehr ihn, sein Haus und das Feld darum, alles draußen gehöre der undurchsich-tigen Welt des Präsidenten an, er sei gefaßt, hoffe nichts mehr, erwarte das Schlimmste und habe sozusagen die Ruhe gefunden; Du fehlst mir, mein Alter. Ich habe nie jemand getroffen, der Pflanzen mochte wie Du. Humboldt zuckte zusammen, Rose hatte ihn am Oberarm be-rührt. Alle um die große Tafel sahen ihn an. Er stand auf, doch während seiner etwas konfusen Tischrede dachte er an Gauß. Dieser Bonpland, hätte ihm der Professor wohl geantwortet, hatte allerdings Pech, aber können wir beide uns beklagen? Kein Kannibale hat Sie gegessen, kein Ignorant mich totgeschlagen. Hat es nicht etwas Beschä-
mendes, wie leicht uns alles fiel? Und was jetzt geschieht, ist nur, was einmal geschehen mußte: Unser Erfinder hat genug von uns. Gauß legte die Pfeife weg, zog die Samtmütze über den Hinterkopf, steckte das russische Wörterbuch und den kleinen Puschkin-Band ein und machte sich auf, vor dem Abendessen spazierenzugehen.
Sein Rücken schmerzte, sein Bauch ebenso, und in seinen Ohren rauschte es. Dennoch war seine Gesundheit gar nicht übel. Andere waren gestorben, er war noch hier.
Immer noch konnte er denken, zwar nichts allzu Kompliziertes mehr, aber für das Nötigste reichte es. Über ihm schwankten die Baumwipfel, in der Ferne ragte die Kuppel seiner Sternwarte auf, später in der Nacht würde er ans Fernrohr gehen und, mehr aus Gewohnheit, als um noch etwas zu finden, das Band der Milchstraße in die Richtung der fernen Spiralnebel verfolgen. Er dachte an Humboldt. Gern hätte er ihm eine gute Rückkehr gewünscht, aber am Ende kam man nie gut zurück, sondern jedesmal ein wenig schwächer, und zuletzt gar nicht mehr. Vielleicht gab es ihn ja doch, den Hchtlöschenden Äther. Aber natürlich gebe es ihn, dachte Humboldt in seiner Kutsche, er habe ihn ja dabei, in einem der Fuhrwerke, nur erinnere er sich nicht mehr, wo, es seien Hunderte Kisten, und er habe den Überblick verloren.
Plötzlich wandte er sich Ehrenberg zu. Tatsachen! Aha, sagte Ehrenberg. Tatsachen, wiederholte Humboldt, die verblieben noch, er werde sie alle aufschreiben, ein un-geheures Werk voller Tatsachen, jede Tatsache der Welt, enthalten in einem einzigen Buch, alle Tatsachen und nur sie, der ganze Kosmos noch einmal, allerdings ent-kleidet von Irrtum, Phantasie, Traum und Nebel; Fakten und Zahlen, sagte er mit unsicherer Stimme, die könnten einen vielleicht retten. Bedenke er zum Beispiel, daß sie dreiundzwanzig Wochen unterwegs gewesen seien, vierzehntausendfünfhundert Werst zurückgelegt und sechshundertachtundfünfzig Poststationen aufgesucht hätten und, er zögerte, zwölftausendzweihundertvier-undzwanzig Pferde benützt, so ordne sich die Wirrnis zur Begreiflichkeit, und man fasse Mut. Aber während die ersten Vororte Berlins vorbeiflogen und Humboldt sich vorstellte, wie Gauß eben jetzt durch sein Teleskop auf Himmelskörper sah, deren Bahnen er in einfache Formeln fassen konnte, hätte er auf einmal nicht mehr sagen können, wer von ihnen weit herumgekommen war und wer immer zu Hause geblieben.
Der
Baum
Als Eugen die Küste verschwinden sah, zündete er sich die erste Pfeife seines Lebens an. Gut schmeckte sie nicht, aber wahrscheinlich konnte man sich daran gewöhnen. Er trug jetzt einen Bart und kam sich zum erstenmal nicht wie ein Kind vor.
Der Morgen nach seiner Verhaftung schien lange zurückzuliegen. Der schnurrbärtige Gendarmeriekommandant war in seine Zelle gestürmt und hatte ihm zwei Ohrfeigen von solcher Wucht verpaßt, daß sie ihm den Kiefer ausgerenkt hatten. Wenig später hatte das Verhör begonnen: Ein merkwürdig höflicher Mann im Gehrock fragte ihn traurig, warum er das getan habe. Mit dem Widerstand bei der Inhaftierung habe er sich in Teufels Küche gebracht, sei denn das nötig gewesen?
Aber er habe sich nicht gewehrt, rief Eugen.
Der Geheimpolizist fragte, ob er Preußens Polizei der Lüge bezichtigen wolle.
Eugen bat ihn, Kontakt mit seinem Vater aufzuneh-men.
Seufzend fragte der Geheimpolizist, ob er wirklich glaube, das habe man nicht längst getan. Er beugte sich vor, faßte Eugen vorsichtig an beiden Ohren und schlug seinen Kopf mit aller Kraft auf die Tischplatte.
Als Eugen zu sich kam, lag er in einem sauber bezoge-nen Bett am Rand eines Krankenhausschlafsaals mit ver-gitterten Fenstern. Dies sei keiner der schlimmen Orte, sagte eine ältliche Schwester, hierher würden nur Adelige verlegt oder Leute, für die sich jemand verwendet habe, er solle froh sein.
Gegen Abend tauchte von neuem der höfliche Geheimpolizist auf. Alles sei geregelt, Eugen werde das Land verlassen. Man rege eine Reise nach Übersee an.
Er wisse nicht recht, sagte Eugen, das sei schon sehr weit.
Eigentlich sei das kein Vorschlag, antwortete der Geheimpolizist, die Idee stehe nicht zur Diskussion, und wüßte Eugen, welchem Schicksal er entgehe, er würde weinen vor Glück.
Am Abend kam sein Vater. Er setzte sich auf den Bettrand und fragte, wie er das seiner Mutter habe antun können.
Er habe das alles nicht vorgehabt, sagte Eugen weinend, er habe von nichts gewußt, er wolle nicht weg.
Geschehen sei geschehen, sagte sein Vater, klopfte ihm geistesabwesend auf die Schulter und schob etwas Geld unter sein Kopfkissen. Der Baron habe alles geregelt, er sei ein feiner Mann, wenn auch etwas verrückt.
Eugen fragte, wovon er leben solle.
Sein Vater zuckte die Schultern. Ob er schon einmal über die Berechnung von Feldern nachgedacht habe?
Feldern, wieso?
Kugelfunktionen, sagte sein Vater nachdenklich, so müsse es zu machen sein. Er fuhr zusammen und sah Eugen an, als erwache er aus einem Traum. Wie auch immer, er werde es schon schaffen! Dann zog er Eugen so fest an sich, daß seine Schulter gegen dessen Kiefer prallte; für ein paar Sekunden war Eugen betäubt vor Schmerz. Als er wieder klar denken konnte, war sein Vater gegangen. Erst jetzt begriff er, daß er ihn nie mehr sehen würde.
Drei Tage später erreichte er den Hafen. Beim Warten auf die Fähre nach England kam er mit drei Handels-reisenden ins Gespräch, gutmütigen Leuten, nicht sehr intelligent, die für neugegründete Bankhäuser arbeiteten und ihn zu einem Kartenspiel aufforderten. Er gewann.
Zunächst wenig, dann immer mehr, schließlich so viel, daß sie ihn für einen Betrüger hielten und er schnell gehen mußte. Dabei hatte er nichts anderes getan, als sich die Karten nach Giordano Brunos Methode zu merken, die sein Vater ihm vor Jahren beigebracht hatte: Man mußte jede Karte im Kopf in eine Menschen- oder Tier-figur verwandeln, je alberner desto besser, so daß sie sich zu einer Geschichte zusammenfügten. Wenn man es ge-
übt hatte, konnte man ein Spiel mit zweiunddreißig Blatt im Gedächtnis behalten. Damals war ihm das nie gelungen, und sein Vater hatte schimpfend aufgegeben. Jetzt aber ging es ohne Schwierigkeiten.
In einer anderen Gastwirtschaft trank er zuviel. Die Luft um ihn schien zu flimmern, und er spürte sanfte Müdigkeit in allen Gliedern. Der Wunsch nach Schlaf war so stark, daß er fast die schöne junge Frau übersehen hätte, die plötzlich neben ihm saß. So jung, das erkannte er dann aus der Nähe, war sie zwar gar nicht, und auch nicht ganz so hübsch, doch als er log und sagte, er habe kein Geld, fragte sie ihn beleidigt, ob er sie für so eine halte, und schon um ihr zu zeigen, daß er es nicht tat, nahm er sie auf sein Herbergszimmer mit. Auf dem Weg dorthin dachte er darüber nach, ob es sich gehörte, ihr zu sagen, daß sie seine erste Frau war und er kaum wußte, was er zu tun hatte. Doch dann war es sehr einfach, und als er im Halbdunkel ihre Hände auf seinen Wangen spürte, war er so glücklich und müde, daß er fast eingeschlafen wäre, hätte sie es nicht verstanden, ihn wachzuhalten, und es war gar nicht mehr wichtig, wie jung sie war oder wie sie aussah, und als ihm am nächsten Morgen klar wurde, daß sie seinen ganzen Gewinn mitgenommen hatte, brachte er es nicht fertig, sich zu ärgern. Wie leicht alles wurde, wenn man aufbrach.
Dann war er nach England gekommen: fremde Menschen, eine Sprache aus seltsam klingenden Lauten, fremde Ortsschilder und merkwürdiges Essen. Angeblich lebten Millionen in London, aber er konnte es sich nicht vorstellen; eine Million Menschen, das ergab keinen Sinn.
In seinem Gasthof erreichte ihn ein Brief Humboldts, der ihm empfahl, eines der neuartigen Dampfschiffe zu nehmen. Er schloß Ratschläge über den Umgang mit wilden Menschen an: Man müsse freundlich und interessiert wirken und dürfe weder seine Überlegenheit leugnen, noch es unterlassen, Belehrungen zu äußern, das Wohl-gefallen an der Unwissenheit anderer sei eine Form der Herablassung. Eugen mußte lachen. Als ob er sich unter Wilden ansiedeln würde! Von seinem Vater kein Wort.
Nachts konnte er vor Heimweh und Einsamkeit nicht schlafen. Er nahm das erste Dampfschiff, auf dem eine Passage frei war.
Es gab nur wenige Reisende an Bord, Dampfer fuhren erst seit kutzem über den Ozean, und den meisten war es noch zu neu. Der Himmel war niedrig und bewölkt, Eugens Pfeife ging aus, er wollte sie wieder anzünden, aber der Wind war zu stark. Der Kapitän, der erfahren hatte, daß Eugen etwas von Mathematik verstand, lud ihn in die Steuerkabine ein.
Ob er sich auch für Navigation interessiere?
Nicht im geringsten, antwortete Eugen.
Früher, sagte der Kapitän, wäre so starke Bewölkung ein Problem gewesen, aber heute navigiere man ohne Sterne, man habe jetzt genaue Uhren. Mit einem Harrison-Chronometer komme jeder Laie um die Erdkugel.
Also sei, fragte Eugen, die Zeit det großen Navigatoren vorüber? Kein Blight mehr, kein Humboldt?
Der Kapitän überlegte. Eugen wunderte sich, warum die Leute immer so lange brauchten, um zu antworten. Es war doch keine schwere Frage! Sie sei vorbei, antwortete der Kapitän schließlich, und werde nie wiederkehren.
In der Nacht, als Eugen mehr der Aufregung als des Motorenlärms und außerdem des Schnarchens seines irischen Kabinengenossen wegen nicht schlafen konnte, setzte ein veritabler Sturm ein: Wellen schlugen mit un-geheurer Kraft gegen den Stahlrumpf, die Motoren heul-ten, und als Eugen an Deck taumelte, traf ihn die Gischt mit solcher Wucht, daß er fast über Bord gegangen wäre.
Triefend naß flüchtete er sich in die Kabine zurück. Der Ire unterbrach sein Gebet.
Er habe eine große Familie, sagte er in dürftigem Französisch, er sei für sie verantwortlich, er dürfe nicht sterben. Sein Vater sei hartherzig gewesen und habe nicht lieben können, seine Mutter sei früh gestorben, nun hole Gott auch ihn.
Seine Mutter lebe noch, sagte Eugen, und sein Vater habe vieles geliebt, bloß nicht ihn. Und er glaube nicht, daß Gott ihn schon bei sich haben wolle.
Am nächsten Morgen war der Ozean ruhig wie ein See. Der Kapitän beugte sich murmelnd über seine Karten, blickte durch den Sextanten und konsultierte die Harrison-Uhr. Sie seien weitab vom Kurs, nun müßten sie neuen Brennstoff aufladen.
Darum legten sie in Teneriffa an. Das Licht war glei-
ßend hell, ein Papagei beobachtete sie neugierig vom Bal-kon eines gerade erst errichteten Zollhauses. Eugen ging an Land. Männer schrien Befehle, Kisten wurden verladen, spärlich bekleidete Frauen trippelten mit zierlichen Schritten auf und ab. Ein Bettler bat um Almosen, aber Eugen hatte nichts mehr. Ein Käfig öffnete sich, und eine Horde schreiender kleiner Affen stob wie eine Explosion in alle Richtungen davon. Eugen ließ den Hafen hinter sich und ging auf den Umriß des Kegelberges zu. Er fragte sich, wie es wäre, auf dem Gipfel zu sein. Man müßte weit sehen. Die Luft wäre sehr klar.
Am Wegrand war ein Gedenkstein. Ein Relief zeigte den Berg und daneben einen Mann mit Schal, Gehrock und Zylinder. Die Aufschrift verstand Eugen, mit Ausnahme des Namens, nicht. Er setzte sich auf einen Felsbrocken, blies Rauchwölkchen in die Luft und betrachtete das Bild auf dem Stein. Ein Einheimischer mit Poncho und Wollmütze blieb stehen, zeigte darauf, rief etwas auf Spanisch, zeigte auf den Boden, in die Höhe, wieder auf den Boden. Ein Tausendfüßler mit ungewohnt langen Fühlern kletterte Eugens Hosenbein hinauf. Er blickte sich um. So viele neue Pflanzen. Er fragte sich, wie sie alle heißen mochten. Andererseits – wen interessierte es!
Es waren bloß Namen.
Er kam zu einem ummauerten Garten, dessen Pforte offen stand. Orchideen klammerten sich an Baumstämme, das Zwitschern Hunderter Vögel durchdrang die Luft. In der Nähe der offenbar neu gebauten Mauer stand ein sehr dicker Baum. Seine Rinde war narbig und rauh, weit oben fächerte sich der Stamm in einen Busch von Ästen auf. Zögernd trat Eugen in seinen Schatten, lehnte sich an den Stamm und schloß die Augen. Als er sie wieder Öffnete, stand ein Mann mit einer Harke vor ihm und begann zu schimpfen. Eugen lächelte be-schwichtigend. Der Baum sei wohl sehr alt? Der Gärtner stampfte mit dem Fuß auf den Boden und zeigte auf den Ausgang. Eugen bat um Entschuldigung, er habe ausgeruht, er habe für einen Moment geglaubt, ein anderer zu sein oder niemand, es sei ein solch angenehmer Ort. Der Gärtner hob drohend seine Harke, Eugen ging schnell davon.
Der Dampfer legte früh am Morgen ab, nach wenigen Stunden waren die Inseln außer Sichtweite. Tagelang lag der Ozean so ruhig da, daß es Eugen schien, sie bewegten sich nicht. Aber immer wieder zogen sie an Segelschiffen mit geblähten Takelagen, zweimal an anderen Dampfern vorbei. In einer Nacht glaubte Eugen ein Flackern in der Ferne zu sehen, aber der Kapitän riet ihm, nicht darauf zu achten, das Meer schicke Trugbilder, manchmal scheine es zu träumen wie ein Mensch.
Dann kamen stärkere Wellen, ein zerzauster Vogel tauchte aus dem Nebel auf, schrie mißlaunig und verschwand wieder. Der Ire fragte Eugen, ob sie sich zusammentun wollten, ein Geschäft aufmachen, eine kleine Firma.
Warum nicht, sagte Eugen.
Er habe auch eine Schwester, sagte der Ire, sie sei un-versorgt, schön sei sie nicht, aber sie könne kochen.
Kochen, sagte Eugen, gut.
Er stopfte den letzten Tabak in seine Pfeife, ging zum Bug und stand dort so lange mit vom Wind tränenden Augen, bis etwas sich im Abenddunst abzeichnete, durchscheinend zunächst und noch nicht ganz wirklich, aber dann immer deutlicher, und der Kapitän lachend antwortete, nein, diesmal sei es keine Chimäre und auch kein Wetterleuchten, das sei Amerika.
Zentaur 2006-02-27