Zweite Geschichte Der eigene Kreis

Prolog

Er hieß Maxim.

Kein ausgesprochen seltener Name, aber auch kein Allerweltsname wie Sergej, Andrej oder Dima. Wohlklingend. Ein gut russischer Name, auch wenn seine Wurzeln bis zu den Griechen, Warägern und Skythen zurückreichten.

Sein Äußeres stellte ihn ebenfalls zufrieden. Nicht die geleckte Schönheit der Schauspieler aus irgendeiner Serie, aber auch kein Durchschnitt, kein Niemandsgesicht. Ein schöner Mann, den man in der Menge ausmachte. Und auch hier: athletisch, aber kein Muskelprotz, keine hervortretenden Adern, kein Fanatismus, der ihn jeden Tag ins Sportstudio trieb.

Von Beruf Wirtschaftsprüfer in einer großen ausländischen Firma, mit einem Einkommen, das für alle Extravaganzen reichte, ohne dass er sich um Schutzgelderpresser Sorgen machen musste.

Als ob sein Schutzengel ein für alle Mal beschlossen hätte. -»Dir soll es ein bisschen besser als den anderen gehen.«Ein bisschen nur, doch besser.

Das Wichtigste aber war, dass sich Maxim damit völlig zufrieden gab. Karriere machen, einem Luxusschlitten hinterherjagen, nach Einladungen für die Empfänge der High Society fiebern oder unbedingt eine riesige Wohnung in Beschlag nehmen - wozu? Das Leben an sich war schön - ganz ohne diese Güter, die man irgendwann mal erlangt. In diesem Sinne bedeutete das Leben das genaue Gegenteil vom Geld, das an sich nichts war.

Natürlich dachte Maxim nie so direkt über diese Dinge nach. Eine der Besonderheiten von Menschen, denen es gelungen ist, ihren Platz im Leben zu finden, besteht darin, dass sie das für völlig normal halten. Alles kommt so, wie es kommen muss. Und wenn jemand nicht das bekommt, was er möchte, ist es einzig und allein seine Schuld. Dann ist er faul und dumm gewesen. Oder hatte überzogene Ansprüche.

Maxim gefiel der Ausdruck»überzogene Ansprüche«ungemein. Er rückte alles an den rechten Ort. Erklärte beispielsweise, warum seine kluge und schöne Schwester mit einem Trinker als Mann in Tambow dahinvegetierte. Musste sie sich unbedingt etwas Besseres und Aussichtsreicheres suchen? Na, das hatte sie ja gefunden. Oder sein alter Schulfreund, der bereits den zweiten Monat mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus lag. Hatte der nicht sein Geschäft ausbauen wollen? Eben. Er konnte von Glück sagen, dass er mit dem Leben davongekommen war. Dass sich die Konkurrenten auf dem seit langem aufgeteilten Markt für Edelmetalle als Menschen mit guten Manieren herausgestellt hatten…

Und nur in einem Fall wandte Maxim den Ausdruck der»überzogenen Ansprüche«auf sich selbst an. Doch das war ein derart seltsamer und komplizierter Aspekt - über den er nicht einmal nachdenken wollte. Es war leichter, nicht darüber nachzudenken, leichter, sich mit diesem merkwürdigen Drang abzufinden, der ihn ab und zu im Frühling befiel, manchmal auch im Herbst und in seltenen Ausnahmen auch im Hochsommer, wenn eine unerträgliche Hitze herabschlug, die jede Vernunft, jede Wachsamkeit, jeden leichten Zweifel an der eigenen psychischen Gesundheit im Kopf wegätzte. Dabei hielt Maxim sich keineswegs für schizophren. Er hatte etliche Bücher gelesen und erfahrene Ärzte aufgesucht - denen gegenüber er natürlich nicht ins Detail gegangen war.

Nein, er war normal. Offensichtlich gab es in der Tat etwas, wovor der gesunde Menschenverstand passen musste, was sich mit den üblichen menschlichen Normen nicht fassen lässt. Überzogene Ansprüche - wie unschön. Doch waren sie das wirklich: überzogen?

Der Motor lief nicht, während Maxim im Auto saß, in seinem sauberen, gepflegten Toyota, nicht das teuerste und schickste Modell, aber weit besser als die meisten Wagen auf Moskaus Straßen. Im morgendlichen Halbdunkel konnte man ihn selbst aus einer Entfernung von nur wenigen Schritten nicht hinterm Steuer ausmachen. Die ganze Nacht hatte er so zugebracht, dem leisen Knacken des kalt gewordenen Motors lauschend, war halb erfroren, hatte sich aber dennoch nicht erlaubt, die Standheizung einzuschalten. Wie in solchen Fällen üblich, wollte er nicht schlafen. Rauchen auch nicht. Nichts wollte er, er genoss es einfach, so dazusitzen, bewegungslos, ein Schatten in einem am Straßenrand geparkten Auto, und zu warten. Das Einzige, was ihn ärgerte, war, dass seine Frau schon wieder dachte, er verbringe die Nacht bei einer Geliebten. Doch wie sollte er ihr beweisen, dass er keine Geliebte hatte, keine Dauerfreundin, und dass sämtliche Seitensprünge sich auf die üblichen Affären im Urlaub, Flirts auf der Arbeit und ein paar Nutten während einer Geschäftsreise beschränkten - Letztere noch nicht mal vom Familienbudget bezahlt, sondern von Kunden offeriert. Da konnte man ja nicht ablehnen, wollte man niemanden beleidigen. Oder für einen Schwulen gehalten werden, sodass man beim nächsten Mal Knaben vorgesetzt bekam…

Die grün leuchtenden Ziffern der Uhr sprangen um: fünf Uhr morgens. Bald würden die Hausmeister hervorgekrochen kommen, um sich an die Arbeit zu machen. Der Bezirk war alt, renommiert, hier achtete man auf Sauberkeit. Wie schön, dass es weder regnete noch schneite, der Winter hatte ein Ende, verreckt war das Scheusal und hatte dem Frühling Platz gemacht mit all seinen Problemen und überzogenen Ansprüchen…

Eine Haustür knallte. Eine junge Frau trat auf die Straße, blieb kurz stehen, rückte den Riemen der Tasche auf der Schulter zurecht, alles etwa zehn Meter vom Auto entfernt. Diese blöden Häuser ohne Höfe, hier arbeitete man nicht gern, hier lebte man bestimmt auch nicht gern: Was hatte man denn von all dem Renommée, wenn die Rohre verfaulten, die meterhohen Wände vor Schimmel starrten und vermutlich Gespenster umgingen.

Maxim lächelte leicht und stieg aus dem Auto. Sein Körper gehorchte ihm einwandfrei, die Muskeln waren über Nacht nicht eingeschlafen, sondern schienen sogar noch Kraft gesammelt zu haben. Ein gutes Zeichen.

Dennoch, interessieren würde es ihn schon einmal: Ob es eigentlich Gespenster gibt?

»Galina!«, rief er.

Die Frau drehte sich zu ihm um. Auch das war ein sicheres Anzeichen, sonst wäre sie losgerannt, denn ein Mann, der dich in aller Herrgottsfrühe vor deinem Haus abpasst, ist doch verdächtig und gefährlich.

»Ich kenne Sie nicht«, sagte sie. Ruhig, neugierig.

»Stimmt«, bestätigte Maxim.»Dafür kenne ich Sie.«

»Wer sind Sie?«

»Der Richtherr!«

Diese Form gefiel ihm, diese archaische, gespreizte, feierliche Form. Richtherr! Derjenige, der das Recht hatte zu richten.

»Und über wen wollen Sie richten?«

»Über Sie, Galina.«Maxim war konzentriert und sachlich. Langsam wurde ihm dunkel vor Augen - auch das ein sicheres Anzeichen.

»Ach ja?«Als sie ihn mit einem raschen Blick musterte, bemerkte Maxim in den Pupillen ein gelbliches Feuer.»Aber ob Sie es schaffen werden?«

»Werd ich«, erwiderte Maxim und riss den Arm hoch. Der Dolch lag bereits in der Hand, eine schmale dünne Waffe aus Holz, das einst hell gewesen, doch in den letzten drei Jahren nachgedunkelt war, durchtränkt…

Die Frau gab keinen Laut von sich, als die Holzschneide unter ihrem Herz eindrang.

Wie stets verspürte Maxim einen Moment der Furcht, eine kurze und sengende Welle des Schreckens - ob er nicht doch einen Fehler begangen hatte? Trotz allem?

Mit der linken Hand berührte er das Kreuz, das schlichte Holzkreuz, das immer auf seiner Brust ruhte. So stand er da, in der einen Hand den Holzdolch, die andere fest um das Kreuz geballt, stand da, bis die Frau sich zu verändern begann…

Es ging schnell. Immer ging es schnell: die Verwandlung in ein Tier und zurück in einen Menschen. Für ein paar Sekunden lag ein Tier auf dem Pflaster, ein

schwarzer Panther mit erstarrtem Blick und gebleckten Reißzähnen, ein Opfer der Jagd, gewandet in ein Kostüm von strengem Schnitt, mit einer Strumpfhose, die kleinen Füße beschuht. Dann lief der Prozess rückwärts, als schlage das Pendel zum letzten Mal.

Maxim wunderte sich weniger über diese rasche und in der Regel verspätet einsetzende Transformation als vielmehr darüber, dass die tote Frau keine Wunde zeigte. Der kurze Moment der Verwandlung hatte sie gereinigt, geheilt. Nur ein Schnitt in der Bluse und im Jackett war geblieben.

»Gelobt seist du, Herr«, flüsterte Maxim, während er auf die tote Tierfrau sah.»Gelobt seist du, Herr.«

Er hatte nichts gegen die Rolle einzuwenden, die ihm in diesem Leben zugedacht war.

Dennoch lastete sie schwer auf ihm, der er keine überzogenen Ansprüche hatte.

Eins

An diesem Morgen merkte ich, dass der Frühling wirklich eingezogen war.

Noch am Abend hatte ein ganz anderer Himmel über der Stadt gehangen, waren Wolken über Moskau hinweggezogen, hatte es nach feuchtem modrigen Wind und ungefallenem Schnee gerochen. Man wollte sich tiefer in den Sessel hineinkuscheln, eine Videokassette mit irgendeinem grellen und stumpfsinnigen - also amerikanischen - Film einlegen, Kognak trinken und dabei einschlafen.

Am Morgen hatte sich alles geändert.

Mit der Geste eines erfahrenen Zauberkünstlers war ein hellblaues Tuch über die Stadt geworfen, durch Straßen und Plätze gezogen worden, als habe man damit die letzten Spuren des Winters weggewischt. Und selbst die Klumpen braunen Schnees, die sich noch in den Ecken und Rinnsteinen fanden, wirkten nicht, als habe der einziehende Frühling etwas übersehen, sondern wie ein unverzichtbares Element des Interieurs. Wie eine Erinnerung…

Lächelnd ging ich zur Metro.

Manchmal ist es sehr schön, ein Mensch zu sein. Bereits seit einer Woche führte ich jetzt dieses Leben: ging zur Arbeit, blieb aber immer im ersten Stock, kämpfte mit dem Server, der urplötzlich eine Reihe merkwürdiger Angewohnheiten an den Tag legte, installierte für die Mädchen aus der Buchhaltung neue Programme, von deren Notwendigkeit weder sie noch ich überzeugt waren. Abends ging ich ins Theater, zum Fußball, in kleine Bars oder Restaurants. Egal wohin, Hauptsache, es war laut und voller Menschen. Ein Mensch in der Menge zu sein ist noch viel interessanter, als einfach ein Mensch zu sein.

Im Büro der Nachtwache - untergebracht in einem alten dreistöckigen Gebäude, das wir bei unserer eigenen Tochterfirma angemietet hatten - fand man natürlich weit und breit keinen Menschen. Sogar die drei alten Putzfrauen waren Andere. Selbst die dreisten jungen Wachleute am Eingang, die kleine Banditen und Handelsreisende abschrecken sollten, verfügten über ein gewisses magisches Potenzial. Sogar der Klempner - ein Säufer, wie jeder anständige Klempner in Moskau - war ein Magier… und wäre gar kein schlechter Magier gewesen, wenn er nicht dem Alkohol verfallen wäre.

Wie allenthalben wirkten die beiden untersten Stockwerke absolut unauffällig. Bis hierhin durfte sich die Steuerpolizei vorwagen, aber auch unsere Geschäftspartner aus der Menschenwelt oder unsere Paten. Die Paten ihrerseits steuerte zwar der Chef persönlich - doch das ging das gemeine Fußvolk ja wohl kaum etwas an, oder?

Auch die Gespräche, die hier geführt wurden, waren ganz alltäglich. Politik, Steuern, Einkäufe, das Wetter, Liebesaffären von anderen und die eigenen amourösen Abenteuer. Die Frauen hechelten die Männer durch, wir blieben ihnen nichts schuldig. Man fing ein Techtelmechtel an, spann Intrigen, um am Stuhl der direkten Vorgesetzten zu sägen, und erörterte die Aussichten auf eine Prämie.

Bis nach Sokol brauchte ich eine halbe Stunde. Ich verließ die Metro. Hier draußen war es laut, die Luft vom Gestank der Autoabgase geschwängert. Und

trotzdem - es war Frühling.

Unser Büro liegt nicht im miesesten Bezirk Moskaus. Überhaupt nicht - wenn man ihn nicht gerade mit dem Sitz der Tagwache vergleicht. Doch wie man es auch dreht und wendet, der Kreml ist nichts für uns: Allzu deutlich sind die Spuren, die die Vergangenheit dem Roten Platz und den alten Ziegelmauern aufgedrückt hat. Vielleicht verschwinden sie irgendwann einmal. Doch bislang sieht es nicht danach aus… leider.

Von der Metro ging ich zu Fuß, denn ich hatte es nicht weit. Um mich herum nur fröhliche Gesichter, von Sonne und Frühling erwärmt. Dafür liebe ich diese Jahreszeit: Sie mindert das Gefühl der schwermütigen Ohnmacht. Und man wird weniger in Versuchung geführt…

Einer der Wachleute rauchte vorm Eingang. Er nickte mir freundlich zu, eine genaue Kontrolle gehörte nicht zu seinen Aufgaben. Von mir hingegen hing ab, ob der Computer in ihrer Kammer einen Zugang zum Internet kriegte und ein paar aktuelle Spiele installiert wurden oder ob man über ihn nur an interne Information und die Dossiers über die Mitarbeiter kam.

»Du bist spät dran, Anton«, bemerkte er leichthin.

Mit zweifelndem Blick sah ich auf die Uhr.

»Der Chef hat alle in den Konferenzraum beordert, sie suchen dich schon.«

Das war merkwürdig, da ich normalerweise nicht zu der morgendlichen Besprechung hinzugebeten wurde. Ob etwas mit dem Betriebssystem passiert war? Wohl kaum, denn dann hätte man mich aus dem Bett geklingelt und all das, es wäre nicht das erste Mal gewesen.

Ich nickte und legte einen Zahn zu.

Im Haus gibt es zwar einen Fahrstuhl, doch der ist uralt, sodass ich es vorzog, in den dritten Stock zu sprinten. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock gab es einen weiteren Posten, der schon wichtiger war. Garik hatte Dienst. Als ich mich näherte, kniff er die Augen zusammen und sah durchs Zwielicht, um meine Aura zu scannen und alle die Zeichen zu überprüfen, die wir Wächter am Körper tragen. Erst danach sagte er freundlich:»Beeil dich.«

Die Tür zum Konferenzraum stand einen Spalt auf. Ich spähte hinein: Dreißig Mitarbeiter hatten sich versammelt, vor allem aus der operativen und der analytischen Abteilung. Der Chef ging vor einer Karte von Moskau auf und ab und nickte, während Witali Markowitsch, sein Stellvertreter für den kommerziellen Bereich, ein sehr schwacher Magier, dafür aber der geborene Geschäftsmann, sagte:»Auf diese Weise decken wir die laufenden Kosten in vollem Umfang ab, sodass keinerlei Notwendigkeit besteht, auf… äh… besondere Formen finanzieller Transaktionen zurückzugreifen. Wenn die Versammlung meine Vorschläge unterstützt, können wir die Besoldung unserer Mitarbeiter, in erster Linie selbstverständlich von denen aus der operativen Abteilung, geringfügig anheben. Auch die Zahlungen bei zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit sowie die Renten für die Angehörigen Verstorbener sollten… äh… leicht erhöht werden. Wir könnten uns das leisten…«

Schon komisch, dass Magier, die in der Lage sind, Blei in Gold, Kohle in Diamanten und geschreddertes Papier in funkelnagelneue Kreditkarten zu verwandeln, wirtschaftlich aktiv werden. Doch im Grunde schlägt man damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen gibt man den Anderen eine Beschäftigung, deren Fähigkeiten so gering sind, dass sie nicht von ihnen leben könnten. Zum anderen verringert sich auf diese Weise das Risiko, das Gleichgewicht der Kräfte zu stören.

Bei meinem Erscheinen nickte Boris Ignatjewitsch mir zu.

»Witali, vielen Dank«, sagte er.»Ich glaube, die Situation ist klar und an eurer Tätigkeit nichts auszusetzen. Wollen wir abstimmen? Danke. Jetzt, wo alle da sind…«

Unter dem aufmerksamen Blick des Chefs schlich ich mich zu einem freien Sessel und nahm Platz.

»… können wir zur Hauptfrage kommen.«

Neben mir saß Semjon, der sich jetzt zu mir hinüberbeugte.»Die Hauptfrage ist die der Bezahlung der Parteibeiträge für März…«, flüsterte er mir zu.

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ab und zu lugte aus Boris Ignatjewitsch in der Tat der alte Parteifunktionär heraus. Mich störte das weit weniger, als wenn er sich als mittelalterlicher Inquisitor oder General a. D. gebarte, aber möglicherweise beging ich da einen Fehler.

»Die Hauptfrage ist ein Protest der Tagwache, den ich vor zwei Stunden erhalten habe«, sagte der Chef.

Ich begriff ihn nicht sofort. Die Tag- und die Nachtwache kamen einander permanent in die Quere. Jede Woche einmal reichte man Protest ein, manches wurde auf regionaler Ebene geregelt, manches vors Tribunal in Bern gebracht.

Dann ging mir auf, dass ein Protest, der eine erweiterte Versammlung der Wache nach sich zog, kein gewöhnlicher sein konnte.

»Der Kern des Protests…«Der Chef knetete sich die Nasenwurzel.»Der Kern des Protests ist folgender: Heute Morgen wurde in der Gegend der Stoleschnikow-Gasse eine Dunkle ermordet. Hier eine kurze Beschreibung des Vorfalls.«

Auf meine Knie klatschten zwei Blatt Papier, Computerausdrucke. Alle anderen wurden ebenfalls mit diesem Geschenk bedacht. Ich überflog den Text:

Galina Rogowa, vierundzwanzig Jahre… Initiierung mit sieben Jahren, die Familie gehört nicht zu den Anderen. Erzogen unter dem Patronat der Dunklen… Mentorin Anna Tschernogorowa, Magierin vierten Grades… Mit acht Jahren wird Galina Rogowa als Pantherfrau bestimmt. Mittlere Fähigkeiten…

Mit gerunzelter Stirn blätterte ich das Dossier durch. Obwohl es im Prinzip keinen Grund gab, die Stirn zu runzeln. Rogowa war eine Dunkle, arbeitete aber nicht in der Tagwache. Die Bestimmungen des Vertrags hielt sie ein. Auf Menschen machte sie keine Jagd. Niemals. Selbst von den beiden Lizenzen, die ihr zur Volljährigkeit und zur Hochzeit ausgestellt worden waren, hatte sie keinen Gebrauch gemacht. Mit Magie hatte sie sich in der Baufirma Warmes Haus hochgearbeitet und den stellvertretenden Direktor geheiratet. Sie hatte ein Kind, einen Jungen, bei dem keine Fähigkeiten eines Anderen festgestellt worden waren. Ein paarmal hatte sie ihre Fähigkeiten als Andere zur Selbstverteidigung eingesetzt, einmal einen Angreifer getötet. Doch selbst dabei war sie nicht zur Menschenfresserin geworden.

»Von solchen Tiermenschen müsste es mehr geben, nicht wahr?«, fragte Semjon. Er blätterte die Seiten durch und schnalzte mit der Zunge. Neugierig geworden, nahm ich mir das Ende des Dokuments vor.

Aha. Das Protokoll der Autopsie. Ein Schnitt in der Bluse und im Jackett, vermutlich von einem dünnen Dolch. Einem manipulierten, denn mit gewöhnlichem Eisen brachte man einen Tiermenschen nicht um… Worüber wunderte sich Semjon also?

Ha, das war’s!

Am Körper waren keine sichtbaren Verletzungen festgestellt worden. Keine. Als Todesursache wurde der vollständige Verlust der Lebensenergie genannt.

»Alle Achtung«, sagte Semjon.»Ich kann mich noch erinnern, wie man mich während des Bürgerkriegs losgeschickt hat, um einen Tigermenschen aus dem Verkehr zu ziehen. Und dieser Dreckskerl war bei der Tscheka, und durchaus kein kleines Licht…«

»Haben sich alle mit dem Fall vertraut gemacht?«, wollte der Chef wissen.

»Darf ich was fragen?«Am anderen Ende des Raums erhob sich ein dünner Arm. Fast alle mussten lächeln.

Der Chef nickte.»Nur zu, Julja.«

Die jüngste Mitarbeiterin der Wache erhob sich und strich sich unsicher die Haare zurück. Ein liebes Mädchen, wenn auch noch ein wenig kindlich. Doch in die analytische Abteilung hatte man sie nicht ohne Grund aufgenommen.

»Boris Ignatjewitsch, meiner Ansicht nach haben wir es mit einer magischen Einwirkung zweiten Grades zu tun. Oder ersten?«

»Möglicherweise zweiten Grades«, bestätigte der Chef.

»Das heißt, das können nur Sie gemacht haben…«Julja schwieg einen Moment lang verlegen.»Oder Semjon… Ilja… oder Garik. Stimmt’s?«

»Garik hätte es nicht gekonnt«, erwiderte der Chef.»Ilja und Semjon vermutlich schon.«

Semjon grummelte etwas in der Art, auf das Kompliment könne er gern verzichten.

»Außerdem könnte den Mord noch ein Lichter verübt haben, der auf der Durchreise in Moskau ist«, dachte Julja laut.»Andererseits wäre ein Magier von solcher Kraft kaum unbemerkt in die Stadt gelangt, sie müssen ja alle zur Registrierung in die Tagwache. Das heißt also, dass wir drei Personen überprüfen müssen. Sollten alle ein Alibi haben, kann man uns doch wohl nichts vorwerfen?«

»Julenka«, meinte der Chef nickend,»uns wirft niemand dergleichen vor. Die Sache ist die, dass in Moskau ein Lichter Magier agiert, der nicht registriert ist und der den Vertrag nicht kennt.«

Was man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte…

»Oh, also dann…«, sagte Julja.»Verzeihen Sie bitte, Boris Ignatjewitsch.«

»Du hast alles richtig dargelegt.«Der Chef nickte.»Damit sind wir gleich beim Kern der Frage. Uns ist irgendjemand entgangen, Kinder. Wir haben ihn verpennt, uns durch die Finger gleiten lassen. Durch Moskau irrt ein Lichter Magier von großer Kraft. Der keine Ahnung hat - und Dunkle ermordet.«

»Ermordet?«, fragte jemand im Raum.

»Ja. Ich habe die Archive durchgestöbert. Vergleichbare Fälle hat es vor drei Jahren schon gegeben, im Herbst und im Frühjahr, und vor zwei Jahren im Herbst. Jedes Mal ließen sich am Körper keine Verletzungen entdecken, während in der Kleidung Schnitte festgestellt wurden. Die Tagwache hat in der Sache ermittelt, konnte aber nichts herausfinden. Offenbar hielten sie den Tod ihrer Leute für einen Zufall… wofür jetzt jemand von den Dunklen büßen wird.«

»Und von den Lichten?«

»Ebenfalls.«

Semjon räusperte sich.»Das ist eine seltsame Periodizität, Boris…«, sagte er leise.

»Vermutlich kennen wir nicht alle Fälle, Kinder. Wer auch immer dieser Magier sein mag, er hat stets Andere mit nicht sehr ausgeprägten Fähigkeiten getötet, die in ihrer Maskierung offenbar nachlässig gewesen sind. Es ist durchaus möglich, dass ihm weitere, nicht initiierte oder den Dunklen unbekannte Andere zum Opfer fielen. Deshalb schlage ich vor…«Der Chef ließ den Blick durch den Raum schweifen.»Die analytische Abteilung sammelt kriminalistische Informationen und sucht nach vergleichbaren Fällen. Denkt daran, dass sie womöglich nicht als Mord geführt werden, sondern als Tod unter ungeklärten Umständen. Geht die Obduktionsergebnisse durch, befragt die Mitarbeiter in den Leichenschauhäusern… Überlegt selbst, wie ihr an weitere Informationen kommt. Die wissenschaftliche Gruppe… schickt zwei oder drei Leute in die Tagwache, um die Leiche zu untersuchen. Ihr müsst herausfinden, wie er die Dunklen umbringt. Lasst ihn uns der Einfachheit halber den Wilden nennen. Die operative Gruppe… verstärkt die Streifen in den Straßen. Sucht ihn, Kinder.«

»Wir machen die ganze Zeit nichts anderes, als irgendjemanden zu suchen«, murrte Igor unzufrieden.»Ein starker Magier wär uns aufgefallen, Boris Ignatjewitsch! Mit Sicherheit!«

»Eventuell ist er nicht initiiert«, entgegnete der Chef.»Seine Fähigkeiten treten nur periodisch auf…«

»Im Frühling und im Herbst, wie bei jedem Irren…«

»Ja, Igor, völlig richtig. Im Frühling und im Herbst. Und jetzt, unmittelbar nach dem Mord, müsste die Magie irgendeinen Abdruck an ihm hinterlassen haben. Das ist eine Chance, eine kleine nur, aber immerhin. An die Arbeit.«

»Mit welchem Ziel, Boris?«, fragte Semjon neugierig.

Ein paar waren schon aufgestanden, blieben daraufhin aber noch.

»Das Ziel ist es, den Wilden vor den Dunklen zu finden. Ihn zu verteidigen, auszubilden und auf unsere Seite zu ziehen. Wie immer.«

»Alles klar.«Semjon erhob sich.

»Anton und Olga, ihr beide bleibt bitte noch«, meinte der Chef knapp und trat ans Fenster.

Alle anderen guckten mich beim Herausgehen neugierig an. Und auch ein bisschen neidisch. Eine Spezialaufgabe ist immer interessant. Ich schaute durch den Raum, erblickte Olga und lächelte ihr zu, aber nur mit den Lippen. Sie lächelte zurück.

Nichts an ihr erinnerte mehr an die barfüßige, verdreckte Frau, die im tiefsten Winter bei mir in der Küche Kognak getrunken hatte. Eine schicke Frisur, eine gesunde Hautfarbe, in den Augen - nein, die Selbstsicherheit hatte auch schon früher in ihnen gelegen, nicht aber die Koketterie und der Stolz, die jetzt in ihnen funkelten.

Ihre Strafe hatte man aufgehoben. Wenn auch nur teilweise.

»Mir gefällt nicht, was hier passiert, Anton«, sagte der Chef, ohne sich umzudrehen.

Olga zuckte mit den Schultern und nickte - antworte du.

»Wie meinen Sie das, Boris Ignatjewitsch?«

»Mir gefällt der Protest nicht, den die Tagwache eingereicht hat.«

»Mir auch nicht.«

»Du verstehst das nicht. So wenig wie alle anderen, fürchte ich… Olga, ahnst wenigstens du, worum es geht?«

»Es ist höchst merkwürdig, dass die Tagwache im Laufe von ein paar Jahren nicht in der Lage ist, den Mörder zu finden.«

»Nicht wahr? Erinnerst du dich an Krakau?«

»Leider. Glaubst du, sie stellen uns eine Falle?«

»Ausgeschlossen ist es nicht…«Boris Ignatjewitsch trat vom Fenster weg.»Anton, hältst du diese Entwicklung für möglich?«

»Ich verstehe das noch nicht ganz«, murmelte ich.

»Anton, nehmen wir einmal an, in der Stadt lebt tatsächlich ein mordender Einzelgänger, unser Wilder. Er ist nicht initiiert. Ab und an brechen sich seine Fähigkeiten Bahn - dann macht er einen Dunklen aus und vernichtet ihn. Kann die Tagwache ihn finden? O ja, das könnte sie, davon kannst du ausgehen. Damit stellt sich die Frage, warum sie ihn noch nicht entdeckt

und aus dem Verkehr gezogen hat? Schließlich sterben hier Dunkle!«

»Es stirbt nur Fußvolk«, gab ich zu bedenken.

»Richtig. Die Bauern zu opfern gehört zur Tradition…«Der Chef hielt inne, als er meinen Blick auffing.»Zur Tradition der Wache.«

»Der Wachen«, sagte ich rachsüchtig.

»Der Wachen«, wiederholte der Chef müde.»Ich habe es nicht vergessen… Machen wir uns doch mal klar, was sich aus unseren bisherigen Überlegungen ergibt. Soll die gesamte Nachtwache der Fahrlässigkeit angeklagt werden? Das wäre lächerlich. Wir haben das Verhalten der Dunklen zu kontrollieren und darauf zu achten, dass die uns bekannten Lichten den Vertrag einhalten, müssen aber nicht irgendwelche geheimnisvollen Verrückten aufspüren. Hier trägt allein die Tagwache die Schuld…«

»Die Provokation zielt also auf jemanden Konkretes?«

»Sehr schön, Anton. Weißt du noch, was Julja gesagt hat? Diejenigen von uns, die so etwas hätten machen können, kannst du an einer Hand abzählen. Das ist bewiesen. Nehmen wir einmal an, die Tagwache möchte jemanden der Verletzung des Vertrags anklagen. Behauptet, dass ein fester Mitarbeiter, der den Vertrag genau kennt, Gericht spielt und auf eigene Faust mit den Dunklen abrechnet.«

»Aber das lässt sich doch leicht von der Hand weisen. Man braucht nur den Wilden zu finden…«

»Und wenn die Dunklen ihn vor uns finden? Darüber aber kein Wörtchen verlauten lassen?«

»Was ist mit einem Alibi?«

»Und wenn die Morde immer in Zeiten stattfanden, für die es kein Alibi gibt?«

»Dann kommt es zum Tribunal mit uneingeschränktem Verhör«, sagte ich finster. Sicher, es ist keine schöne Sache, wenn im Bewusstsein das Unterste zuoberst gekehrt wird.

»Ein starker Magier, und die Morde wurden von einem starken Magier begangen, kann sich selbst dem Tribunal verschließen. Er kann es nicht täuschen, aber sich verschließen. Mehr noch, Anton, bei einem Tribunal, an dem auch Dunkle teilnehmen, muss er das sogar. Der Feind gelangt sonst an zu viel Informationen. Aber ein Magier, der sich bei den Ermittlungen verschließt, gilt automatisch als schuldig. Mit allen daraus resultierenden Folgen… für ihn und für die Wache.«

»Ein düsteres Bild, Boris Ignatjewitsch«, räumte ich ein.»Ein sehr düsteres. Fast wie jenes, das Sie im Winter für mich entworfen haben, damals im Traum. Der kleine Andere mit den unglaublichen Kräften, ein Durchbruch des Infernos, der ganz Moskau in Schutt und Asche legt…«

»Schon gut. Aber ich lüge dich nicht an, Anton.«

»Was verlangen Sie von mir?«, wollte ich ohne Umschweife wissen.»Das ist doch überhaupt nicht mein Profil. Soll ich den Analytikern helfen? Wir werten auch so alles aus, was man uns vorsetzt.«

»Ich möchte, dass du herausbekommst, wer von uns in Gefahr schwebt, Anton. Wer hat ein Alibi für alle bekannten Fälle und wer nicht.«

Der Chef steckte die Hand in die Tasche seines Jacketts und holte eine DVD heraus.»Nimm das… Es sind die vollständigen Dossiers für die letzten drei Jah-

re. Von vier Personen, mich eingeschlossen.«

Ich schluckte und nahm die Scheibe.

»Die Passwörter sind gelöscht. Dir ist natürlich klar, dass diese Daten niemand sonst sehen darf. Du hast kein Recht, die Informationen zu kopieren. Verschlüssel deine Berichte und Graphiken… und geize nicht bei der Länge des Schlüssels.«

»Ich brauche einen Assistenten«, sagte ich unsicher. Ich sah Olga an. Doch was konnte sie mir schon für eine Hilfe sein: Ihre Computerkenntnisse beschränkten sich auf Spiele wie Heretic oder Hexen.

»Meine Daten überprüf selbst«, sagte der Chef zögernd.»Für die anderen kannst du Anatoli hinzuziehen. Abgemacht?«

»Aber welche Aufgabe habe ich dann?«, wollte Olga wissen.

»Du wirst das Gleiche tun, allerdings indem du die Leute persönlich befragst. Sie verhörst, um die Dinge beim Namen zu nennen. Mit mir fängst du an. Dann nimmst du dir die anderen drei vor.«

»Gut, Boris.«

»Mach dich an die Arbeit, Anton.«Der Chef nickte.»Fang gleich an. An die sonstigen Sachen setz deine Mädchen, die werden schon damit fertig.«

»Soll ich an den Daten auch herumbasteln?«, fragte ich.»Wenn jemand kein Alibi hat - ihm eins besorgen?«

Der Chef schüttelte den Kopf.»Nein. Darum geht es nicht. Ich will nicht, dass irgendwas gefälscht wird. Ich will mich davon überzeugen, dass niemand von uns etwas mit diesen Morden zu tun hat.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Ja. Denn es gibt nichts, was in dieser Welt unmöglich wäre. Was unsere Arbeit auszeichnet, Anton, ist, dass ich dich mit dieser Aufgabe betrauen kann. Und du sie ordentlich machst. Egal, um wen es sich dabei handelt.«

Obwohl mich etwas beunruhigte, nickte ich und ging zur Tür, die wertvolle Scheibe fest im Griff. Erst in letzter Sekunde vermochte ich meine Frage zu formulieren, sodass ich mich noch einmal umwandte.»Boris Ignatjewitsch…«

Der Chef und Olga wichen sofort auseinander.

»Boris Ignatjewitsch, Sie haben mir die Daten von vier Leuten gegeben.«

»Ja.«

»Von Ihnen, Ilja, Semjon…«

»Und von dir, Anton.«

»Warum?«, fragte ich begriffsstutzig.

»Während der Konfrontation auf dem Dach bist du für drei Minuten in die zweite Schicht des Zwielichts vorgedrungen. Anton… das ist die dritte Kraftstufe.«

»Das kann nicht sein«, entgegnete ich nur.

»Doch.«

»Boris Ignatjewitsch, Sie sagen selbst immer, dass ich nur ein durchschnittlicher Magier bin!«

»Vielleicht, weil ich einen hervorragenden Programmierer viel dringender brauche als einen weiteren guten Mann für den Außendienst.«

Unter anderen Umständen wäre ich stolz gewesen. Auch beleidigt, aber trotzdem stolz. Ich hatte immer vermutet, dass der vierte Grad für mich den Gipfel

dessen darstellt, was ich in der Magie erreichen kann - und selbst den würde ich nicht so bald erlangen. Aber jetzt überdeckte die Angst alles, diese unangenehme, klebrige, widerwärtige Angst. In fünf Jahren Arbeit in der Wache auf einem ruhigen Posten im Stab hatte ich es mir abgewöhnt, noch irgendwas zu fürchten: weder Behörden noch Banditen oder Krankheiten…

»Das war eine Intervention zweiten Grades…«

»Die Trennlinie ist hier sehr schmal, Anton. Möglicherweise bist du noch zu mehr fähig.«

»Aber wir haben mehr als ein Dutzend Magier dritten Grades. Warum gerate ich da in Verdacht?«

»Weil du Sebulon persönlich herausgefordert hast. Dem Leiter der Tagwache Moskaus ans Leder gegangen bist. Und er wäre durchaus imstande, eine Falle aufzustellen, die auf Anton Gorodezki persönlich zugeschnitten ist. Genauer gesagt, eine alte Falle, die er noch in petto hatte, entsprechend umzubauen.«

Ich schluckte und verließ den Raum, ohne eine weitere Frage zu stellen.

Unser Labor befindet sich ebenfalls im dritten Stock, jedoch in einem anderen Flügel. Schnellen Schrittes lief ich den Korridor hinunter, nickte allen, die mir entgegenkamen, zu, blieb aber bei niemandem stehen. Die Scheibe hielt ich fester als ein entflammter Teenager die Hand seiner Angebeteten.

Der Chef hatte mich doch nicht belogen?

Konnte dieser Schlag auf mich zielen?

Bestimmt hatte er nicht gelogen. Ich hatte ihm eine klare Frage gestellt und eine klare Antwort bekommen. Gewiss, im Laufe der Jahre legen sich auch die Lichtesten Magier einen gewissen Zynismus zu und lernen

es, mit Worten zu jonglieren. Doch die Folgen einer offenen Lüge wären selbst für Boris Ignatjewitsch zu heftig.

Der Vorraum war mit einem elektronischen Überwachungssystem ausgestattet. Ich weiß, dass sich alle Magier über Technik lustig machen, und Semjon hatte mir sogar mal gezeigt, wie leicht sich ein Stimmenana-lysator und ein Netzhautscanner täuschen lassen. Trotzdem hatte ich auf dem Kauf dieses teuren Spielzeugs bestanden. Selbst wenn es uns nicht gegen einen Anderen schützte. Doch ich hielt es keineswegs für ausgeschlossen, dass uns die Jungs vom Föderativen Sicherheitsdienst oder von der Mafia irgendwann mal auf den Zahn fühlen wollten.

»Eins, zwei, drei, vier, fünf…«, murmelte ich ins Mikrofon, während ich ins Objektiv der Kamera schaute. Die Elektronik brauchte ein paar Sekunden, dann leuchtete über der Tür das grüne Zutrittslämpchen auf.

Im ersten Zimmer herrschte gähnende Leere. Die Ventilatoren des Servers brummten, die in die Wände eingelassenen Klimaanlagen schnauften. Trotzdem war es heiß. Dabei hatte der Frühling gerade erst angefangen.

Ohne ins Labor der Sysops hineinzuschauen, ging ich gleich in mein eigenes Büro. Nun, nicht ganz mein eigenes - mein Stellvertreter Tolik hauste dort ebenfalls. Bisweilen sogar im wörtlichen Sinne, denn oft genug übernachtete er auf dem alten Ledersofa.

Jetzt saß er am Schreibtisch und betrachtete nachdenklich ein altes Motherboard.

»Hallo«, sagte ich und ließ mich aufs Sofa plumpsen.

Die Scheibe brannte mir in den Fingern.

»Die ist hinüber«, grummelte Tolik.

»Dann schmeiß sie weg.«

»Gleich, ich nehm nur die Prozessoren heraus…«In den langen Jahren, die Tolik an durch mickrige Staatsgelder finanzierten Forschungsinstituten verbracht hatte, war er zu einem eifrigen Anhänger der Vorratshaltung geworden. Und obwohl uns keine Finanzprobleme plagten, sammelte er sorgsam alle alten Computerelemente, auch wenn diese niemandem mehr nützten.»Stell dir vor, eine halbe Stunde schlag ich mich mit dem Ding schon rum, aber gebracht hat es nichts…«

»Es ist uralt, was willst du? Selbst in der Buchhaltung sind die Geräte neuer.«

»Man könnten es jemandem geben… Vielleicht könnte man den Cache ausbauen…«

»Tolik, wir haben einen Eilauftrag«, sagte ich.

»Ach?«

»Hm. Also…«Ich hielt die Scheibe hoch.»Hier sind die Dossiers… die vollständigen Dossiers von vier Mitarbeitern der Wache. Einschließlich des Chefs.«

Tolik zog die Schublade seines Schreibtischs auf, verstaute das Motherboard und richtete den Blick auf die DVD.

»Ganz genau. Ich werde drei überprüfen. Du den vierten - mich.«

»Und was soll ich überprüfen?«

»Folgendes.«Ich zeigte ihm den Ausdruck.»Es ist nicht auszuschließen, dass einer der Verdächtigen immer wieder Morde an Dunklen verübt hat. Nicht sanktionierte Morde. Hier sind alle uns bekannten Fälle aufgeführt. Wir sollen diese Möglichkeit ausschließen oder…«

»Und hast du sie denn ermordet?«, wollte Tolik wissen.»Entschuldige die Bosheit…«

»Nein. Aber du sollst mir nicht glauben. Also an die Arbeit.«

Die Informationen über mich schaute ich mir gar nicht erst an. Ich kopierte alle achthundert Megabyte auf Toliks Computer und nahm die Scheibe wieder an mich.

»Wenn ich auf was Interessantes stoße, soll ich’s dir dann sagen?«, fragte Tolik. Ich schielte zu ihm hinüber, während er sich die Textdateien ansah, an seinem linken Ohr fummelte und die Maus gleichmäßig hin und her bewegte.»Wie du willst.«

»Gut.«

Ich fing mit dem Dossier an, in dem das Material über den Chef gesammelt war. Zunächst kam der Formularkopf mit allgemeinen Angaben zur Person. Mit jeder gelesenen Zeile strömte mir der Schweiß stärker aus den Poren.

Natürlich wurde selbst in diesem Dossier der richtige Name und die Herkunft des Chefs nicht preisgegeben, für Andere seines Rangs werden derlei Fakten grundsätzlich nicht dokumentiert. Trotzdem entdeckte ich alle Augenblicke etwas Neues. Angefangen damit, dass der Chef viel älter war, als ich vermutet hatte. Mindestens anderthalb Jahrhunderte älter. Das hieß, er war dabei, als der Vertrag zwischen Lichten und Dunklen abgeschlossen wurde. Merkwürdig, alle Magier von damals, die noch am Leben sind, haben heute Posten in der Hauptverwaltung, statt auf der öden und eintönigen Stelle als Regionaldirektor zu hocken.

Darüber hinaus erfuhr ich einige Namen, unter denen der Chef bereits in die Geschichte der Wache eingegangen war, sowie seinen Geburtsort. Darüber spekulierten wir immer wieder, schlossen Wetten ab, brachten»unwiderlegliche«Beweise bei. Niemand hatte jedoch vermutet, dass Boris Ignatjewitsch aus Tibet stammte.

Und bei wem er schon alles Mentor gewesen ist, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt!

In Europa arbeitete der Chef seit dem 15. Jahrhundert. Aufgrund indirekter Hinweise schlussfolgerte ich, dass der Grund für diesen radikalen Wechsel des Wohnsitzes eine Frau gewesen war. Und ahnte sogar, welche.

Nachdem ich das Fenster mit den allgemeinen Angaben geschlossen hatte, schaute ich zu Tolik hinüber. Der sah sich gerade einen Videoausschnitt an - natürlich war meine Biografie bei weitem nicht so spannend wie die Vita des Chefs. Ich betrachtete das kleine bewegte Bild genauer - und wurde knallrot.

»Für den ersten Fall hast du ein einwandfreies Alibi«, sagte Tolik, ohne sich umzudrehen.

»Hör mal…«, setzte ich hilflos an.

»Schon gut. Geht mich ja nichts an. Ich spule vor, um die ganze Nacht zu checken…«

Ich stellte mir vor, wie der Film wohl im Schnelldurchlauf aussehen würde, und drehte mich wieder um. Ich hatte ja immer geahnt, dass die Leitung ihre Mitarbeiter kontrolliert, vor allem die jungen. Aber nicht auf eine derart zynische Weise!

»Das Alibi ist nicht wasserdicht«, sagte ich.»Gleich zieh ich mich an und geh.«

»Ich seh’s schon«, bestätigte Tolik.

»Anderthalb Stunden bin ich nicht zu sehen. Ich habe versucht, irgendwo Sekt aufzutreiben… und als ich welchen hatte, mich noch ein bisschen an der frischen Luft ausgenüchtert. Und überlegt, ob es sich überhaupt lohnt zurückzugehen.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf«, sagte Tolik.»Guck dir lieber das Intimleben des Chefs an.«

Nach einer halben Stunde wurde mir klar, dass Tolik Recht hatte. Möglicherweise durfte ich die gnadenlose Beobachtung ja krumm nehmen. Doch dann hatte Boris Ignatjewitsch nicht weniger Grund zur Klage.

»Der Chef hat ein Alibi«, sagte ich.»Ein unerschütterliches. In zwei Fällen können es vier Leute bezeugen. In einem anderen fast die ganze Wache.«

»Ist das bei dieser Jagd nach dem durchgedrehten Dunklen?«

»Ja.«

»Du hast noch nicht mal in dem Fall ein Alibi. Du wurdest erst am Morgen hinzugezogen, die Zeitangabe ist da sehr unpräzise. Es gibt ein Foto, wie du aus dem Büro kommst, das ist aber auch schon alles.«

»Das heißt…«

»Theoretisch hättest du die Dunklen ermorden können. Ohne weiteres. Und außerdem, entschuldige Anton, geschah jeder Mord in einer Zeit, da deine Gefühle in Aufruhr waren. Wo du dich anscheinend nicht mehr unter Kontrolle gehabt hast.«

»Ich war das nicht.«

»Glaub ich dir ja. Was soll ich mit der Datei machen?«

»Lösch sie.«

Tolik überlegte kurz.»Auf der Festplatte liegt nichts Wichtiges. Ich mache eine Low-Level-Formatierung. Hätte die Platte schon längst mal bereinigen sollen.«

»Danke.«Ich schloss das Dossier über den Chef.»Gut, mit den anderen komme ich allein weiter.«

»Schon verstanden.«Tolik überwand den berechtigten Unmut seines Computers, und der begann, sich selbst zu verdauen.

»Geh zu den Mädels«, schlug ich ihm vor.»Mach ein finsteres Gesicht. Die legen doch nur wieder Patiencen, da bin ich überzeugt.«

»Klar doch«, stimmte mir Tolik leichthin zu.»Wann bist du fertig?«

»So in zwei Stunden.«

»Dann schau ich wieder rein.«

Er ging zu unseren»Mädels«, zwei jungen Programmiererinnen, die größtenteils mit der im Wesentlichen offiziellen Tätigkeit der Wache befasst waren. Ich machte mich wieder an die Arbeit. Als Nächster kam Semjon an die Reihe.

Nach zweieinhalb Stunden riss ich mich vom Rechner los, massierte mir den Nacken - immer schläft der ein, wenn du dahockst, auf den Monitor starrst - und stellte die Kaffeemaschine an.

Weder der Chef noch Ilja oder Semjon kamen für die Rolle des irrsinnigen Mörders der Dunklen in Frage. Alle hatten ein Alibi, in einigen Fällen sogar ein hieb- und stichfestes. Semjon zum Beispiel hatte in einer Mordnacht ausgerechnet mit der Leitung der Tagwache bei Verhandlungen zusammengesessen. Ilja war auf Geschäftsreise in Sachalin, wo sich die Kollegen ein Süppchen eingebrockt hatten, das sich nur mit Hilfe aus dem Zentrum auslöffeln ließ.

Nur ich stand nach wie vor unter Verdacht.

Nicht, dass ich Tolik nicht vertraute. Trotzdem schaute ich mir meine eigenen Daten noch einmal selbst an. Alles passte, für keinen Fall hatte ich ein Alibi.

Der Kaffee schmeckte nicht, war bitter, anscheinend hatten sie den Filter schon seit längerem nicht ausgetauscht. Ich schluckte das heiße Gebräu hinunter, starrte auf den Bildschirm, zog mein Handy heraus und gab die Nummer des Chefs ein.

»Sprich, Anton.«

Er wusste immer, wer ihn anrief.

»Es bleibt nur ein Verdächtiger übrig, Boris Ignatjewitsch.«

»Und wer, bitte schön?«

Seine Stimme klang hart und förmlich. Trotzdem hatte ich den Eindruck, der Chef säße gerade halb nackt auf seinem Ledersofa, in der einen Hand ein Glas Sekt, die andere mit Olgas Hand verschränkt, während er den Hörer mit der Schulter ans Ohr presste oder ihn levitieren ließ.

»Aber, aber…«, wies mich der Chef in die Schranken.»Als Hellseher taugst du nichts. Wer ist verdächtig?«

»Ich.«

»Verstehe.«

»Sie haben das gewusst«, sagte ich.

»Wie das?«

»Es bestand keine Notwendigkeit, gerade mich die Dossiers bearbeiten zu lassen. Sie hätten das auch selbst machen können. Also wollten Sie, dass ich mich selbst von der Gefahr überzeuge.«

»Möglich.«Der Chef seufzte.»Was wirst du jetzt tun, Anton?«

»Mich auf Wasser und Brot einstellen.«

»Komm in mein Arbeitszimmer. In… äh… in zehn Minuten.«

»Gut.«Ich beendete das Gespräch.

Zunächst schaute ich bei den Mädchen vorbei. Tolik war noch immer bei ihnen, und sie arbeiteten eifrig.

Im Grunde brauchte die Wache diese beiden hundsmiserablen Programmiererinnen nicht. Sie hatten nur zu wenig Geheimnissen Zugang, den Großteil der Arbeit mussten wir machen. Doch wo sollte man sonst zwei sehr, sehr schwache Zauberinnen unterbringen? Wenn sie damit einverstanden gewesen wären, ein normales Leben zu führen - aber nein, sie verlangten nach Romantik, wollten unbedingt in der Wache arbeiten… Also hatte man sich eine Aufgabe für sie ausgedacht.

Im Wesentlichen schlugen sie die Zeit tot, surften im Internet oder spielten etwas, wobei ihr absoluter Favorit Patiencen jeder Art waren.

An einem der freien Rechner - mit der Ausstattung gab es bei uns keine Probleme - saß Tolik. Auf seinem Schoß hockte Julja, die verbissen mit der Maus über das Pad fuhrwerkte.

»Nennt sich das Ausbildung am Computer?«, fragte ich, während ich die über den Bildschirm flimmernden Monster beobachtete.

»Nichts schult die Handhabung der Maus besser als Computerspiele«, beteuerte Tolik mit Unschuldsmiene.

»Nun…«Eine passende Antwort wollte mir nicht einfallen.

Ich selbst spielte solche Spiele schon lange nicht mehr. Wie die meisten Mitarbeiter der Wache nicht. Ein Monster auf dem Bildschirm zu töten ist nur so lange interessant, bis man mal mit eigenen Augen eins sieht. Oder bereits ein-, zweihundert Jahre auf dem Buckel und sich dabei eine gehörige Portion Zynismus zugelegt hat, so wie Olga

»Tolik, ich komme heute wahrscheinlich nicht noch mal rein«, sagte ich.

»Okay.«Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, ist zwar bei uns allen nicht sehr hoch, doch derartige Kleinigkeiten spüren wir sofort.

»Galja, Lena, tschüss dann«, meinte ich mit einem Nicken zu den beiden Mädchen. Galja zwitscherte etwas Freundliches und brachte unmissverständlich zum Ausdruck, wie sehr ihre Arbeit sie in Anspruch nahm.

»Kann ich heute etwas früher gehen?«, fragte Lena.

»Natürlich.«

Wir lügen einander nicht an. Wenn Lena darum bittet, früher zu gehen, heißt das, dass sie es wirklich musste. Wir lügen nicht. Wir sagen nur manchmal Spitzfindigkeiten und Halbwahrheiten…

Auf dem Tisch des Chefs herrschte fürchterliche Unordnung. Füller, Bleistifte, einzelne Seiten Papier, Berichtsmappen mit erbrochenem Siegel und trübe, verbrauchte magische Kristalle lagen wüst durcheinander.

Doch die Krönung des Chaos bildete ein Spirituskocher, über dem in einem Tiegel ein weißes Pulver vor sich hin brutzelte.

Gedankenversunken rührte der Chef es mit der Spitze seines teuren Parkers um und wartete offensichtlich auf einen bestimmten Effekt. Das Pulver ignorierte sowohl die Hitze als auch das Rühren.

»Bitte.«Ich legte die DVD vor den Chef.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Boris Ignatjewitsch, ohne den Blick zu heben. Er hatte das Jackett ausgezogen, das Hemd war zerknittert, die Krawatte zur Seite gerutscht.

Heimlich schielte ich zum Sofa hinüber. Olga war zwar nicht mehr im Arbeitszimmer, doch auf dem Boden standen eine leere Sektflasche und zwei Gläser.

»Weiß ich auch nicht. Ich habe keine Dunklen getötet - jedenfalls nicht diese. Das wissen Sie doch.«

»Ja.«

»Aber beweisen kann ich es nicht.«

»Nach meinen Berechnungen bleiben uns zwei, drei Tage«, sagte der Chef.»Dann wird die Tagwache dir die Anklage präsentieren.«

»Es wäre nicht schwer, mir ein falsches Alibi zu besorgen.«

»Wärest du denn damit einverstanden?«, wollte Boris Ignatjewitsch wissen.

»Natürlich nicht. Darf ich etwas fragen?«

»Bitte.«

»Woher stammen alle diese Informationen? Woher kommen die Bilder und die Videoaufnahmen?«

Der Chef schwieg einen Augenblick.

»Das dachte ich mir. Du hast dir doch auch mein Dossier angesehen, Anton. Ist das vielleicht diskreter?«

»Nein, vermutlich nicht. Deshalb frage ich ja auch. Warum erlauben Sie es, dass solche Informationen zusammengetragen werden?«

»Ich kann es nicht verbieten. Die Kontrolle obliegt der Inquisition.«

Die idiotische Frage»Gibt es die denn wirklich?«konnte ich mir im letzten Moment verbeißen. Vermutlich sprach meine Miene aber Bände.

Der Chef sah mich unverwandt an, als erwarte er weitere Fragen, dann fuhr er fort:»Pass auf, Anton. Von jetzt an darfst du nicht mehr allein bleiben. Vielleicht gerade mal noch ohne Begleitung zur Toilette gehen, aber ansonsten hast du mit zwei oder drei Zeugen zusammen zu sein. Es besteht die Hoffnung, dass ein weiterer Mord geschieht.«

»Wenn sie es wirklich auf mich abgesehen haben, wird kein weiterer Mord geschehen, solange ich ein Alibi habe.«

»Und genau das wirst du nicht haben.«Der Chef schmunzelte.»Du solltest mich nicht für einen alten Idioten halten.«

Ich nickte, unsicher, denn noch hatte ich nicht begriffen, worauf er hinauswollte.

»Olga…«

In der Wand öffnete sich eine Tür, die ich bislang für eine Schranktür gehalten hatte. Olga trat ins Zimmer, strich sich übers Haar und lächelte. So eng wie die Jeans und die Bluse an ihrem Körper hafteten, musste sie gerade heiß geduscht haben. Hinter ihr machte ich einen riesigen Jacuzzi-Whirlpool aus sowie ein Panoramafenster, das die ganze Wand einnahm - und vermutlich nach außen verspiegelt war.

»Schaffst du das, Olga?«, erkundigte sich der Chef. Offenbar spielte er auf etwas an, worüber sie schon gesprochen hatten.

»Allein? Nein.«

»Ich meine das andere.«

»Das ja, natürlich.«

»Stellt euch Rücken an Rücken«, befahl der Chef.

Streiten wollte ich mich nicht. Obwohl mich ein mulmiges Gefühl beschlich. Doch ich ahnte, dass etwas sehr Ernstes bevorstand.

»Und öffnet euch«, verlangte Boris Ignatjewitsch.

Ich schloss die Augen bis auf einen Spalt und entspannte mich. Olgas Rücken war heiß und feucht, selbst durch die Bluse hindurch. Was für ein seltsames Gefühl: dazustehen und eine Frau zu berühren, die gerade erst Liebe gemacht hat - aber nicht mit dir.

Nein, ich war nicht die Spur von verliebt in sie. Vielleicht, weil ich mich daran erinnerte, wie sie in ihrem Vogelkörper aussah, vielleicht, weil wir sehr schnell Freunde und Partner geworden waren. Vielleicht wegen der Jahrhunderte, die uns voneinander trennten: Was heißt schon ein junger Körper, wenn du den Staub der Jahrhunderte auf den Augen anderer siehst. Wir blieben Freunde, mehr nicht.

Doch neben einer Frau zu stehen, deren Körper sich noch der Liebkosungen eines anderen erinnert, und sich an sie zu schmiegen ist ein seltsames Gefühl…

»Fangen wir an…«, sagte der Chef, vielleicht mit überflüssiger Schärfe in der Stimme. Dann sprach er einige Worte aus, deren Sinn ich nicht verstand, Wörter in einer alten Sprache, die vor Jahrtausenden auf der Welt erklungen ist.

Ein Flug.

Und zwar ein richtiger - als ob die Erde unter den Füßen wegkippte, als ob der Körper sein Gewicht verlöre. Ein Orgasmus in der Schwerelosigkeit, eine Dosis LSD direkt ins Blut, Elektroden an den Lustzentren unter der Großhirnrinde…

Mich überflutete eine Welle von solch irrsinniger und reiner, durch nichts gerechtfertigter Freude, dass die Welt ihre Bedeutung für mich verlor. Ich wäre gefallen, doch die Kraft, die aus den erhobenen Armen des Chefs strömte, hielt Olga und mich an unsichtbaren Fäden, nötigte uns Verrenkungen ab, presste uns aneinander.

Und dann verhedderten sich die Fäden.

»Du wirst entschuldigen, Anton«, sagte Boris Ignatje-witsch.»Aber uns blieb keine Zeit zum Zögern oder für Erklärungen.«

Ich schwieg. Schwieg dumm und betäubt vor mich hin, während ich auf dem Boden saß und meine Hände betrachtete, die schlanken Finger mit den beiden Silberringen, meine Beine, diese langen wohlgeformten Beine, die noch feucht waren nach dem Bad und an denen die zu engen Jeans klebten, und meine kleinen Füße, die in leuchtenden weiß-hellblauen Turnschuhen steckten.

»Das ist nicht für lange«, versicherte der Chef.

»Was ist das für…«Ich wollte schimpfen - und zuckte zusammen, schnellte hoch und verstummte bei den ersten Tönen meiner Stimme. Einer tiefen, weichen Frauenstimme.

»Anton, ganz ruhig.«Der junge Mann, der neben mir stand, streckte die Hand aus und half mir beim Aufstehen.

Ohne diesen Halt wäre ich vermutlich gefallen. Das Zentrum meines Gewichts hatte sich verschoben. Ich war jetzt kleiner, sah die Welt aus einem völligen anderen Blickwinkel…

»Olga?«, fragte ich, während ich in mein ehemaliges Gesicht schaute. Meine Partnerin und jetzt auch Bewohnerin meines Körpers nickte. Verzweifelt schaute ich ihr - mein - Gesicht an und bemerkte, dass ich mich heute Morgen schlecht rasiert hatte. Außerdem reifte auf meiner Stirn ein kleiner roter Pickel heran, der einem Jungen in der Pubertät alle Ehre gemacht hätte.

»Anton, ganz ruhig. Ich wechsle auch zum ersten Mal das Geschlecht.«

Aus irgendeinem Grund glaubte ich ihr. Ungeachtet ihres Alters brauchte Olga noch nie in eine derart delikate Situation gekommen sein.

»Hast du dich eingelebt?«, fragte der Chef.

Immer noch blickte ich an mir herab, hob mal die Hand zum Gesicht, erhaschte mal mein Spiegelbild in

den Glastüren der Vitrinen.

»Komm mit!«Olga packte mich beim Arm.»Boris, wir sind gleich wieder da…«Ihre Bewegungen waren genauso unsicher wie meine. Wenn nicht noch mehr.»Beim Licht und beim Dunklen, wie um alles geht ihr Männer bloß?«, rief sie unvermittelt aus.

Daraufhin platzte ich los; erkannte die Ironie des Ganzen. Mich, den die Dunklen provozieren wollten, verbarg man, indem man mich in einen Frauenkörper steckte! In den Körper der Geliebten des Chefs, die so alt war wie Notre-Dame von Paris!

Olga schubste mich förmlich ins Bad - unwillkürlich freute ich mich über meine eigene Kraft - und drückte mich über die Wanne. Dann spritzte sie mir einen Strahl kalten Wassers aus der Brause ins Gesicht, die sie zuvor in weiser Voraussicht auf die zart rosafarbenen Kacheln gelegt hatte.

Schnaubend befreite ich mich aus ihren Händen. Ich vermochte den Wunsch, sie - oder doch mich? - zu ohrfeigen, kaum zu unterdrücken. Allem Anschein nach wachten die motorischen Routinen des fremden Körpers langsam auf.

»Ich habe keinen hysterischen Anfall«, sagte ich verärgert.»Das ist wirklich komisch.«

»Bestimmt nicht?«Olga kniff die Augen zusammen und sah mich an. Ist das etwa mein Blick, wenn ich versuche, Wohlwollen auszudrücken, in das sich Zweifel mischt?

»Ganz bestimmt nicht.«

»Dann schau dich an.«

Ich ging zum Spiegel, der genauso groß und prachtvoll war, wie alles in diesem geheimen Badezimmer,

und sah mich an.

Das Ergebnis war seltsam. Während ich mein neues Aussehen betrachtete, beruhigte ich mich. Wahrscheinlich hätte es mich mehr schockiert, wenn ich in einem anderen männlichen Körper gelandet wäre. Aber so blieb nur das Gefühl einer gerade begonnenen Maskerade.

»Du manipulierst mich doch nicht?«, fragte ich.»Du oder der Chef?«

»Nein.«

»Dann hab ich starke Nerven.«

»Dein Lippenstift ist verwischt«, stellte Olga fest. Und kicherte.»Kannst du dir die Lippen nachziehen?«

»Spinnst du? Natürlich nicht.«

»Ich bring’s dir bei. Nicht schwer zu lernen. Du hast echt Glück gehabt, Anton.«

»Wieso das?«

»Eine Woche später - und du hättest lernen müssen, wie man Binden benutzt.«

»Wie jeder normale Mann, der regelmäßig Fernsehen guckt, habe ich es darin bereits zur Vollkommenheit gebracht. Man tränkt die Binde mit einer giftblauen Flüssigkeit und drückt sie dann kräftig mit der Faust aus.«

Zwei

Ich verließ das Arbeitszimmer und blieb kurz stehen, gegen die Versuchung umzukehren ankämpfend.

Jederzeit hätte ich aus dem Plan aussteigen können, den der Chef entwickelt hatte. Hätte nur kehrtmachen, ein paar Worte zu ihm sagen müssen - und Olga und ich wären in unsere eigentlichen Körper zurückgelangt. Nur dass ich in der letzten halben Stunde genug gute Gründe zu hören bekommen hatte, um einzusehen, dass der Körpertausch die einzige praktikable Antwort auf die Provokation seitens der Dunklen darstellte.

Schließlich wäre es dumm, auf die rettende Behandlung zu verzichten, nur weil Spritzen wehtun.

Die Schlüssel zu Olgas Wohnung lagen in meiner Handtasche. Neben Geld und einer Kreditkarte in einem winzigen Portemonnaie, einem Kosmetiktäschchen, einem Taschentuch, Binden - wozu das denn, die würde ich ja doch nicht brauchen -, einer angebrochenen Packung Tic Tac, einem Kamm, allerlei Kleingeld in den Tiefen der Tasche, einem Spiegel, einem fitzeligen Mobiltelefon…

Die leeren Taschen der Jeans erweckten dagegen unwillkürlich das Gefühl, etwas verloren zu haben. Kurz kramte ich in ihnen herum, in der Hoffnung, wenigstens eine schäbige Münze zu finden, fand jedoch nur meine Überzeugung bestätigt, dass Olga wie die meisten Frauen alles in der Handtasche trug.

Die leeren Hosentaschen waren gewiss nicht der schlimmste Verlust an dem Tag. Trotzdem ärgerte mich dieses Detail. Ich stopfte einige Geldscheine aus der Handtasche in die Hosentasche und fühlte mich gleich sicherer.

Nur schade, dass Olga keinen MD-Player hatte…

»Hallo.«Garik kam auf mich zu.»Ist der Chef allein?«

»Er hat… hat Besuch… Anton«, antwortete ich.

»Ist was passiert, Olga?«Garik schaute mich aufmerksam an. Ich weiß nicht, ob er etwas spürte: die fremde Intonation vielleicht, die unsicheren Bewegungen oder die neue Aura. Doch wenn schon ein Fahnder, mit dem weder Olga noch ich sonderlich viel zu tun hatten, den Tausch merkte, dann konnte ich mich gleich vergessen.

Aber jetzt lächelte Garik unsicher und schüchtern. Das kam völlig unerwartet: Mir war noch nie aufgefallen, dass Garik mit den Mitarbeiterinnen der Wache zu flirten versuchte. Selbst Menschenfrauen lernte er nur schwer kennen, in Liebesdingen war er ein erstaunlicher Pechvogel.

»Nein. Wir haben uns etwas gestritten.«Ich drehte mich um und ging zur Treppe, ohne mich von ihm zu verabschieden.

Das war die Version für die Nachtwache - für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich bei uns ein Agent eingeschlichen hatte. Soweit ich wusste, war das erst ein- oder zweimal in der Geschichte der Wache vorgekommen, aber wer weiß… Sollten ruhig alle denken, Boris Ignatjewitsch habe sich mit seiner langjährigen Freundin verzankt.

Grund genug dafür gab es. Hundert Jahre lang war sie in seinem Arbeitszimmer eingesperrt gewesen, ohne Menschengestalt annehmen zu können, war jetzt zwar teilweise rehabilitiert, hatte aber den Großteil ih-

rer magischen Fähigkeiten eingebüßt. Das sollte ja wohl ausreichen, um sauer auf ihn zu sein… Zumindest ersparte es mir diese Version, die Freundin des Chefs zu mimen - was des Guten nun doch zu viel gewesen wäre.

In solche Gedanken versunken, ging ich in den zweiten Stock hinunter. Ich musste zugeben, dass Olga alles getan hatte, um mir das Leben leichter zu machen. Heute hatte sie sich Jeans angezogen, nicht wie sonst ein Kostüm oder ein Kleid, dazu Turnschuhe statt hochhackiger Pumps. Noch nicht einmal der leichte Parfümgeruch wirkte zu benebelnd.

Es lebe die Unisexmode, auch wenn sie von Homosexuellen erfunden wurde…

Ich wusste, was ich jetzt tun musste, wusste, wie ich mich verhalten musste. Trotzdem fiel es mir nicht leicht. Nicht zum Ausgang zu gehen, sondern in einen abgelegenen ruhigen Korridor abzubiegen.

Und in die Vergangenheit einzutauchen.

Krankenhäuser sollen ja ihren eigenen unverwechselbaren Geruch haben. Natürlich. Das verwundert nicht weiter, es wäre sogar seltsam, wenn den Chlorlösungen und Schmerzen, Sterilisatoren und Wunden, der Krankenhausbettwäsche und dem nach nichts schmeckenden Essen nicht ein eigener Geruch anhaftete.

Doch woher haben bitte schön Schulen und andere Lehreinrichtungen ihren eigenen Geruch?

Im Gebäude der Wache wird nur ein Teil der Fächer unterrichtet. Andere Kurse lassen sich besser nachts im Leichenschauhaus absolvieren, wo wir unsere Leute haben. Manches wird uns vor Ort beigebracht. Wieder

anderes im Ausland, bei Urlaubsreisen, die die Wache finanziert. Im Zuge meiner Ausbildung war ich auf Haiti, in Angola, in den Staaten und in Spanien gewesen.

Trotzdem gibt es einige Veranstaltungen, die nur auf dem Gelände der Wache abgehalten werden können, in dem Gebäude, das vom Fundament bis zum Dach durch Magie und Schutzzauber versiegelt ist. Als die Wache vor dreißig Jahren in dieses Haus gezogen ist, wurden drei Hörsäle eingerichtet, jeder für fünfzehn Personen. Bis heute ist mir unklar, was damals eigentlich überwog: der Optimismus der Mitarbeiter oder das Überangebot an Raum. Selbst während meines Studiums - und das war ein sehr erfolgreiches Jahr für die Wache - reichte uns ein Hörsaal, und sogar der blieb noch zur Hälfte leer.

Im Moment wurden in der Wache vier Andere ausgebildet. Und nur bei Swetlana ging man davon aus, dass sie bei uns bleiben, dass sie es nicht vorziehen würde, ein normales menschliches Leben zu führen.

Leer war es hier, leer und still. Langsam ging ich den Korridor entlang, schaute in die verlassenen Hörsäle hinein, um die uns selbst eine hervorragend ausgestattete und erfolgreiche Universität hätte beneiden können. Zu jedem Tisch gehörte ein Notebook, in jedem Raum gab es einen Fernseher mit riesigem Bildschirm, die Schränke bogen sich unter den Büchern. Hätte diese Bücher je ein Historiker gesehen, ein ganz normaler Historiker, kein Geschichtsverdreher…

Doch sie würden sie niemals zu Gesicht bekommen.

In einigen dieser Bücher standen zu viele Wahrheiten geschrieben. In anderen zu wenige Lügen. Menschen sollten dergleichen nicht lesen, um ihres Frie-

dens willen sollten sie das nicht. Mögen sie ruhig mit der Geschichte leben, an die sie gewöhnt sind.

Am Ende des Korridors hing ein überdimensionaler Spiegel, der die ganze Stirnseite einnahm. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich hinein: Durch den Flur lief hüftschwenkend eine junge attraktive Frau.

Ich geriet ins Stolpern und wäre beinah hingefallen. Obwohl Olga alles getan hatte, um mir das Leben zu erleichtern, hatte sie den Schwerpunkt des Körpers nicht verschieben können. Sobald es mir gelang, mein Äußeres zu vergessen, klappte alles mehr oder weniger einwandfrei, funktionierten die motorischen Fähigkeiten. Kaum fing ich jedoch an, mich zu beobachten, lief alles aus dem Ruder. Ich atmete sogar anders, irgendwie gelangte die Luft nicht wie sonst in die Lungen.

Ich trat an die letzte Tür heran, die verglast war. Vorsichtig schaute ich in den Raum.

Der Unterricht ging gerade zu Ende.

Heute hatten sie Alltagsmagie - erkannte ich in dem Moment, als ich neben der Schautafel Polina Wassil-jewna erblickte. Was ihr Äußeres angeht, ist sie eine der ältesten Mitarbeiterinnen der Wache, von ihrem eigentlichen Alter her jedoch keineswegs. Aber man hatte sie erst im Alter von dreiundsechzig Jahren entdeckt und initiiert. Wer hätte denn ahnen können, dass die Alte, die sich in den schlimmen Nachkriegsjahren etwas Geld mit Kartenlegen zuverdiente, tatsächlich über gewisse Fähigkeiten verfügt? Zudem ganz beachtliche, nur eben sehr spezielle.

»Und jetzt, wenn ihr mal in aller Schnelle eure Kleidung in Ordnung bringen müsst«, dozierte Polina Wassiljewna,»könnt ihr das in wenigen Minuten erledigen. Vergesst nur nicht, euch vorab zu vergewissern, wofür eure Kräfte reichen. Sonst blamiert ihr euch womöglich.«

»Und sobald es Mitternacht schlägt, verwandelt sich deine Kutsche in einen Kürbis«, sagte ein junger Mann laut, der neben Swetlana saß. Ich kannte ihn nicht, er studierte erst den zweiten oder dritten Tag hier, doch er war mir von vornherein unsympathisch.

»Ganz genau!«, erklärte Polina begeistert, die in jeder neuen Klasse mit derlei Geistesblitzen konfrontiert wurde.»Die Märchen lügen nicht weniger als die Statistiken! Trotzdem enthalten sie manchmal einen Funken Wahrheit.«

Sie nahm einen sorgfältig gebügelten, eleganten, wiewohl ein wenig altmodischen Smoking vom Tisch. In so einem hat sich wohl James Bond unter die Leute begeben.

»Wann verwandelt er sich wieder in Lumpen?«, fragte Swetlana sachlich.

»In zwei Stunden«, gab Polina ebenso knapp Auskunft. Sie hängte den Smoking auf einen Bügel und wandte sich wieder der Schautafel zu.»Ich habe mir keine große Mühe gegeben.«

»Und wie lange können Sie ihn in dieser präsentablen Form belassen? Maximal?«

»Etwa vierundzwanzig Stunden.«

Swetlana nickte und sah plötzlich in meine Richtung. Sie hatte etwas gespürt. Lächelnd winkte sie mir zu. Nun bemerkten mich alle.

»Nur herein, meine Dame.«Polina neigte den Kopf.»Das ist eine große Ehre für uns.«

Sie musste etwas über Olga wissen, das mir unbekannt war. Wir alle wussten nur einen Teil der Wahrheit über sie, nur der Chef wusste vermutlich alles.

Ich betrat den Raum und versuchte verzweifelt, nicht zu anmutig einherzuschreiten. Was rein gar nichts brachte. Swetlanas Nachbar, ein fünfzehnjähriger Bengel, der seit einem halben Jahr im Anfängerkurs für Magie auf der Stelle trat, und der hoch gewachsene dürre Koreaner, der vielleicht dreißig oder vierzig Jahre alt war - sie alle starrten mich an.

Eindeutig interessiert. Die ganze geheimnisvolle Atmosphäre, die Olga umgab, die Gerüchte und Mutmaßungen, nicht zu vergessen der Umstand, dass sie seit Jahr und Tag die Geliebte des Chefs war - all das löste beim männlichen Teil der Wache eine ganz bestimmte Reaktion aus.

»Guten Tag«, sagte ich.»Auch wenn ich nicht als Lehrerin komme, störe ich doch hoffentlich nicht?«

Da ich mich ausschließlich auf die richtige Verwendung der geschlechtsspezifischen Form konzentrierte, achtete ich nicht auf die Intonation. Die Folge davon war, dass die banalen Worte einen dunkelgeheimnisvollen Unterton gewannen und sich an jeden Einzelnen persönlich zu richten schienen. Das picklige Bübchen verschlang mich mit seinem Blick, der Typ neben Swetlana schluckte, und nur der Koreaner bewahrte so etwas wie Gelassenheit.

»Olga, möchten Sie unseren Studenten etwas mitteilen?«, wollte Polina wissen.

»Ich muss mit Sweta sprechen.«

»Der Unterricht ist für heute beendet«, erklärte die Alte.»Olga, wollen Sie nicht einmal in meinem Kurs

vorbeischauen? Meine Vorlesungen können Ihre Erfahrung nicht aufwiegen.«

»Gern«, versprach ich großzügig.»In drei Tagen etwa.«

Sollte sich doch Olga mit meinem Versprechen rumschlagen. Schließlich musste ich mich auch mit dem Sexappeal rumplagen, den sie sich zugelegt hatte.

Gemeinsam gingen Sweta und ich zum Ausgang. Drei gierige Augenpaare bohrten sich in meinen Rücken, genauer: nicht genau in den Rücken.

Ich wusste, dass sich zwischen Olga und Swetlana eine herzliche Freundschaft entwickelt hatte. Und zwar nach jener Nacht, als wir zwei ihr die Wahrheit über die Welt, die Anderen, die Lichten und die Dunklen, die Wachen und das Zwielicht eröffnet hatten, seit jener Morgenstunde, als sie an unserer Hand durch eine geschlossene Tür den Raum des Einsatzstabs der Nachtwache betreten hatte. Sicher, Swetlana und mich verband ein mystischer Faden, unsere Schicksale waren miteinander verflochten. Aber ich wusste - wusste es nur zu gut -, dass das nicht von Dauer sein würde. Swetlana würde mich weit hinter sich lassen, würde dorthin gehen, wohin ich nie gelangen konnte, selbst wenn ich ein Magier ersten Grades werden sollte. Uns hielt das Schicksal zusammen, fest zusammen, aber nur vorübergehend. Mit Olga hingegen hatte sich Swetlana einfach angefreundet, so skeptisch ich der Freundschaft zwischen zwei Frauen auch gegenüberstehen mochte. Keine Bestimmung hatte sie zusammengeführt. Sie waren frei.

»Olga, ich muss noch auf Anton warten.«Swetlana ergriff meine Hand. Das war nicht die Geste der kleinen Schwester, die bei der großen Unterstützung und Selbstbestätigung suchte. Sondern die Geste einer gleichberechtigten Frau. Und wenn Olga Swetlana eine gleichberechtigte Position einräumte, musste der jungen Frau in der Tat eine große Zukunft bevorstehen.

»Das brauchst du nicht«, sagte ich.»Wirklich nicht, Sweta.«

Schon wieder stimmte etwas mit meinem Satzbau oder meiner Intonation nicht. Diesmal war es Swetla-na, die mich irritiert anschaute - aber mit demselben Blick wie Garik.

»Ich werde dir alles erklären«, versicherte ich.»Aber nicht hier und jetzt. Sondern bei dir zu Hause.«

Der Schutz ihrer Wohnung ließ nichts zu wünschen übrig, zu viel Kraft hatte die Wache schon in ihre neue Mitarbeiterin investiert. Der Chef hatte noch nicht einmal mit mir darüber gestritten, ob ich mich Swetla-na anvertrauen dürfe, sondern lediglich eins verlangt: Es muss bei ihr zu Hause passieren.

»Gut.«Obwohl die Verwunderung nicht aus Swetlanas Augen wich, nickte sie zustimmend.»Bist du sicher, dass ich nicht auf Anton zu warten brauche?«

»Absolut«, erwiderte ich im Brustton der Überzeugung.»Nehmen wir das Auto?«

»Bist du heute zu Fuß gekommen?«

Blödmann!

Ich hatte völlig vergessen, dass Olga allen anderen Transportmitteln jenen Sportwagen vorzog, den ihr der Chef geschenkt hatte.

»Deshalb frag ich ja: Wollen wir fahren?«, erklärte ich, wobei mir klar war, dass ich wie ein Idiot dastand. Nein, schlimmer noch: wie eine Idiotin.

Sweta nickte. Die Irritation in ihrem Blick wuchs und wuchs.

Nur gut, dass ich fahren konnte. Nie hatte mich das zweifelhafte Verlangen gepackt, in dieser Riesenstadt mit ihren beschissenen Straßen ein Auto zu besitzen, doch unser Lehrplan sah vieles vor. Manches kriegen wir auf normale Weise beigebracht, manches wird durch Magie in unser Bewusstsein eingeprägt. Auto fahren hatte ich wie jeder gewöhnliche Mann gelernt, aber wenn mich der Zufall in das Cockpit eines Hubschraubers oder eines Flugzeugs verschlagen sollte, dann würden sich Fähigkeiten melden, von denen ich im Normalzustand nicht mal etwas ahnte. Müssten sich melden - theoretisch zumindest.

Die Autoschlüssel fand ich in der Handtasche. Der orangefarbene Wagen wartete auf dem Parkplatz vor dem Haus auf uns, unter den Argusaugen der Wachleute. Die Türen waren verschlossen, was angesichts des zurückgeklappten Dachs des Sportwagens einfach absurd wirkte.

»Fährst du?«, fragte Swetlana.

Schweigend nickte ich. Ich setzte mich hinters Steuer und ließ den Motor an. Mir fiel ein, dass Olga immer wie aus der Pistole geschossen davonjagte, aber das brachte ich nicht fertig.

»Olga, irgendwas stimmt mit dir nicht«, sprach Swetlana ihre Gedanken schließlich laut aus. Während wir auf den Leningrader Prospekt fuhren, nickte ich.

»Sweta, wir besprechen alles, wenn wir bei dir sind.«

Sie sagte nichts mehr.

Als Autofahrer kann man mich vergessen. Wir brauchten lange, viel länger als nötig. Dennoch stellte Swetlana keine weiteren Fragen, sondern saß nur mit zurückgelehntem Kopf da und starrte stur geradeaus. Als ob sie meditierte oder versuchte, durchs Zwielicht zu sehen. Wenn wir im Stau standen, versuchten mehrmals Männer aus anderen Autos, mich anzusprechen - und zwar immer Männer in den teuersten Wagen. Offenbar schufen sowohl unser Äußeres wie auch unser Auto eine unsichtbare Hürde, die sich nicht jeder zu überschreiten traute. Sie ließen die Scheiben herunter, kurzhaarige Köpfe beugten sich heraus, manchmal erschien als obligatorisches Attribut noch ein Arm mit einem Mobiltelefon. Anfangs war mir das einfach unangenehm. Nach einer Weile fand ich es komisch. Am Ende hörte ich auf, überhaupt noch darauf zu reagieren - genauso wie Swetlana nicht darauf reagierte.

Ob sich Olga wohl über diese Versuche, sie kennen zu lernen, amüsierte?

Vermutlich schon. Nach Jahrzehnten in einem nichtmenschlichen Körper, nach der Gefangenschaft in einer Glasvitrine.

»Olga, warum hast du mich abgeholt? Warum sollte ich nicht auf Anton warten?«

Ich zuckte mit den Schultern. Die Versuchung zu antworten:»Weil er hier ist, neben dir«, war groß. Die Gefahr, dass man uns observierte, dürfte gering sein. Auch das Auto schirmten Sicherheitszauber ab, die ich zum Teil wahrnehmen konnte, die zum Teil aber jenseits meiner Fähigkeiten lagen.

Doch ich beherrschte mich.

Swetlana hatte den Kurs zur Informationssicherheit noch nicht besucht, er begann erst, wenn man drei Monate der Ausbildung hinter sich hatte. Meiner Ansicht nach sollte er ruhig früher angeboten werden, doch für jeden Anderen muss ein eigenes Programm ausgearbeitet werden, und das braucht Zeit.

Nach dieser schmerzhaften Erfahrung würde Swetla-na gelernt haben, wann sie schweigen musste und wann sie reden durfte. Das ist gleichzeitig der leichteste und der anspruchsvollste Kurs in der gesamten Ausbildung. Dir werden einfach streng dosierte Informationen gegeben, in einer ganz bestimmten Reihenfolge. Ein Teil des Gehörten ist wahr, ein Teil gelogen. Einiges wird dir frei und offen gesagt, anderes als schreckliches Geheimnis anvertraut, und wieder anderes erfährst du»zufällig«, belauschst du, beobachtest du heimlich.

Und alles, alles, was du erfährst, wird in dir gären, dir Schmerzen und Schrecken bereiten, aus dir hervorbrechen, dir das Herz zerreißen, nach spontanen unüberlegten Reaktionen verlangen. In den Vorlesungen werden sie dir allerlei Blödsinn erzählen, der im Allgemeinem für das Leben eines Anderen völlig belanglos ist. Denn die wichtigste Erprobung und Lehre vollzieht sich in deiner Seele.

Dass jemand wirklich daran zerbricht, kommt kaum vor. Es ist eben doch ein Teil der Ausbildung, keine Prüfung. Und jeder bekommt die Latte nur in der Höhe aufgelegt, die er auch nehmen kann - bei Aufbietung aller Kräfte, sodass Hautfetzen und Blutspritzer an dieser Hürde kleben bleiben, die aus Stacheldraht geflochten ist.

Doch wenn den Kurs jemand besucht, an dem dir gelegen ist oder der dir einfach nur sympathisch ist, dann zerfleischt es dich, reißt dich in Stücke. Du fängst einen seltsamen Blick auf und grübelst, was dein Freund im Rahmen des Kurses erfahren hat. Welche Wahrheit? Welche Lüge?

Und was der Auszubildende wohl über sich selbst erfahren hat, über die Welt um ihn herum, seine Eltern und Freunde.

Dann kommt ein Wunsch auf, ein schrecklicher, unerträglicher Wunsch. Der Wunsch zu helfen. Zu erklären, anzudeuten, vorzusagen.

Bloß dass niemand, der diesen Kurs hinter sich hat, diesem Wunsch freien Lauf lässt. Denn genau das kriegst du unter Schmerzen beigebracht - was man wann sagen kann und muss.

Im Grunde kann und muss man alles sagen. Nur zur richtigen Zeit, denn sonst ist die Wahrheit schlimmer als die Lüge.

»Olga?«

»Du wirst es verstehen«, sagte ich.»Gedulde dich noch ein wenig.«

Nachdem ich durchs Zwielicht gespäht hatte, raste ich weiter, quetschte mich zwischen einem kastigen Jeep und einem sperrigen Militärtransporter hindurch. Dabei knickte der Spiegel ein, der den Transporter seitlich streifte - mir war das alles egal. Ich schoss als Erster über die Kreuzung, fuhr mit quietschenden Reifen um die Kurve und raste die Chaussee der Enthusiasten hinunter.

»Liebt er mich?«, fragte Swetlana plötzlich.»Sag schon, ja oder nein? Du weißt es doch, oder?«

Ich zuckte zusammen, das Auto schlingerte, doch Swetlana achtete nicht darauf. Sie stellte diese Frage nicht zum ersten Mal, das spürte ich. Olga und sie hatten bereits darüber gesprochen, das heikle Thema war aber noch nicht abgeschlossen.

»Oder liebt er dich?«

Das war’s. Jetzt musste ich etwas sagen.

»Anton hat eine gute Beziehung zu Olga.«Ich redete sowohl über mich wie auch über die Besitzerin meines Körpers in der dritten Person. Das ist demonstrativ, wirkt aber einfach wie kalte, distanzierte Freundlichkeit.»Eine Freundschaft unter Kameraden. Mehr nicht.«

Wenn sie Olga die Frage stellen würde, wie diese zu mir stehe, würde es schwieriger werden, nicht zu lügen.

Doch Swetlana schwieg. Nach einer Minute berührte sie kurz meine Hand, als wolle sie sich entschuldigen.

Jetzt war ich es, der seine Neugier nicht zu zügeln vermochte.»Warum willst du das denn wissen?«

»Ich verstehe ihn nicht«, antwortete sie leichthin, ohne lange zu überlegen.»Anton benimmt sich sehr seltsam. Manchmal habe ich den Eindruck, er sei verrückt nach mir. Und manchmal, dass ich für ihn nur eine von hundert Bekannten bin, die er bei den Anderen hat. Eine Kameradin.«

»Der Knoten des Schicksals«, antwortete ich knapp.

»Was?«

»Das habt ihr noch nicht durchgenommen, Sweta.«

»Dann erklär es mir!«

»Du weißt«, ich trat das Gaspedal weiter und weiter durch, vermutlich meldeten sich allmählich die motorischen Reflexe des fremden Körpers zu Wort,»du weißt, als er das erste Mal bei dir vorbeigekommen ist…«

»Ich weiß, dass er mir da etwas eingeflüstert hat. Das hat er mir erzählt«, fiel Swetlana mir ins Wort.

»Das meine ich nicht. Die Suggestion wurde aufgehoben, als du die Wahrheit erfahren hast. Aber wenn du lernst, das Schicksal zu sehen - und das wirst du bald lernen und viel besser können als ich -, dann wirst du es verstehen.«

»Man hat uns gesagt, dass das Schicksal veränderlich ist.«

»Das Schicksal ist polyvariabel. Als Anton zu dir gekommen ist, wusste er, dass er sich in dich verlieben würde, wenn alles gut ging.«

Swetlana schwieg. Ich glaubte zu sehen, dass ihre Wangen eine leichte Röte überzog, aber möglicherweise lag das am Fahrtwind in dem offenen Cabriolet.

»Und weiter?«

»Weißt du, was das bedeutet? Zur Liebe verurteilt zu sein?«

»Aber ist man das nicht immer?«Swetlana fuhr vor Empörung sogar hoch.»Wenn zwei Menschen einander lieben, wenn sie sich unter Tausenden, unter Millionen finden - das ist immer Schicksal!«

Und wieder spürte ich in ihr jene unendlich naive Frau, die eigentlich schon im Verschwinden war - und die einzig Hass auf sich selbst zu empfinden vermochte.

»Nein. Sweta, hast du schon mal folgende Analogie

gehört: Die Liebe ist eine Blume?«

»Ja.«

»Blumen kann man züchten, Sweta. Man kann sie kaufen. Oder verschenken.«

»Anton hat mich gekauft?«

»Nein«, sagte ich - und sagte es womöglich zu scharf.»Er hat ein Geschenk bekommen. Vom Schicksal.«

»Und was folgt daraus? Wenn das Liebe ist?«

»Sweta, Schnittblumen sind schön. Aber sie halten sich nicht lange. Sie verwelken, selbst wenn du sie noch so beflissen in eine Kristallvase mit frischem Wasser stellst.«

»Er hat Angst, mich zu lieben«, sinnierte Swetlana.»Nicht wahr? Ich hatte keine Angst, weil ich das nicht wusste.«

Ich fuhr am Haus vor und zwängte mich zwischen den geparkten Autos hindurch. Vor allem Shigulis und Moskwitschs. Kein sehr vornehmer Bezirk.

»Warum erzähle ich dir das alles?«, fragte Swetlana.»Wozu verlange ich nach einer Antwort? Und woher weißt du die Antworten, Olga? Liegt es nur daran, dass du vierhundertdreiundvierzig Jahre alt bist?«

Als ich die Zahl hörte, zuckte ich zusammen. In der Tat, eine reiche Lebenserfahrung. Eine ungeheuer reiche.

Im nächsten Jahr würde Olga einen besonderen Geburtstag feiern.

Zu gern hätte ich geglaubt, dass mein Körper in einer derart hervorragenden physischen Verfassung sein würde, wenn ich auch nur ein Viertel dieses Alters er-

reicht hätte.

»Gehen wir.«

Das Auto ließ ich unbeaufsichtigt stehen. Einem menschlichen Wesen würde es ohnehin nicht in den Sinn kommen, es zu stehlen; die Schutzzauber sind zuverlässiger als jede Alarmanlage. Schweigend, sachlich gingen Swetlana und ich die halbe Treppe hoch und betraten ihre Wohnung.

Hier hatte sich natürlich einiges verändert. Swetlana hatte ihre Arbeit aufgegeben, doch das Stipendium und das»Handgeld«, das jedem Anderen bei der Initiierung gezahlt wurde, stellten die bescheidenen Einkünfte einer Ärztin weit in den Schatten. Den Fernseher hatte sie ausgetauscht, auch wenn nicht klar war, wann sie Zeit zum Gucken fand. Der neue Apparat war luxuriös, mit breitem Bildschirm, schon zu groß für ihre Wohnung. Es war komisch, diese sich unvermutet Bahn brechende Sehnsucht nach einem schönen Leben zu beobachten. Am Anfang tritt sie bei allen auf - möglicherweise als Abwehrreaktion. Wenn die Welt um dich herum zusammenbricht, wenn die alten Ängste und Sorgen verschwinden, an ihre Stelle aber neue treten, noch unverständliche und nebelhafte, fängt jeder an, sich ein paar Träume aus seinem alten Leben zu erfüllen, die ihm noch vor kurzem unrealistisch vorkamen. Der eine prasst im Restaurant, ein anderer kauft sich einen teuren Wagen, ein Dritter kleidet sich mit Haute Couture ein. Diese Phase dauert nicht lange, und zwar nicht deshalb, weil man in der Wache kein Millionär wird. Die Bedürfnisse, die noch gestern so drängten, lassen nach, rücken allmählich in die Vergangenheit. Für immer.

»Olga?«

Swetlana sah mir in die Augen.

Ich seufzte und nahm alle Kraft zusammen.»Ich bin nicht Olga.«

Schweigen.

»Wenn ich es dir früher gesagt hätte, hätte ich Idiot wer weiß was angerichtet. Ich musste warten, bis wir hier sind. Deine Wohnung ist gegen jede Beobachtung seitens der Dunklen geschützt.«

»Ich Idiot?«

Das Wesentliche hatte sie gleich erfasst.

»Ich Idiot«, wiederholte ich.»Das ist nur der Körper von Olga.«

»Anton?«

Ich nickte.

Wie absurd das war!

Nur gut, dass sich Swetlana bereits an Absurditäten gewöhnt hatte.

Sie glaubte mir sofort.»Schuft!«

Sie sprach das Wort auf eine Art aus, die eher der Aristokratin Olga alle Ehre gemacht hätte. Genau wie die Ohrfeige, die ich erhielt.

Die nicht wehtat, mich aber demütigte.

»Wofür?«, fragte ich.

»Dafür, dass du ein fremdes Gespräch belauscht hast!«, platzte Swetlana heraus.

Keine sehr durchdachte Formulierung, aber ich verstand sie. Inzwischen hatte Swetlana die andere Hand erhoben, doch in Missachtung des christlichen Gebots wich ich der zweiten Schelle aus.

»Sweta, ich habe versprochen, auf diesen Körper aufzupassen!«

»Ich nicht!«

Swetlana atmete tief durch und biss sich auf die Lippen. Ihre Augen brannten. Derart wütend hatte ich sie nie zuvor erlebt und noch nicht einmal geahnt, dass sie dazu überhaupt imstande war. Was hatte sie nur so aufgebracht?

»Du hast also Angst, Schnittblumen zu lieben?«Swetlana kam langsam auf mich zu.»Das ist es, ja?«

Dann begriff ich es. Wenn auch nicht auf Anhieb.

»Mach, dass du wegkommst! Mach, dass du von hier wegkommst!«

Ich wich zurück, berührte die Tür schon mit dem Rücken. Was mich zwang innezuhalten - so wie auch Swetlana innehielt. Sie wiegte den Kopf, fauchte:»Du solltest in diesem Körper bleiben! Der passt besser zu dir, denn du bist kein Mann, du Schlappschwanz!«

Ich schwieg. Schwieg, weil ich bereits sah, wie es weitergehen würde. Sah, wie vor uns die Wahrscheinlichkeitslinien schlingerten, wie ein spottlustiges Schicksal unsere Wege verflocht.

Und als Swetlana anfing zu weinen und damit auf einmal allen Kampfeseifer verlor, ihr Gesicht mit den Händen bedeckte, als ich sie in die Arme schloss und sie sich bereitwillig an meiner Schulter ausweinte, erfüllten mich Leere und Kälte. Eine schneidende Kälte, als stünde ich wieder im peitschenden Wind des Winters auf dem verschneiten Dach.

Swetlana war noch ein Mensch. In ihr gab es noch zu wenig von einem Anderen, sie verstand nicht, erkannte nicht, wie der Weg weiterging, der uns zu gehen bestimmt war. Und noch weniger bemerkte sie, wie dieser Weg sich gabelte.

Liebe ist Glück, aber nur dann, wenn man glaubt, dass sie ewig währt. Und selbst wenn sich das jedes Mal als Lüge erweist, verleiht doch allein dieser Glaube der Liebe ihre Kraft und ihre Freuden.

Aber Swetlana schluchzte an meiner Schulter.

Viel Wissen bedeutet viel Kummer. Wie sehr wünschte ich, nichts von der unausweichlichen Zukunft zu wissen! Nichts zu wissen - und zu lieben, ohne Rücksicht, wie ein einfacher sterblicher Mensch.

Und trotzdem - wie schade, jetzt nicht im eigenen Körper zu stecken.

Von außen hätte es so aussehen können, als hätten zwei gute Freundinnen beschlossen, einen ruhigen Abend vorm Fernseher zu verbringen, mit Tee und Marmelade, einem Fläschchen trockenen Weins und Gesprächen über die drei ewigen Themen: Alle Männer sind Schweine, ich habe nichts zum Anziehen und - das wichtigste überhaupt - wie nehme ich ab.

»Du magst Brötchen also wirklich?«, fragte Swetlana verwundert.

»Ja. Mit Butter und Marmelade«, grummelte ich.

»Wenn ich mich nicht irre, hat irgendjemand versprochen, gut auf diesen Körper aufzupassen.«

»Und was tu ich ihm Schlechtes an? Du kannst mir glauben, der Organismus ist absolut begeistert.«

»Nun ja«, erwiderte Swetlana unbestimmt.»Du solltest Olga fragen, wie sie auf ihre Figur achtet.«

Ich schwankte kurz, schnitt mir dann aber doch ein weiteres Brötchen auf und bestrich es üppig mit Marmelade.

»Und wer ist auf diese geniale Idee gekommen, dich in einem Frauenkörper zu verstecken?«

»Vermutlich der Chef.«

»Daran hab ich nicht gezweifelt.«

»Olga findet es auch gut.«

»Wie sollte es anders sein: Boris Ignatjewitsch ist ihr Zar und Gott.«

Diesbezüglich hegte ich zwar meine Zweifel, schwieg mich jedoch aus. Swetlana stand auf und ging zum Kleiderschrank. Öffnete ihn, um nachdenklich die Bügel zu betrachten.

»Willst du einen Morgenmantel?«

»Was?«Ich verschluckte mich am Brötchen.

»Willst du hier etwa so rumlaufen? Du sprengst diese Jeans noch. Das ist doch unbequem.«

»Hast du vielleicht einen Trainingsanzug?«, fragte ich jammernd.

Swetlana schaute mich amüsiert an, lenkte dann aber ein.

»Wir werden was finden.«

Ehrlich gesagt, hätte ich es vorgezogen, jemand anderen in einem solchen Aufzug zu sehen. Swetlana zum Beispiel. Kurze weiße Shorts und eine Bluse. Perfekt fürs Tennis oder zum Joggen.

»Zieh dich um.«

»Sweta, ich glaube nicht, dass wir den ganzen Abend hier bleiben.«

»Trotzdem. Schaden kann das nicht, dann sehen wir gleich, ob die Größe stimmt. Zieh dich um, ich mach derweil Tee.«

Nachdem Swetlana hinausgegangen war, schlüpfte ich rasch aus den Jeans. Als ich die Bluse aufknöpfte, kam ich mit den unvertrauten, viel zu straff sitzenden Knöpfen durcheinander. Voller Hass betrachtete ich danach mein Spiegelbild.

Eine attraktive Frau, zweifelsohne. Wie geschaffen, um für ein Erotikmagazin fotografiert zu werden.

Hastig zog ich mir die anderen Sachen an und setzte mich aufs Sofa. Im Fernsehen lief eine Seifenoper - wer hätte gedacht, dass Sweta ausgerechnet dieses Programm sah. Freilich, die anderen Kanäle dürften kaum besser sein.

»Du siehst gut aus.«

»Sweta, muss das sein?«, fragte ich.»Mir ist auch so schon schlecht.«

»Gut, entschuldige«, stimmte sie ohne weiteres zu und setzte sich neben mich.»Was sollen wir tun?«

»Wir?«, hakte ich mit leichtem Nachdruck nach.

»Ja, Anton. Du bist doch nicht umsonst zu mir gekommen.«

»Ich musste dir einfach erzählen, in was für eine Sache ich da reingeraten bin.«

»Kann ja sein. Aber da der Chef…«Das Wort»Chef«ließ sie sich förmlich auf der Zunge zergehen, legte sowohl Respekt wie auch Ironie in es hinein.»… dir gestattet hat, dich mir zu erkennen zu geben, soll ich dir offensichtlich helfen. Und wenn es nur auf Geheiß des Schicksals ist«, konnte sie sich nicht verkneifen hinzuzufügen.

Ich kapitulierte.

»Ich darf nicht allein sein. Nicht eine Minute. Der ganze Plan basiert darauf, dass die Dunklen ihre Bauern bewusst opfern, indem sie sie entweder umbringen oder sterben lassen.«

»Wie damals?«

»Ja, genau. Und wenn sie es damit auf mich abgesehen haben, wird es einen weiteren Mord geben. Und zwar in dem Moment, wenn ich - ihrer Ansicht nach natürlich - kein Alibi habe.«

Swetlana sah mich an und stützte das Kinn in die Hände. Langsam schüttelte sie den Kopf.»Und dann, Anton, springst du aus diesem Körper heraus wie der Teufel aus der Schachtel. Also kannst du diese Serienmorde unmöglich begangen haben. Und der Feind ist blamiert.«

»Hm.«

»Du musst mich schon entschuldigen. Ich bin noch nicht lange bei der Wache, vielleicht verstehe ich da etwas nicht.«

Ich horchte auf. Ganz kurz zauderte Swetlana.

»Als das alles mit mir passiert ist…«, fuhr sie dann fort.»Wie war das denn damals? Die Dunklen versuchten, mich zu initiieren. Sie wussten, dass die Nachtwache das bemerken würde, und hatten sogar rausbekommen, dass du dich einmischen und mir helfen konntest.«

»Ja.«

»Deshalb wurde eine Kombination gespielt, bei der mehrere Figuren geopfert und einige falsche Kraftzentren geschaffen wurden. Zunächst ist die Nachtwache den Dunklen auch auf den Leim gegangen. Wenn der Chef nicht seinerseits sein Spiel durchgezogen hätte, wenn du nicht losgeprescht wärst, ohne dabei nach links und nach rechts zu schauen…«

»Dann wärst du jetzt meine Feindin«, sagte ich.»Und würdest von der Tagwache ausgebildet.«

»Das meine ich nicht, Anton. Ich bin dir dankbar, bin der ganzen Nachtwache dankbar, vor allem aber dir. Aber darum geht es nicht. Du musst doch einsehen, dass das, was du mir eben erzählt hast, genauso glaubhaft ist wie meine Geschichte. Hat da nicht auch eins zum andern gepasst? Das wildernde Vampirpärchen. Der Junge mit den ausgeprägten Fähigkeiten eines Anderen. Die Frau mit dem starken Fluch. Die globale Gefahr für die Stadt.«

Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte. Während ich sie ansah, spürte ich, wie ich errötete. Eine junge Frau, die noch nicht einmal ein Drittel aller Kurse besucht hatte, eine Anfängerin in unserem Geschäft, legt mir die Situation so dar, wie ich sie ihr hätte darlegen sollen.

»Was passiert jetzt?«Swetlana bemerkte nicht, dass ich vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre.»Ein Serienmörder, der Dunkle vernichtet. Du stehst auf der Liste der Verdächtigen. Der Chef hat prompt einen raffinierten Schachzug auf Lager: Du tauschst mit Olga den Körper. Doch wie raffiniert ist dieser Zug tatsächlich? Soviel ich weiß, ist die Praxis des Körper-tauschs weit verbreitet. Boris Ignatjewitsch selbst hat erst vor kurzem auf sie zurückgegriffen, oder etwa nicht? Hat er früher schon mal versucht, den gleichen Trick zweimal hintereinander anzuwenden? Gegen ein und denselben Gegner?«

»Ich weiß es nicht, Sweta, in die Details der Operation bin ich nicht eingeweiht.«

»Dann benutz deinen eigenen Kopf! Und noch was: Ist Sebulon wirklich so ein kleinkrämerischer, rachsüchtiger Hysteriker? Er ist doch bereits Hunderte von Jahren alt, oder? Die Tagwache leitet er nicht erst seit gestern. Wenn dieser Verrückte…«

»Der Wilde.«

»Wenn dieser Wilde sich ungehindert in den Straßen Moskaus austoben durfte, um eine Intrige vorzubereiten, warum sollte der Leiter der Tagwache ihn dann für eine derartige Belanglosigkeit verschwenden? Entschuldige, Anton, aber du bist nun wirklich kein besonders großes Ziel.«

»Ist mir ja klar. Offiziell bin ich ein Magier fünften Grades. Aber der Chef hat gesagt, dass ich eigentlich auf den dritten Grad Anspruch erheben könnte.«

»Selbst dann nicht.«

Wir sahen einander an, und ich breitete die Arme aus.»Ich geb auf. Wahrscheinlich hast du Recht, Swetlana. Aber ich habe dir nur erzählt, was ich weiß. Und andere Varianten sehe ich nicht.«

»Das heißt, du wirst die Anordnungen befolgen? In einem Rock herumlaufen, keine Minute allein sein?«

»Als ich in die Wache eingetreten bin, wusste ich, dass ich einen Teil meiner Freiheit verliere.«

»Einen Teil.«Swetlana schnaubte.»Gut gesagt. Aber lassen wir das, du kannst das besser beurteilen. Wir bleiben die Nacht über also zusammen?«

»Ja«, nickte ich.»Aber nicht hier. Es wäre besser, wenn ich die ganze Zeit unter Leuten wären.«

»Und wann willst du schlafen?«

»Es ist nicht schwer, ein paar Tage nicht zu schlafen.«Ich zuckte mit den Schultern.»Ich glaube, Olgas Körper ist genauso gut in Form wie meiner. In den letzten Monaten hat sie sich permanent ins Nachtleben gestürzt.«

»Aber ich bin mit diesen Kunststückchen noch nicht vertraut, Anton. Wann soll ich schlafen?«

»Tagsüber. Im Unterricht.«

Sie verzog das Gesicht. Ich wusste, dass Swetlana zustimmen würde, sie konnte gar nicht anders. Ihr Charakter hätte es ihr nicht einmal gestattet, einer Zufallsbekanntschaft Hilfe zu verweigern - und eine Zufallsbekanntschaft war ich nun doch nicht.

»Gehen wir in den Maharadscha?«, schlug ich vor.

»Was ist das?«

»Ein indisches Restaurant, sehr anständig.«

»Hat es die ganze Nacht über auf?«

»Nein, leider nicht. Uns wird schon noch einfallen, wohin wir danach gehen können.«

Swetlana blickte mich so lange an, dass selbst das mir eigene dicke Fell nicht ausreichte. Was hatte ich jetzt schon wieder falsch gemacht?

»Ich danke dir, Anton«, sagte Swetlana voller Gefühl.»Aufrichtig. Du lädst mich in ein Restaurant ein. Darauf warte ich schon seit zwei Monaten.«

Sie stand auf, ging zum Schrank, öffnete ihn und blickte gedankenverloren auf die darin hängenden Kleidungsstücke.»In deiner Größe finde ich nichts Ordentliches«, meinte sie.»Du musst wieder die Jeans anziehen. Ob sie dich so ins Restaurant lassen?«

»Bestimmt«, sagte ich nicht sehr überzeugt. Schlimmstenfalls könnte ich ja immer noch eine leichte Manipulation des Personals vornehmen.

»Wenn es Probleme geben sollte, übe ich die Suggestion«, sagte Swetlana, als hätte sie meine Gedanken gelesen.»Ich werde sie zwingen, uns einzulassen. Das ist doch für eine gute Sache, oder?«

»Natürlich.«

»Weißt du was, Anton?«Swetlana nahm ein Kleid vom Bügel, hielt es sich an und schüttelte den Kopf. Daraufhin nahm sie ein beigefarbenes Kostüm heraus.»Mich erstaunt die Geschicklichkeit, mit der die Wächter der Nacht jede Manipulation der Wirklichkeit mit den Interessen des Guten und des Lichts erklären können.«

»Nicht jede!«, empörte ich mich.

»Jede, ganz bestimmt. Im Notfall ist selbst Raub eine gute Sache. Und Mord.«

»Nein.«

»Bist du da so sicher? Wie oft musstest du schon in das Bewusstsein anderer Menschen eindringen? Selbst unser Treffen: Du hast mich gezwungen zu glauben, dass wir alte Bekannte sind. Nutzt du deine Fähigkeiten als Anderer oft im Leben?«

»Ja. Aber…«

»Stell dir vor, du gehst eine Straße entlang. Vor deinen Augen schlägt ein Erwachsener ein Kind. Was machst du?«

»Wenn mein Limit für Interventionen noch nicht ausgeschöpft ist«- ich zuckte mit den Schultern -,»nehm ich eine Remoralisierung vor. Was sonst?«

»Und du wärst dir sicher, dass du das Richtige tust?

Du würdest nicht lange nachdenken, dich nicht näher damit befassen? Was ist, wenn das Kind für etwas bestraft wird? Wenn diese Strafe es in Zukunft vor größeren Unannehmlichkeiten bewahrt und es jetzt zum Mörder und Banditen heranwächst? Aber du nimmst erst mal eine Remoralisierung vor!«

»Sweta, du irrst dich.«

»Wieso denn?«

»Selbst wenn ich kein Limit für parapsychologische Manipulationen hätte, würde ich nicht einfach vorbeigehen.«

Swetlana schnaubte.»Aber du wärest überzeugt, das Richtige zu tun? Wo ist da die Grenze?«

»Die Grenze bestimmt jeder selbst. So ist das nun mal.«

Nachdenklich schaute sie mich an.»Anton, diese Fragen stellt doch jeder Neuling, oder?«

»Ja«, lächelte ich.

»Und du hast dich daran gewöhnt, sie zu beantworten, hast eine paar Antworten, Sophismen, Beispiele aus der Geschichte und Analogien in petto.«

»Nein, Sweta. So ist das nicht. Die Dunklen stellen diese Fragen überhaupt nicht.«

»Woher weißt du das?«

»Ein Dunkler Magier kann heilen, ein Lichter Magier kann töten«, sagte ich.»Das stimmt. Weißt du, worin der Unterschied zwischen dem Licht und dem Dunkel besteht?«

»Nein. Aus irgendeinem Grund erklärt man uns das nicht. Wahrscheinlich lässt sich das nur schwer in Worte fassen?«

»Überhaupt nicht. Wenn du in erster Linie an dich denkst, an deine Interessen, dann führt dein Weg zum Dunkel. Wenn du an andere denkst, zum Licht.«

»Und braucht man lange, um dorthin zu kommen? Zum Licht?«

»Ewig.«

»Das sind doch nur Worte, Anton. Nur ein Spiel mit Worten. Was sagt ein erfahrener Dunkler einem Neuling? Vielleicht auch so schöne und zutreffende Worte?«

»Ja. Über die Freiheit. Darüber, dass jeder im Leben den Platz einnimmt, den er verdient. Darüber, dass jede Form von Mitleid erniedrigend ist, dass echte Liebe blind, echte Güte hilflos macht, darüber, dass wirkliche Freiheit bedeutet, frei von allen anderen zu sein.«

»Und stimmt das nicht?«

»Doch.«Ich nickte.»Das ist auch ein Teil der Wahrheit. Sweta, wir können nicht die absolute Wahrheit wählen. Denn sie hat immer zwei Seiten. Alles, was wir haben, ist das Recht, uns derjenigen Lüge zu verweigern, die unangenehmer ist. Weißt du, was ich den Anfängern beim ersten Mal über das Zwielicht sage? Wir treten in es hinein, um Kraft zu bekommen. Und der Preis dafür ist der Verzicht auf den Teil der Wahrheit, den wir nicht akzeptieren wollen. Die Menschen haben es leichter. Millionenmal leichter, mit all ihren Nöten, Problemen und Sorgen, die für uns Andere überhaupt nicht existieren. Die Menschen stehen nicht vor der Wahl: Sie können gut und böse sein, alles hängt vom Augenblick ab, von der Umgebung, von einem am Abend zuvor gelesenen Buch oder vom Beefsteak, das sie zu Mittag gegessen haben. Darum sind

sie so leicht zu lenken, kann selbst der schlimmste Schuft leicht zum Licht gebracht und der gütigste und dankbarste Mensch zum Dunkel gedrängt werden. Wir sind es, die wählen müssen.«

»Das habe ich doch bereits getan, Anton. Schließlich bin ich schon ins Zwielicht eingetreten.«

»Stimmt.«

»Warum verstehe ich dann nicht, wo die Grenze ist, worin der Unterschied zwischen mir und irgendeiner Hexe besteht, die an schwarzen Messen teilnimmt? Warum stelle ich diese Fragen?«

»Du wirst sie immer stellen. Am Anfang laut. Später dir selbst. Das geht nicht vorbei, niemals. Wenn du diesen quälenden Fragen entkommen wolltest, hättest du die andere Seite wählen müssen.«

»Ich habe die gewählt, die ich wollte.«

»Ich weiß. Deshalb musst du das ertragen.«

»Das ganze Leben lang?«

»Ja. Und obwohl das lang sein wird, wirst du dich nie daran gewöhnen. Niemals wirst du der Frage entkommen, wie gerechtfertigt jeder einzelne Schritt ist, den du getan hast.«

Drei

Maxim mochte keine Restaurants. Aufgrund seiner Natur nicht. Bei weitem ungezwungener und entspannter fühlte er sich in Bars und Clubs, mitunter sogar in den teureren, wo man auf übertrieben gepflegtes Auftreten jedoch keinen Wert legte. Manche Gäste verhielten sich natürlich selbst in noblen Restaurants wie rote Kommissare während einer Verhandlung mit einem Bourgeois: ohne Manieren, ohne den geringsten Wunsch, sie sich anzueignen. Doch warum sollte er den neureichen Russen aus den Witzen nacheifern?

Die letzte Nacht musste jedoch wieder gutgemacht werden. Seine Frau glaubte entweder tatsächlich an das»wichtige Geschäftstreffen«oder tat zumindest so, als ob. Dennoch plagten ihn leichte Gewissensbisse. Wenn sie doch die Wahrheit wüsste! Wenn sie bloß ahnen würde, wer er eigentlich war und womit er sich befasste!

Maxim konnte ihr nichts sagen. Und musste die seltsame nächtliche Abwesenheit mit denselben Methoden wettmachen, zu denen jeder anständige Ehemann nach einer Nacht bei seiner Geliebten greift. Geschenke, Aufmerksamkeit, Ausgehen. Zum Beispiel in ein gutes, angesehenes Restaurant mit ausgesuchter exotischer Küche, ausländischem Personal, edler Innenausstattung und einer umfangreichen Weinkarte.

Ob Jelena ihn wirklich verdächtigte, sie letzte Nacht betrogen zu haben? Die Frage beschäftigte Maxim zwar, aber nicht in dem Maße, dass er sie laut gestellt hätte. Etwas muss man immer unausgesprochen lassen. Vielleicht würde sie eines Tages die Wahrheit erfahren. Und stolz auf ihn sein.

Vermutlich hegte er jedoch falsche Hoffnungen. Da machte er sich nichts vor. In einer Welt, in der die Ausgeburten des Bösen und des Dunkels hausten, war er der einzige Lichte Ritter, unendlich einsam, bar jeder Möglichkeit, mit jemandem die Wahrheit zu teilen, die sich ihm ab und zu offenbarte. Anfangs hatte Maxim noch darauf gehofft, jemandem zu begegnen, der war wie er: einem Sehenden im Land der Blinden, einem Wachhund, fähig, in der arglosen Herde den Wolf im Schafspelz zu wittern.

Nein. So jemanden gab es nicht, niemanden gab es, der sich ihm hätte anschließen können.

Und trotzdem legte er die Hände nicht in den Schoß.

»Was meinst du, soll ich das nehmen?«

Maxim schielte auf die Speisekarte. Worum es sich bei einer Malai Kofta handelte, wusste er auch nicht. Doch dergleichen hinderte ihn nie, etwas auszusuchen. Schließlich waren die Zutaten aufgelistet.

»Nimm es. Fleisch mit Sahnesoße.«

»Rindfleisch?«

Im ersten Moment begriff er nicht, dass Jelena nur scherzte. Dann reagierte er auf ihr Schmunzeln.»Bestimmt.«

»Und wenn ich ein Gericht mit Rindfleisch bestelle?«

»Werden sie dich freundlich darauf hinweisen, dass sie es nicht haben«, vermutete Maxim. Die Pflicht, seine Frau zu unterhalten, verlangte ihm nicht viel Mühe ab. Gestaltete sich eher angenehm. Und trotzdem hätte er jetzt mit großem Vergnügen bloß das Lokal im Auge behalten. Irgendwas stimmte hier nicht. Irgendwas schimmerte im Halbdunkel auf, jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken, zwang ihn, zu blinzeln und zu beobachten, ohne Ende zu beobachten…

Konnte das sein?

Normalerweise lagen zwischen seinen Missionen ein paar Monate, ein halbes Jahr. Aber noch am selben Tag…

Doch diese Symptome kannte er nur zu gut.

Maxim steckte die Hand in die Innentasche seines Jacketts, als tastete er nach seiner Brieftasche. Eigentlich trieb ihn jedoch etwas anderes um - ein kleiner Holzdolch, einst voller Eifer, aber ohne jedes Geschick geschnitzt. Eigenhändig hatte er die Waffe glatt gehobelt, noch in seiner Kindheit, ohne zu verstehen, wozu, aber ahnend: Das ist nicht nur ein Spielzeug.

Der Dolch wartete.

Wer war es?

»Max?«In Jelenas Stimme schwang ein Vorwurf mit.»Träumst du?«

Sie stießen an. Ein schlechtes Vorzeichen - wenn Frau und Mann anstoßen, geht der Familie das Geld aus. Aber Maxim litt nicht unter Aberglauben.

Wer also?

Anfänglich hatte er zwei Frauen in Verdacht. Beide sehr sympathisch, sogar schön, aber jede auf ihre Weise. Die etwas kleinere hatte schwarzes Haar, war kräftig gebaut und bewegte sich auf eine eckige, fast männliche Art - als platze sie förmlich vor Energie. Von ihr ging auch das sexuelle Fluidum aus. Die größere war hellblond, ruhiger, zurückhaltender. Und von ganz anderer, eher beruhigender Schönheit.

Maxim fing den aufmerksamen Blick seiner Frau auf und sah woanders hin.

»Lesben«, sagte seine Frau voller Verachtung.

»Was?«

»Guck sie dir doch an! Die Dunkelhaarige, die in den Jeans, ist doch ein halber Kerl.«

In der Tat. Maxim nickte und setzte eine entsprechende Miene auf.

Nicht die. Also doch nicht die. Wer dann, wer?

In einer Ecke des Saals piepte ein Mobiltelefon los, worauf sofort ein Dutzend Leute automatisch nach ihren Handys langten. Maxim folgte dem Klingeln - und der Atem stockte ihm.

Der Mann, der da einsilbig mit leiser Stimme antwortete, war nicht einfach ein Böser. Ihn hüllte von Kopf bis Fuß ein schwarzer Schleier ein, den andere Menschen nicht sehen, den Maxim aber wahrnehmen konnte.

Er verströmte Gefahr, eine dräuende, fürchterliche Gefahr.

Schmerz durchzuckte Maxims Brust.

»Weißt du, Lena, ich würde gern auf einer einsamen Insel leben«, meinte er plötzlich zu seiner eigenen Überraschung.

»Allein?«

»Mit dir, mit den Kindern. Aber sonst niemand. Kein anderer.«

In einem Zug trank er seinen Wein aus, worauf der Kellner ihm sofort nachschenkte.

»Ich würde das nicht wollen«, sagte seine Frau.

»Ich weiß.«

Der Dolch in seiner Tasche lastete jetzt schwer und brannte heiß. Erregung überrollte ihn, heftige, fast sexuelle Erregung. Die nach Entladung verlangte.

»Kennst du Edgar Allan Poe?«, fragte Swetlana.

Man hatte uns ohne weiteres eingelassen, damit hatte ich im Grunde nicht gerechnet. Vielleicht handhabte man die Regeln in diesem Restaurant mittlerweile demokratischer, als ich es in Erinnerung hatte, vielleicht mangelte es auch an Gästen.

»Nein. Er ist schon zu lange tot. Aber Semjon hat mal gesagt…«

»Doch nicht Poe als Person. Seine Erzählungen.«

»Der Mann in der Menge«, ahnte ich.

Swetlana lachte leise.»Ja. Du bist jetzt in seiner Lage. Denn du bist gezwungen, an Orten mit vielen Menschen herumzuirren.«

»Noch hängen mir diese Orte nicht zum Halse raus.«

Wir bestellten einen Bailey’s und etwas zu essen. Vermutlich brachte das die Kellner auf einen bestimmten Gedanken für den Grund unseres Besuchs: zwei unerfahrene Prostituierte auf Arbeitssuche - aber das ließ mich im Grunde kalt.

»War er ein Anderer?«

»Poe? Möglicherweise einer, der nicht initiiert war.«

»Es wohnt in manchen körperlosen Dingen

Ein doppelt Leben: zwiefach und doch eins -

Ein Abbild jener Wesenheit, darinnen

Materie und Licht der Kern des Seins«,

trug Sweta leise vor.

Erstaunt sah ich sie an.

»Kennst du es?«

»Was soll ich dir darauf antworten?«Ich hob den Blick und rezitierte feierlich:

»Er ist das verkörperte Schweigen - doch er droht

Mit keiner Macht dir, die man böse heißt;

Nur wenn des Schicksals Zwang (unzeit’ge Not!)

Sein Schatten dir erwächst (gewalt’ger Geist,

Der in Regionen haust, darin ein Spott

Des Menschen Macht) - ah, dann empfiehl dich Gott!«

Eine Sekunde lang sahen wir einander an, dann lachten wir gleichzeitig los.

»Ein kleines literarisches Duell«, bemerkte Swetlana bissig.»Es steht eins zu eins. Schade, dass wir keine Zuschauer haben. Und warum ist Poe nicht initiiert worden?«

»Unter Dichtern gibt es ohnehin viele potenzielle Andere. Aber manche Kandidaten lässt man lieber als Menschen leben. Poe hatte eine zu labile Psyche. Hätte man ihm unsere Möglichkeiten an die Hand gegeben, hätte man auch gleich einem Pyromanen einen Kanister mit Napalm schenken können. Ich würde noch nicht einmal wagen zu sagen, auf welche Seite er sich gestellt hätte. Am ehesten wäre er wohl für immer ins Zwielicht eingegangen, und zwar sehr schnell.«

»Und wie leben sie dort? Diejenigen, die dorthin gegangen sind?«

»Ich weiß es nicht, Swetlana. Wahrscheinlich weiß das niemand. Manchmal trifft man sie in der ZwielichtWelt, aber zu einer Kommunikation im üblichen Sinne kommt es nicht.«

»Ich würde das gern herausfinden.«Gedankenverloren ließ Swetlana den Blick durchs Lokal schweifen.»Ist dir hier ein Anderer aufgefallen?«

»Der Alte hinter mir, mit dem Handy.«

»Der ist doch nicht alt.«

»Er ist sehr alt. Ich habe ihn nicht mit den Augen angeschaut.«

Swetlana biss sich auf die Lippe und kniff die Augen zusammen. Allmählich erwachte der Ehrgeiz in ihr.

»Das schaff ich noch nicht«, gab sie zu.»Ich krieg noch nicht mal mit, ob er ein Lichter oder ein Dunkler ist.«

»Ein Dunkler. Nicht aus der Tagwache, aber ein Dunkler. Ein Magier von durchschnittlicher Kraft. Er hat uns übrigens auch bemerkt.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir? Nichts.«

»Aber er ist doch ein Dunkler!«

»Ja, und wir sind Lichte. Na und? Als Mitarbeiter der Wache haben wir das Recht, seine Papiere zu überprüfen. Die dürften in Ordnung sein.«

»Und wann hätten wir das Recht, etwas zu unternehmen?«

»Nun, wenn er jetzt aufsteht, die Arme schwenkt, sich in einen Dämon verwandelt und anfängt, allen den Kopf abzubeißen…«

»Anton!«

»Das ist mein völliger Ernst. Wir haben kein Recht, einen ehrlichen Dunklen Magier daran zu hindern, sich ein wenig zu amüsieren.«

Der Kellner brachte unser Essen, wir schwiegen. Swetlana aß ohne jeden Appetit.

»Und wie lange will die Wache so vor ihnen kriechen?«, fragte sie nach einer Weile patzig wie ein verwöhntes Kind.

»Vor den Dunklen?«

»Ja.«

»So lange, bis wir einen entscheidenden Vorteil errungen haben. So lange, wie die Menschen, die zu Anderen werden, auch nur den Bruchteil einer Sekunde zögern, was sie wählen sollen: das Licht oder das Dunkel. Solange die Dunklen nicht altersbedingt einer nach dem anderen wegsterben. So lange, bis sie die Menschen nicht mehr so leicht auf die Seite des Bösen treiben können wie jetzt.«

»Aber das kommt einer Kapitulation gleich, Anton!«

»Das bedeutet Neutralität. Status quo. Beide Seiten stehen unter Zeitdruck, da brauchen wir uns nichts vorzumachen.«

»Weißt du, der Wilde, der ganz allein diese Panik unter den Dunklen auslöst, ist mir weitaus sympathischer. Soll er doch gegen den Vertrag verstoßen, soll er uns doch unfreiwillig kompromittieren! Aber immerhin kämpft er gegen das Dunkel, verstehst du, er kämpft dagegen! Einer gegen alle!«

»Hast du dir nicht mal überlegt, warum er Dunkle umbringt, aber keinen Kontakt zu uns aufnimmt?«

»Nein.«

»Er sieht uns nicht, Swetlana. Für ihn sind wir Luft.«

»Er ist halt ein Autodidakt.«

»Stimmt. Ein begabter Autodidakt. Ein Anderer mit chaotisch hervorbrechenden Fähigkeiten. In der Lage, das Böse zu sehen. Aber nicht in der Lage, das Gute zu erkennen. Kommt dir das nicht komisch vor?«

»Nein«, sagte Swetlana verdrossen.»Tut mir Leid, aber ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Olga, entschuldige, Anton. Du sprichst schon genau wie sie.«

»Macht nichts.«

»Der Dunkle ist irgendwohin verschwunden«, bemerkte Swetlana, während sie über meine Schulter linste.»Um fremde Kräfte aufzusaugen, um böse Zauber zu wirken. Und wir unternehmen nichts.«

Ich drehte den Kopf ein wenig nach hinten. Erblickte den Dunklen - der äußerlich tatsächlich kaum wie dreißig wirkte. Er war geschmackvoll gekleidet, einnehmend. An seinem Tisch saßen noch eine junge Frau und zwei Kinder, ein Junge von ungefähr sieben Jahren und ein etwas jüngeres Mädchen.

»Austreten ist er gegangen, Sweta. Pinkeln. Seine Familie ist übrigens völlig normal. Hat keine Fähigkeiten. Willst du die etwa auch liquidieren?«

»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm…«

»Sag das mal Garik. Sein Vater ist ein Dunkler Magier. Und lebt noch immer.«

»Es gibt Ausnahmen.«

»Das ganze Leben besteht aus Ausnahmen.«

Swetlana verstummte.

»Ich kenne diesen Drang, Sweta. Gutes zu tun, das Böse zu vertreiben. Ein für alle Mal. Ich bin genauso. Aber wenn du nicht einsiehst, dass das eine Sackgasse ist, endest du im Zwielicht. Und irgendjemand von uns wird gezwungen sein, deine irdische Existenz zu beenden.«

»Dafür werde ich aber etwas ausrichten.«

»Weißt du, wie deine Taten von außen aussehen würden? Eine Psychopathin, die blindwütig anständige Leute umbringt. In allen Zeitungen Artikel, die dir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Klangvolle Beinamen wie die Borgia von Moskau. Du würdest in den Herzen der Menschen so viel Böses wecken, wie es eine Brigade Dunkler Magier in einem Jahr nicht schafft.«

»Warum habt ihr immer auf alles eine Antwort parat?«, fragte Swetlana bitter.

»Weil wir unsere Lehrjahre hinter uns haben. Und überlebt haben. Die meisten zumindest!«

Ich rief den Kellner herbei und bat um die Speisekarte.

»Willst du einen Cocktail?«, fragte ich.»Und dann verschwinden wir von hier? Such dir was aus.«

Swetlana nickte und studierte die Getränkekarte. Der Kellner, ein dunkelhäutiger, groß gewachsener Ausländer, wartete. Er hatte schon viel gesehen, und zwei Frauen, von denen sich eine wie ein Mann benahm, brachten ihn wahrlich nicht in Verlegenheit.

»Alter ego«, sagte Swetlana.

Zweifelnd schüttelte ich den Kopf - das war einer der stärksten Cocktails. Doch ich wollte keinen Streit anfangen.»Zwei Cocktails und die Rechnung.«

Während der Barkeeper unsere Cocktails mixte und der Kellner sich mit der Rechnung abplagte, saßen wir da und schwiegen bedrückt.

»Gut, das mit den Dichtern hätten wir geklärt«, sagte Swetlana schließlich.»Sie sind potenzielle Andere. Aber was ist mit den Verbrechern? Mit Caligula, Hitler und irrsinnigen Mördern?«

»Das sind Menschen.«

»Alle?«

»In der Regel, ja. Wir haben unsere eigenen Übeltäter. Ihre Namen sagen den Menschen nichts, aber für euch fängt bald der Geschichtskurs an.«

Der Alter ego verdiente seinen Namen. Zwei schwere, unvermischte Schichten wogten in einem Glas, eine schwarze und eine weiße, süßer Sahnelikör und bitteres dunkles Bier.

Ich zahlte bar - elektronische Spuren hinterlasse ich möglichst selten - und hob das Glas.»Auf die Wache.«

»Auf die Wache«, schloss sich Swetlana an.»Und auf dein Glück, damit du aus dieser Geschichte mit heiler Haut davonkommst.«

Liebend gern hätte ich sie gebeten, auf Holz zu klopfen. Doch ich schwieg. Trank den Cocktail in zwei Schlucken, zunächst die zarte Süße, dann ein leicht bitterer Geschmack.

»Nicht übel«, sagte Swetlana.»Weißt du, mir gefällt es hier. Wollen wir nicht noch ein wenig bleiben?«

»In Moskau gibt es viele angenehme Bars. Lass uns irgendwo hingehen, wo kein schwarzer Magier verkehrt.«

Sweta nickte.»Er ist übrigens noch nicht wieder aufgetaucht«, meinte sie.

Ich schaute auf die Uhr. Hm, in dieser Zeit hätte er ein paar Eimer voll pinkeln können.

Am befremdlichsten war jedoch, dass die Familie des Magiers immer noch am Tisch saß. Und die Frau langsam echt nervös wurde.

»Sweta, ich geh mal wohin.«

»Vergiss nicht, wer du bist!«, flüsterte sie mir hinterher.

Völlig richtig. Dem Dunklen Magier in die Toilette nachzugehen würde in der Tat seltsam anmuten.

Trotzdem ging ich durchs Restaurant, wobei ich im Gehen durchs Zwielicht spähte. Jetzt hätte ich eigentlich die Aura des Magiers sehen müssen, doch um mich herum breitete sich nur graue Leere aus, gesprenkelt mit den Farbtupfern gewöhnlicher Auren, von zufriedenen, besorgten, sinnlichen, betrunkenen, fröhlichen Auren.

Er würde doch nicht durch die Kanalisation gesickert sein!

Einzig jenseits der Mauern des Gebäudes, in der Nähe der weißrussischen Botschaft, leuchtete ein schwaches kleines Feuer, die Aura eines Anderen. Jedoch nicht die des Dunklen Magiers, sondern eine viel schwächere mit anderer Einfärbung.

Wohin war er verschwunden?

In dem schmalen Gang, der zu zwei Türen führte, war niemand. Einen Augenblick zögerte ich - ach, was soll schon sein, vielleicht haben wir ihn einfach nicht bemerkt, vielleicht ist der Magier durchs Zwielicht verschwunden, vielleicht verfügt er über eine derartige Kraft, dass er zur Teleportation in der Lage ist. Dann öffnete ich die Tür zur Herrentoilette.

Hier war es sehr sauber, sehr hell, etwas eng und roch stark nach einem blumigen Frischluftspray.

Der Dunkle Magier lag mit ausgestreckten Armen direkt hinter der Tür, die sich deshalb noch nicht einmal richtig öffnen ließ. Auf seinem Gesicht spiegelte sich ein verstörter, verständnisloser Ausdruck wider. In der gespreizten Hand erblickte ich das Glitzern eines dünnen Kristallröhrchens. Er hatte nach seiner Waffe gegriffen, aber zu spät.

Blut war nirgends zu sehen. Nichts war zu sehen, selbst als ich noch einmal durchs Zwielicht spähte, vermochte ich nicht die geringste Spur von Magie festzustellen.

Als ob der Dunkle Magier an einem banalen Herzinfarkt oder Schlaganfall gestorben wäre, als ob er so hätte sterben können.

Doch es gab ein Detail, das dieser Version aufs Entschiedenste widersprach.

Ein kleiner Schnitt im Hemdkragen. Ein ganz feiner, wie von einer Rasierklinge. Als ob man ihm ein Messer in die Kehle gestoßen hätte und dabei am Stoff hängen geblieben wäre. Nur dass an der Haut keinerlei Spuren eines solchen Angriffs zu sehen waren.

»Dreckskerle!«, flüsterte ich, ohne zu wissen, gegen wen sich dieser Fluch richtete.»Dreckskerle!«

Man hätte sich kaum eine blödere Situation vorstellen können als die, in die ich geraten war. Den Körper zu tauschen, mit einer»Zeugin«in ein gut besuchtes Restaurant zu gehen - um dann völlig allein über der Leiche eines Dunklen Magiers zu stehen, der vom Wilden ermordet worden war.

»Gehen wir, Pawlik«, hörte ich es hinter mir sagen.

Ich drehte mich um: Die Frau vom Tisch des Dunklen Magiers kam in den Gang, ihren Sohn an der Hand.

»Ich will nicht, Mama!«, quengelte der Junge bockig.

»Du gehst da rein und sagst Papa, dass wir auf ihn warten«, verlangte die Frau geduldig. Im nächsten Moment hob sie den Kopf und erblickte mich.

»Holen Sie Hilfe!«, schrie ich verzweifelt.»Machen Sie schon! Dem Mann geht es nicht gut! Bringen Sie das Kind weg und holen Sie Hilfe!«

Offenbar hörten mich alle, denn Olga hatte eine kräftige Stimme. Sofort senkte sich Stille herab, die monotone traditionelle Musik dudelte zwar weiter, doch das Stimmengewirr verebbte.

Natürlich machte die Frau nicht, was ich verlangte. Sie schoss auf mich zu, stieß mich von der Tür weg, brach über dem Körper ihres Mannes zusammen und wehklagte - ja, wehklagte - mit einer Stimme, die bereits wusste, was geschehen war, während ihre Hände keine Ruhe gaben, den eingerissenen Hemdkragen aufknöpften und den reglosen Körper rüttelten. Schließlich ohrfeigte die Frau den Magier, als hoffe sie, er spiele ihr nur etwas vor oder sei lediglich ohnmächtig geworden.

»Mama, warum haust du Papa?«, rief der Junge mit dünner Stimme. Nicht erschrocken, sondern erstaunt, offensichtlich hatte er dergleichen noch nie erlebt. Eine liebevolle Familie.

Ich packte den Jungen bei der Schulter und führte ihn behutsam weg. Im Gang drängten sich bereits Menschen zusammen. Ich erblickte Sweta. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie hatte sofort alles begriffen.

»Bringen Sie das Kind weg«, bat ich den Kellner.»Offenbar ist hier jemand gestorben.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte der Kellner völlig ruhig. Ohne jenen Akzent, dessen er sich befleißigte, wenn er Gäste bediente.

»Ich.«

Der Kellner nickte, übergab den Jungen - der jetzt weinte, hatte er doch begriffen, dass in seiner kleinen heilen Welt etwas Schlimmes geschehen war - rasch einer der weiblichen Angestellten.

»Und was hatten Sie in der Herrentoilette zu suchen?«

»Die Tür stand offen, da habe ich ihn liegen sehen«, log ich, ohne darüber nachzudenken.

Der Kellner nickte und räumte damit die Möglichkeit eines solchen Hergangs ein. Gleichzeitig packte er mich jedoch fest am Ellbogen.

»Sie müssen auf die Miliz warten, meine Dame.«

Inzwischen hatte sich Swetlana zu uns durchgedrängelt und kniff die Augen zusammen, kaum hatte sie die letzten Worte aufgeschnappt. Das hatte noch gefehlt: dass sie den Umstehenden das Gedächtnis löschte!

»Natürlich, selbstverständlich.«Ich machte einen Schritt, worauf der Kellner unwillkürlich meine Hand freigab und hinter mir herkam.»Sweta, da ist etwas Fürchterliches geschehen. Eine Leiche.«

»Olga.«Swetlana reagierte richtig. Umarmte mich, bedachte den Kellner mit einem ungehaltenen Blick und wollte mich zu den Tischen zurückziehen.

In diesem Moment stürmte der Junge an uns vorbei, nachdem er sich seinen Weg durch die sensationslüsterne, neugierige Menge hindurch gebahnt hatte. Heulend stürzte er sich auf seine Mutter, die man gerade von der Leiche wegzog. Die Frau hatte die allgemeine Aufregung genutzt, um sich noch einmal neben ihren toten Mann fallen zu lassen und ihn zu rütteln.

»Steh auf! Gena, steh auf! Steh sofort auf!«

Ich spürte, wie Swetlana zusammenzuckte, als sie diese Szene beobachtete.

»Nun?«, flüsterte ich.»Sollen wir die Dunklen mit Feuer und Schwert ausrotten?«

»Warum hast du das getan? Ich hätte es auch so verstanden!«, zischte Swetlana böse zurück.

»Was?!«

Wir sahen einander an.

»Das warst nicht du?«, fragte Sweta unsicher.»Entschuldige, aber das hatte ich geglaubt.«

In dieser Sekunde begriff ich, dass ich wirklich in der Klemme saß.

Der Ermittler interessierte sich nicht sonderlich für mich. In seinen Augen las ich die bereits gefasste Meinung: natürlicher Tod. Ein schwaches Herz, Missbrauch von Drogen, das Übliche halt. Mit einem Mann, der in teuren Restaurants verkehrte, hatte er kein Mitleid - und brauchte es nicht zu haben.

»Die Leiche hat so gelegen?«

»Ja, so«, bestätigte ich müde.»Fürchterlich!«

Der Ermittler zuckte die Achseln. Etwas Fürchterliches konnte er an dieser Leiche nicht entdecken, sie schwamm ja noch nicht mal in Blut.

»Ja, ein schrecklicher Anblick«, entgegnete er trotz allem voller Großmut.»War jemand in der Nähe?«

»Nein. Später ist eine Frau aufgetaucht, die Ehefrau der Leiche, mit ihrem Sohn.«

Ein schiefes Lächeln belohnte mich für diese absichtlich wirre Rede.

»Vielen Dank, Olga. Möglicherweise werden wir uns noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen. Sie haben doch nicht vor, die Stadt zu verlassen?«

Eifrig bewegte ich den Kopf hin und her. Die Miliz beunruhigte mich nicht im Mindesten.

Der Chef, der bescheiden an einem Ecktisch saß, dagegen umso mehr.

Der Ermittler ließ mich in Ruhe und wandte sich der»Ehefrau der Leiche«zu. Boris Ignatjewitsch kam langsam auf unseren Tisch zu. Offensichtlich schirmte ihn ein leichter Ablenkungszauber ab, denn niemand achtete auf ihn.

»Reingefallen?«, fragte er bloß.

»Wir?«, präzisierte ich vorsichtshalber.

»Ja. Ihr. Genauer gesagt, du.«

»Ich habe mich genau an die Anweisungen gehalten, die mir gegeben wurden«, flüsterte ich hitzig.»Und diesen Magier nicht mit dem Finger angerührt!«

Der Chef seufzte.»Das bezweifle ich gar nicht. Aber wie konntest du, ein erfahrener Mitarbeiter der Wache, nur so dumm sein und dem Dunklen ganz allein an einen abgeschiedenen Ort nachstürzen, obwohl du über alles im Bilde bist?«

»Wer hätte denn so was voraussehen können?«, empörte ich mich.»Wer?«

»Du. Warum greifen wir denn zu solchen Maßnahmen, maskieren dich in einer Weise, die ohne Beispiel ist? Wie lauteten deine Anweisungen? Keine Minute solltest du allein bleiben! Keine Minute! Essen, schlafen - alles solltest du zusammen mit Swetlana machen. Ihr solltet zu zweit duschen! Gemeinsam zur Toilette gehen! Damit du für jeden, absolut jeden Moment ein…«Der Chef seufzte und verstummte.

»Boris Ignatjewitsch«, mischte sich Swetlana überraschend ins Gespräch ein.»Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Lassen Sie uns lieber überlegen, was wir nun machen können.«

Leicht verwundert blickte der Chef sie an. Dann nickte er.»Das Mädchen hat Recht. Lasst uns überlegen. Fangen wir damit an, dass die Situation sich katastrophal verschlechtert hat. Wenn Anton bislang nur indirekt verdächtig gewesen ist, dann ist er jetzt förmlich auf frischer Tat ertappt worden. Schüttel nicht den Kopf! Man hat dich gesehen, wie du über einer Leiche gestanden hast, die noch nicht kalt war. Der Leiche eines Dunklen Magiers, der auf die gleiche Weise ermordet wurde wie die bisherigen Opfer. Dich gegen die Anklage zu schützten steht nicht in unseren Kräften. Die Tagwache wird vors Tribunal gehen und verlangen, dass dein Gedächtnis gelesen wird.«

»Das ist doch ungeheuer gefährlich?«, fragte Swetlana.

»Oder? Dafür finden sie dann aber heraus, dass Anton unschuldig ist.«

»Stimmt. Und nebenbei bekommen die Dunklen alle Informationen, zu denen er Zugang hatte. Swetlana, kannst du dir vorstellen, wie viel ein leitender Programmierer der Wache weiß? Mancher Sachen ist er sich gar nicht bewusst, weil er nur kurz auf die Daten geschaut hat, sie bearbeitet und dann vergessen hat. Doch die Dunklen haben ihre Spezialisten. Und wenn Anton den Gerichtssaal voll rehabilitiert verlässt - vorausgesetzt, er übersteht die Inversion seines Bewusstseins -, hat die Tagwache Kenntnis von all unseren Operationen. Ist dir klar, was dann passiert? Die Methoden in der Suche und Ausbildung neuer Anderer, die Analyse von Kampfeinsätzen, die Netze menschlicher Informanten, die Verluststatistiken, die Personalien der Mitarbeiter, die Finanzpläne…«

Während die beiden über mich redeten, saß ich da, als ginge mich das alles nichts an. Was nicht an der zynischen Offenheit lag, sondern an der Tatsache an sich: Der Chef beratschlagte sich mit Swetlana, einer Magierin im Anfangsstadium, nicht mit mir, einem Magier potenziell dritten Grades.

Wenn man das Geschehen mit einer Schachpartie vergleichen wollte, sah das Ganze beleidigend schlicht aus. Ich war ein Offizier, ein gewöhnlicher guter Offizier der Wache. Und Swetlana ein Bauer. Aber ein Bauer, der kurz davor war, sich in eine Dame zu verwandeln.

Und was auch immer mir drohen mochte, trat für den Chef in den Hintergrund angesichts der Möglichkeit, Swetlana eine kleine praktische Lektion zu erteilen.

»Boris Ignatjewitsch, Sie wissen doch, dass ich eine Durchsicht meines Gedächtnisses nicht zulassen werde«, sagte ich.

»Dann wirst du verurteilt.«

»Ich weiß. Aber ich kann schwören, dass ich mit dem

Tod dieser Dunklen nichts zu tun habe. Auch wenn ich keine Beweise dafür habe.«

»Boris Ignatjewitsch, und wenn wir vorschlagen, dass Antons Gedächtnis nur für den heutigen Tag überprüft wird!«, rief Swetlana begeistert aus.»Das wär’s doch, sie würden sich überzeugen…«

»Das Gedächtnis lässt sich nicht portionieren, Sweta. Sie werden es völlig umstülpen. Mit dem ersten Moment seines Lebens anfangen. Mit dem Geruch der Muttermilch, dem Geschmack des Fruchtwassers.«Der Chef sprach jetzt in betont strengem Ton.»Darin besteht ja das Unglück. Selbst wenn Anton keine Geheimnisse kennen würde, musst du dir klar machen, was das bedeutet, sich an alles noch einmal zu erinnern, es von Neuem zu durchleben! Dieses Geschaukel in der dunklen zähen Flüssigkeit, die Wände, die sich zusammenziehen, das Licht, das vor dir aufschimmert, der Schmerz, die Atemnot, die Notwendigkeit, seine eigene Geburt zu überleben. Und dann weiter, Augenblick für Augenblick - hast du schon einmal gehört, dass vor dem Tod das ganze Leben noch einmal rasend schnell vor deinen Augen abläuft? So ist es auch bei einer Gedächtnisinversion. Und irgendwo tief in dir weißt du, dass du das alles schon einmal erlebt hast. Verstehst du das? Dabei nicht den Verstand zu verlieren ist schwer.«

»Sie sagen das so«, brachte Swetlana unsicher hervor,»als ob…«

»Ich habe das durchgemacht. Nicht bei einem Verhör. Vor mehr als einem Jahrhundert, als die Wache erste Untersuchungen zur Gedächtnisinversion durchführte, brauchte man einen Freiwilligen. Danach dauerte es etwa ein Jahr, mich wieder in meinen Normalzustand zu bringen.«

»Und wie haben sie das geschafft?«, fragte Swetlana neugierig.

»Durch neue Eindrücke. Mit Sachen, die ich davor nicht erlebt hatte. Fremde Länder, ungewohntes Essen, unerwartete Begegnungen, neue Probleme. Und trotzdem…«Der Chef setzte ein schiefes Lächeln auf.»Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich mich frage: Was ist das um mich herum? Realität oder Erinnerung? Lebe ich oder liege ich auf der Kristallplatte im Büro der Tagwache, wo man gerade mein Gedächtnis abspult wie eine Garnrolle?«

Er verstummte.

Um uns herum saßen Menschen an den Tischen, flitzten Kellner hin und her. Das Ermittlungsteam war abgezogen, die Leiche des Dunklen Magiers weggeschafft, ein Mann, offenbar ein Verwandter, hatte die Witwe und die beiden Kinder abgeholt. Niemand scherte sich noch um den Vorfall. Im Gegenteil - der Appetit der Gäste hatte zugenommen, genau wie ihr Lebenshunger. Und auch auf uns achtete niemand: Der kurzerhand vom Chef gewirkte Zauber zwang alle, den Blick von uns zu wenden.

Und wenn das alles schon viel früher geschehen war?

Wenn ich, Anton Gorodezki, Systemadministrator der Handelsfirma Niks, nebenberuflich Magier der Nachtwache, bloß auf einer Kristallplatte lag, die dicht mit alten Runen übersät war? Und mein Gedächtnis abgespult wurde, inspiziert und präpariert wurde? Ganz egal, von wem? Von Dunklen Magiern oder einem Tribunal aus beiden Wachen?

Nein!

Das konnte nicht sein. Ich spürte nicht das, wovon der Chef sprach. Durchlebte kein Dejà-vu. Nie zuvor hatte ich in einem weiblichen Körper gesteckt, nie zuvor Leichen in öffentlichen Toiletten gefunden.

»Doch ich ermüde euch«, sagte der Chef. Aus der Tasche zog er ein langes Zigarillo.»Ist die Situation so weit klar? Was machen wir jetzt?«

»Ich bin bereit, meine Pflicht zu erfüllen«, meinte ich.

»Immer mit der Ruhe, Anton. Du musst nicht den Helden spielen.«

»Das tu ich nicht. Ich bin noch nicht mal bereit, die Geheimnisse der Wache zu verteidigen. Ich würde ein solches Verhör einfach nicht durchstehen. Dann schon lieber sterben.«

»Wir sterben aber nicht wie Menschen.«

»Ja, für uns ist das schwieriger. Aber ich bin bereit dazu.«

Der Chef seufzte.»Entschuldigt, Mädels. Anton, lass uns jetzt nicht über die Folgen, sondern über die Voraussetzungen für diese Ereignisse nachdenken. Manchmal hilft es, in die Vergangenheit zurückzublicken.«

»Gut«, erklärte ich mich ohne große Hoffnung bereit.

»Der Wilde treibt bereits seit einiger Zeit in Moskau sein Unwesen. Den jüngsten Daten der analytischen Abteilung zufolge haben diese seltsamen Morde vor dreieinhalb Jahren begonnen. Bei einem Teil der Opfer handelt es sich eindeutig um Dunkle. Bei einem anderen Teil vermutlich um potenzielle. Alle Ermordeten

hatten höchstens den vierten Grad erlangt. Niemand arbeitete in der Tagwache. Äußerst komisch ist, dass sie - soweit man das in diesem Zusammenhang überhaupt sagen kann - alle recht zurückhaltende Dunkle waren. Sie töteten und manipulierten Menschen, doch in einem weitaus geringeren Maße, als es ihnen möglich gewesen wäre.«

»Sie wurden geopfert«, sagte Swetlana.»Oder?«

»Vermutlich. Die Tagwache hat diesen Psychopathen nicht angerührt und ihm sogar die eigenen Leute zugeschoben, solche, um die es nicht schade ist. Wozu? Das ist die entscheidende Frage: Wozu?«

»Um uns der Fahrlässigkeit anzuklagen«, mutmaßte ich.

»Der Zweck würde die Mittel nicht rechtfertigen.«

»Um jemandem von uns etwas anzuhängen.«

»Von allen Mitarbeitern der Wache hast nur du kein Alibi für die jeweilige Tatzeit, Anton. Wozu sollte die Tagwache Jagd auf dich machen?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Die Rache Sebulons?«Zweifelnd schüttelte der Chef den Kopf.»Nein. Du bist erst vor kurzem mit ihm zusammengestoßen. Dieser Schlag ist aber seit dreieinhalb Jahren geplant. Die Frage bleibt: Wozu?«

»Vielleicht ist Anton potenziell ein sehr mächtiger Magier?«, fragte Swetlana leise.»Und die Dunklen haben das erkannt. Da sie ihn nicht mehr auf ihre Seite herüberziehen konnten, haben sie beschlossen, ihn zu vernichten.«

»Anton ist stärker, als er glaubt«, antwortete der Chef in scharfem Ton.»Aber über den zweiten Grad

wird er nie hinauskommen.«

»Und wenn unsere Feinde die verschiedenen Realitätsvarianten weiter absehen können als wir?«Ich sah dem Chef in die Augen.

»Ja, und?«

»Ich kann ein schwacher Magier sein, ein mittlerer oder ein starker. Aber wenn ich bloß etwas zu tun bräuchte, um das Gleichgewicht der Kräfte zu stören? Irgendwas Einfaches, das nicht mit Magie verbunden ist? Boris Ignatjewitsch, die Dunklen haben doch versucht, mich von Swetlana fern zu halten, haben also einen Realitätsstrang gesehen, der mir die Möglichkeit bot, ihr zu helfen! Und wenn sie noch etwas sehen? In der Zukunft? Wenn sie weit vorausschauen können und sich seit langem darauf vorbereiten, mich zu neutralisieren? Was selbst den Kampf um Sweta nichtig erscheinen ließe?«

Am Anfang hörte der Chef noch aufmerksam zu. Dann runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Du bist größenwahnsinnig, Anton. Entschuldige«, sagte er.»Ich habe mir die Linien aller Mitarbeiter der Wache angeschaut, angefangen bei denen in Schlüsselpositionen bis hin zu unserm klempnernden Onkel Schura. Nein, du musst verzeihen, solch große Taten hält die Zukunft nicht für dich bereit. In keiner einzigen Realitätslinie.«

»Sind Sie absolut sicher, dass Sie sich da nicht irren, Boris Ignatjewitsch?«

Trotz allem nahm ich ihm das übel.

»Nein, natürlich nicht. Ich bin niemals von etwas absolut überzeugt. Selbst von mir nicht. Aber die Chancen, dass du Recht hast, sind sehr, sehr gering. Glaub

mir das.«

Was ich tat.

Im Vergleich zum Chef tendieren meine Fähigkeiten gegen Null.

»Wir wissen also die Hauptsache nicht: den Grund?«

»Richtig. Der Schlag zielt auf dich, daran besteht kein Zweifel. Der Wilde wird auf sehr feine und geschickte Weise gelenkt. Er glaubt, dass er gegen das Böse kämpft, hängt aber seit langem schon wie eine Marionette an ihren Fäden. Heute haben die Dunklen ihn in das Restaurant geführt, das auch du besucht hast. Haben ihm ein Opfer präsentiert. Und du bist darauf hereingefallen.«

»Also, was machen wir jetzt?«

»Den Wilden suchen. Das ist unsere letzte Chance, Anton.«

»Was heißt, wir müssen ihn umbringen.«

»Nicht wir. Wir müssen ihn nur finden.«

»Egal. Wie schlecht er auch sein mag, wie sehr er auch irregeleitet worden ist, er ist einer von uns! Er kämpft so gut er kann gegen das Böse. Man muss ihm bloß alles erklären.«

»Dazu ist es zu spät, Anton. Viel zu spät. Wir haben sein Auftauchen nicht bemerkt. Jetzt zieht er eine derartige Spur hinter sich her… Erinnerst du dich noch, welches Ende die Vampirin genommen hat?«

Ich nickte.»Auslöschung.«

»Dabei hat sie viel weniger verbrochen, zumindest aus Sicht der Dunklen. Und ebenfalls nicht verstanden, was vor sich ging. Dennoch hat die Tagwache sie für schuldig befunden.«

»Ob das ein Zufall war?«, fragte Swetlana.»Oder sollte ein Präzedenzfall geschaffen werden?«

»Wer weiß? Anton, du musst den Wilden finden.«

Mein Blick traf auf seine Augen.

»Ihn finden und den Dunklen übergeben«, sagte der Chef in strengem Ton.

»Warum ich?«

»Weil nur du moralisch dazu in der Lage bist. Du bist in Gefahr. Also verteidigst du dich nur. Für jeden anderen von uns wäre es ein zu großer Schock, einen Lichten auszuliefern, selbst wenn er ein spontaner, irregeleiteter Autodidakt ist. Du dagegen wirst das aushalten.«

»Da bin ich mir nicht sicher.«

»Doch. Und bedenke eins, Anton. Du hast nur diese Nacht. Die Tagwache wird nicht länger fackeln, morgen wirst du offiziell angeklagt.«

»Boris Ignatjewitsch!«

»Erinner dich an alles! Erinnerst du dich, wer im Restaurant war? Wer dem Dunklen Magier zu den Toiletten gefolgt ist?«

»Niemand. Da bin ich mir sicher, ich habe die ganze Zeit darauf geachtet, ob er nicht herauskommt«, mischte sich Swetlana ein.

»Dann hat der Wilde dem Magier also in der Toilette aufgelauert. Aber herausgekommen sein muss er. Erinnert ihr euch daran? Sweta, Anton?«

Wir schwiegen. Ich erinnerte mich an nichts. Denn ich hatte versucht, den Dunklen Magier möglichst nicht anzusehen.

»Da kam ein Mann heraus«, sagte Swetlana.»So ein, nun…«Sie dachte nach.»Ein Niemand, ein absoluter Niemand. Ein Allerweltsmensch, als ob eine Million Gesichter zusammengemischt und zu einem einzigen geknetet worden seien. Ich habe ihn nur flüchtig angeguckt und sofort wieder vergessen.«

»Erinner dich daran«, verlangte der Chef.

»Das kann ich nicht, Boris Ignatjewitsch. Es war irgendein Mensch. Ein Mann. Mittleren Alters. Ich habe überhaupt nicht bemerkt, dass er ein Anderer ist.«

»Er ist ein spontaner Anderer. Er tritt noch nicht mal ins Zwielicht ein, sondern balanciert an seinem Rand entlang. Erinner dich, Sweta! An das Gesicht oder irgendwelche besonderen Merkmale.«

Swetlana fuhr sich mit dem Finger über die Stirn.»Als er wieder herauskam, nahm er an einem Tisch Platz, an dem eine Frau saß. Eine schöne Frau mit hellbraunem Haar. Sie war geschminkt, mir fiel sogar auf, dass sie Produkte der Firma Lumenet benutzte, die ich auch ab und an verwende. Sie sind nicht sehr teuer, aber gut.«

Trotz allem musste ich lächeln.

»Und sie war unzufrieden«, fügte Sweta noch hinzu.»Sie lächelte, aber schief. Als ob sie noch ein wenig länger hier sitzen bleiben wollte, aber aufbrechen sollte.«

Sie dachte weiter nach.

»Die Aura der Frau!«, verlangte der Chef scharf.»Du erinnerst dich daran! Wirf mir den Abdruck zu!«

Er erhob die Stimme und änderte den Ton. Natürlich hörte niemand im Restaurant ihn. Doch die Mienen der Gäste verkrampften sich zu einer Grimasse, ein Kellner mit einem Tablett in der Hand stolperte, eine Weinflasche und zwei Kristallgläser fielen zu Boden.

Swetlanas Kopf schwankte hin und her - der Chef versetzte sie derart problemlos in Trance, als sei sie ein einfacher Mensch. Ich sah, wie sich ihre Pupillen erweiterten und sich ein zartes regenbogenfarbenes Band zwischen ihrem Gesicht und dem des Chefs spannte.

»Vielen Dank, Sweta«, sagte Boris Ignatjewitsch.

»Hat es geklappt?«, fragte sie verwundert.

»Ja. Du kannst dich als Magierin siebten Grades betrachten. Ich werde Mitteilung machen, dass ich die Prüfung selbst abgenommen habe. Anton!«

Jetzt sah ich in die Augen des Chefs.

Ein Impuls.

Dahinfließende Ströme einer Energie, die die Menschen nicht kannten.

Ein Bild.

Nein, das Gesicht der Freundin unseres Wilden sah ich nicht. Sondern ihre Aura, was weitaus bedeutender ist. Ineinander laufende bläuliche und grüne Schichten, wie bei einem Eisbecher, ein kleiner brauner Fleck, ein weißer Streifen. Eine recht komplizierte Aura, die man sich leicht merkte und die insgesamt Sympathie erweckte. Ich konnte es nicht fassen.

Sie liebte ihn.

Liebte ihn und grollte ihm aus irgendeinem Grund, glaubte, dass er sie nicht mehr liebe, ertrug das aber, war sogar bereit, es auch in Zukunft zu ertragen.

Wenn ich der Spur dieser Frau folgte, würde ich den Wilden finden. Und ihn dem Tribunal übergeben - und damit dem sicheren Tod.

»N-nein«, sagte ich.

Der Chef sah mich voller Mitgefühl an.

»Die Frau trifft doch keine Schuld! Sie liebt ihn, das sehen Sie doch!«

In meinen Ohren heulte eine schwermütige Musik. Kein Mensch reagierte auf meinen Schrei. Ich könnte mich über den Boden wälzen, unter fremde Tische abtauchen - sie würden die Beine zurückziehen und weiter ihr indisches Essen verputzen.

Swetlana betrachtete uns. Sie hatte sich an die Aura erinnert, konnte sie aber nicht entziffern: Das erfordert bereits den sechsten Grad.

»Dann stirbst du«, sagte der Chef.

»Ich weiß, wofür.«

»Aber denkst du nicht an die, die dich lieben, Anton?«

»Dieses Recht habe ich nicht.«

Boris Ignatjewitsch setzte ein schiefes Grinsen auf.

»Ein Held! Ach, was sind wir doch alle für Helden! Unsere Hände sind sauber, die Herzen aus Gold, die Füße noch nie durch Scheiße gewatet. Hast du die Frau schon vergessen, die von ihrem Verwandten abgeholt worden ist? Oder die heulenden Kinder? Die sind doch keine Dunklen. Sondern einfache Menschen, die wir zu verteidigen versprochen haben. Wie sehr wägen wir jede geplante Operation ab? Warum kriegen die Analytiker, die ich zwar alle naselang verfluche, durch die Bank bereits mit fünfzig graue Haare?«

So wie ich vor kurzem noch Swetlana ins Gebet genommen hatte, ihr sicher und machtvoll die Leviten gelesen hatte, so knöpfte sich der Chef jetzt mich vor.

»Die Wache braucht dich, Anton! Braucht Sweta! Aber einen Psychopathen, auch wenn er ein guter ist, braucht niemand! Mit einem kleinen Dolch in der Hand in einem Tordurchgang oder auf der Toilette Dunklen aufzulauern ist einfach. An die Folgen denkt er nicht, seine Schuld sieht er nicht. Wo verläuft unsere Front, Anton?«

»Mitten durch die Menschen hindurch.«Ich senkte den Blick.

»Wen verteidigen wir?«

»Die Menschen.«

»Das Böse an sich gibt es nicht, das solltest du doch inzwischen begriffen haben! Unsere Wurzeln liegen hier, um uns herum, in dieser Herde, die sich eine Stunde nach einem Mord voll frisst und amüsiert! Für sie musst du kämpfen. Für die Menschen. Das Dunkel ist eine Hydra, und je mehr Köpfe du ihr abschneidest, desto mehr wachsen ihr! Eine Hydra muss man aushungern, nicht wahr? Bring hundert Dunkle um - und an ihrer Stelle erheben sich tausend. Darin besteht die Schuld des Wilden! Darum musst du, du und niemand sonst, ihn finden, Anton. Und ihn zwingen, vor Gericht zu erscheinen. Freiwillig oder unter Zwang.«

Plötzlich verstummte der Chef. Stand abrupt auf.»Gehen wir, Mädels.«

Ich bemerkte schon gar nicht mehr, wenn er mich als Frau ansprach. Aufstehen und meine Tasche zu schnappen - das war eine unwillkürliche, reflexartige Bewegung.

Der Chef würde nicht ohne Grund drängeln.

»Rasch!«

Mit einem Mal begriff ich, dass ich den Ort aufsuchen

musste, an dem der Tod den unglückseligen Dunklen Magier ereilt hatte. Aber ich traute mich noch nicht einmal, das auch nur anzudeuten. Wir eilten derart überstürzt zum Ausgang, dass uns die Wachleute garantiert aufgehalten hätten, wenn sie in der Lage gewesen wären, uns zu sehen.

»Zu spät«, sagte der Chef leise kurz vor der Tür.»Wir haben uns verquatscht.«

Drei Personen betraten das Restaurant, sickerten förmlich herein. Zwei kräftige Kerle und eine junge Frau.

Die Frau kannte ich. Alissa Donnikowa. Die kleine Hexe von der Tagwache. Sie riss die Augen auf, als sie den Chef erblickte.

Hinter ihr glitten zwei diffuse, unsichtbare Silhouetten durchs Zwielicht.

»Wenn Sie bitte noch bleiben wollen«, sagte Alissa heiser, als habe sie mit einem Mal eine ganz ausgedörrte Kehle.

»Aus dem Weg!«Der Chef fuchtelte leicht mit der Hand, worauf die Dunklen auseinander wichen, sich an die Wände drängten. Alissa krängte, als wolle sie sich gegen eine elastische Wand stemmen, doch die Kräfte waren nicht gleich verteilt.

»Sebulon, ich rufe dich!«, wimmerte sie.

Oho. Die kleine Hexe erwies sich als Liebling des Oberhaupts der Tagwache, wenn sie das Recht hatte, ihn herbeizurufen!

Aus dem Zwielicht tauchten zwei weitere Dunkle auf. Äußerlich wirkten sie wie Kampfmagier dritten oder vierten Grades. Sicher, mit dem Chef konnten sie sich nicht messen, außerdem konnte ich ihm noch helfen - aber wertvolle Zeit würden sie uns stehlen.

Der Chef sah das genauso.»Was wollt ihr?«, fragte er in herrischem Ton.»Das ist die Zeit der Nachtwache.«

»Ein Verbrechen wurde begangen.«Alissas Augen glühten.»Hier, erst vor kurzem. Einer von uns ist ermordet worden, ermordet worden von einem…«Ihr Blick bohrte sich abwechselnd in den Chef und mich.

»Von wem?«, fragte der Chef hoffnungsvoll. Die Hexe ließ sich nicht provozieren. Bei ihrem Status und zu dieser Zeit, die nicht die ihre war, hätte sie es nur wagen sollen, Boris Ignatjewitsch eine solche Anklage an den Kopf zu werfen - er hätte sie an der Wand zerquetscht.

Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, ob dieser Schritt gerechtfertigt war.

»Von einem Lichten!«

»Die Nachtwache kennt den Verbrecher nicht.«

»Wir bitten offiziell um Unterstützung.«

So. Nun gab es kein Entkommen mehr. Der anderen Wache die Unterstützung zu verweigern käme einer Kriegserklärung gleich.

»Sebulon, ich rufe dich!«, schrie die Hexe noch einmal. In mir keimte die zarte Hoffnung auf, das Haupt der Dunklen höre sie nicht oder sei anderweitig beschäftigt.

»Wir erklären unsere Kooperationsbereitschaft«, sagte der Chef. Mit einer Stimme wie Eis.

Ich ließ den Blick durch den Raum wandern, über die breiten Schultern der Magier hinweg - die Dunklen hatten uns inzwischen umzingelt und wollten uns offensichtlich an der Tür festhalten. Ja, im Restaurant geschahen unerhörte Dinge.

Das Volk fraß weiter.

Ein Schmatzen, so laut, als ob an den Tischen Schweine säßen. Stumpfe, gläserne Blicke, die Finger ums Besteck gepresst, schaufelte die Masse das Essen jedoch mit den Händen in sich hinein, würgte, schnaubte, spuckte. Ein distinguierter älterer Herr, der friedlich im Kreise von drei Bodyguards und einer jungen Schönheit speiste, schlürfte den Wein direkt aus der Flasche. Ein sympathischer junger Kerl, ohne Zweifel ein Yuppie, und seine liebreizende Freundin keilten sich um einen Teller und beschmadderten sich mit fetter orangefarbener Sauce. Die Kellner rasten von Tisch zu Tisch und knallten den Leuten Essensteller vor, Tassen, Flaschen, Warmhalteplatten, Schüsseln…

Die Dunklen haben ihre eigenen Methoden, um Außenstehende abzulenken.

»Wer von Ihnen war zur Zeit des Verbrechens im Restaurant?«, fragte die Hexe feierlich. Der Chef schwieg.

»Hm.«

»Wer?«

»Meine beiden Begleiterinnen.«

»Olga und Swetlana.«Die Hexe vernichtete uns förmlich mit ihrem Blick.»Und der Andere, der Mitarbeiter der Nachtwache, dessen menschlicher Name Anton Gorodezki ist, war nicht anwesend?«

»Außer uns waren keine anderen Mitarbeiter der Wache hier«, sagte Swetlana schnell. Gut, aber vielleicht ein bisschen zu schnell. Alissa runzelte die Stirn, merkte, dass sie ihre Frage etwas zu vage formuliert hatte.

»Eine ruhige Nacht, nicht wahr?«, klang es von der Tür zu uns herüber.

Sebulon war erschienen.

Ich sah ihn an und begriff mit hoffnungsloser Gewissheit, dass meine Maskierung einen Höheren Magier nicht täuschen würde. Möglicherweise hatte er damals in Ilja nicht den Chef erkannt, aber zweimal hintereinander würde der alte Fuchs nicht auf den gleichen Trick hereinfallen.

»Aber nicht zu ruhig, Sebulon«, sagte der Chef bloß.»Treib dein Vieh hier weg, sonst mach ich das für dich.«

Der Dunkle Magier sah aus, als sei die Zeit stehen geblieben, als sei der eisige Winter nicht dem warmen, wenn auch verspäteten Frühling gewichen. Anzug, Krawatte, graues Hemd, altmodische schmale Schuhe. Eingefallene Wangen, ein trüber Blick, kurz geschnittenes Haar.

»Ich wusste, dass wir uns begegnen würden«, sagte Sebulon.

Er sah mich an. Nur mich.

»So was Dummes.«Sebulon schüttelte den Kopf.»Wozu hast du das nötig, hm?«

Er trat einen Schritt nach vorn, während Alissa ihm aus dem Weg huschte.

»Eine gute Arbeit, Wohlstand, befriedigter Ehrgeiz, alle Freuden der Welt stehen dir zu Gebot, du brauchst dir nur früh genug zu überlegen, was diesmal das Gute ist. Und trotzdem kannst du nicht genug kriegen. Ich

verstehe dich nicht, Anton.«

»Und ich verstehe dich nicht, Sebulon.«Der Chef stellte sich ihm in den Weg.

Widerwillig blickte der Dunkle Magier ihn an.»Du wirst alt. Im Körper deiner Geliebten«, Sebulon kicherte,»Anton Gorodezki. Der Mann, den wir im Verdacht haben, für diese Serienmorde verantwortlich zu sein. Versteckt er sich schon lange da drin, Boris? Hast du den Tausch womöglich gar nicht bemerkt?«

Erneut kicherte er.

Ich ließ den Blick über die Dunklen schweifen. Sie hatten die Situation noch nicht erfasst. Brauchten noch eine Sekunde, eine halbe.

Dann sah ich, wie Swetlana die Arme hob und auf ihren Handtellern das magische gelbe Feuer pulsierte.

Die Prüfung für die fünfte Kraftstufe hatte sie abgelegt, doch in diesem Kampf würden wir verlieren. Wir waren zu dritt. Sie zu sechst. Wenn Swetlana zuschlug, um nicht sich zu retten, sondern mich, der ich schon bis zum Hals in der Scheiße steckte, würde die Schlacht beginnen.

Ich sprang nach vorn.

Nur gut, dass Olga einen durchtrainierten kräftigen Körper hatte. Nur gut, dass wir alle, Lichte wie Dunkle, nicht mehr daran gewöhnt sind, auf die Kraft unserer Arme und Beine zu setzen, auf eine einfache schlichte Prügelei. Wie vernünftig, dass Olga, ihrer magischen Fähigkeiten weitgehend beraubt, diese Kunst nicht verschmäht.

Sebulon krümmte sich und stieß ein Krächzen aus, als meine - oder Olgas - Faust in seinem Bauch landete. Mit einem Fußtritt schlug ich ihm das Knie weg und

stürzte aus dem Restaurant hinaus.

»Halt!«, heulte Alissa auf. Voller Begeisterung, Hass und Liebe zugleich.

Fass ihn, fass!

Als ich die Pokrowka Richtung Semljanoi Wal hinunterrannte, klatschte mir die Handtasche in den Rücken. Wenigstens trug ich keine hochhackigen Schuhe. Mich losreißen, entkommen - der Kurs zum Überleben in der Stadt hatte mir damals gut gefallen, nur war er zu kurz gewesen, viel zu kurz. Aber wer hätte gedacht, dass ein Mitarbeiter der Wache fliehen und untertauchen musste, statt Flüchtige und Untergetauchte ein-zufangen.

Hinter mir erdröhnte pfeifendes Geheul.

Abzuhauen war reiner Reflex gewesen, noch durchschaute ich die Situation nämlich nicht. Ein glutroter Feuerstrahl schlängelte sich die Straße entlang, versuchte zu stoppen und zurückzurollen, doch die Masseträgheit erwies sich als zu groß: Die Ladung schlug in einer Hauswand ein und glühte den Stein im Handumdrehen durch.

Die kleckerten nicht!

Ich stolperte, fiel hin und schaute mich um. Sebulon legte schon wieder seinen Kampfstab an, hantierte aber so langsam, als sei er gefesselt, werde gebremst.

Der war ja aufs Töten aus!

Nicht eine Hand voll Asche würde von mir übrig bleiben, wenn er mich mit der Geißel des Schaab erwischte.

Der Chef hatte sich also doch geirrt. Die Tagwache war nicht auf das aus, was sich in meinem Kopf befand. Sie wollte mich vernichten.

Die Dunklen rannten mir hinterher. Sebulon richtete die Waffe auf mich, der Chef hielt Swetlana umklammert, die sich loszureißen versuchte. Ich sprang auf und raste weiter, obwohl mir bereits schwante, dass mir die Flucht nicht gelingen würde. Zum Glück war wenigstens die Straße leer, eine instinktive, unbewusste Angst hatte die Passanten davongetrieben, kaum dass diese Auseinandersetzung angefangen hatte. Niemand würde zu Schaden kommen.

Bremsen quietschten. Ich drehte mich um und sah, wie die Wächter in alle Richtungen auseinander wichen und einem mit rasendem Tempo auf uns zukommenden Auto Platz machten. Der Fahrer, dem offenbar klar geworden war, dass er mitten in einen Krieg zwischen zwei Banden geraten war, hielt kurz inne, um dann Gas zu geben.

Sollte ich ihn anhalten? Nein, unmöglich.

Ich sprang auf den Gehweg und versteckte mich vor Sebulon, indem ich mich hinter einen alten geparkten Wolga kauerte, und ließ den zufälligen Zeugen weiterfahren. Der silberfarbene Toyota raste vorbei und hielt dann mit einem markerschütternden Geheul der durchbrennenden Bremsklötze an.

Die Tür auf der Fahrerseite ging auf, und eine Hand winkte mir zu.

Das kann doch nicht wahr sein!

Nur in billigen Actionfilmen liest den fliehenden Helden ein gerade vorbeikommendes Auto auf.

Noch während mir das durch den Kopf ging, riss ich den hinteren Wagenschlag auf und stürzte ins Auto.

»Rasch, Beeilung!«, schrie die Frau, neben der ich gelandet war. Doch man musste den Fahrer nicht zur Eile drängen, denn schon schossen wir wieder los. Hinter uns loderte etwas auf, und eine weitere Ladung der Geißel wurde auf uns abgefeuert. Der Fahrer riss das Steuer herum, um dem Feuerstrahl auszuweichen. Die Frau winselte auf.

Wie nahmen sie das alles wahr? Als Maschinengewehrfeuer? Raketeneinschläge? Beschuss mit einem Flammenwerfer?

»Warum, warum musstest du zurückfahren?!«Die Frau versuchte sich vorzubeugen, ohne Zweifel, um auf den Rücken des Fahrers einzuschlagen. Ich hielt mich bereit, um ihre Hand abzufangen, doch ein Ruck des Wagens schleuderte die Frau vorher zurück.

»Nicht doch«, sagte ich sanft und handelte mir damit einen empörten Blick ein.

Logisch. Welche Frau würde sich schon darüber freuen, dass im Auto eine sympathische, aber völlig derangierte Unbekannte auftaucht, hinter der eine Meute bewaffneter Banditen her ist und deretwegen der eigene Mann sich plötzlich unter Beschuss begibt.

Dabei drohte bereits keine unmittelbare Gefahr mehr. Wir hatten den Semljanoi Wal erreicht und uns in den dichten Strom von Autos eingereiht. Freunde wie Feinde hatten wir abgehängt.

»Danke«, sagte ich zu dem kurzhaarigen Hinterkopf des Fahrers.

»Wurden Sie getroffen?«Er drehte sich noch nicht mal um.

»Nein. Vielen Dank. Warum haben Sie angehalten?«

»Weil er ein Idiot ist!«, wimmerte die Frau. Sie war ganz ans andere Ende gerutscht, ging auf Abstand zu

mir, als sei ich verseucht.

»Weil ich kein Arschloch bin«, erwiderte der Mann gelassen.»Warum sind die hinter Ihnen her? Na gut, das geht mich nichts an.«

»Die wollten mich vergewaltigen«, grummelte ich prompt los. Was für eine schöne Version: Mitten in einem Restaurant, an einem Tisch, als seien wir nicht in Moskau, mit all seinen Freuden für Banditen, sondern in einem Saloon im wildesten Wilden Westen.

»Wo kann ich Sie absetzen?«

»Hier.«Ich sah das leuchtende M über dem Eingang zur Metro.»Das schaff ich dann schon.«

»Wir können Sie auch nach Hause fahren.«

»Das ist nicht nötig. Vielen Dank, Sie haben so schon mehr als genug für mich getan.«

»Wie Sie wollen.«

Weder fing er einen Streit an, noch versuchte er, mich zu überreden. Der Wagen hielt an, ich stieg aus.

»Vielen, vielen Dank«, sagte ich mit einem Blick auf die Frau.

Sie schnaubte, schnellte vor und knallte die Tür zu.

Auch gut.

Trotzdem zeigen solche Fälle, dass unsere Arbeit irgendeinen Sinn hat.

Unwillkürlich strich ich mir das Haar zurecht, klopfte den Staub von der Jeans. Die Passanten blickten mich argwöhnisch an, schreckten jedoch nicht zurück: So fürchterlich konnte ich also nicht aussehen.

Wie viel Zeit blieb mir, bis meine Verfolger die Spur aufnahmen? Fünf Minuten? Zehn? Oder würde es dem Chef gelingen, sie aufzuhalten?

Was zu wünschen wäre. Denn allmählich schwante mir, was hier vorging.

Und ich hatte eine Chance, eine winzig kleine nur, aber eine Chance.

Während ich zur Metro ging, kramte ich Olgas Mobiltelefon aus der Handtasche. Ich wollte schon ihre Nummer wählen, blaffte mich dann innerlich an und wählte meine.

Fünf Klingeltöne, sechs, sieben.

Ich gab’s auf und versuchte es unter meiner Handynummer. Diesmal ging Olga sofort ran.

»Hallo?«, meldete sich in scharfem Ton eine unbekannte, leicht heisere Stimme. Meine Stimme.

»Ich bin’s, Anton«, schrie ich. Ein junger Mann, der gerade an mir vorbeiging, blickte mich erstaunt an.

»Blödmann!«

Was anderes hatte ich von Olga nicht erwartet.

»Wo bist du, Anton?«

»Ich will gerade abtauchen.«

»Das schaffst du schon noch. Wie kann ich dir helfen?«

»Weißt du Bescheid?«

»Ja. Ich stehe parallel zu dir noch mit Boris in Kontakt.«

»Ich muss wieder in meinen Körper.«

»Wo wollen wir uns treffen?«

Ich überlegte kurz.»Als ich versucht habe, den schwarzen Wirbel von Swetlana zu bannen, bin ich an einer Station ausgestiegen.«

»Alles klar. Das hat Boris mir erzählt. Folgendes

Szenario: drei Stationen weiter nach oben und links, auf der Ringlinie.«

Gut, sie hatte die Strecken im Kopf.

»Kapiert.«

»In der Mitte des Saals. Ich bin in zwanzig Minuten da.«

»In Ordnung.«

»Soll ich dir was mitbringen?«

»Ja. Mich. Alles andere überlass ich dir.«

Ich beendete das Gespräch, schaute mich noch einmal um und ging rasch weiter zur Metrostation.

Vier

Ich stand in der Mitte der Station Nowoslobodskaja. Das übliche Bild zu dieser noch nicht allzu späten Stunde. Eine junge Frau wartet, vielleicht auf ihren Freund, vielleicht auf eine Freundin.

In diesem Fall sowohl als auch.

Unterirdisch war ich schwerer aufzuspüren als auf offener Straße. Selbst die besten Magier der Dunklen können meine Aura nicht orten, nicht durch die Bodenschichten, nicht durch die alten Gräber hindurch, auf denen Moskau erbaut ist, inmitten der Menge, im dichten Strom der Menschen. Natürlich konnten sie ohne weiteres jede Station durchkämen, sie brauchten bloß auf jedem Bahnhof einen Anderen mit meinem Bild zu schicken, und fertig.

Doch ich hoffte, dass mir bis zu diesem Schritt der Tagwache noch eine halbe oder ganze Stunde blieb.

Wie einfach das alles doch war. Wie elegant sich das Puzzle fügte. Ich schüttelte den Kopf, lächelte und fing den fragenden Blick eines jungen Punkers auf. O nein, Freundchen, da bist du auf dem Holzweg. Dieser erotische Körper schmunzelt lediglich über die eigenen Gedanken.

Im Grunde hätte ich sofort darauf kommen müssen, in dem Moment, als alle Fäden dieser Intrige zu mir führten. Wie immer hatte der Chef Recht gehabt. Ich bin von zu geringem Wert, als dass man meinetwegen einen über mehrere Jahre angelegten, gefährlichen und verheerenden Plan schmieden würde. Das Ganze lag anders, völlig anders.

Sie versuchen, uns bei unseren Schwächen zu packen. Bei Güte und Liebe.

Und das gelingt ihnen. Oder zumindest fast.

Mit einem Mal wollte ich eine rauchen, unbedingt, in meinem Mund hatte sich bereits Speichel gesammelt. Was komisch war, denn normalerweise verlangte es mich nicht oft nach Nikotin. Wahrscheinlich eine Reaktion von Olgas Organismus. Ich stellte mir vor, wie sie, eine elegante Dame, vor hundert Jahren mit einer schmalen Papirossa in einer Zigarettenspitze in irgendeinem literarischen Salon verkehrte, in der Gesellschaft Bloks und Gumiljows. Mit einem Lächeln auf den Lippen über Freimaurer diskutierte, die Volksherrschaft und das Streben hin zu geistiger Vollkommenheit. Was soll’s!

»Hätten Sie nicht zufällig eine Zigarette?«, fragte ich einen jungen Mann, der über den Bahnhof kam und gepflegt genug gekleidet schien, um nicht Solotaja Ja-wa zu rauchen.

Mit erstauntem Blick hielt er mir ein Päckchen»Parlament«hin.

Ich nahm mir eine Zigarette, lächelte ihm zum Dank zu und hüllte mich in einen leichten Zauber. Die Blicke der Menschen glitten von mir ab.

Gut so.

Indem ich mich konzentrierte, ließ ich die Temperatur der Zigarettenspitze auf zweihundert Grad hochschnellen und machte den ersten Zug. Jetzt hieß es warten. Ein paar kleine eherne Regeln brechen.

Die Menschen strömten vorbei, wobei sie einen Meter Abstand zu mir hielten. Erstaunt schnüffelten sie in der Luft, da sie nicht begriffen, woher der Tabakgeruch

kam. Ich rauchte, ließ die Asche auf den Boden fallen, musterte einen Milizionär, der fünf Schritt von mir entfernt stand, und berechnete meine Chancen.

Die gar nicht schlecht standen. Im Gegenteil. Und das irritierte mich.

Wenn diese Kombination schon seit drei Jahren vorbereitet wurde, mussten sie die Variante, dass ich das Spiel durchschaute, berücksichtigt haben. Und einen Antwortzug in petto haben. Aber welchen?

Den verwunderten Blick bemerkte ich nicht sofort. Als mir jedoch klar wurde, wer mich da beobachtete, erschauerte ich.

Jegor.

Der kleine Junge, der schwache Andere, der vor drei Monaten in eine schwere Auseinandersetzung der Wachen geraten war. Von beiden Seiten als Spielball benutzt. Eine offene Karte, die bisher keiner der Spieler bekommen hatte. Wobei man sich um solche Karten auch nicht gerade prügelt.

Seine Fähigkeiten reichten, um meine nachlässige Maskierung zu durchdringen. Dass wir uns trafen, verwunderte mich nicht einmal. Die Welt ist voller Zufälle, und hinzu kommt noch die Vorbestimmung.

»Hallo, Jegor«, sagte ich, ohne darüber nachzudenken. Ich weitete den Zauber aus, um den Jungen mit in den Kreis zu nehmen, wo er nicht beachtet wurde.

Er zuckte zusammen, sah sich um. Starrte mich an. Olga hatte er ja noch nie in Menschengestalt gesehen. Nur als weiße Eule.

»Wer sind Sie und woher kennen Sie mich?«

O ja, er war gereift. Nicht äußerlich, sondern innerlich. Mir war nicht klar, wie er es fertig gebracht hatte, sich immer noch nicht endgültig entschieden, sich weder auf die Seite des Lichts noch die des Dunkels gestellt zu haben. Schließlich war er schon im Zwielicht gewesen, zudem unter Umständen, in denen er wer weiß was hätte werden können. Doch seine Aura schimmerte wie gehabt rein und neutral.

Das eigene Schicksal. Wie schön wäre es, ein eigenes Schicksal zu haben.

»Ich bin’s, Anton Gorodezki von der Nachtwache«, sagte ich einfach.»Erinnerst du dich noch an mich?«

Was für eine Frage.

»Aber…«

»Lass dich dadurch nicht täuschen. Das ist eine Maskierung. Wir können unsere Körper wechseln.«

Ich überlegte kurz, ob ich nicht mein Wissen aus dem Illusionskurs hervorkramen und kurz in mein altes Äußeres zurückkehren sollte. Doch das war gar nicht nötig - der Junge glaubte mir. Vielleicht, weil er sich an die Transformationen des Chefs erinnerte.

»Was wollen Sie von mir?«

»Nichts. Ich warte hier auf eine Kollegin, der dieser Körper gehört. Wir beide haben uns nur zufällig getroffen.«

»Ich hasse eure Wachen!«, schrie Jegor.

»Das kannst du halten, wie du willst. Ich habe dich wirklich nicht verfolgt. Wenn du willst, geh.«

Das zu glauben fiel ihm bedeutend schwerer, als den Körpertausch hinzunehmen. Misstrauisch schaute der Junge sich um und zog die Augenbrauen zusammen.

Natürlich brachte er es nicht ohne weiteres fertig zu

gehen. Er hatte ein Geheimnis gelüftet, Kräfte gespürt, die jenseits der Menschenwelt lagen. Und auf diese Kräfte verzichtet, wenn auch nur vorläufig.

Doch ich ahnte, wie gern er das alles gelernt hätte - wenigstens ein paar Kleinigkeiten, Taschenspielertricks mit Pyrokinese und Telekinese, Suggestion, Heilen, Flüchen - keine Ahnung, was genau, aber wahrscheinlich wollte er genau das. Es nicht nur kennen, sondern beherrschen.

»Haben Sie mich wirklich nicht verfolgt?«, fragte er schließlich.

»Wirklich nicht. Wir können nicht lügen - nicht geradezu.«

»Und woher soll ich wissen, ob das nicht auch eine Lüge ist?«, brummte der Junge mit abgewandtem Blick. Was logisch war.

»Nirgendwoher«, räumte ich ein.»Wenn du willst, glaub es.«

»Das würde ich gern«, sagte der Junge, den Blick immer noch zu Boden gesenkt.»Aber ich erinnere mich daran, was geschehen ist, da auf dem Dach. Ich träume davon.«

»Du brauchst vor dieser Vampirin keine Angst mehr zu haben«, beruhigte ich ihn.»Sie ist ausgelöscht worden. Auf ein Urteil des Gerichts hin.«

»Ich weiß.«

»Woher?«, wunderte ich mich.

»Ihr Vorgesetzter hat mich angerufen. Der, der auch den Körper getauscht hatte.«

»Das wusste ich nicht.«

»Er hat einmal angerufen, als ich allein zu Hause war. Er hat gesagt, dass die Vampirin ihre Strafe bekommen hat. Und dann hat er noch gesagt, dass ich aus der Liste der Menschen gestrichen worden bin, weil ich ein potenzieller Anderer bin, auch wenn noch nicht klar ist, was für einer. Und das Los würde nie wieder auf mich fallen, ich brauchte also keine Angst mehr zu haben.«

»Natürlich nicht«, bestätigte ich.

»Ich habe ihn gefragt, ob meine Eltern weiter auf der Liste stehen.«

Darauf wusste ich nichts zu sagen. Mir war klar, wie die Antwort des Chefs gelautet hatte.

»Gut, ich geh jetzt.«Jegor trat einen Schritt zur Seite.»Ihre Zigarette ist ausgegangen.«

Ich schmiss die Kippe weg.»Woher kommst du jetzt?«, fragte ich.»Es ist schon spät.«

»Vom Training, ich schwimme. Aber sagen Sie, sind Sie das wirklich?«

»Erinnerst du dich noch an den Trick mit der zerbrochenen Tasse?«

Jegor rang sich ein Lächeln ab. Die billigsten Tricks beeindrucken die Menschen immer am meisten.

»Ja. Aber…«Er verstummte und starrte an mir vorbei.

Ich drehte mich um.

Es ist merkwürdig, sich von außen zu sehen. Ein Typ mit meinem Gesicht, meinem Gang, in meinen Jeans und meinem Sweatshirt kam auf uns zu, am Gürtel den MD-Player, in der Hand eine kleine Tasche. Ein angedeutetes, kaum zu erkennendes Lächeln, das ebenfalls mir gehörte. Selbst die Augen, dieser falsche

Spiegel, waren meine.

»Hallo Anton«, begrüßte mich Olga.»Guten Abend, Jegor.«

Dass der Junge hier war, wunderte sie nicht im Geringsten. Sie wirkte überhaupt sehr ruhig.

»Guten Abend.«Jegors Blick wanderte zwischen ihr und mir hin und her.»Ist Anton jetzt in Ihrem Körper?«

»Ganz genau.«

»Sie sind nett. Woher kennen Sie mich denn?«

»Ich habe dich gesehen, als ich in einem weniger netten Körper steckte. Aber jetzt musst du uns entschuldigen. Anton steckt in großen Schwierigkeiten, um die wir uns kümmern müssen.«

»Soll ich gehen?«Jegor hatte völlig vergessen, dass er das gerade eben noch aus freien Stücken tun wollte.

»Ja. Sei uns nicht böse, aber hier wird es gleich heiß werden, sehr heiß.«

Der Kleine sah mich an.

»Die Tagwache ist hinter mir her«, erklärte ich ihm.»Alle Dunklen Moskaus.«

»Warum?«

»Das ist eine lange Geschichte. Fahr jetzt lieber nach Hause.«

Das klang grob. Jegor nickte mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er schielte zum anderen Gleis hinüber - gerade kam ein Zug.

»Aber Ihre Leute verteidigen Sie doch?«Trotz allem bereitete es ihm Schwierigkeiten zu begreifen, wer von uns in welchem Körper steckte.»Die von Ihrer Wache?«

»Sie versuchen es«, antwortete Olga sanft.»Aber jetzt geh bitte. Das bisschen Zeit, das wir haben, läuft uns davon.«

»Auf Wiedersehen.«Jegor drehte sich um und rannte zum Zug. Mit dem dritten Schritt verließ er den Kreis, der ihn der Aufmerksamkeit seiner Umwelt entzog. Beinah hätte man ihn umgerannt.

»Wenn der Junge geblieben wäre, hätte ich geglaubt, dass er sich für unsere Seite entscheidet«, sagte Olga, während sie ihm nachblickte.»Zu gern würde ich wissen, welche Wahrscheinlichkeit es gab, dass ihr euch in der Metro begegnet.«

»Das war ein Zufall.«

»Es gibt keine Zufälle. Ach, Anton, vor langer Zeit habe ich die Realitätslinien so problemlos gelesen wie ein offenes Buch.«

»Ich hätte nichts gegen eine gute Prophezeiung einzuwenden.«

»Eine echte Prophezeiung kriegst du nicht auf Bestellung. Gut, kommen wir zur Sache. Du willst in deinen Körper zurück?«

»Ja. Gleich hier.«

»Wie du meinst.«Olga streckte die Arme - meine Arme - aus und packte mich bei der Schulter. Was ein idiotisches, ambivalentes Gefühl in mir hervorrief. Offenbar erging es ihr genauso.»Was musstest du auch so schnell in die Bredouille geraten, Anton?«, amüsierte sie sich.»Ich hatte für heute Abend so extravagante Dinge geplant.«

»Sollte ich dem Wilden vielleicht dankbar sein, dass er deine Pläne durchkreuzt hat?«

Olga konzentrierte sich, ihr Lächeln verschwand.»Gut. Also los.«

Wir stellten uns Rücken an Rücken und streckten die Arme seitlich aus, um ein Kreuz zu bilden. Ich berührte die Finger Olgas, die meine Finger waren.

»Gib mir meins«, sagte Olga.

»Gib mir meins«, wiederholte ich.

»Geser, wir geben dir deine Gabe zurück.«

Ich erschauerte, als mir klar wurde, dass sie den richtigen Namen des Chefs genannt hatte! Den aus den tibetanischen Sagen!

»Geser, wir geben dir deine Gabe zurück!«, wiederholte Olga in scharfem Ton.

»Geser, wir geben dir deine Gabe zurück!«

Olga wechselte in eine alte Sprache über, einen weichen Singsang, den sie vortrug, als sei er ihre Muttersprache. Doch voller Schmerzen spürte ich, wie viel Mühe sie diese magische Handlung kostete, die noch nicht einmal sehr bedeutend war, sondern nur die zweite Kraftstufe verlangte.

Beim Gestaltwechsel schnellt man hoch wie eine Sprungfeder. Unser jeweiliges Bewusstsein hielt sich nur dank der Energie, die Boris Ignatjewitsch Geser uns gegeben hatte, in dem fremden Körper. Wir brauchten nur auf seine Kraft zu verzichten, und schon nahmen wir wieder unsere eigene Gestalt an. Wenn einer von uns beiden ein Magier ersten Grades gewesen wäre, hätten wir noch nicht einmal Körperkontakt herstellen müssen, dann hätte sich der Tausch auch auf Distanz durchführen lassen.

Olgas Stimme schwang sich hoch: Sie sprach die Schlussformel des Verzichts.

Einen Moment lang passierte gar nichts. Dann krümmte ich mich in einem Krampf, wand mich, vor meinen Augen verschwamm alles, wurde grau, als sei ich ins Zwielicht eingetaucht. Kurz sah ich die Metrostation - die gesamte, die mit Staub überzogenen bunten Mosaiken, den dreckigen Fußboden, die langsamen Bewegungen der Menschen, die Regenbögen der Auren und zwei Körper, die miteinander rangen, als wollten sie sich gegenseitig ans Kreuz schlagen.

Dann drückte mich etwas, presste mich, zwängte mich in die Körperhülle.

»Ah, ah, ah«, zischte ich, während ich zu Boden fiel, mich aber in letzter Sekunde mit den Händen abfangen konnte. Meine Muskeln krampften sich zusammen, in den Ohren klirrte es. Der Rücktausch gestaltete sich weitaus unbequemer, vielleicht weil ihn nicht der Chef durchgeführt hatte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Olga träge.»Verdammt, du bist doch ein altes Schwein.«

»Was?«Ich sah die junge Frau an.

Stirnrunzelnd stand Olga auf.»Pardon, aber hättest du nicht mal zur Toilette gehen können?«

»Nur mit Erlaubnis Sebulons.«

»Schon gut, schon vergessen. Wir haben noch eine Viertelstunde, Anton. Erzähl.«

»Was genau?«

»Das, was dir klar geworden ist. Mach schon. Du wolltest nicht einfach nur in deinen Körper zurück, du hast irgendeinen Plan.«

Ich nickte, streckte mich und rieb die dreckigen Hände gegeneinander. Klatschte mir auf die Schenkel, klopfte die Jeans ab. Unter meiner Achsel drückte das zu fest gezogene Halfter, das ich würde lockern müssen. In der Metro gab es jetzt nur noch wenige Menschen, die großen Ströme waren verebbt. Dafür hatten die Leute nun, da sie sich nicht mehr durch die Masse schlängeln mussten, Zeit zum Nachdenken. Die Regenbögen ihrer Auren flammten auf, der Nachhall fremder Emotionen wehte uns an.

Wie sehr musste man Olgas Fähigkeiten gestutzt haben! In ihrem Körper hatte ich mich anstrengen müssen, um die geheime Welt der menschlichen Gefühle zu sehen. Dabei ist das so leicht, leichter geht’s gar nicht. Noch nicht mal ein Grund, stolz zu sein.

»Die Tagwache braucht mich nicht, Olga. Absolut nicht. Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Magier mit mittleren Fähigkeiten.«

Sie nickte.

»Aber sie machen Jagd auf mich. Daran gibt es keinen Zweifel. Folglich bin ich nicht die Beute, sondern der Köder. So wie Jegor den Köder spielte, als Sweta die Beute war.«

»Begreifst du das erst jetzt?«Olga schüttelte den Kopf.»Natürlich bist du der Köder.«

»Für Swetlana?«

Die Zauberin nickte.

»Das ist mir erst heute klar geworden«, gab ich zu.»Vor einer Stunde. Sweta wollte sich der Tagwache entgegenstellen und hat die fünfte Kraftstufe erklommen. Auf Anhieb. Wäre es zu einem Kampf gekommen, hätte man sie umgebracht. Wir sind doch auch ganz einfach zu lenken, Olga. Die Menschen kann man in unterschiedliche Richtungen treiben, zum Guten oder zum Bösen, die Dunklen bei ihrer Niedertracht packen, ihrer Selbstliebe und ihrer Gier nach Macht und Ruhm. Und uns bei unserer Liebe. Die lässt uns schutzlos wie Kinder dastehen.«

»Stimmt.«

»Weiß der Chef das alles?«, fragte ich.»Olga?«

»Ja.«

Sie presste das Wort heraus, als schnüre ihr jemand die Kehle zusammen. Nicht zu fassen! Lichten Magiern, die mehr als tausend Jahre gelebt haben, ist nichts peinlich. Sie haben die Welt so oft gerettet, dass sie alle ethischen Ausreden in- und auswendig kennen. Scham kennt eine Große Zauberin nicht - auch keine ehemalige. Zu oft wurde sie selbst verraten.

Ich lachte auf.»Habt ihr das sofort durchschaut, Olga? Gleich, als der Protest von den Dunklen kam? Dass man mich jagt - mit dem Ziel, Swetlana dazu zu bringen, sich in den Kampf zu stürzen?«

»Ja.«

»Ja, ja, ja! Und dann habt ihr weder sie noch mich gewarnt?«

»Swetlana muss erwachsen werden. Muss ein paar Stufen überspringen.«In Olgas Augen loderte ein Flämmchen auf.»Anton, du bist mein Freund. Ich rede ganz offen mit dir. Du musst verstehen, dass wir nicht die Zeit haben, eine Große angemessen aufzuziehen. Wir brauchen sie, dringender, als du dir das vorstellen kannst. Sie hat genug Kraft. Sie wird sich stählen, wird lernen, ihre Kraft zu sammeln und anzuwenden, und vor allem wird sie lernen, ihre Kraft zu mäßigen.«

»Und wenn ich sterbe… würde das nur ihren Willen stärken, ihren Hass auf die Dunklen schüren?«

»Ja. Aber du wirst nicht sterben, da bin ich sicher. Die Wache sucht den Wilden, es sind bereits alle mobilisiert. Wir präsentieren ihn den Dunklen, die Klage gegen dich wird zurückgezogen.«

»Dafür stirbt ein Lichter Magier, der nicht rechtzeitig initiiert worden ist. Ein unglücklicher, einsamer, zu Tode gehetzter Lichter, der davon überzeugt ist, allein auf weiter Flur gegen das Dunkel zu kämpfen.«

»Ja.«

»Du widersprichst mir ja heute gar nicht.«In meiner Stimme schwang keine Boshaftigkeit mit.»Olga, ist das, was ihr vorhabt, nicht gemein?«

»Nein.«In ihrer Stimme klang kein Zweifel. Es stand also viel auf dem Spiel.

»Wie lange muss ich durchhalten, Lichte?«

Sie zuckte zusammen.

Vor langer, vor sehr langer Zeit war dies einmal die übliche Form der Anrede bei der Wache gewesen. Lichter, Lichte. Warum nur hatten diese Worte ihre frühere Bedeutung verloren, warum wirkten sie heute so fehl am Platze, als redeten sich dreckige Penner vor einer Bierbude mit»Gentlemen«an?

»Wenigstens bis morgen früh.«

»Die Nacht - das ist nicht mehr unsere Zeit. Heute sind alle Dunklen auf den Straßen Moskaus. Und im Recht.«

»Nur so lange, bis wir den Wilden gefunden haben. Halte durch.«

»Olga.«Ich trat an sie heran, berührte mit der Hand

ihre Wangen und vergaß einen Moment lang völlig den ungeheuren Altersunterschied - was sind schon tausend Jahre im Vergleich zu einer endlosen Nacht -, vergaß das Ungleichgewicht unserer Kräfte, den Unterschied unserer Ränge.»Olga, glaubst du denn, dass ich morgen noch lebe?«

Die Zauberin schwieg.

Ich nickte. Es gab nichts mehr zu sagen.

Also ja, das hat doch was.

Sich im Morgengraun verlieren, Klopfen an die gläsernen

Immerzu verschlossnen Türen.

Ich drückte die Taste, um auf Zufallswahl umzuschalten. Nicht, weil das Lied nicht zu meiner Stimmung passte. Im Gegenteil.

Ich liebe die Metro bei Nacht. Warum, weiß ich selbst nicht. Es gibt nichts zu sehen außer der ekelhaften Reklame und den erschöpften, gleichförmigen Auren der Menschen. Es bleibt nur das Heulen des Motors, die Luft, die durch die nicht ganz geschlossenen Fenster hereinschwallt, das Gerumpel über die Schienen. Das stumpfsinnige Warten auf deine Station.

Trotzdem liebe ich sie.

Wir sind so leicht bei unserer Liebe zu fassen!

Ich erschauerte, erhob mich und ging zur Tür. Eigentlich hatte ich bis zum Ende der Linie fahren wollen.

»Rishskaja, nächste Station Alexejewskaja.«

Alle schweigen von demselben Angestrengt und überall,

Und der Klub für Pest und Aussatz

Hat Saisoneröffnungsball.

Das passt.

Schon als ich die Rolltreppe betrat, spürte ich von vorn einen leichten Hauch von Kraft. Ich schickte meinen Blick die mir entgegenkommende Rolltreppe hoch - und machte fast sofort den Dunklen aus.

Immerhin kein hoher Wächter des Tages, die haben andere Allüren. Ein kleiner Magier, vierter oder fünfter Grad, vermutlich eher fünfter: Er musste sich gewaltig anstrengen, um seine Umgebung zu scannen. Noch ganz jung, Anfang zwanzig, mit langen blonden Haaren, einer zerknautschten offenen Jacke, einem freundlichen, wenn auch angespannten Gesicht.

Wie bist du bloß ins Dunkel geraten? Was ist passiert, bevor du zum ersten Mal ins Zwielicht eingetreten bist? Hast du dich mit deiner Freundin verkracht? Mit deinen Eltern gestritten? Die Prüfungen an der Uni vergeigt oder in der Schule eine Fünf bekommen? Waren sie dir im Oberleitungsbus auf dem Fuß herumgetrampelt?

Am schrecklichsten ist allerdings, dass du dich nach außen nicht verändert hast. Oder höchstens zum Vorteil. Deine Freunde werden voller Verwunderung bemerkt haben, was sie jetzt mit dir für Spaß haben, dass ihnen alles gelingt, was sie zusammen mit dir machen. Deine Freundin wird in dir eine Unmenge bisher verborgener Qualitäten entdeckt haben. Deine Eltern können sich nicht genug über ihren Sohn freuen,

der so reif und klug geworden ist. Die Dozenten sind begeistert von dem talentierten Studenten.

Und niemand weiß, welchen Preis du von deiner Umwelt eintreibst. Womit sie deine Güte, deine Späße und dein Mitleid bezahlen.

Ich kniff die Augen etwas zusammen und stützte mich mit dem Ellbogen aufs Geländer. Ein müder, leicht betrunkener Mann, der auf nichts achtete und Musik hörte. Der Blick des Dunklen glitt über mich hinweg, wanderte weiter nach unten, erzitterte, hielt inne.

Zeit mich vorzubereiten, mein Äußeres zu ändern, meine Aura zu tarnen blieb mir nicht. Trotz allem hatte ich nicht erwartet, dass die Dunklen die Metro bereits absuchten.

Eine kalte Berührung, durchdringend wie eine Windböe. Der Junge verglich mich mit dem Bild, das vermutlich unter allen Dunklen in Moskau verteilt worden war. Ungeschickt machte er das, vergaß dabei seine Abschirmung und bemerkte nicht, wie mein Bewusstsein einen durchs Zwielicht geschlagenen Weg entlanghuschte und seine Gedanken berührte.

Freude. Begeisterung. Jubel. Gefunden. Die Beute. Sie überlassen mir einen Teil der Kraft der Beute. Werden mich loben. Befördern. Ruhm. Werden es anerkennen. Das haben sie mir nicht zugetraut! Jetzt sehen sie, was ich kann. Werden es honorieren.

Dennoch erwartete ich, dass wenigstens in einem Winkel seines Bewusstseins noch andere Gedanken auftauchten würden. Dass ich ein Feind bin, der sich den Dunklen entgegenstellt. Dass ich seinesgleichen getötet hatte.

Doch nein. Nichts. Er dachte nur an sich.

Bevor der junge Magier seine plumpen Fühler ausstreckte, fuhr ich meine aus. So. Über große Fähigkeiten verfügte er nicht, mit der Tagwache konnte er sich in der Metro nicht in Verbindung setzen. Was er aber auch gar nicht wollte. Für ihn war ich ein gehetztes Tier, noch dazu ein ungefährliches, ein Kaninchen, kein Wolf.

Also dann, Freundchen.

Ich verließ die Station, glitt von der Tür weg und suchte meinen Schatten. Die trübe Silhouette wölkte auf. Ich trat hinein.

Das Zwielicht.

Die Fußgänger wurden zu gespenstischem Dunst, die Autos krochen wie Schildkröten dahin, das Licht der Straßenlaternen verdunkelte sich, zerquetschte alles, lastete schwer. Stille, die Geräusche wichen einem dumpfen, kaum wahrnehmbaren Brummen.

Ich beeilte mich, denn noch hatte der Magier meine Spur nicht aufgenommen. In mir spürte ich eine Kraft, mit der ich bis zum Scheitel voll gepumpt war. Vermutlich Olgas Werk. In meiner Gestalt hatte sie die alten Fähigkeiten zurückerlangt und den Körper mit Energie aufgeladen, von der sie nicht einen Funken verbraucht hatte. Der Gedanke war ihr nicht einmal gekommen, so verlockend er auch sein mochte.

»Wo die Grenze ist, wirst du irgendwann selbst verstehen«, hatte ich Swetlana gesagt. Olga kannte diese Grenze seit langem. Und um einiges besser als ich.

Ich lief an der Wand entlang, spähte durch den Beton hindurch in den in die Tiefe gehenden Schacht, auf die Rolltreppen. Der dunkle Fleck kam nach oben.

Ziemlich schnell sogar: Der Magier rannte, flitzte über die Stufen, hatte die Menschenwelt aber trotzdem noch nicht verlassen. Haushaltete mit seinen Kräften. Nun komm schon, sieh zu.

Ich erstarrte.

Über den Boden glitt mir eine Wolke entgegen, die sich zusammenballte, ein Nebelklumpen, der die Züge einer menschlichen Gestalt annahm.

Ein Anderer. Ein ehemaliger Anderer.

Vielleicht gehörte er einst zu uns. Vielleicht aber auch nicht. Die Dunklen gehen ebenfalls nach dem Tod irgendwo ein. Bis jetzt war es einfach eine neblige, diffuse Wolke. Ein ewiger Pilger des Zwielichts.

»Friede sei mit dir, Gefallener«, sprach ich ihn an.»Wer auch immer du gewesen bist.«

Die aufwölkende Silhouette blieb vor mir stehen. Eine Nebelzunge schlängelte sich aus dem Körper heraus und streckte sich mir entgegen.

Was wollte er? Die Fälle, in denen die Bewohner des Zwielichts mit lebenden Anderen in Kontakt zu treten versuchen, kann man an fünf Fingern abzählen.

Die Hand - wenn man das denn Hand nennen kann - zitterte. Fahle Nebelfäden rissen sich los, lösten sich im Zwielicht auf und rieselten auf die Erde.

»Ich habe nur wenig Zeit«, sagte ich.»Gefallener, wer auch immer du im Leben gewesen bist, ein Dunkler oder ein Lichter, Friede sei mit dir. Was willst du von mir?«

Ein Windstoß schien die Wolken weißen Dunstes zu zerreißen. Der Geist drehte sich um und wies mit ausgestreckter Hand - jetzt zweifelte ich nicht mehr daran, dass er mir die Hand entgegenstreckte - durchs Zwielicht nach Nordosten. Mein Blick folgte der Richtung: Der Gefallene zeigte auf eine dünne, nadelartige Silhouette, die am Himmel glomm.

»Der Turm, ja, das habe ich verstanden! Was soll das heißen?«

Der Nebel zerfloss langsam. Noch einen Moment - und das Zwielicht war wieder genauso leer wie immer.

Ein Zittern packte mich. Der Tote wollte mit mir kommunizieren. War er ein Freund oder ein Feind? Gab er mir einen Rat oder warnte er mich vor etwas?

Es war nicht zu verstehen.

Ich sah durch die Mauern des Metrogebäudes, durch die Erde - der Dunkle war fast oben angelangt, stand aber immer noch auf der Rolltreppe. Gut, versuche ich zu verstehen, was der Geist mir sagen wollte. Zum Turm wollte ich nicht gehen, ich hatte mir eine andere, riskante, aber überraschende Route überlegt. Es bestand also keine Notwendigkeit, mich vor dem Fernsehturm in Ostankino zu warnen.

War es also ein Hinweis? Aber von wem? Von einem Freund oder einem Feind, das war die entscheidende Frage. Man braucht nicht darauf zu hoffen, dass hinter der Grenze des Lebens die Unterschiede verwischt wären. Unsere Toten lassen uns in diesem Kampf nicht im Stich.

Ich musste eine Entscheidung treffen. Aber nicht jetzt.

Ich rannte zum Metroausgang und zog im Lauf die Pistole aus dem Achselhalfter.

Gerade noch rechtzeitig: Der Dunkle Magier kam aus der Tür heraus und kroch unverzüglich ins Zwielicht. Es würde recht einfach werden, jetzt, wo sich mir diese Möglichkeit bot. Fremde Auren loderten auf, dunkle Funken, die in alle Richtungen flogen.

Befände ich mich in der Menschenwelt, könnte ich beobachten, wie sich die Gesichter der Menschen verzerrten: wegen eines plötzlichen Schmerzes im Herzen oder wegen Herzschmerz, was ungleich schlimmer ist.

Der Dunkle Magier blickte sich um, suchte meine Spur. Aus seiner Umgebung vermochte er Kräfte zu ziehen, technisch war er jedoch nicht auf der Höhe.

»Ganz ruhig«, sagte ich und drückte dem Magier den Pistolenlauf in den Rücken.»Ganz ruhig. Du hast mich schon gefunden. Aber ob du dich darüber freuen solltest?«

Mit der anderen Hand packte ich sein Handgelenk und verhinderte somit, dass er seine Passes machen konnte. All diese dreisten jungen Magier greifen auf die Standardzauber zurück, die am einfachsten und effektivsten sind. Allerdings nach der makellosen Arbeit von zwei Händen verlangen.

Die Hand des Magiers wurde feucht.

»Gehen wir«, sagte ich.»Wir wollen ein bisschen miteinander plaudern.«

»Du, du…«Er vermochte immer noch nicht zu glauben, was ihm gerade passierte.»Du! Anton! Bist ein Gesetzloser!«

»Schon möglich. Bringt dich das jetzt weiter?«

Er drehte den Kopf herum - im Zwielicht hatte sich sein Gesicht verändert, hatte seine Attraktivität und Gutmütigkeit verloren. Nein, noch hatte er seine endgültige Zwielicht-Gestalt nicht angenommen, wie das bei Sebulon der Fall war. Trotzdem war das Gesicht schon nicht mehr menschlich. Ein Kiefer, der viel zu weit herunterhing, ein breites Froschmaul, schmale trübe Äuglein.

»Was du für ein Monster bist, mein Freund.«Ich stieß ihm noch einmal die Pistole in den Rücken.»Das ist eine Pistole. Geladen mit Silberkugeln, auch wenn das nicht nötig wäre. In der Zwielicht-Welt funktioniert sie nicht schlechter als in der Menschenwelt, etwas langsamer zwar, aber das wird dich nicht retten. Im Gegenteil, du spürst genau, wie die Kugel deine Haut zerreißt, sich langsam durch die Muskelfasern frisst, die Knochen zermalmt, die Nerven zerfetzt.«

»Das wagst du nicht!«

»Warum nicht?«

»Damit verbaust du dir jeden Ausweg!«

»Ach ja? Noch habe ich also Chancen? Weißt du was? Ich kriege immer mehr Lust abzudrücken. Gehen wir, du Mistkerl!«

Mit einem Fußtritt half ich ein wenig nach, trieb den Magier in einen engen Durchgang zwischen zwei Buden. Blaues Moos bewucherte im Übermaß die Wände und fing jetzt an zu zucken. Liebend gern würde die Zwielicht-Flora unsere Gefühle kosten: meinen Zorn, seine Angst. Gleichzeitig haben selbst diese hirnlosen Pflanzen genug Selbsterhaltungsinstinkt.

Und der Dunkle Magier nicht minder.

»Was willst du eigentlich von mir?«, schrie er.»Wir haben eine Aufgabe zugeteilt bekommen, sollten dich suchen! Ich habe nur meinen Befehl ausgeführt! Ich achte den Vertrag, Wächter!«

»Ich bin kein Wächter mehr.«Mit einem Stoß knallte ich ihn an die Wand, in die zärtliche Umarmung des Mooses. Sollte es doch ruhig ein wenig von seiner Furcht aus ihm heraussaugen, sonst macht er den Mund nie auf.»Wer hat die Jagd befohlen?«

»Die Tagwache.«

»Wer konkret?«

»Der Vorgesetzte, seinen Namen kenne ich nicht.«

Das dürfte der Wahrheit ziemlich nahe kommen. Ich kannte ihn übrigens.

»Hat man dich konkret zu dieser Station geschickt?«

Er zögerte.

»Sprich.«Ich richtete die Pistole auf den Bauch des Magiers.

»Ja.«

»Allein?«

»Ja.«

»Du lügst. Aber das macht nichts. Welchen Befehl hast du für den Fall, dass du mich entdeckst?«

»Dich zu observieren.«

»Du lügst. Und diesmal macht es was. Denk nach und beantworte die Frage noch einmal.«

Der Magier schwieg, offenbar hatte es das blaue Moos etwas übertrieben.

Ich feuerte einen Schuss ab, und die Kugel überwand mit fröhlichem Gesang den Meter, der uns beide voneinander trennte. Der Magier sah sie sogar - seine Augen weiteten sich, nahmen eine menschlichere Form an, er zuckte zusammen, doch es war schon zu spät.

»Im Moment ist das nur eine Wunde«, erklärte ich.»Die noch nicht mal tödlich ist.«

Unter Schmerzen wand er sich am Boden, presste die Hände auf die Schusswunde im Bauch. Im Zwielicht wirkte das Blut fast durchsichtig. Vielleicht war das eine Illusion, vielleicht aber auch eine Besonderheit dieses Magiers.

»Beantworte meine Frage!«

Indem ich den Arm schwang, steckte ich das blaue Moos um ihn herum in Brand. Mir reichte es, jetzt würden wir mit der Angst, dem Schmerz, der Verzweiflung spielen. Schluss mit Barmherzigkeit, mit Nachsicht, mit Reden.

Das ist das Dunkel.

»Wir haben den Befehl, Mitteilung zu machen und dich nach Möglichkeit zu liquidieren.«

»Nicht festzunehmen? Sondern zu liquidieren?«

»Ja.«

»Die Antwort ist akzeptiert. Das Kommunikationsmittel?«

»Per Handy, einfach per Handy.«

»Gib’s mir.«

»Es ist in der Tasche.«

»Wirf’s her.«

Unbeholfen kramte er in der Tasche herum - die Wunde war nicht tödlich, die Widerstandskraft des Magiers noch hoch, aber er litt höllische Schmerzen.

Wie er es verdient hatte.

»Die Nummer?«, fragte ich, während ich das Mobiltelefon auffing.

»Die Notfalltaste.«Ich schaute aufs Display.

Den ersten Ziffern nach zu urteilen, konnte das Telefon an jedem x-beliebigen Ort stehen. Ebenfalls ein Handy sein.

»Ist das der Einsatzstab? Wo sitzt er?«

»Ich weiß nicht…«Er verstummte, starrte auf die Pistole.

»Streng dein Gedächtnis ein bisschen an«, verlangte ich.

»Man hat mir gesagt, sie könnten in fünf Minuten bereits hier sein.«

Das war’s also!

Ich blickte mich nach hinten um, betrachtete die am Himmel brennende Nadel. Das passte, das passte nur zu gut.

Der Magier rührte sich.

Nein, ich hatte ihn nicht provozieren wollen, indem ich den Blick abgewandt hatte. Aber als er aus der Tasche den Stab zog - den groben, kurzen Stab, ganz offenkundig keine Handarbeit von ihm, sondern billig eingekauft -, durchströmte mich Erleichterung.

»Also?«, fragte ich, als er innehielt, sich nicht entscheiden konnte, die Waffe zu erheben.»Los!«

Der Kerl schwieg, rührte sich nicht.

Wenn er doch bloß versuchen würde, mich anzugreifen - ich würde mein Magazin in ihn hineinpfeffern. Das wäre dann schon fatal. Doch vermutlich bringt man denen bei, wie sie sich bei einem Konflikt mit den Lichten verhalten sollen. Ihm war völlig klar, dass ich ihn kaum umbringen würde, solange er unbewaffnet und völlig schutzlos dalag.

»Wehr dich«, sagte ich.»Kämpf! Du Hundesohn, du scherst dich doch sonst nicht darum, wenn du andere Schicksale zerstörst, wenn du hilflose Wesen überfällst. Also, was ist? Los!«

Der Magier leckte sich die Lippen - seine Zunge war lang und leicht gespalten. Mit einem Mal ging mir auf, welche Zwielicht-Gestalt er über kurz oder lang annehmen würde, und mir wurde übel.

»Ich liefere mich deiner Gnade aus, Wächter. Ich verlange Nachsicht und einen Prozess.«

»Ich brauchte nur weggehen, und du würdest dich mit deinen Leuten in Verbindung setzen«, sagte ich.»Oder aus den Menschen um uns herum genug Kraft ziehen, um zu erstarken und dich zu einem Telefon zu schleppen. Oder? Darüber sind wir uns doch wohl beide einig.«

Der Dunkle lächelte.»Ich verlange Nachsicht und einen Prozess, Wächter«, wiederholte er.

Ich fuchtelte mit der Pistole in den Händen herum, blickte in das grinsende Gesicht. Verlangen können sie immer. Geben nie.

»Ich hatte immer Schwierigkeiten damit, unsere eigene Doppelmoral zu begreifen«, sagte ich.»Das ist schwer und unangenehm. Kommt erst mit der Zeit, und die habe ich nicht mehr. Wenn man sich eine Rechtfertigung ausdenken muss. Wenn man nicht alle verteidigen kann. Wenn du weißt, dass in der Sonderabteilung jeden Tag Lizenzen unterschrieben werden, mit denen Menschen dem Dunkel ausgeliefert werden. Das ist unschön, oder?«

Das Lächeln stahl sich aus seinem Gesicht.»Ich verlange Nachsicht und einen Prozess, Wächter«, wiederholte er die Worte wie eine Beschwörungsformel.

»Ich bin jetzt kein Wächter«, antwortete ich.

Die Pistole zuckte, knallte, die Ladung rollte träge heran, die Hülsen flogen heraus. Die Kugeln schwirrten durch die Luft wie ein kleiner bissiger Hornissenschwarm.

Er schrie nur einmal, dann zerfetzten ihm zwei Kugeln den Schädel. Als die Pistole klickte und verstummte, wechselte ich automatisch mit bedächtigen Bewegungen das Magazin.

Der zerstückelte, verdrehte Körper lag vor mir. Er fing bereits an, aus dem Zwielicht auszutreten, und die Schminke des Dunkels zerlief auf dem jungen Gesicht.

Ich fuhr mit der Hand durch die Luft, zog ein diffuses Etwas herunter, presste dieses Ding zusammen, das durch den Raum waberte. Die oberste Schicht. Die Pause von der Gestalt des Dunklen Magiers.

Morgen würde man ihn finden. Einen guten, prachtvollen Jungen, den alle gemocht hatten. Auf viehische Weise ermordet. Wie viel Böses hatte ich in die Welt gesetzt? Wie viel Tränen, Verbitterung, blinden Hass? Welche Kette würde sich von hier in die Zukunft ziehen?

Und wie viel Böses hatte ich umgebracht? Wie viel Menschen würden länger und besser leben? Wie viel Tränen würden nicht fließen, wie viel Niedertracht nicht aufkommen, wie viel Hass nicht entstehen?

Vielleicht hatte ich jetzt die Barriere überschritten, die ich nie hätte nehmen dürfen.

Vielleicht hatte ich die nächste Grenze erkannt, die ich überwinden musste.

Ich steckte die Pistole ins Halfter und trat aus dem Zwielicht.

Der Fernsehturm in Ostankino bohrte sich wie eine Nadel in den Himmel.

»Spielen wir das Spiel also ohne Regeln«, sagte ich.»Ohne jede Regel.«

Es gelang mir sofort, ein Auto anzuhalten, sogar ohne beim Fahrer einen Anfall von Menschenfreundlichkeit heraufbeschwören zu müssen. Ob das daran lag, dass ich die Maske des toten Dunklen Magiers trug - diese sehr einnehmende Maske?

»Zum Fernsehturm«, bat ich, während ich in den ramponierten»Sechser«stieg.»Und zwar möglichst schnell, damit ich noch reinkomme.«

»Willst wohl noch ein bisschen Spaß haben?«, erkundigte sich der Mann hinterm Steuer lächelnd, ein etwas spröder Brillenträger, der irgendwie an den alt gewordenen Schurik aus den Komödien von einst erinnerte.

»Und wie«, erwiderte ich.»Und wie.«

Fünf

Der Fernsehturm war noch nicht geschlossen. Ich kaufte eine Eintrittskarte, zahlte einen Zuschlag, um ins Restaurant gehen zu dürfen, und überquerte die Grünfläche, die den Turm umgab. Die letzten fünfzig Meter des Wegs führten unter einem schlaffen Stoffdach entlang. Wozu das wohl diente? Ob von dem alten Bauwerk ab und an Beton herunterbröckelte?

Das Stoffdach endete an einer kleinen Bude, an der man kontrolliert wurde. Ich zeigte meinen Ausweis vor, trat durch den Rahmen mit dem Metalldetektor, der übrigens nicht funktionierte. Das waren alle Formalitäten, das also waren die Sicherheitsvorkehrungen dieses strategischen Objekts.

Jetzt packten mich Zweifel. Wie man es auch drehte und wendete, die Idee, hier herzukommen, blieb seltsam. Ich konnte nicht spüren, dass sich in der Nähe Dunkle zusammengezogen hatten. Falls doch, waren sie gut maskiert - was bedeutete, dass mir eine Auseinandersetzung mit Magiern zweiten oder dritten Grades bevorstand. Eine absolute Selbstmordaktion.

Der Stab. Der Einsatzstab der Tagwache, eingerichtet zur Koordination der Jagd, der Jagd auf mich. Wohin hätte sich ein unerfahrener Dunkler Magier sonst wenden können, um mitzuteilen, er habe die Beute gestellt?

Sollte ich mich zum Stab vorwagen, zu dem mindestens ein Dutzend Dunkler gehörten, darunter auch erfahrene Wachleute? Den Kopf freiwillig in die Schlinge zu stecken ist dumm, nicht heldenhaft, solange noch Chancen bestehen, mit heiler Haut davonzukommen. Und ich hoffte sehr, dass es diese Chancen noch gab.

Von unten, von den Betonblüten der Stützpfeiler aus, machte der Fernsehturm einen ungleich stärkeren Eindruck als aus der Ferne. Etliche Moskauer dürften die Aussichtsplattform allerdings noch nie im Leben erklommen haben, nahmen sie den Turm doch nur als obligatorische Silhouette am Himmel wahr, durchaus nützlich und symbolisch, aber gewiss kein Ort, an dem man seine Freizeit verbrachte. Wie in einer aerodynamischen Röhre von ausgeklügelter Konstruktion wehte hier ein Wind, gerade noch hörbar plagte sich ein kaum fassbarer lang gezogener Laut ab - die Stimme des Turms.

Ich blieb kurz stehen und sah nach oben, betrachtete die Gitter und Öffnungen im Mauerwerk, den von Lunkern zerfressenen Beton, sah auf die erstaunlich grazile, elastische Silhouette. Und elastisch war sie in der Tat, mit den Betonringen an gespannten Seilen. Denn in der Elastizität liegt die Kraft. Nur in ihr.

Dann trat ich durch die Glastür.

Komisch, ich hatte geglaubt, weit mehr Menschen würden den Wunsch verspüren, das nächtliche Moskau aus einer Höhe von dreihundertsiebenunddreißig Metern zu betrachten. Doch nein. Im Fahrstuhl fuhr ich allein nach oben, genauer gesagt zusammen mit einer Frau vom Service.

»Ich hatte mehr Leute erwartet«, sagte ich mit einem freundlichen Lächeln.»Ist es abends immer so leer?«

»Nein, normalerweise geht es hoch her.«Die Frau gab mir zwar Auskunft, ohne sich irgendwie über meine Frage zu wundern, doch einen Hauch von Irritation nahm ich in ihrer Stimme wahr. Sie drückte den Knopf, die Doppeltüren schlossen sich. Schon im nächsten Moment spürte ich einen Schmerz in den Ohren und wurde zu Boden gepresst, während der Fahrstuhl mit rasender Geschwindigkeit und dennoch verblüffend sanft nach oben schoss.»Vor zwei Stunden hat sich hier alles geleert.«

Vor zwei Stunden.

Kurz nach meiner Flucht aus dem Restaurant.

Wenn um diese Zeit der Einsatzstab im Turm eingerichtet worden war, wunderte es mich nicht mehr, dass Hunderte von Moskauern, die an einem klaren, warmen Frühlingsabend in dem Restaurant in den Wolken essen wollten, ihre Pläne von einer Minute auf die andere umgeworfen hatten. Selbst wenn uns die Menschen nicht sehen, spüren sie uns.

Und obwohl sie mit alledem nicht das Geringste zu tun hatten, waren sie klug genug, den Dunklen nicht in die Quere zu kommen.

Ich sah jetzt natürlich wie der Dunkle Magier aus. Blieb die Frage, ob diese Maskierung ausreichte. Der Wachmann würde mein Äußeres mit der Liste vergleichen, die seinem Gedächtnis übermittelt worden war, und alles würde passen. Außerdem würde er die Kraft spüren.

Würde er dann noch tiefer graben? Würde er das Kraftprofil überprüfen, klären, ob es sich bei mir um einen Dunklen oder einen Lichten handelte und welchen Rang ich innehatte?

Fünfzig zu fünfzig. Einerseits muss er das tun. Andererseits vernachlässigen Wachleute diese Pflicht immer und überall. Vielleicht langweilt er sich zu Tode, vielleicht ist er gerade zur Arbeit gekommen und platzt vor Eifer.

Aber am Ende nahmen sich fünfzig von hundert sehr gut aus im Vergleich zu den Chancen, mich auf Moskaus Straßen sicher vor der Tagwache zu verstecken.

Der Fahrstuhl hielt an. Noch nicht mal einen Plan hatte ich mir zurechtgelegt, das Ganze hatte nämlich nur zwanzig Sekunden gedauert. Wenn doch die Fahrstühle in normalen Hochhäusern genauso schnell wären.

»Wir sind da«, meinte die Frau fast heiter. Anscheinend war ich einer der letzten Besucher des Fernsehturms in Ostankino.

Ich betrat die Aussichtsplattform.

Normalerweise wimmelte es hier von Menschen. Neuankömmlinge lassen sich auf den ersten Blick von denjenigen unterscheiden, die schon ein Weilchen hier sind: durch ihre unsicheren Bewegungen, die komische Vorsicht, mit der sie an das runde Fenster herantreten, die Scheu, mit der sie um die in den Boden eingelassenen Scheiben aus Panzerglas schleichen und mit der Zehenspitze ängstlich ihre Stabilität prüfen.

Meiner Schätzung nach belief sich die Zahl der Besucher auf etwa zwei Dutzend. Kinder waren nirgends zu sehen, und aus irgendeinem Grund malte ich mir in aller Deutlichkeit aus, wie sie plötzlich einen hysterischen Anfall bekamen, sobald sie sich dem Turm näherten, wie perplex und wütend ihre Eltern darauf reagierten. Kinder spüren Dunkle weitaus besser.

Auch die Besucher der Plattform wirkten verstört, niedergeschlagen. Sie fesselte nicht das Moskau, das sich unter ihnen erstreckte, in bunte Lichter getaucht, diese grelle, normalerweise so festliche Stadt, sei es auch ein Gelage in Zeiten der Pest, so doch ein schönes Gelage. Jetzt genoss niemand diesen Anblick. Der Atem des Dunkels herrschte über allem, unsichtbar selbst für mich, aber zu spüren, erstickend wie Grubengas, das keinen Geschmack hat, keine Farbe, keinen Geruch.

Ich schaute auf den Boden, fand meinen Schatten und trat in ihn hinein. Ein Wachmann stand in meiner Nähe, nur zwei Schritt von mir entfernt, neben einer in den Boden eingelassenen Scheibe. Mit freundlichem, jedoch leicht irritiertem Blick musterte er mich. Im Zwielicht bewegte er sich nicht sehr sicher, woraus ich schlussfolgerte, dass für die Sicherheit des Einsatzstabs längst nicht die besten Kräfte abgestellt worden waren. Ein kräftiger junger Mann in streng geschnittenem grauen Anzug und weißem Hemd, mit einer Krawatte in gedecktem Ton - ein Bankangestellter, aber kein Diener des Dunkels.

»Hallo, Anton«, sprach mich der Magier an.

Eine Moment lang stockte mir der Atem.

So dumm konnte ich doch nicht sein, oder? So grauenvoll, so fürchterlich naiv?

Man hatte mir aufgelauert, mich getäuscht, einen weiteren Bauern geopfert und sogar - wie auch immer - jemanden hinzugezogen, der schon vor Urzeiten ins Zwielicht eingegangen war.

»Was machst du denn hier?«

Mein Herzschlag setzte wieder ein und fand seinen Rhythmus. Alles war so einfach, so unendlich einfach.

Der ermordete Dunkle Magier war mein Namensvetter.

»Mir ist da was aufgefallen. Jetzt brauch ich neue Anweisungen.«

Der Wachmann runzelte die Stirn. Vermutlich stimmte meine Art zu sprechen nicht ganz. Trotzdem durchschaute er mich immer noch nicht.

»Deinen Ausweis, Anton. Sonst kann ich dich nicht durchlassen, das weißt du selbst.«

»Du bist verpflichtet, mich durchzulassen«, platzte ich auf gut Glück heraus. Bei uns in der Wache gelangt jeder zum Einsatzstab, der seinen Sitz kennt.

»Weshalb das?«Er lächelte, doch seine rechte Hand wanderte langsam nach unten.

Der Stab an seinem Gürtel war bis zum Anschlag aufgeladen. Ein beinerner Stab, kunstvoll aus einem Unterschenkelknochen geschnitzt, mit einem kleinen rubinroten Kristall an der Spitze. Ich brauchte nur herumzudrucksen, mich zu verschließen - und ein gewaltiger Kraftausstoß würde Panik unter allen Anderen um uns herum auslösen.

Ich nahm meinen Schatten vom Boden auf und trat in die zweite Schicht des Zwielichts.

Kälte.

Nebel wallte auf, genauer, nicht Nebel, sondern Wolken. Über der Erde hängende feuchte schwere Wolken. Den Fernsehturm von Ostankino gab es hier nicht mehr, diese Welt hatte die letzte Ähnlichkeit mit der menschlichen eingebüßt. Auf wattigen Wolken, über aufgequollene Tropfen ging ich weiter, einen unsichtbaren Weg entlang. Die Zeit dehnte sich dahin - eigentlich fiel ich nämlich nach unten, doch so langsam, dass es nicht zu merken war. Hoch im Himmel leuchteten drei Monde, die als trübe Flecken den Wolkenschleier durchbrachen, ein weißer, ein gelber und ein blutroter. Vor mir entstand ein Blitz, der anschwoll, spitze Geschosse spie, sich durch die Wolken bohrte, eine verzweigte Furche in sie einbrannte.

Ich trat an einen diffusen Schatten heran, der in quälendem Zeitlupentempo an seinen Gürtel griff, nach seinem Stab langte. Fing seine Hand ab, eine schwere, unnachgiebige Hand, kalt wie Eis. Die sich nicht aufhalten ließ. Ich musste mich losreißen, wieder rauf in die erste Schicht des Zwielichts und ein Handgemenge anfangen. Mit einigen Aussichten auf den Sieg.

Licht und Dunkel, ich bin doch bloß Programmierer! Ich habe mich nie darum gerissen, an vorderster Front zu kämpfen! Lasst mich meine Arbeit machen, die ich beherrsche und liebe!

Doch sowohl das Licht wie auch das Dunkel schwiegen, wie sie immer schweigen, wenn man sie anruft. Und nur eine amüsierte Stimme, die ab und an in jeder Seele erklingt, flüsterte:»Niemand hat dir eine saubere Arbeit versprochen.«

Ich sah auf den Boden. Mein Füße standen zehn Zentimeter unter denen des Dunklen Magiers. Ich fiel, hatte jeden Halt in dieser Realität verloren, hier gab es keinen Fernsehturm und keine Analogien für ihn - es gibt keine derart dünnen Felsen, noch derart hohe Bäume.

Wie gern hätte ich saubere Hände behalten, ein heißes Herz und einen kühlen Kopf. Doch aus irgendeinem Grund vertrugen sich diese drei Faktoren nicht. Unter keinen Umständen. Der Wolf, die Ziege und der

Kohlkopf - wo ist der wahnsinnige Fährmann, der sie zusammen ins Boot nimmt?

Und wo ist der Wolf, der, nachdem er die Ziege verschlungen hat, darauf verzichten würde, den Bootsmann zu kosten?

»Gott weiß es«, sagte ich. Meine Stimme verlor sich in den Wolken. Ich ließ die Hand los, griff nach dem Schatten des Dunklen Magiers, diesem feuchten Fetzen, der sich im Raum auflöste. Zog ihn hoch, warf ihn auf den Körper und stieß den Dunklen in die zweite Schicht des Zwielichts.

Er schrie auf, als die Welt ringsum den Anschein von Sicherheit verlor. Vermutlich hatte er noch nie die Gelegenheit gehabt, weiter als bis zur ersten Schicht ins Zwielicht einzutauchen. Die Energie für diesen Ausflug lieferte zwar ich, doch die Empfindungen waren ihm völlig neu.

Indem ich mich auf die Schultern des Dunklen stemmte, drückte ich ihn nach unten. Und hastete selbst hoch, indem ich erbarmungslos auf den gekrümmten Rücken trat.

Der Weg der Großen Magier nach oben führt immer über den Rücken anderer.

»Du Schweeeiiin! Anton, du Schwein!«

Selbst jetzt begriff der Dunkle nicht, wer ich war. Das würde er erst, wenn er den Kopf drehte - er, der er bereits ausgestreckt dalag und als Halt für meine Füße diente -, wenn er den Kopf drehte und mir ins Gesicht sah. Denn hier, in der zweiten Schicht des Zwielichts, brachte mir die grobe Maskierung natürlich gar nichts. Er riss die Augen auf, röchelte kurz, heulte auf und klammerte sich an meine Beine.

Aber noch immer verstand er nicht, was ich tat und wozu.

Ich schlug ihn mehrmals hintereinander, trat ihm mit den Absätzen auf die Finger und ins Gesicht. Für einen Anderen ist das nicht so schlimm, aber es ging mir ja nicht darum, ihm körperlichen Schaden zuzufügen. Runter, runter mit dir, fall, knalle durch alle Realitätsschichten hindurch, durch die Menschenwelt und das Zwielicht, durch das nachgiebige Gewebe des Raums. Ich habe weder die Zeit noch die Fähigkeiten, um mich mit dir auf ein richtiges Duell nach allen Gesetzen der Wachen einzulassen - nach jenen Regeln, die für junge Lichte und ihren Glauben an das Gute und das Böse, an die Unzerstörbarkeit der Dogmen, an die Notwendigkeit der Abrechnung erarbeitet worden sind…

Sobald ich der Ansicht war, der Dunkle sei weit genug nach unten gestampft worden, stieß ich mich von dem breitgetretenen Körper ab, sprang in den kalten schlierigen Nebel und zog mich aus dem Zwielicht.

Direkt in die Menschenwelt hinein. Direkt auf die Aussichtsplattform.

Ich fand mich auf einer Glasplatte wieder, in der Hocke, schwer atmend, mit einem plötzlichen Hustenanfall kämpfend, klatschnass vom Kopf bis zu den Zehen. Der Regen der anderen Welt roch nach Salmiak und Asche.

Ein leichter Seufzer erklang ringsum - die Menschen machten einen Bogen um mich, wichen vor mir zurück.

»Alles in Ordnung!«, krächzte ich.»Hören Sie?«

Ihre Augen konnten dem partout nicht zustimmen. An der Wand stand ein uniformierter Wachmann, ein

rechtschaffener Angestellter vom Fernsehturm, der jetzt mit versteinerter Miene die Pistole aus der Tasche zog.

»Das ist nur zu Ihrem Besten«, sagte ich, während mich ein weiterer Hustenanfall packte.»Haben Sie mich verstanden?«

Ich gestattete der Kraft, sich loszureißen und den Verstand der Anwesenden zu streifen. Die Gesichter entspannten sich nach und nach, nahmen einen gelösten Ausdruck an. Langsam wandten sich die Menschen ab, drückten sich die Nase wieder an den Fenstern platt. Der Wachmann hielt mitten in der Bewegung inne, die Hand an der geöffneten Pistolentasche.

Erst in diesem Moment erlaubte ich mir einen Blick auf den Boden. Und erstarrte.

Der Dunkle war noch da. Schrie. Wie schwarze Fünfkopekenstücke wirkten seine Augen, die Schmerz und Entsetzen aufrissen. Er hing unter der Scheibe, hing an den Fingerspitzen, die im Glas steckten, sein Körper schwankte wie ein Pendel unter den Windstößen hin und her, die Ärmel des weißen Hemdes waren von Blut getränkt. Der Stab befand sich noch immer an seinem Gürtel: Der Magier hatte ihn völlig vergessen. Jetzt war nur ich ihm geblieben, auf der anderen Seite des dreifachen Panzerglases, in dem trockenen, warmen und hellen Gehäuse der Aussichtsplattform, auf der anderen Seite von Gut und Böse. Ich, ein Lichter Magier, der über ihm saß und seinen durch Schmerz und Angst irre gewordenen Blick einfing.

»Hast du gedacht, wir würden immer ehrlich kämpfen?«, fragte ich. Irgendwie hatte ich den Eindruck, er würde mich hören, selbst durch das Glas und das Heulen des Windes hindurch. Ich erhob mich und schlug mit dem Absatz auf die Scheibe ein. Einmal, zweimal, dreimal - auch wenn die Tritte nicht bis zu den im Glas gefangenen Fingern gelangten.

Der Dunkle Magier zuckte krampfhaft zusammen, riss die Hand weg, brachte sie vor dem näher kommenden Absatz in Sicherheit, reflexartig, auf seine Instinkte vertrauend, nicht auf seinen Verstand.

Was das Fleisch nicht aushielt.

Das Glas färbte sich kurz rot ein, doch schon in der nächsten Sekunde fegte der Wind das Blut weg. Übrig blieb nur die Silhouette des Dunklen Magiers, die kleiner und kleiner wurde, sich in der Luft überschlug. Es zog sie hinunter zu den Drei kleinen Schweinchen, einer beliebten Bar am Fuße des Turms.

Eine unsichtbare Uhr, die in meinem Bewusstsein tickte, ließ die Zeiger wandern und verkürzte die verbleibende Zeit mit einem Schlag auf die Hälfte.

Ich trat von der Glasscheibe weg, drehte eine Runde über die Plattform, achtete dabei aber nicht auf die Menschen, die mir von selbst auswichen, sondern spähte ins Zwielicht. Keine weitere Wache. Wo also hockte der Stab? Oben, in den Räumen, zu denen Besucher keinen Zutritt hatten? Zwischen den Apparaturen? Das glaubte ich nicht. Die dürften sich etwas Komfortableres gesucht haben.

Ein weiterer Wachmann stand an der Treppe, die nach unten ins Restaurant führte. Ein Blick genügte, um zu begreifen: Ihn hatte schon jemand beeinflusst, und zwar erst vor kurzem. Zum Glück nur sehr oberflächlich.

Und was für ein irrsinniges Glück, dass sie diese Manipulation überhaupt für nötig hielten. Das hieß, die Würfel waren noch nicht gefallen.

Der Wachmann öffnete den Mund und wollte losschreien.

»Schweig! Gehen wir!«, befahl ich ihm bloß.

Ohne ein Wort zu sagen, kam er mir nach.

Wir gingen zur Toilette - einer kleinen kostenlosen Attraktion des Turms, das höchste Pissoir und die höchsten Kloschüsseln in Moskau, wenn jemand seine Spur in den Wolken hinterlassen wollte. Ich fuchtelte mit der Hand, worauf ein pickliger Teenager, sich die Hosen zuknöpfend, aus einer der Kabinen stürzte und ein Mann am Pissoir grunzte, dann aber doch mit dem Pinkeln aufhörte und sich mit glasigem Blick davonmachte.

»Zieh dich aus«, befahl ich dem Wachmann, während ich das feuchte Sweatshirt über den Kopf zog.

Die Pistolentasche ließ sich nicht schließen, meine Desert Eagle war um einiges wuchtiger als seine gute alte Makarow. Mich beunruhigte das nicht weiter. Hauptsache, die Uniform passte einigermaßen.

»Wenn du Schüsse hörst«, sagte ich dem Wachmann,»gehst du runter und erfüllst deine Pflicht. Verstanden?«

Er nickte.

»Ich bekehre dich zum Licht«, sprach ich die Formel der Anwerbung.»Verleugne das Dunkel, verteidige das Licht. Ich verleihe dir den Blick, um das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Ich verleihe dir den Glauben, dem Licht zu folgen. Ich verleihe dir die Kühnheit, gegen das Dunkel zu kämpfen.«

Früher hatte ich gedacht, ich könnte niemals von dem Recht, Freiwillige abzuwerben, Gebrauch machen. Wie unbeeinflusst wäre ihre Entscheidung, wenn sie im tiefsten Dunkel steckten? Wie durfte man einen Menschen für unser Spiel gewinnen, wenn die Wachen selbst als Gegengewicht zu dieser Praxis gegründet worden waren?

Jetzt handelte ich, ohne zu zögern. Nutzte das Schlupfloch, das die Dunklen gelassen hatten, als sie den Wachmann mit dem Schutz ihres Stabes betraut hatten, für den Fall der Fälle, wie man sich in der Wohnung einen kleinen Hund hält, der zwar nicht beißen, aber kläffen kann. Damit hatte ich das Recht, den Mann auf die andere Seite zu zerren, ihn hinter mir herzuziehen. Denn er war weder gut noch böse, sondern ein ganz normaler Mensch, mit einer maßvoll geliebten Frau, alten Eltern, um die er sich regelmäßig kümmerte, einer kleinen Tochter und einem fast erwachsenen Sohn aus erster Ehe, einem schwach ausgeprägten Glauben an Gott, wirren moralischen Prinzipien und ein paar Standardträumen - ein ganz normaler Mensch eben.

Kanonenfutter für die Armeen des Lichts und des Dunkels.

»Das Licht ist mit dir«, sagte ich. Und der kleine, bemitleidenswerte Mensch nickte und strahlte übers ganze Gesicht. In seinen Augen loderte Anbetung auf. Genauso hatte er vor ein paar Stunden den Dunklen Magier angeschaut, der ihm einen ungenauen Befehl gegeben und ihm mein Foto gezeigt hatte.

In einer Minute würde der Wachmann in meiner

feuchten und stinkenden Kleidung an der Treppe stehen. Ich würde hinuntergehen und mir klar zu machen versuchen, wie ich reagieren sollte, wenn Sebulon zum Stab gehörte. Oder ein anderer Magier seines Ranges.

Mit meinen Fähigkeiten würde ich diese Maskierung auch nicht eine Sekunde lang aufrechterhalten können.

Der Bronzene Saal. Ich trat zur Tür hinaus, schaute auf den absurden ringförmigen Speisewagen. Der Ring mit den darauf angebrachten Tischchen drehte sich langsam.

Aus irgendeinem Grund hatte ich angenommen, die Dunklen hätten ihren Stab im Goldenen oder Silbernen Saal untergebracht. Ich war sogar leicht verwundert von dem Bild, das sich mir darbot.

Die Kellner schwammen wie Fische im Winter, brachten alkoholische Getränke an die Tische, die hier eigentlich verboten waren. Auf zwei Tischen direkt vor mir standen Computer, beide an ein Handy angeschlossen. Man hatte gar nicht erst Kabel zu den zahllosen Verbindungen des Turms gelegt, der Stab wollte also nicht lange bleiben. Drei junge Kerle mit langen Haaren arbeiteten konzentriert - die Finger hüpften über die Tastatur, auf den Bildschirmen krochen die Zeilen dahin, in den Aschern qualmten die Zigaretten. Obwohl ich die Programmierer der Dunklen noch nie gesehen hatte, wusste ich, dass es sich bei ihnen um einfache Operator handelte, nicht um Systemadministratoren. Sie unterschieden sich in nichts von einem unserer Magier, der im Stab an einem ans Internet angeschlossenen Laptop arbeitet. Vielleicht sahen sie sogar anständiger aus als einige von unseren Leuten.

»Sokolniki ist vollständig abgedeckt«, sagte einer der drei. Nicht sehr laut, doch die Stimme dröhnte durchs ganze Panorama-Restaurant, ließ die Kellner zusammenzucken und stolpern.

»Die Linie Taganskaja-Krasnopresnenskaja haben wir unter Kontrolle«, erwiderte ein anderer. Die Jungs sahen sich an und lachten. Wahrscheinlich wetteiferten sie, wer seine Abschnitte zuerst abgearbeitet hatte.

Fangt mich doch, fangt mich!

Ich ging durchs Restaurant auf die Bar zu. Achtet nicht auf mich! Bin nur ein hilfloser Mann, einer von denen, die kurzfristig zum Wachhund abkommandiert wurden. Ein Wachmann, der ein Bier trinken wollte - ja, war ihm denn jedes Verantwortungsgefühl abhanden gekommen? Oder wollte er sich von der Sicherheit der neuen Herren überzeugen? Im Dienste seiner Majestät die Wache nachts auf Streife geht. Taram, pam, pam, tara-ra-ra…

Eine ältere Frau an der Biertheke polierte mit mechanischen Bewegungen Gläser. Als ich mich vor sie stellte, schenkte sie mir schweigend ein Bier ein. In ihren Augen war es leer und dunkel, sie hatte sich in eine Marionette verwandelt. Einen kurzen heftigen Wutanfall konnte ich mit Mühe unterdrücken. Das durfte nicht sein. Gefühle waren nicht erlaubt. Ich bin auch ein Automat. Puppen haben keine Emotionen.

Dann sah ich die junge Frau, die auf einem hohen Drehhocker an der Bar saß, und abermals sank mir das Herz.

Wie hatte ich das vergessen können?

Jeder Einsatzstab muss seinen Gegner informieren. In jedem Einsatzstab gibt es einen Beobachter. Das ist

ein Teil des Vertrages, eine der Spielregeln, die beiden Seiten nützt - oder zu nützen scheint. Bei jedem Einsatz unseres Stabs ist ebenfalls ein Dunkler dabei.

Hier saß Tigerjunges.

Zunächst streifte mich der Blick der Frau ohne besonderes Interesse, und ich hoffte schon, alles würde glatt gehen.

Dann wanderten ihre Augen zu mir zurück.

Sie sah schon den Wachmann, dessen Gestalt ich angenommen hatte. Und irgendetwas stimmte nicht mit den in ihren Gedächtnis abgespeicherten Zügen überein. Beunruhigte sie. Ein Moment, und sie schaute mich durchs Zwielicht an.

Reglos stand ich da, versuchte nicht, mich zu verbergen.

Die Frau wandte den Blick ab, fixierte den ihr gegenübersitzenden Magier. Kein schwacher Magier, sein Alter schätzte ich auf etwa hundert Jahre, seine Kraft mindestens auf die dritte Stufe. Kein schwacher Magier, aber ein selbstzufriedener.

»So oder so handelt es sich bei eurem Vorgehen um eine Provokation«, sagte sie in ruhigem Ton.»Die Tagwache weiß doch, dass Anton nicht der Wilde ist.«

»Sondern?«

»Ein uns unbekannter, nicht initiierter Lichter Magier. Ein Lichter, der von den Dunklen kontrolliert wird.«

»Wozu das denn, Mädel?«, wunderte sich der Magier aufrichtig.»Erklär mir das mal bitte. Wozu sollten wir unsere Leute umbringen, selbst wenn es nicht die wertvollsten sind?«

»›Nicht die wertvollsten‹ ist der Schlüssel zu allem«, meinte Tigerjunges melancholisch.

»Ja, wenn wir die Möglichkeit hätten, das Oberhaupt der Moskauer Lichten zu vernichten. Doch an den kommen wir wie üblich nicht ran. Aber zwei Dutzend Leute opfern für einen einzigen durchschnittlichen Lichten? Das ist nicht dein Ernst. Oder hältst du uns alle für Idioten?«

»Nein, ich halte euch für Schlauköpfe. Wahrscheinlich sogar für größere Schlauköpfe als mich.«Tigerjunges setzte ein unschönes Lächeln auf.»Aber ich bin nur eine Fahnderin. Die Schlussfolgerungen ziehen andere. Und dass sie das tun, steht außer Frage.«

»Wir fordern ja nicht, dass er auf der Stelle bestraft wird!«Der Dunkle lächelte.»Selbst jetzt schließen wir die Möglichkeit eines Fehlers nicht aus. Das Tribunal, eine qualifizierte und unvoreingenommene Untersuchung, Gerechtigkeit - das ist alles, was wir wollen!«

»Aber es ist schon reichlich merkwürdig, dass euer Oberhaupt Anton mit der Geißel Schaabs nicht erwischen konnte.«Die Frau schnippte mit dem Finger gegen das halb leere Bierseidel.»Wirklich bemerkenswert. Seine liebste Waffe, die er seit Hunderten von Jahren in vollendeter Form beherrscht. Als ob die Tagwache gar kein Interesse daran hätte, Anton zu fassen.«

»Mein liebes Mädchen«, der Dunkle beugte sich über den Tisch,»das ist doch inkonsequent! Ihr solltet uns nicht vorwerfen, einerseits einen Unschuldigen, einen gesetzestreuen Lichten, zu verfolgen, es aber andererseits gar nicht auf seine Festnahme anzulegen.«

»Warum nicht?«

»Das ist so ein kleinlicher Sadismus.«Der Magier kicherte.»Das Gespräch bereitet mir ein außerordentliches Vergnügen. Ihr haltet uns doch nicht etwa für eine Bande durchgedrehter blutrünstiger Psychopathen?«

»Nein, wir halten euch für eine Bande durchtriebener Halunken.«

»Dann lass uns doch mal unsere Methoden vergleichen.«Offenbar sattelte der Dunkle sein Steckenpferd.»Lass uns den Schaden vergleichen, den die Wachen unter einfachen Menschen, unter unserer Futterbasis, anrichten.«

»Das trifft nur für euch zu, dass Menschen Futter sind.«

»Und für euch nicht? Kommen denn die Lichten jetzt von den Lichten und nicht mehr aus der Menge?«

»Für uns sind die Menschen die Wurzeln. Unsere Wurzeln.«

»Von mir aus auch Wurzeln. Wozu um Worte streiten? Doch dann sind es auch unsere Wurzeln, Mädel. Und sie versorgen uns mit immer mehr Saft, das verhehle ich gar nicht, das ist kein Geheimnis.«

»Wir werden aber auch nicht weniger. Auch das ist kein Geheimnis.«

»Sicher. Wir leben in stürmischen Zeiten, voller Stress und Anspannung, die Menschen gehen ständig bis an ihre Grenze - und von da bis zu uns Andern ist es nur ein kleiner Schritt. Wenigstens darin könnten wir uns doch mal einig sein!«Der Magier gickste.

»Gut«, stimmte Tigerjunges zu. In meine Richtung blickte sie nicht mehr, das Gespräch kreiste um das ewige, unerschöpfliche Thema, über das man hitzig

stritt, über das sich die Philosophen beider Seiten die Köpfe einschlugen, nicht nur zwei Magier, ein Dunkler und ein Lichter, die sich langweilten. Mir war klar, dass Tigerjunges bereits alles gesagt hatte, was ich wissen musste.

Oder alles, was sie zu sagen für möglich hielt.

Ich nahm das Bierglas, das vor mir stand. Trank einige gleichmäßige, tiefe Schlucke. Ich hatte wirklich Durst.

War die Jagd nur vorgetäuscht?

Ja. Das hatte ich selbst auch schon begriffen. Das Wichtigste, was ich jetzt hatte in Erfahrung bringen müssen, war, ob unsere Leute das auch so sahen.

Den Wilden hatten sie also noch nicht gefasst?

Natürlich nicht. Andernfalls hätten sie sich schon mit mir in Verbindung gesetzt. Telefonisch oder mental, für den Chef ist das ein Kinderspiel. Der Mörder wäre dem Tribunal übergeben worden, Swetlana würde nicht länger zwischen dem Wunsch zerrissen, mir zu helfen, und der Notwendigkeit, sich aus einem Kampf herauszuhalten, und ich würde Sebulon ins Gesicht lachen.

Aber wie, wie sollte man in einer Riesenstadt einen Menschen finden, dessen Fähigkeiten sich nur spontan Bahn brechen? Auflodern und verlöschen. Von Mord zu Mord, von einem nutzlosen Sieg über das Böse zum nächsten? Wenn er den Dunklen wirklich bekannt wäre, würde nur die Führungsspitze dieses Geheimnis kennen.

Aber ganz gewiss nicht diese Dunklen, die hier ihre Zeit verplemperten.

Angewidert sah ich mich um.

Das stank doch zum Himmel!

Der Wachmann, den ich so leicht umgebracht hatte. Ein Magier dritten Grades, der sich voller Eifer mit unserer Beobachterin in Spitzfindigkeiten erging und alles um sich herum vergaß. Diese jungen Kerle an den Terminals, die lauthals schrien:»Zvetnoj Boulevard überprüft!«

»Poleshajewskaja unter Kontrolle!«

Das also ist der Einsatzstab. Genauso absurd und unqualifiziert wie die unerfahrenen Dunklen, die mich in der ganzen Stadt jagen. Gewiss, das Netz ist ausgeworfen, aber niemand schert sich darum, wie viele Löcher es hat. Je wildere Finten ich schlage, je stärker ich zapple, desto besser für das Dunkel. Im Großen und Ganzen natürlich. Swetlana wird es nicht aushalten. Sie wird sich in den Kampf stürzen. Wird zu helfen versuchen, wird spüren, wie in ihr echte Kraft aufkeimt. Niemand von uns wird sie aufhalten können. Und dann ist es aus mit ihr.

»Wolgograder Prospekt.«

Ich könnte sie ja jetzt allesamt abschlachten und abschießen! Alle bis auf den Letzten! Diesen Abfall des Dunkels, diese Wichte, diese Dumpfbacken, die entweder keine Perspektive oder zu viele Fehler haben. Nicht allein, dass es für die Dunklen nicht schade um die ist - sie stören nur, laufen ihnen zwischen den Beinen herum. Die Tagwache ist kein Armenhaus wie wir manchmal. Die Tagwache entledigt sich der überflüssigen Mitarbeiter, wobei sie uns gern die Arbeit überlässt. Und damit Trümpfe einstreicht, das Recht auf Gegenzüge, auf eine Veränderung des Gleichgewichts.

Und jene Zwielicht-Gestalt, die mir den Fernsehturm in Ostankino gezeigt hatte, war eine Ausgeburt des Dunkels. Eine Rückversicherung, falls ich nicht erriet, wohin ich in den Kampf ziehen sollte.

Während die eigentlichen Ereignisse ein einziger Anderer koordinierte.

Sebulon.

Gegen mich persönlich hatte er natürlich nicht das Geringste. Warum dann also diese komplizierten und schädlichen Gefühle in einem so ernsten Spiel? Solche wie mich verspeist er haufenweise zum Frühstück, nimmt sie vom Spielbrett und tauscht sie gegen seine Bauern aus.

Wann glaubte er, dass die Partie verloren sei, dass er das Finale inszenieren müsse?

»Haben Sie Feuer?«, fragte ich, während ich das Glas abstellte und mir die auf dem Tresen liegende Schachtel Zigaretten schnappte. Irgendjemand hatte sie vergessen, vielleicht ein Gast des Restaurants, der wie von Sinnen davongestürzt war, vielleicht ein Dunkler.

In den Augen von Tigerjunges loderte es böse auf, sie spannte sich an. Noch einen Augenblick, das sah ich, und die Zauberin würde ihre Kampfgestalt annehmen. Vermutlich hatte sie die Kräfte des Gegners ebenfalls abgewogen und rechnete sich ernsthaft Chancen auf einen Sieg aus.

Doch das war nicht nötig.

Der Dunkle Magier, der alte Magier dritten Grades, hielt mir unachtsam das Feuerzeug hin. Das Ronson zischte melodisch und spuckte eine kleine Flammenzunge aus.

»Ständig beschuldigt ihr das Dunkel«, fuhr der Magier fort,»ein doppeltes Spiel zu spielen, heimtückisch zu sein, zu provozieren. All das hat nur einen Zweck: eure eigene Lebensunfähigkeit zu kaschieren. Das eigene Unvermögen, die Welt und ihre Gesetze zu verstehen. Und damit letztendlich auch die Menschen. Ihr solltet zugeben, dass die Prognosen der Dunklen weitaus zutreffender sind. Indem wir den natürlichen Bedürfnissen der menschlichen Seele Tribut zollen, ziehen wir sie auf unsere Seite. Und was bringt euch eure Moral? Eure Lebensphilosophie? Hm?«

Ich machte den ersten Zug, nickte freundlich und ging zur Treppe. Tigerjunges schaute mir irritiert nach. Versteh, errat doch selbst, warum ich jetzt gehe.

Alles, was ich hier erfahren konnte, hatte ich erfahren.

Genauer gesagt, fast alles.

Ich beugte mich über einen Brillenträger mit kurzem Haarschnitt, der in seinen Laptop kroch.

»Welche Bezirke schließen wir als letzte?«, fragte ich sachlich.

»Botanischer Garten und die Errungenschaften«, antwortete er, ohne mich anzusehen. Der Cursor huschte über den Bildschirm. Der Dunkle gab Befehle, kostete seine Macht aus, bewegte auf der Karte Moskaus purpurrote Punkte. Ihn von seiner Aufgabe loszureißen würde schwieriger sein, als ihn von seiner Freundin loszueisen.

Sie können nämlich auch lieben.

»Danke«, sagte ich und versenkte die brennende Zigarette in dem vollen Ascher.»Du hast mir sehr geholfen.«

»Null Problemo«, winkte der Operator ab, den Blick fest auf den Bildschirm geheftet. Seine Zunge arbeitete mit, als er einen weiteren Punkt auf der Karte anklickte: ein ganz gewöhnlicher Dunkler auf Treibjagd. Was freust du dich bloß so, Freundchen? Diejenigen, die die Fäden ziehen, tauchen auf deiner Karte nie auf. Du solltest lieber mit Zinnsoldaten spielen, das würde dir den gleichen Machtrausch bescheren.

Ich raste die Wendeltreppe hinunter. Die Wut, mit der ich hierher gekommen war - um zu töten, eher aber noch um getötet zu werden -, war verpufft. Wahrscheinlich überkommt jeden Soldaten in der Schlacht irgendwann eiskalte Ruhe. Wie auch einem Chirurgen die Hände nicht mehr zittern, sobald ihm ein Kranker auf dem OP-Tisch wegzusterben beginnt.

Welche Varianten hast du vorhergesehen, Sebulon?

Dass ich in den Netzen der Treibjagd zu zappeln beginne und damit Lichte wie Dunkle anziehe, einfach alle, vor allem aber Swetlana?

Vorbei.

Dass ich mich ergebe oder gefangen werde und ein zäher, langwieriger, aufreibender Prozess beginnt, der mit einem wahnsinnigen Ausbruch Swetlanas vor dem Tribunal endet?

Vorbei.

Dass ich den Kampf mit dem ganzen operativen Stab aus angeschmierten Magiern aufnehme, alle erschlage, dabei aber in einer Falle sitze, drei Kilometer über dem Erdboden, und Swetlana zum Turm eilt?

Vorbei.

Dass ich mich in den Stab einschleiche, die Ohren aufhalte, mitkriege, dass keiner der Anwesenden etwas über den Wilden weiß, und versuche, Zeit zu

schinden?

Schon eher.

Der Ring zieht sich zusammen, das ist mir klar. Er ist am Stadtrand geschlossen worden, am Autobahnring, dann wurde die Stadt in Bezirke unterteilt und von den Hauptverkehrsstraßen abgeschnitten. Noch reicht die Zeit, um ins nahe gelegene, nicht durchkämmte Umland zu fliehen, einen Unterschlupf zu suchen und unterzutauchen. Einen einzigen Rat hatte der Chef mir gegeben: durchhalten und auf Zeit spielen, während die Nachtwache alles daran setzt, den Wilden zu finden.

Du lockst mich doch nicht zufällig in den Bezirk, in dem es im Winter zu unserm kleinen Handgemenge gekommen ist, oder? Ich kann es nicht vergessen, werde also auf die eine oder andere Weise unter dem Einfluss meiner Erinnerungen handeln.

Die Plattform war inzwischen leer. Völlig. Die letzten Besucher waren davongeeilt, Personal gab es auch nicht - nur der von mir rekrutierte Mann stand an der Treppe, hielt die Pistole fest in der Hand und schaute mit glühendem Blick nach unten.

»Ziehen wir uns wieder um«, befahl ich.»Nimm die Dankbarkeit des Lichts entgegen. Danach wirst du alles vergessen, worüber wir gesprochen haben. Du gehst nach Hause. Erinnerst dich nur noch daran, dass dies ein völlig normaler Tag war, genau wie gestern. Ohne besondere Vorkommnisse.«

»Ohne besondere Vorkommnisse«, echote der Wachmann sofort, während er aus meinen Sachen schlüpfte. Die Menschen sind leicht zum Licht oder zum Dunkel zu bringen, aber am glücklichsten sind

sie, wenn man sie einfach sie selbst sein lässt.

Sechs

Sobald ich aus dem Turm herauskam, hielt ich inne und steckte die Hände in die Taschen. Im Stehen schaute ich mir die gen Himmel gerichteten Scheinwerferstrahlen an, die beleuchtete Bude an der Eingangskontrolle.

Nur zwei Punkte verstand ich nicht in diesem Spiel, das die Wachen trieben, genauer gesagt, die Leitungen der Wachen.

Der ins Zwielicht Entschwundene - wer war er, auf wessen Seite stand er? Wollte er mich warnen oder täuschen?

Und Jegor? Hatten wir uns zufällig getroffen oder nicht? Falls nicht, was war es dann, ein Knoten des Schicksals oder nur ein Zug Sebulons?

Über die Bewohner des Zwielichts wusste ich so gut wie nichts. Vielleicht wusste noch nicht einmal Geser etwas über sie.

Über Jegor dagegen konnte ich nachdenken.

Bei ihm handelte es sich um eine Karte, die noch nicht ausgeteilt worden war. Obwohl von niedrigem Wert, blieb er ein Trumpf, so wie wir alle. Und auch auf die kleinen Trümpfe kann man nicht ohne weiteres verzichten. Jegor war bereits ins Zwielicht eingetreten, das erste Mal, als er versucht hatte, mich zu sehen, das zweite Mal, um sich vor der Vampirin zu retten. Keine gute Ausgangsposition, ehrlich gesagt. Beide Male hatte ihn Angst geleitet, was bedeutete, dass seine Zukunft schon fast entschieden war.

Ein paar Jahre konnte er sich noch auf der Grenze zwischen einem Menschen und einem Anderen halten, aber sein Weg würde zu den Dunklen führen.

Der Wahrheit sieht man besser ins Auge.

Wahrscheinlich würde er ein Dunkler. Und es spielt keine Rolle, dass Jegor bisher ein ganz normaler lieber Junge gewesen ist. Wenn ich das hier überlebe, muss ich irgendwann seine Papiere verlangen oder meine vorlegen, wenn wir uns begegnen.

Vermutlich kann Sebulon ihn manipulieren. Ihn an einen Ort treiben, an dem ich mich befinde. Was den Gedanken nahe legt, dass er meinen Standort aufs Beste spüren kann. Doch damit rechne ich ohnehin.

Doch hatte unsere»zufällige«Begegnung einen Sinn?

Ja, wenn ich mir die Aussage des Operators vor Augen halte: Der Bezirk um die Metrostation»Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft«war noch nicht durchkämmt. Könnte mich da nicht der irrsinnige Gedanke packen, den Jungen zu benutzen, mich bei ihm zu Hause zu verstecken oder ihn um Hilfe zu rufen? Könnte ich da nicht zu ihm gehen?

Nein, zu kompliziert. Viel zu kompliziert. Man hätte mich sowieso leicht fassen können. Irgendwas hatte ich übersehen, irgendwas überaus Wichtiges.

Ich ging Richtung Straße, ohne noch einmal auf den Fernsehturm zu schauen, der heute den getürkten Stab der Dunklen beherbergte, vergaß fast den verkrüppelten Körper des wachhabenden Magiers, der jetzt irgendwo am Fuße des Turms lag. Was wollten die von mir? Was? Fangen wir mal damit an.

Ich sollte den Köder abgeben. Der Tagwache in die Hände fallen. Und zwar auf eine Weise, die keine Zwei-

fel an meiner Schuld ließ; was faktisch bereits geschehen war.

Das würde Swetlana nicht ertragen. Wir können sie und ihre Angehörigen verteidigen. Wir sind aber nicht imstande, ihre eigenen Entscheidungen zu beeinflussen. Und wenn sie mich retten, mich aus den Verliesen der Tagwache befreien, mich beim Tribunal herausboxen wollte, würden die sie ohne mit der Wimper zu zucken vernichten. Das ganze Spiel zielt darauf ab, dass sie einen falschen Zug macht. Ist vor langer Zeit eingefädelt worden, damals, als der Dunkle Magier Sebu-lon das Auftauchen einer Großen Zauberin voraussah und erkannte, welche Rolle ich dabei spielen sollte. Danach wurden die Fallen aufgestellt. Die erste hat versagt. Die zweite hat ihr gieriges Maul schon geöffnet. Möglicherweise wartet noch eine dritte auf mich.

Aber was hat der Junge damit zu tun, dessen magische Fähigkeiten noch nicht zu Tage treten konnten?

Ich blieb stehen.

Er war doch ein Dunkler, oder?

Wer von uns bringt denn die Dunklen um? Die schwachen, unerfahrenen Dunklen, die sich nicht weiterentwickeln wollen?

Eine weitere Leiche, die mir angehängt werden soll? Aber wozu?

Ich wusste es nicht. Aber dass der Junge zum Tode verdammt und unser Treffen in der Metro kein Zufall war, stand für mich mit unumstößlicher Sicherheit fest. Vielleicht, weil mir noch einmal ein Blick in die Zukunft gestattet wurde, vielleicht, weil ein weiteres Puzzleteil an seinen Platz gerückt war.

Jegor würde sterben.

Mir fiel wieder ein, wie er mich auf dem Bahnsteig angesehen hatte, mit zusammengekniffenen Augenbrauen, aber auch von dem Wunsch erfüllt, mich einerseits etwas zu fragen, mich andererseits zu beschimpfen, mir die Wahrheit über die Wachen an den Kopf zu werfen, hinter die er viel zu früh gekommen war. Wie er sich umgedreht hatte und zur Metro gerannt war.

»Aber Ihre Leute verteidigen Sie doch? Die von Ihrer Wache?«

»Sie versuchen es.«

Natürlich versuchen sie es. Bis ganz zum Schluss werden alle den Wilden suchen.

Und der ist der Schlüssel zu allem!

Ich blieb stehen und presste mir die Hände an den Kopf. Beim Licht und beim Dunkel, wie blöd ich bin! Wie unsagbar naiv!

Solange der Wilde noch am Leben ist, würde die Falle nicht zuschnappen. Es reicht nicht, mich als psychopathischen Jäger auszugeben, als einen Wilderer der Lichten. Sie müssen unbedingt auch den echten Wilden töten.

Die Dunklen - oder zumindest Sebulon - wissen, wer er ist. Mehr noch, sie können ihn lenken. Werfen ihm Beute vor, Leute, mit denen sie nicht viel anfangen können. Jetzt zieht der Wilde nicht bloß in eine weitere heldenhafte Schlacht - nein, er verschreibt sich dem Kampf gegen das Dunkel mit Leib und Seele. Überall begegnen ihm Dunkle: zuerst die Tierfrau, dann der Dunkle Magier im Restaurant, jetzt der Junge. Wahrscheinlich glaubt er, die Welt sei verrückt geworden, die Apokalypse nahe, die Kräfte des Dunkels rissen die Welt an sich. Ich wollte nicht in seiner Haut stecken.

Die Tierfrau war notwendig, um Protest zu erheben und uns klar zu machen, wer in Gefahr schwebt.

Der Dunkle Magier, um mich auf frischer Tat zu ertappen und damit das Recht zu haben, mich offiziell anzuklagen und zu verhaften.

Der Junge, um den Wilden zu vernichten, der seine Schuldigkeit getan hat. Im letzten Moment einzugreifen, ihn zu fassen, wie er über die Leiche gebeugt dasteht, ihn zu töten, um seine Flucht und seinen Widerstand zu unterbinden. Denn er wird nicht verstehen, dass wir nach Regeln kämpfen, wird sich nie ergeben, nicht auf den Befehl irgendwelcher»Wächter des Tages«reagieren, von denen er noch nie gehört hatte.

Nach dem Tod des Wilden bleibt mir kein Ausweg mehr. Entweder stimme ich einer Gedächtnisinversion zu oder gehe ins Zwielicht ein. In beiden Fällen wird Swetlana ausrasten.

Mich fröstelte.

Es war kalt. Trotz allem. Ich hatte schon gedacht, der Winter sei endgültig vorbei, aber da hatte ich mich geirrt.

Ich streckte die Hand aus und hielt das erste Auto an. Sah dem Fahrer in die Augen und befahl:»Fahren wir.«

Der Impuls war ziemlich stark, er fragte noch nicht einmal, wohin.

Die Welt steuerte auf ihr Ende zu.

Irgendwas bewegte sich, rückte zur Seite, die alten Schatten rührten sich, die dumpfen Wörter längst vergessener Sprachen erklangen, ein Zittern ging durch die Erde.

Über der Welt zog das Dunkel herauf.

Maxim stand rauchend auf dem Balkon und hörte mit halbem Ohr auf Lenas Gemaule. Seit ein paar Stunden ging das nun schon so, seit dem Moment, da die junge Frau, die sie gerettet hatten, an der Metrostation aus dem Auto gesprungen war. Maxim hörte all die Dinge über sich, mit denen er gerechnet hatte, und auch ein paar Dinge, mit denen er nie im Leben gerechnet hätte.

Dass er ein Idiot und Schürzenjäger sei, der sich um eines hübschen Gesichts und ein paar langer Beine wegen in einen Kugelhagel stürze, nahm Maxim gelassen hin. Dass er ein Schuft und Schwein sei, der in Anwesenheit seiner Frau mit einer abgehalfterten hässlichen Prostituierten flirte, bestach kaum durch Originalität. Vor allem, da er mit der Unbekannten nur ein paar Worte gewechselt hatte.

Was jetzt kam, war der reinste Schwachsinn. Die unerwarteten Geschäftsreisen wurden wieder aufs Tapet gebracht, die beiden Male, in denen er betrunken nach Hause gekommen war - und zwar richtig betrunken. Mutmaßungen über die Zahl seiner Geliebten, seine unsägliche Dummheit und seinen schwachen Charakter, der einem beruflichen Aufstieg und einem auch nur ansatzweise schönen Leben im Wege standen.

Maxim schielte über die Schulter zu ihr hinüber.

Seltsam, Lena brauste nicht einmal auf. Saß einfach nur auf dem Ledersofa vor dem riesigen Fernseher, einem Panasonic, und redete - beinah selbst von ihren

Worten überzeugt.

Glaubte sie das wirklich?

Dass er eine Unmenge von Geliebten hatte? Dass er eine unbekannte junge Frau wegen ihrer attraktiven Figur rettete, aber nicht, weil Kugeln durch die Luft pfiffen? Dass es ihnen schlecht ging, sie ein erbärmliches Leben führten? Sie, die sich vor drei Jahren eine schöne Wohnung gekauft, sie wie ein Puppenhaus eingerichtet und Weihnachten in Frankreich verbracht hatten?

Die Stimme seiner Frau war fest. Anklagend. Leidend.

Maxim schnippte die Zigarette über den Balkon. Sah in die Nacht.

Das Dunkel, das Dunkel zog herauf.

Er hatte getötet, dort, in der Toilette, den Dunklen Magier. Eine der widerwärtigsten Ausgeburten im Universum des Bösen. Ein Mensch, der das Böse und die Angst mit sich bringt. Aus seiner Umwelt Energie herauspumpt, Weiß in Schwarz verwandelt, Liebe in Hass. Und wie immer hatte er, Maxim, der ganzen Welt allein gegenübergestanden.

Aber nie zuvor war ihm so etwas passiert. Dass er an einem einzigen Tag mehrmals hintereinander auf diese Teufelsbrut gestoßen war: Entweder kamen die jetzt alle aus ihren stinkenden Höhlen gekrochen oder sein Blick wurde besser.

Wie jetzt.

Maxim blickte vom neunten Stock aus herunter, sah aber nicht die nächtliche Stadt mit ihrem Lichtermeer. Die interessierte ihn nicht. War für die blinden und hilflosen Menschen. Er sah nur den Klumpen des Dunkels,

der über der Erde baumelte. Nicht sehr hoch, vielleicht zwischen dem neunten und dem elften Stock.

Maxim sah eine weitere Ausgeburt des Dunkels.

Wie immer. Wie üblich. Aber warum so häufig, warum hintereinander? Schon zum dritten Mal! Zum dritten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden!

Das Dunkel flimmerte, wogte, bewegte sich. Das Dunkel lebte.

Hinter ihm zählte Lena mit müder, unglücklicher und gekränkter Stimme seine Sünden auf. Sie erhob sich, kam zur Balkontür, als sei sie sich nicht ganz sicher, ob Maxim sie höre. Gut, vielleicht war das sogar besser. Dann weckte sie die Kinder nicht, falls die überhaupt schliefen. Was Maxim aus irgendeinem Grund bezweifelte.

Wenn er doch nur an Gott glauben könnte. Aufrichtig. Doch von jenem schwachen Glauben, der Maxim nach jeder Reinigungsaktion wärmte, war schon fast nichts mehr übrig. Es konnte keinen Gott in einer Welt geben, in der das Böse wuchs und gedieh.

Wenn es ihn doch gäbe oder wenn Maxims Seele wenigstens aufrichtiger Glaube erfüllte. Dann würde er jetzt hier auf diesem schmutzigen, winzigen Balkon auf die Knie fallen, die Hände gegen den bedeckten nächtlichen Himmel recken, gegen diesen Himmel recken, an dem sogar die Sterne ruhig und traurig leuchteten. Und schreien:»Weshalb? Weshalb, Herr? Das geht über meine Kräfte, ist zu viel für mich! Nimm diese Last von mir, ich bitte dich, nimm sie von mir! Ich bin nicht der, den du brauchst! Ich bin schwach.«

Doch da könnte er lange schreien! Nicht er hatte sich diese Bürde auferlegt. Nicht er würde sich von ihr be-

freien können. Vor ihm loderte, fackelte ein schwarzes Feuer auf. Ein weiterer Fühler des Dunkels.

»Verzeih mir, Lena.«Er schob seine Frau zur Seite und ging ins Zimmer.»Ich muss noch mal weg.«

Sie verstummte mitten im Satz, und in ihren Augen, die eben noch verärgert und beleidigt gefunkelt hatten, blitzte nun Schrecken auf.

»Ich komme doch wieder.«Um Fragen auszuweichen, ging er eilig zur Tür.

»Maxim! Maxim, warte!«

Nahtlos ging Lena von ihrer Standpauke zu eindringlichem Bitten über. Sie stürzte hinter ihm her, fasste nach seiner Hand, sah ihm in die Augen, eine bedauernswerte, unterwürfige Frau.

»Verzeih mir, verzeih mir doch, das alles hat mir einen tüchtigen Schrecken eingejagt! Verzeih mir, Maxim, ich habe nur Dummheiten von mir gegeben!«

Er betrachtete seine Frau, die plötzlich jede Aggressivität verloren hatte, kapitulierte, zu allem bereit war, wenn nur er, dieser dumme elende Schürzenjäger, nicht die Wohnung verließ. Ob in seiner Miene etwas lag, das Lena weit stärker erschreckte als der Bandenkrieg, in den sie hineingeraten waren?

»Ich lass dich nicht gehen! Nirgendwohin! Nicht so spät abends…«

»Mir wird nichts passieren«, sagte Maxim sanft.»Schrei nicht so, du weckst sonst die Kinder. Ich bin ja bald wieder da.«

»Wenn du schon nicht an dich denkst, dann denk wenigstens an die Kinder! An mich!«Im Nu änderte Lena die Taktik.»Und wenn sie sich das Kennzeichen

gemerkt haben? Wenn sie hier auftauchen, um diese Nutte zu suchen? Was soll ich dann machen?«

»Niemand wird hier auftauchen.«Aus irgendeinem Grund wusste Maxim, dass das stimmte.»Und wenn doch - die Tür ist sicher. Wen du anrufen musst, weißt du. Lena, lass mich durch.«

Seine Frau baute sich quer vor der Tür auf, breitete die Arme aus, legte den Kopf zurück und kniff die Augen zu, als erwarte sie, dass er sie gleich schlagen werde.

Maxim gab ihr behutsam einen Kuss auf die Wange und zog sie zur Seite. Unter ihrem völlig verstörten Blick ging er in die Diele hinaus. Aus dem Zimmer seiner Tochter erklang unangenehme, dröhnende Musik - sie schlief nicht, hatte den Kassettenrecorder eingestellt, einfach nur, um ihre bösen Stimmen zu übertönen. Lenas Stimme.

»Geh nicht!«, flüsterte seine Frau ihm bittend hinterher.

Er warf sich die Jacke über, überprüfte kurz, ob alles Nötige in seiner Innentasche steckte.

»An uns denkst du überhaupt nicht!«, brachte Lena mit gepresster Stimme hervor, träge, im Grunde ohne jede Hoffnung. Die Musik im Zimmer seiner Tochter wurde lauter.

»Das stimmt nicht«, entgegnete Maxim ruhig.»Ich denke nur an euch. Passe auf euch auf.«

Er war bereits einen Stock hinuntergestürzt - auf den Fahrstuhl hatte er nicht warten wollen -, als er den Schrei seiner Frau hörte. Der ihn überraschte. Sie trug einen Streit nicht gern außerhalb der eigenen vier Wände aus und hatte ihm noch nie eine Szene im

Hauseingang gemacht.

»Du solltest uns besser lieben, statt auf uns aufzupassen!«

Maxim zuckte mit den Schultern und lief noch schneller.

Hier hatte ich gestanden, im Winter.

Alles war genau wie damals, der dunkle Tordurchgang, das schwache Licht der Straßenlaternen. Nur viel kälter war es gewesen. Und alles hatte so einfach und klar ausgesehen wie für einen jungen amerikanischen Polizisten, der seine erste Streife läuft.

Das Gesetz verteidigen. Das Böse verfolgen. Die Unschuldigen beschützen.

Wie schön es wäre, wenn immer alles so klar und einfach wäre wie mit zwölf oder mit zwanzig Jahren. Wenn es in der Welt wirklich nur zwei Farben gäbe: Schwarz und Weiß. Doch selbst der anständigste und treuherzigste Polizist, erzogen nach den vollmundigen Idealen des Stars-and-Stripes-Banners, kam früher oder später dahinter: In den Straßen gibt es nicht nur das Dunkel und das Licht. Es gibt Vereinbarungen, Kompromisse, Abkommen. Informanten, Fallen, Provokationen. Früher oder später muss man seine eigenen Leute ausliefern, Heroinpäckchen in fremde Taschen schmuggeln, jemanden in die Nieren schlagen, aber sorgfältig, damit keine Spuren zurückbleiben.

Und all das um jener ganz einfachen Regeln willen.

Um das Gesetz zu verteidigen. Das Böse zu verfolgen. Die Unschuldigen zu beschützen.

Diese Lektion habe auch ich lernen müssen.

Ich lief den engen Mauerschlauch entlang, spießte mit dem Bein einen Zeitungsfetzen auf, der an der Wand lag. Hier war der unglückselige Vampir zu Staub zerfallen. Er war wirklich unglückselig, denn seine einzige Schuld bestand darin, sich zu verlieben. Nicht in eine Vampirin, nicht in eine Frau, sondern in sein Opfer, seine Beute.

Hier hatte ich den Wodka verspritzt, der das Gesicht der Frau verbrannt hatte, die wir, die Wächter der Nacht, den Vampiren als Nahrung geliefert hatten.

Wie gern führen sie, die Dunklen, das Wort»Freiheit«im Mund! Wie oft versichern wir uns selbst, dass die Freiheit ihre Grenzen hat.

All das ist vermutlich völlig richtig. Für die Dunklen wie für die Lichten, die einfach inmitten der Menschen leben, zwar größere Möglichkeiten als diese haben, sich in ihren Wünschen aber nicht von ihnen unterscheiden. Für diejenigen, die ein Leben nach den Spielregeln führen, nicht die Konfrontation suchen.

Doch man braucht nur an die Grenze zu kommen, die unsichtbare Grenze, an der wir, die Wächter, stehen und Dunkel und Licht trennen…

Dort herrscht Krieg. Und Krieg ist immer ein Verbrechen. Immer, zu allen Zeiten, gibt es im Krieg nicht nur Heroismus und Selbstaufopferung, sondern auch Verrat, Gemeinheit, Schläge in den Rücken. Anders kann man nicht kämpfen. Anders hätte man das Spiel von vornherein verloren.

Aber was für ein abgekartetes Spiel! Wofür lohnt es sich zu kämpfen, wofür kann ich kämpfen, wenn ich an der Grenze stehe, genau in der Mitte zwischen dem Licht und dem Dunkel? Meine Nachbarn sind Vampire!

Niemals - zumindest für Kostja gilt das -, niemals haben sie gemordet. Aus Sicht der Menschen sind sie anständige Leute. Wenn man sie nach ihren Taten beurteilt, sind sie weitaus ehrlicher als der Chef oder Olga.

Wo ist die Trennlinie? Wo die Rechtfertigung? Die Vergebung? Ich habe darauf keine Antwort. Kann sie nicht geben, nicht einmal mir selbst. Ich lasse mich nur noch träge dahintreiben im Strom der alten Überzeugungen und Dogmen. Wie schaffen sie das, meine Kameraden, die Fahnder der Wache, sich permanent zu schlagen? Wie begründen sie ihr Verhalten? Auch das weiß ich nicht. Aber ihre Entscheidungen helfen mir nicht. Hier ist jeder auf sich selbst gestellt - ganz wie in den tönenden Losungen der Dunklen.

Am meisten macht mir jedoch etwas anderes zu schaffen: Ich habe gespürt, dass ich, wenn ich dieses Spiel nicht durchschaue, diese Grenze nicht erfühle, verloren bin. Und nicht nur ich. Auch Swetlana würde sterben. Der Chef würde sich in dem sinnlosen Versuch verzetteln, sie zu retten. Die ganze Struktur der Moskauer Wache würde zusammenbrechen.

For the want of a nail, a shoe was lost…

Eine Weile stand ich noch da, mich mit der Hand an der schmutzigen Ziegelwand abstützend. Erinnerte mich, kaute auf den Lippen, suchte nach einer Antwort. Es gab sie nicht. Also war es Schicksal.

Nachdem ich den einladenden stillen Hof durchquert hatte, kam ich zum»Haus auf Beinen«. Der sowjetische Wolkenkratzer beschwor längst vergessene Wehmut in mir herauf, eine völlig unangemessene, heftige Wehmut. Vergleichbar dem Gefühl, das ich bisweilen verspürte, wenn ich im Zug an einem verlas-

senen Dorf oder einem halb zerstörten Getreidespeicher vorbeifuhr. Völlig unangemessen, viel zu stark ausgeholt für einen Schlag, der in die Luft geht.

»Sebulon«, sagte ich,»wenn du mich hörst…«

Stille, die gewöhnliche Stille spätabends in Moskau - das Heulen der Autos, aus irgendeinem Fenster erklang Musik, Menschenleere.

»Du kannst ja doch nicht alles vorherberechnet haben«, brachte ich in der Öde hervor.»Niemals. Es gibt immer noch eine Realitätsverzweigung. Die Zukunft ist nicht vorbestimmt. Das weißt du. Und ich auch.«

Ich überquerte die Straße, ohne nach links oder rechts zu gucken, ohne auf die Autos zu achten. Ich hatte doch einen Auftrag, oder?

Die Abschirmungssphäre!

Polternd erstarrte die Straßenbahn auf den Schienen. Die Autos bremsten, umfuhren eine Leere, in deren Mitte ich mich befand. Alles hörte auf zu existieren - außer dem Gebäude, auf dessen Dach vor drei Monaten der Kampf stattgefunden hatte, außer der Dunkelheit, dem Aufleuchten einer Energie, die das menschliche Auge nicht sehen konnte.

Und diese Urkraft, die nur wenige sehen können, schwoll an.

Hier lag das Zentrum des Taifuns, da irrte ich mich nicht. Hatte man mich hierher befohlen? Hervorragend. Da bin ich. Denn du erinnerst dich noch an die kleine peinliche Niederlage, Sebulon. Kannst nicht vergessen, wie du im Beisein deiner eigenen Sklaven geohrfeigt worden bist.

Unabhängig von allen hohen Zielen - und ich bestreite nicht, dass es für ihn hohe Ziele sind - brodelt

in ihm noch ein Wunsch, der einst eine schlichte menschliche Schwäche darstellte, heute aber vom Zwielicht unermesslich verstärkt worden ist.

Sich zu rächen. Es heimzuzahlen.

Den Kampf erneut aufnehmen. Nach der Schlacht noch ein wenig mit den Fäusten zu fuchteln.

Ihr alle, ihr großen Magier - Lichte wie Dunkle - lehnt einen schlichten Kampf ab, wollt auf elegante Weise siegen. Den Gegner erniedrigen. Einfache Siege öden euch an, sind überholt. Die große Konfrontation ist zu einer endlosen Schachpartie verkommen. Auch für Geser, den großen Lichten Magier, der Sebulon mit ungemeinem Vergnügen verhöhnt, nachdem er ein anderes Äußeres angenommen hat.

Für mich ist die Konfrontation noch nicht zu einem Spiel geworden.

Vielleicht liegt darin meine Chance.

Ich zog die Pistole aus der Tasche, entsicherte sie. Ich atmete ein, tief, sehr tief, als wollte ich etwas erschnüffeln. Es war an der Zeit.

Maxim spürte, dass diesmal alles sehr schnell gehen würde.

Ohne lange nächtliche Lauer. Auch ohne lange Verfolgung. Zu deutlich war die Erleuchtung diesmal gewesen, und er hatte nicht nur die fremde, feindliche Anwesenheit wahrgenommen, sondern auch einen klaren Hinweis auf das Ziel.

Er war zur Kreuzung Galuschkinstraße und Jaros-lawskaja gefahren und hatte im Hof eines Hochhauses geparkt. Das schwelende schwarze Feuerchen beo-

bachtet, das sich langsam im Gebäude hin und her bewegte.

Dort hockte der Dunkle Magier. Maxim nahm ihn jetzt bereits in der Realität wahr, konnte ihn fast erkennen. Ein Mann. Mit schwachen Fähigkeiten. Kein Tiermensch, kein Vampir, kein Inkubus. Sondern ein Dunkler Magier. In Anbetracht der geringen Kräfte dürfte es keine Probleme geben. Die lagen woanders.

Maxim konnte nur hoffen und beten, dass ihm das nicht zu oft passieren würde. Tag für Tag die Ausgeburten des Dunkels zu vernichten laugte ihn nicht nur körperlich aus. Da war auch noch dieser absolut schreckliche Moment, wenn der Dolch das Herz des Feindes durchbohrte. Der Augenblick, in dem alles um ihn herum erbebte, um Gleichgewicht kämpfte, während die Farben stumpf wurden, die Geräusche verebbten, die Bewegungen sich verlangsamten. Was sollte er tun, wenn er sich einmal irrte? Wenn er nicht einen Feind der Menschheit, sondern einen gewöhnlichen Menschen liquidierte? Er wusste es nicht.

Aber einen Ausweg gab es nicht, denn er allein war auf dieser Welt in der Lage, die Dunklen von den einfachen Menschen zu unterscheiden. Nur ihm war - von Gott, dem Schicksal oder dem Zufall - die Waffe in die Hand gelegt worden.

Maxim langte nach dem Holzdolch. Betrachtete das Spielzeug mit einem Anflug von Sehnsucht und Panik. Nicht er hatte damals diesen Dolch gehobelt, nicht er hatte ihm den hochtrabenden Namen Misericorde gegeben.

Zwölf waren sie damals gewesen, er und Petka, sein bester und möglicherweise einziger Freund in der Kindheit oder - wozu das verhehlen - in seinem ganzen Leben. Hatten Ritter gespielt, nicht sehr lange, denn in ihrer Kindheit gab es genug, was ihnen Vergnügen bereitete, auch ohne Computer und Diskotheken. Alle Jungen aus dem Haus hatten zusammen gespielt, einen einzigen kurzen Sommer lang, hatten Schwerter und Dolche gehobelt, sich anscheinend mit aller Kraft duelliert, aber dennoch immer aufgepasst. Denn sie hatten gewusst, dass man sich auch mit einem Stück Holz ein Auge ausstechen oder sich bis aufs Blut aufritzen konnte. Komischerweise waren Petka und er immer in unterschiedlichen Pionierlagern gelandet. Vielleicht weil Petka etwas jünger war und Maxim sich deshalb ein wenig dieses Freundes schämte, der ihn mit begeisterten Augen ansah und ihm als schweigendes Schwänzchen verliebt hinterherlief. Wie oft hatte Maxim damals Petka bei einem ihrer Kämpfe das Holzschwert aus den Händen geschlagen - der konnte sich ja kaum gegen den größeren Freund wehren - und geschrien:»Du bist mein Gefangener!«

Bis einmal etwas Seltsames geschah. Petka streckte ihm schweigend den Dolch hin und sagte, der edle Ritter müsse sein Leben mit diesem Misericorde beenden, ihn aber nicht als Gefangenen demütigen. Es war ein Spiel, natürlich, nur ein Spiel, doch irgendetwas krampfte sich in Maxim zusammen, als er zuschlug, den Schlag mit dem Holzdolch vortäuschte. Und dann durchlebte er jenen unerträglich kurzen Moment, als Petka abwechselnd ihm, Maxim, auf die Hand, die den Spielzeugdolch an das verdreckte weiße T-Shirt presste, und in die Augen schaute. Und dann plötzlich wie nebenher sagte:»Behalt es, das soll deine Trophäe sein.«

Maxim behielt den hölzernen Dolch gern, ohne zu zögern. Sowohl als Trophäe wie auch als Geschenk. Nur dass er ihn niemals mit zum Spielen nahm. Ihn zu Hause aufbewahrte, ihn zu vergessen versuchte, als geniere er sich des überraschenden Geschenks und der eigenen Schwäche. Aber er erinnerte sich daran. Immer. Selbst als er heranwuchs, heiratete, als er sein eigenes Kind aufwachsen sah, vergaß er ihn nicht. Der Spielzeugdolch lag zwischen den Alben mit den Fotos seiner Kinder, den Briefumschlägen mit Locken und anderem sentimentalen Plunder. Bis zu jenem Tag, da Maxim zum ersten Mal die Anwesenheit des Dunkels auf der Welt spürte.

Damals schien ihn der Holzdolch zu rufen. Und sich in eine echte Waffe zu verwandeln, eine rücksichtslose, unbarmherzige, unbezwingbare Waffe.

Da lebte Petka schon nicht mehr. Erst hatte die Jugendzeit sie getrennt. Für ein Kind ist ein Altersunterschied von einem Jahr viel, für einen Jugendlichen ist es eine unüberwindbare Kluft. Dann trennte sie das Leben. Wenn sie sich trafen, lächelten sie sich zu, tauschten einen Händedruck und gossen sich ein paarmal aufs schönste einen hinter die Binde, während sie in Kindheitserinnerungen schwelgten. Maxim heiratete, zog um, und ihr Kontakt schlief fast völlig ein. Diesen Winter war ihm jedoch rein zufällig etwas zu Ohren gekommen. Seine Mutter hatte es ihm erzählt, die er - ganz wie es sich für einen anständigen Sohn gehörte - regelmäßig jeden Abend anrief.»Erinnerst du dich noch an Petka? Ihr wart als Kinder dicke Freunde, man hat den einen nie ohne den andern erwischt.«

Er erinnerte sich. Und wusste sofort, was diese Ein-

leitung sollte.

Petka war tödlich verunglückt. Vom Dach eines Hochhauses gefallen. Was hatte ihn bloß mitten in der Nacht dorthin getrieben? Vielleicht wollte er sich umbringen, vielleicht hatte er sich betrunken, auch wenn die Ärzte sagen, er sei nüchtern gewesen. Vielleicht wurde er auch umgebracht. Er hatte in irgendeiner kommerziellen Organisation gearbeitet, nicht schlecht verdient, seine Eltern unterstützt, ein gutes Auto gefahren.

»Er hat Drogen genommen«, hatte Maxim damals in scharfem Ton gesagt. So scharf, dass seine Mutter ihm noch nicht einmal widersprach.»Gehascht, aber er war ja schon immer seltsam.«

Und sein Herz raste nicht, krampfte sich nicht zusammen. Doch am Abend betrank er sich aus irgendeinem Grund. Dann ging er und tötete eine Frau, deren Dunkle Kraft ihre Umwelt zwang, ihre Geliebten zu verlassen und zu den gesetzlich angetrauten Ehefrauen zurückzukehren, tötete eine junge Hexe - eine Kupplerin, die gleichzeitig Zwietracht zwischen Paaren säte -, der er schon zwei Wochen lang vergeblich nachgestellt hatte.

Petka gab es nicht mehr, seit vielen Jahren gab es den Jungen nicht mehr, mit dem er einst befreundet gewesen war, und seit drei Monaten gab es Pjotr Nesterow nicht mehr, den er einmal im Jahr gesehen hatte, manchmal noch seltener. Doch der Dolch, den er ihm geschenkt hatte, blieb ihm.

Sie war wohl nicht vergebens gewesen, ihre unbeholfene Freundschaft in Kindertagen.

Maxim spielte mit dem hölzernen Dolch in der Hand.

Aber warum, warum war er allein? Warum hatte er keinen Freund an seiner Seite, der ihm zumindest einen Teil jener Last, die auf seinen Schultern ruhte, abnehmen konnte? So viel Dunkel gab es um ihn herum und so wenig Licht.

Warum erinnerte er sich jetzt an den letzten Satz Lenas, den sie ihm nachgerufen hatte:»Du solltest uns besser lieben, statt auf uns aufzupassen!«

Ist denn das nicht dasselbe, antwortete Maxim ihr in Gedanken.

Doch nein, wahrscheinlich nicht. Aber was sollte ein Mann tun, für den die Liebe ein Kampf ist, ein Mann, der gegen etwas zu Felde zieht, nicht für etwas?

Gegen das Dunkel, nicht für das Licht.

Nicht für das Licht, sondern gegen das Dunkel.

»Ich bin ein Hüter«, sagte Maxim. Zu sich selbst, mit gepresster Stimme, als schäme er sich, diesen Gedanken laut auszusprechen. Schizos reden mit sich selbst. Und das war er nicht, er war normal, mehr als normal, er sah das uralte Dunkel, das in die Welt kroch.

In sie kroch oder seit langem in ihr hauste?

Das war doch Wahnsinn. Man durfte nicht zweifeln, niemals. Wenn er auch nur einen Teil seines Glaubens verlor, sich entspannte oder auf die Suche nach nicht existierenden Gefährten ging, wäre das sein Ende. Der Holzdolch würde sich nicht in eine lichtbringende Klinge verwandeln, mit der das Dunkel vertrieben werden konnte. Ein gewöhnlicher Magier würde ihn mit einem Zauberfeuer verbrennen, eine Hexe würde ihn beschwören, ein Tiermensch ihn in Stücke reißen.

Ein Hüter und Richtherr!

Er durfte nicht zaudern.

Der Klumpen des Dunkels, der im achten Stock baumelte, sackte plötzlich nach unten. Maxims Herz fing an zu rasen: Der Dunkle Magier kam seinem Schicksal entgegen. Maxim sprang aus dem Auto und schaute sich rasch um. Niemand. Wie immer vertrieb etwas, das in ihm steckte, jeden zufälligen Zeugen, räumte ihm das Schlachtfeld frei.

Das Schlachtfeld? Oder das Schafott?

Hüter und Richtherr?

Oder Henker?

Als ob es da einen Unterschied gab! Er diente dem Licht!

Die bekannte Kraft strömte durch seinen Körper, wühlte ihn auf. Die Hand am Revers seines Jacketts, ging Maxim auf den Hauseingang zu, dem Dunklen Magier entgegen, der im Fahrstuhl nach unten kam.

Nur rasch, alles musste rasch gehen. Schließlich hatte sich die Nacht noch nicht ganz herabgesenkt. Jemand könnte ihn sehen. Und niemand würde jemals seiner Geschichte glauben. Bestenfalls würde man ihn ins Irrenhaus einweisen.

Ansprechen. Den Namen nennen. Die Waffe ziehen.

Den Misericorde. Barmherzigkeit. Er war ein Hüter und Richtherr. Ein Ritter des Lichts. Kein Henker!

Dieser Hof war ein Schlachtfeld, kein Schafott.

Maxim blieb vor der Haustür stehen. Hörte die Schritte. Im Schloss bewegte sich etwas.

Und er wollte wimmern, vor Schmach und Entsetzen wimmern, schreien, den Himmel, sein Schicksal und seine einmalige Gabe verfluchen.

Der Dunkle Magier war ein Kind.

Ein dünner dunkelhaariger Junge. Äußerlich völlig normal - nur Maxim konnte die um ihn herum erzitternde Aureole des Dunkels sehen.

Warum das? Noch nie war ihm so etwas passiert. Er hatte Frauen und Männer getötet, junge wie alte, aber niemals hatte er es mit einem Kind zu tun gehabt, das seine Seele dem Dunkel verkauft hatte. Maxim war noch nicht einmal auf einen solchen Gedanken gekommen, vielleicht, weil er derlei nicht für möglich halten wollte, vielleicht, weil er sich weigerte, vorab eine diesbezügliche Entscheidung zu treffen. Vielleicht wäre er zu Hause geblieben, wenn er gewusst hätte, dass sein zukünftiges Opfer erst zwölf Jahre zählte.

Der Junge stand in der Haustür und schaute Maxim verständnislos an. Einen Augenblick lang hatte Maxim den Eindruck, der Kleine werde sich umdrehen und weglaufen, die schwere Tür mit dem Codeschloss hinter sich verriegeln. Renn doch, renn doch weg!

Der Junge machte einen Schritt auf ihn zu, wobei er die Tür festhielt, damit sie nicht krachend ins Schloss fiel. Er sah Maxim in die Augen, mit leicht gerunzelter Stirn, aber ohne Angst. Was nicht zu verstehen war. Er sah in Maxim keinen zufälligen Passanten, sondern verstand, dass der Mann auf ihn gewartet hatte. Kam ihm sogar entgegen. Fürchtet er sich denn nicht? War er sich seiner Dunklen Kraft so sicher?

»Sie sind ein Lichter, das seh ich«, sagte der Junge. Nicht sehr laut, aber mit fester Stimme.

»Ja.«Das Wort brachte er nur mit Mühe heraus, entließ es ungern aus seiner Kehle, stockte und senkte den Blick. Sich für seine Schwäche verfluchend,

streckte Maxim die Hand aus und packte den Jungen bei der Schulter.»Ich bin dein Richtherr!«

Noch immer erschrak der Kleine nicht.

»Ich habe heute Anton gesehen.«

Welchen Anton? Maxim schwieg, Unverständnis spiegelte sich in seinen Augen wider.

»Sind Sie seinetwegen zu mir gekommen?«

»Nein. Deinetwegen.«

»Wozu?«

Der Junge hatte irgendetwas Herausforderndes an sich, als habe er irgendwann einen langen Streit mit Maxim gehabt, als habe sich Maxim etwas zuschulden kommen lassen, was er jetzt eingestehen sollte.

»Ich bin dein Richtherr«, wiederholte Maxim. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre fortgerannt. Nichts fügte sich so, wie es sein sollte! Ein Dunkler Magier durfte sich nicht als Kind herausstellen, als Altersgenosse seiner eigenen Tochter. Ein Dunkler Magier musste sich verteidigen, ihn angreifen, fliehen, aber nicht mit beleidigter Miene dastehen, als habe er ein Recht dazu.

Als könne ihn irgendwas retten.

»Wie heißt du?«, fragte Maxim.

»Jegor.«

»Es ist mir äußerst unangenehm, dass alles so gekommen ist.«Maxim sagte die Wahrheit. Nicht sadistisches Vergnügen ließ ihn den Mord herauszögern.»Teufel auch. Ich habe eine Tochter, die so alt ist wie du!«Irgendwie kränkte ihn das am meisten.»Aber wenn nicht ich, wer dann?«

»Wovon reden Sie?«Der Junge versuchte seine

Hand abzuschütteln. Das stärkte Maxims Entschlossenheit.

Ein Junge, ein Mädchen, ein Erwachsener, ein Kind. Welchen Unterschied macht das schon! Dunkel und Licht - das ist der einzige Unterschied.

»Ich muss dich retten«, sagte Maxim. Mit der freien Hand zog er den Dolch aus der Tasche.»Ich muss es, und ich werde dich retten.«

Sieben

Als Erstes erkannte ich das Auto.

Dann den Wilden, der ihm entstieg.

Melancholie schlug über mir zusammen, schwere, düstere Melancholie. Da stand der Mann, der mich gerettet hatte, nachdem ich in Olgas Körpers aus dem Maharadscha geflohen war.

Hätte ich es wissen müssen? Vielleicht, wenn ich mehr Erfahrung und Zeit gehabt hätte, wenn ich gelassener gewesen wäre. Die Frau, die mit ihm im Auto saß - ich hätte mir zumindest ihre Aura ansehen sollen. Swetlana hatte schließlich eine genaue Beschreibung geliefert. Ich hätte die Frau erkennen können - und damit auch den Wilden. Schon im Auto hätte ich die Angelegenheit zu Ende bringen können.

Nur zu welchem?

Ich tauchte ins Zwielicht ein, als der Wilde in meine Richtung blickte. Offensichtlich klappte das, denn er ging weiter, auf den Hauseingang zu, in dem ich irgendwann einmal neben dem Müllschlucker gesessen und ein düsteres Gespräch mit einer weißen Eule geführt hatte.

Der Wilde ging Jegor töten. Genau, wie ich vermutet hatte. Genau, wie Sebulon es geplant hatte. Die Falle stand vor mir, die straff gespannte Feder zog sich langsam zusammen. Noch ein Schritt, und die Tagwache könnte sich über eine erfolgreich abgeschlossene Operation freuen.

Wo steckst du, Sebulon?

Das Zwielicht gab mir Zeit. Der Wilde ging weiter und weiter auf das Haus zu, setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen, während ich Ausschau hielt, die Umgebung nach dem Dunkel absuchte. Wenigstens eine Spur davon, wenigstens den Atem, einen Schatten…

Die Konzentration von Magie um mich herum war beachtlich. Hier liefen die Realitätsfäden zusammen, die in die Zukunft führten. Eine Kreuzung von hundert Wegen, ein Punkt, an dem die Welt entscheidet, welche Richtung sie einschlagen würde. Unabhängig von mir, dem Wilden oder dem Jungen. Wir alle sind bloß ein Teil der Falle. Statisten. Einer musste sagen:»Es ist angerichtet!«, ein anderer den Sturz vorspielen, ein dritter mit stolz erhobenem Kopf das Schafott besteigen. Zum zweiten Mal wurde dieser Punkt Moskaus zur Arena einer unsichtbaren Schlacht. Doch ich sah keine Anderen, weder Lichte noch Dunkle. Nur den Wilden, der aber selbst jetzt nicht als Anderer zu erkennen war, funkelte doch lediglich auf seiner Brust ein Klumpen Kraft. Zuerst hielt ich es für sein Herz. Dann begriff ich, dass es sich um die Waffe handelte, jene Waffe, mit der er die Dunklen ermordete.

Was soll das, Sebulon? Empörung packte mich, blödsinnige Empörung. Ich bin gekommen! Bin in deine Falle getappt, schau doch, der Fuß schwebt schon darüber. Jetzt nimmt alles seinen Lauf. Wo bist du?

Entweder vermochte sich der Dunkle Magier so geschickt zu verstecken, dass es über meine Kräfte ging, ihn zu entdecken, oder hier war überhaupt niemand!

Ich hatte verloren. Verloren noch vor dem Abpfiff, weil ich den Plan des Gegners nicht durchschauen konnte. Das Ganze war doch ein Hinterhalt, die Dunklen mussten den Wilden doch umbringen, sobald er

Jegor ermordet hatte.

Wie würde er das tun?

Immerhin war ich auch noch da. Würde ihm alles erklären, ihm von den Wachen berichten, die einander beobachten, von dem Vertrag, der uns zwingt, Neutralität zu wahren, von den Menschen und den Anderen, von der Welt und dem Zwielicht. Würde ihm alles erzählen, was ich Swetlana gesagt hatte, und er würde es verstehen.

Oder?

Wenn er doch das Licht nicht sieht!

Die Welt ist für ihn eine graue hirnlose Schafsherde. Die Dunklen sind die Wölfe, die um sie herumstreichen und sich die fettesten Lämmer schnappen. Und er selbst ist der Wachhund. Nicht in der Lage, die Schäfer zu sehen, blind vor Angst und Wut, stürzt er sich bald hierhin, bald dorthin, kämpft allein gegen alle.

Er wird mir nicht glauben, sich nicht erlauben, mir zu glauben.

Ich raste auf den Wilden zu. Die Haustür stand offen, der Wilde sprach bereits mit Jegor. Warum geht dieser dumme Bengel so spät abends noch weg, mitten in der Nacht, wo er doch nur zu gut weiß, welche Kräfte unsere Welt beherrschen? Ob der Wilde seine Opfer anlocken kann?

Reden würde nichts bringen. Ich musste aus dem Zwielicht angreifen. Ihn überwältigen. Und ihm erst dann alles erklären!

Das Zwielicht winselte mit tausend verletzten Stimmen auf, als ich im Lauf gegen die unsichtbare Barriere prallte. Drei Schritte von dem Wilden entfernt, der die Hand bereits zum Schlag erhoben hatte, prallte ich

gegen eine durchsichtige Wand, glitt an ihr herunter, rutschte langsam zu Boden. Schüttelte den dröhnenden Kopf.

Schlecht. Verdammt schlecht sogar! Er versteht das Wesen der Kraft nicht. Ist ein Autodidakt, ein Psychopath im Dienste des Guten. Doch wenn er zur Sache geht, schützt er sich mit einer magischen Barriere. Unbewusst, aber das macht es mir nicht leichter.

Der Wilde sagte etwas zu Jegor. Und zog seine Hand aus dem Jackett hervor.

Ein Holzdolch. Irgendwas hatte ich über diese Form der Magie gehört, die gleichzeitig naiv und mächtig ist, doch jetzt blieb mir nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln.

Ich schlich aus meinem Schatten heraus, trat in die Menschenwelt und sprang den Wilden von hinten an.

Maxim ging in dem Augenblick zu Boden, als er den Dolch hob. Die Welt um ihn herum hatte sich bereits grau eingefärbt, die Bewegungen des Jungen sich verlangsamt, Maxim hatte gesehen, wie der Dunkle die Wimpern ein letztes Mal niederschlug, bevor er die Augen im Schmerz weit aufreißen würde. Die Nacht war der Zwielicht-Bühne gewichen, auf der er gewöhnlich zu Gericht saß und das Urteil sprach, dessen Vollstreckung nichts verhindern konnte.

Jetzt hatte man ihn aufgehalten. Ihn niedergeschlagen und auf den Asphalt geschleudert. Im letzten Moment hatte Maxim sich mit der Hand abfangen, abrollen und aufspringen können.

Auf der Bühne war ein dritter Akteur erschienen. Wie hatte Maxim ihn nicht bemerken können? Wie hatte der sich anschleichen können, während Maxim bei seiner wichtigen Arbeit gegen Zeugen und Einmischungen immer durch die Lichteste Kraft der Welt abgeschottet war, die Kraft, die ihn in den Kampf führte?

Der Mann war jung, vielleicht etwas jünger als Maxim. Trug Jeans, ein Sweatshirt und eine Tasche über der Schulter, die er jetzt achtlos zu Boden fallen ließ, indem er die Schulter rollte. Und hielt eine Pistole in der Hand!

Wie unschön.

»Halt«, sagte der Mann, als wolle Maxim fliehen.»Hör mir zu.«

War das ein zufälliger Passant, der ihn für einen dummen Verrückten hielt? Doch wozu die Pistole? Woher die Geschicklichkeit, mit der er sich unbemerkt herangeschlichen hatte? Ob der bei irgendeiner Spezialeinheit arbeitete und nur gerade keine Uniform trug? Doch so einer hätte sofort geschossen oder zugeschlagen, ihm aber nicht die Möglichkeit gegeben aufzustehen.

Maxim sah den Unbekannten an. Ein fürchterlicher Verdacht ließ ihn erstarren. Was, wenn das ein weiterer Dunkler war? Noch nie hatte er mit zweien gleichzeitig fertig werden müssen.

Bloß, dass an ihm nichts Dunkles war. Nichts, überhaupt nichts, nicht die geringste Spur!

»Wer bist du?«, fragte Maxim, wobei er den Jungen fast vergaß. Der trat langsam an seinen unverhofft aufgetauchten Retter heran.

»Ein Wächter. Anton Gorodezki, Nachtwache. Hör mir zu.«

Mit der freien Hand packte Anton den Jungen und schob ihn hinter seinen Rücken. Ein deutlicher Hinweis.

»Nachtwache?«Maxim versuchte immer noch, in dem Unbekannten den Atem des Dunkels auszumachen. Doch er entdeckte nichts - was ihn noch stärker erschreckte.»Bist du vom Dunkel?«

Er verstand nichts. Versuchte mich zu sondieren: Ich spürte, wie er mich absuchte, auf grausame, kompromisslose und zugleich ungeschickte Weise absuchte. Mir war unklar, ob ich mich überhaupt hätte verschließen können.

In diesem Menschen oder Anderen - hier waren beide Begriffe angemessen - manifestierte sich irgendeine urwüchsige Kraft, ein wahnsinniger fanatischer Drang. Ich machte nicht einmal den Versuch, mich abzuschirmen.

»Nachtwache? Bist du vom Dunkel?«

»Nein. Wie heißt du?«

»Maxim.«Der Wilde kam langsam näher. Schaute mich an, als spüre er, dass wir uns schon einmal begegnet waren, nur dass ich damals anders aussah.»Wer bist du?«

»Ein Mitarbeiter der Nachtwache. Ich werde dir alles erklären, hör mir zu. Du bist ein Lichter Magier.«

Maxims Gesicht krampfte sich zusammen, versteinerte.

»Du bringst Dunkle um. Das weiß ich. Heute Morgen hast du eine Tierfrau ermordet. Abends einen Dunklen Magier im Restaurant.«

»Du auch?«

Vielleicht kam es mir nur so vor. Vielleicht schwang in seiner Stimme aber tatsächlich Hoffnung mit. Demonstrativ steckte ich die Pistole weg.

»Ich bin ein Lichter Magier. Wenn auch kein sehr starker. Einer von Hunderten, die es in Moskau gibt. Wir sind viele, Maxim.«

Als sich daraufhin seine Augen weiteten, wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Er war kein Verrückter, der sich für Superman hält und auf seine Taten auch noch stolz ist. Wahrscheinlich hatte er sich in seinem Leben nichts so sehnlich gewünscht, wie einen Waffenbruder zu treffen.

»Maxim, wir haben dich nicht rechtzeitig bemerkt«, fuhr ich fort. Ob sich doch noch alles friedlich regeln ließ, ohne Blutvergießen, ohne einen sinnlosen Kampf von zwei weißen Magiern?»Das ist unsere Schuld. Du hast angefangen, allein zu kämpfen, hast einfach drauflosgedroschen. Doch noch lässt sich alles wieder gutmachen, Maxim. Schließlich hast du nichts vom Großen Vertrag gewusst, oder?«

Er hörte mir nicht zu, ein unbekannter Vertrag interessierte ihn nicht im Geringsten. Nur dass er nicht mehr allein dastand, zählte für ihn.

»Kämpft ihr gegen das Dunkel?«

»Ja.«

»Seid ihr viele?«

»Ja.«

Abermals sah Maxim mich an und erneut blitzte in seinen Augen der durchdringende Atem des Zwielichts auf. Er versuchte, die Lüge zu erkennen, das Dunkel auszumachen, das Böse und den Hass zu orten - all das, was er zu sehen vermochte.

»Du bist kein Dunkler«, sagte er fast mitfühlend.»Das sehe ich. Ich irre mich nicht, niemals!«

»Ich bin ein Wächter«, wiederholte ich. Ich sah mich um - niemand. Irgendetwas hatte die Menschen verschreckt. Vermutlich gehörte auch das zu den Fähigkeiten des Wilden.

»Dieser Junge…«

»Ist auch ein Anderer«, warf ich schnell ein.»Er hat sich noch nicht entschieden, ob er ein Lichter oder…«

Maxim schüttelte den Kopf.»Er ist ein Dunkler.«

Ich sah Jegor an. Langsam hob der Junge den Blick.

»Nein«, sagte ich.

Die Aura war klar zu erkennen, ein leuchtender reiner Regenbogen, schillernd, eine Aura, wie sie normalerweise nur kleine Kinder haben, nicht aber Jugendliche. Das eigene Schicksal, eine unbesiegelte Zukunft.

»Ein Dunkler.«Maxim schüttelte den Kopf.»Siehst du das denn nicht? Ich irre mich nie, niemals. Du hast mich daran gehindert, diesen Sendboten des Dunkels zu vernichten.«

Vermutlich log er nicht. Er konnte nur wenig, das aber gut. Maxim konnte das Dunkel sehen, noch die kleinsten Flecken in anderen Seelen ausmachen. Mehr noch, gerade dieses entstehende Dunkel sah er besonders gut.

»Wir bringen nicht einfach alle Dunklen um.«

»Warum nicht?«

»Wir haben Waffenruhe geschlossen, Maxim.«

»Wie kann man mit dem Dunkel Waffenruhe schließen?«

Ein Frösteln durchfuhr mich: In seiner Stimme lag nicht der geringste Zweifel.

»Jeder Krieg ist schlechter als der Friede.«

»Dieser nicht.«Maxim hob die Hand mit dem Dolch.»Siehst du den? Das ist ein Geschenk meines Freundes. Er ist gestorben, und daran sind vielleicht solche wie dieser Junge schuld. Das Dunkel ist heimtückisch!«

»Sagst du das mir?«

»Natürlich. Vielleicht bist du ja auch ein Lichter.«Sein Gesicht verzog sich zu einem bitteren Grinsen.»Nur ist euer Licht dann schon seit langem trübe geworden. Man darf dem Bösen nicht vergeben. Mit dem Dunkel keine Waffenruhe schließen.«

»Man darf dem Bösen nicht vergeben?«Jetzt war auch ich erbost. Und wie.»Als du den Dunklen Magier auf der Toilette erschlagen hast, warum bist du da nicht noch zehn Minuten geblieben? Warum hast du dir nicht angesehen, wie die Kinder schreien, wie seine Frau weint? Sie sind keine Dunklen, Maxim! Sondern ganz gewöhnliche Menschen, die nicht unsere Kräfte haben! Du hast die junge Frau vor den Kugeln gerettet…«

Er erschauerte, doch sein Gesicht wirkte nach wie vor wie gemeißelt.

»Das war großartig! Aber dass sie deinetwegen, wegen deiner Verbrechen umgebracht werden sollte - das wusstest du nicht!«

»Das ist der Krieg!«

»Den du angefangen hast«, zischte ich.»Du bist ja selbst noch ein Kind, mit deinem Spielzeugdolch. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, ja? Im großen Kampf für das Licht ist alles erlaubt?«

»Ich kämpfe nicht für das Licht.«Er hatte ebenfalls die Stimme gesenkt.»Nicht für das Licht, sondern gegen das Dunkel. Das ist alles, was ich kann. Verstehst du? Glaub ja nicht, mich würden die Späne nicht interessieren. Ich habe nicht um diese Kraft gebeten, nicht davon geträumt. Doch da ich sie nun einmal habe, muss ich sie auch nutzen.«

Wer hatte ihn bloß übersehen?

Warum hatten wir Maxim nicht in dem Moment aufgespürt, als er zum Anderen wurde?

Er hätte einen vorzüglichen Fahnder abgegeben. Nach langen Streitigkeiten und Erklärungen. Nach Monaten der Ausbildung, Jahren der Praxis, nach Misserfolgen, Fehlern, Besäufnissen und Selbstmordversuchen. Am Ende, wenn er die Regeln der Konfrontation nicht mit dem Herzen - denn das ist ihm nicht gegeben -, sondern mit seinem kalten, kompromisslosen Verstand akzeptiert hätte. Die Gesetze, nach denen das Licht und das Dunkel ihren Krieg austragen, die Gesetze, nach denen wir uns von einem Tiermenschen abwenden müssen, der ein Opfer verfolgt, und die eigenen Leute töten müssen, wenn sie sich nicht abwenden.

Jetzt stand er vor mir. Der Lichte Magier, der innerhalb einiger Jahre mehr Dunkle zur Strecke gebracht hatte als ein Fahnder in hundert Dienstjahren. Ein einsames, zu Tode gehetztes Tier. Das zu hassen vermag, aber nicht zu lieben.

Ich drehte mich um und packte Jegor bei den Schultern, der nach wie vor bloß dastand, ruhig, ohne sich zu rühren, und angespannt unserm Streit zuhörte. Zog ihn vor mich.

»Er ist also ein Dunkler Magier?«, fragte ich.»Vermutlich. Ich fürchte, du hast Recht. Noch ein paar Jahre, und dieser Junge realisiert seine Möglichkeiten. Wird durchs Leben gehen, während sich das Dunkel um ihn herum in Bewegung setzt. Mit jedem Schritt wird sein Leben leichter und leichter. Für jeden Schritt zahlt ein anderer mit seinen Schmerzen. Erinnerst du dich noch an das Märchen von der Meerjungfrau? Die Meerhexe hat ihr Beine gegeben, sodass sie gehen konnte, aber in ihre Füße schienen sich glühende Messer zu bohren. So ist es auch mit uns, Maxim! Wir gehen ständig über Messer, ohne uns daran zu gewöhnen. Nur dass Andersen nicht alles erzählt hat. Die Meerhexe hätte nämlich auch eine andere Möglichkeit gehabt. Die Meerjungfrau hätte laufen können, während die Messer jemand anderen gequält hätten. Das ist der Weg des Dunkels.«

»Meinen Schmerz ertrage ich selbst«, sagte Maxim. Und erneut keimte eine wahnsinnige Hoffnung in mir auf, er könne das alles doch verstehen.»Aber das darf nichts ändern.«

»Bist du bereit, ihn zu töten?«Ich nickte mit dem Kopf in Jegors Richtung.»Maxim, bist du das? Ich bin ein Mitarbeiter der Wache, ich kenne die Grenze zwischen Gut und Böse. Selbst wenn du Dunkle umbringst, kannst du etwas Böses anrichten. Also, bist du bereit, ihn umzubringen?«

Er zögerte nicht. Nickte. Sah mir voller Sanftmut und Freude in die Augen.»Ja. Ich bin bereit, denn ich weiche nie vor den Ausgeburten des Dunkels zurück. Auch diesmal nicht.«

Die unsichtbare Falle war zugeschnappt.

Ich hätte mich nicht gewundert, wenn Sebulon plötzlich neben uns gestanden hätte. Aus dem Zwielicht aufgetaucht und Maxim lobend auf die Schultern geschlagen hätte. Oder mir amüsiert zugelächelt.

Doch im nächsten Moment begriff ich, dass Sebulon nicht kommen würde. Niemals.

Die aufgestellte Falle musste nicht beobachtet werden. Die funktionierte auch so. Ich war hineingetappt, und jeder Mitarbeiter der Tagwache hatte für diesen Moment ein wasserdichtes Alibi.

Entweder erlaubte ich Maxim, den Jungen umzubringen, der ein Dunkler Magier werden würde. Dann würde ich zu seinem Komplizen - mit allen daraus resultierenden Folgen.

Oder ich ließ mich auf einen Kampf ein. Vernichtete den Wilden, letzten Endes ließen sich unsere Kräfte doch nicht vergleichen. Liquidierte eigenhändig meinen einzigen Zeugen und - als sei das nicht genug - brächte einen Lichten Magier um.

Denn Maxim würde nicht nachgeben. Das war sein Krieg, sein kleines Golgatha, seit ein paar Jahren schon schleppte er sich diesen Hügel hinauf. Für ihn gab es nur Sieg oder Tod.

Und warum sollte Sebulon selbst in den Kampf eingreifen?

Er hatte alles richtig gemacht. Die Reihen der Dunklen vom Ballast befreit, mich kompromittiert, mir Angst eingejagt, sogar etwas Dramatik ins Spiel gebracht, als er an mir vorbeischoss. Hatte mich dem Wilden in die Arme getrieben. Jetzt war Sebulon weit weg. Vielleicht noch nicht einmal in Moskau. Möglicherweise beobachtete er die Ereignisse: Es gibt genug

technische und magische Mittel, die das ermöglichen. Beobachtete und feixte sich eins.

Ich war reingefallen.

Was auch immer ich jetzt tat, ich würde im Zwielicht enden.

Das Böse ist nicht darauf angewiesen, das Gute eigenhändig zu vernichten. Wie viel leichter ist es, wenn man den Guten erlaubt, aufeinander loszugehen.

Die einzige Chance, die mir noch blieb, war verschwindend klein und ungeheuerlich gemein.

Würde nicht klappen.

Ich musste Maxim gestatten, den Jungen umzubringen, nun ja, nicht gestatten, sondern einfach nicht eingreifen. Danach würde er sich beruhigen. Würde mit mir zum Stab der Nachtwache gehen, sich alles anhören, streiten und verstummen, bezwungen von den knallharten Argumenten und der erbarmungslosen Logik des Chefs, würde verstehen, was er angerichtet, wie sehr er das brüchige Gleichgewicht verletzt hatte. Würde sich selbst dem Tribunal stellen, wo für ihn eine winzige, aber unbestreitbare Chance bestand, rehabilitiert zu werden.

Schließlich bin ich kein Fahnder. Ich habe getan, was in meiner Macht stand. Sogar das Spiel des Dunkels durchschaut, die Kombination, die sich jemand ausgedacht hatte, der bedeutend klüger ist als ich. Es mangelte mir einfach an Kraft, Zeit und Reaktionsvermögen.

Maxim schwang die Hand mit dem Dolch.

Die Zeit dehnte sich plötzlich, zog sich so in die Länge, als sei ich ins Zwielicht eingetreten. Nur dass die Farben nicht verblassten, sondern sogar aufleuchteten, und auch ich mich in diesem trägen breiigen Strom bewegte. Der Holzdolch sauste auf Jegors Brust zu, veränderte sich, glitzerte bald metallisch auf, hüllte sich bald in eine graue Flamme ein; in Maxims Gesicht spiegelte sich Konzentration, nur die in die Lippe gerammten Zähne zeugten von seiner Anspannung, während der Junge nichts begriff und noch nicht einmal versuchte fortzulaufen.

Als ich Jegor zur Seite schubste, wollten meine Muskeln mir nicht gehorchen, wollten keine so törichte und selbstmörderische Bewegung machen. Für ihn, den kleinen Dunklen Magier, bedeutete der Stoß des Dolchs den Tod. Für mich Leben. So war es immer, so würde es immer sein.

Was für einen Dunklen Leben bedeutet, ist für einen Lichten der Tod und umgekehrt. Das würde ich nicht ändern.

Geschafft!

Jegor fiel, stieß mit dem Kopf an die Haustür, sackte langsam zu Boden - ich hatte ihn zu stark gestoßen, hatte nur an seine Rettung gedacht, mich nicht um Verletzungen geschert.

In Maxims Augen funkelte der Ausdruck eines beleidigten Kindes auf.»Er ist ein Feind!«, brachte er dennoch hervor.

»Er hat nichts verbrochen!«

»Du verteidigst das Dunkel!«

Maxim stritt nicht darüber, ob ich ein Dunkler oder ein Lichter war. Das konnte er immerhin sehen.

Nur dass er weißer als weiß war. Er hatte nie die Alternative gesehen - ob ein Dunkler leben oder sterben sollte.

Der Dolch zielte jetzt nicht mehr auf den Jungen, sondern auf mich. Ich duckte mich, erblickte meinen Schatten und streckte mich, worauf dieser gehorsam auf mich zusprang.

Die Welt färbte sich grau ein, die Geräusche verstummten, die Bewegungen verlangsamten sich. Jegor, der sich eben noch gewälzt hatte, lag nun völlig reglos da, die Autos krochen unsicher über die Straße, die Räder drehten sich stoßweise, die Äste der Bäume hatten den Wind vergessen. Nur Maxim verlangsamte sich nicht.

Er kam mir nach, ohne es selbst zu wissen. Glitt mit derselben Unbedarftheit ins Zwielicht, mit der ein Mensch vom Gehsteig auf die Straße tritt. Ihm war jetzt alles egal: Er schöpfte Kraft aus seiner Überzeugung, seinem Hass, diesem lichten, ja helllichten Hass, aus der Wut des weißen Lichts. Er war nicht einmal ein Henker der Dunklen. Sondern ein Inquisitor. Weitaus schrecklicher als unsere gesamte Inquisition.

Ich riss die Hände hoch, spreizte die Finger im Zeichen der Kraft, dem einfachen und doch so effektiven - von den jungen Anderen beim ersten Mal stets verlachten -»Fingerfächer«. Maxim hielt nicht inne - schwankte nur ganz leicht, senkte dann aber stur den Kopf und kam weiter auf mich zu. Während ich zu begreifen begann, trat ich zurück und versuchte fieberhaft, mich an das magische Repertoire zu erinnern.

Agape - das Zeichen der Liebe; doch an die Liebe glaubt er nicht.

Der Dreifachschlüssel - bringt Glaube und Verständnis hervor; aber er glaubt mir nicht.

Opium - das fliederfarbene Symbol, der Traumpfad; schon spürte ich, wie meine eigenen Lider schwer wurden.

So also besiegt er die Dunklen. Sein rasender Glaube, verwoben in seinen verborgenen Fähigkeiten als Anderer, dient gleichsam als Spiegel. Wirft den erlittenen Schlag zurück. Bringt ihn auf das Niveau des Gegners. Zusammen mit der Fähigkeit, das Dunkel zu sehen, und dem idiotischen magischen Dolch macht ihn das beinah unverletzlich.

Nein, alles vermag er freilich nicht widerzuspiegeln. Die Schläge werden nicht sofort zurückgeworfen. Das Zeichen des Thanatos oder das weiße Schwert dürften funktionieren.

Nur dass ich mich auch umbringen würde, wenn ich ihn tötete. Den einzigen Weg einschlüge, der uns allen bevorsteht: ins Zwielicht. In die trüben Träume, das farblose Blendwerk, die ewige dunstige Kälte. Meine Kräfte reichten nicht aus, um in ihm einen Feind zu sehen - zu dem er mich ja ohne zu zögern erklärt hatte.

Wir umkreisten einander, mitunter machte Maxim einen Ausfall, jedoch ungeschickt, denn er hatte nie richtig gekämpft, war es gewohnt, seine Opfer schnell und einfach umzubringen. Und irgendwo aus weiter Ferne hörte ich Sebulons höhnisches Lachen.

»Du wolltest ein Spiel gegen das Dunkel wagen?«, sagte er mit weicher, einschmeichelnder Stimme.»Nur zu. Du hast alles, was du brauchst. Feinde, Freunde, Liebe und Hass. Wähl deine Waffe. Welche du willst. Den Ausgang kennst du ohnehin schon. Jetzt kennst du ihn.«

Vielleicht hatte ich mir diese Stimme nur eingebildet.

Vielleicht erklang sie aber auch wirklich.

»Du bringst dich um!«, schrie ich. Das Halfter schlug gegen meinen Körper, als verlange es, dass ich die Pistole herausnahm und einen Schwarm kleiner silberner Wespen auf Maxim losließ. Genauso leicht, wie ich es vorhin bei meinem Namensvetter getan hatte.

Er hörte mich nicht - das war ihm nicht gegeben.

Sweta, du wolltest unbedingt wissen, wo die Hürden für uns aufgestellt sind, wo die Grenze ist, an der wir in unserem Kampf gegen das Dunkel innehalten müssen. Warum bist du jetzt nicht hier? Dann würdest du es sehen und verstehen.

Es war überhaupt niemand hier, weder Dunkle, um sich aus vollem Herzen an diesem Duell zu ergötzen, noch Lichte, um zu helfen, sich auf Maxim zu stürzen, ihn zu fesseln, unseren tödlichen Zwielicht-Tanz zu beenden. Nur der ungelenk aufstehende Junge, der zukünftige Dunkle Magier, und der unerbittliche Henker mit den gemeißelten Gesichtszügen, jener ungeru-fene Paladin des Lichts. Der nicht weniger Böses angerichtet hatte als ein Dutzend Tiermenschen oder Vampire.

Ich raffte den kalten Nebel zusammen, der mir durch die Finger strömte. Erlaubte ihm, an meinen Fingern zu saugen. Und schickte ein wenig mehr Kraft in die rechte Hand.

Ein weißer Feuerkeil erwuchs aus meinem Handteller. Das Zwielicht fauchte, flammte auf. Ich zog das weiße Schwert, eine einfache und effektive Waffe. Maxim erstarrte.

»Das Gute, das Böse.«Ein neues, schiefes Grinsen zeichnete sich auf meinem Gesicht ab.»Komm zu mir. Komm her, und ich töte dich. Selbst wenn du hundertmal ein Lichter bist, darum geht es gar nicht.«

Bei jedem anderen hätte das gewirkt. Bestimmt. Man muss sich das vorstellen: zum ersten Mal zu sehen, wie aus dem Nichts eine Feuerklinge auftaucht. Aber Maxim kam weiter auf mich zu.

Überwand die fünf Schritte, die uns trennten. Gelassen, mit glatter Stirn, ohne auf das weiße Schwert zu achten. Während ich dastand und immer wieder in Gedanken wiederholte, was sich so leicht und überzeugend laut sagte.

Dann drang der Holzdolch zwischen meine Rippen ein.

In weiter Ferne brach Sebulon, das Oberhaupt der Tagwache, in seiner Höhle in schallendes Gelächter aus.

Ich fiel erst auf die Knie, dann auf den Rücken. Presste die Hand auf die Brust. Es schmerzte, bislang schmerzte es nur. Das Zwielicht winselte empört auf, als es das lebende Blut spürte, und wich auseinander.

Wie beschämend!

Oder war das mein einziger Ausweg? Zu sterben?

Swetlana würde niemanden retten müssen. Sie könnte ihren Weg gehen, eine langen und ruhmreichen Weg, selbst wenn auch sie eines Tages für immer ins Zwielicht eingehen muss.

Ob du das wusstest, Geser? Vielleicht sogar auf diesen Ausgang gehofft hast?

Die Welt gewann ihre Farben zurück. Die dunklen Farben der Nacht. Das Zwielicht spuckte mich widerwillig aus, verschmähte mich. Halb liegend, halb sit-

zend hielt ich meine blutende Wunde.

»Warum bist du noch am Leben?«, fragte Maxim.

Erneut lag in seiner Stimme ein beleidigter Unterton, es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte einen Schmollmund gemacht. Am liebsten hätte ich gelacht, doch meine Schmerzen ließen das nicht zu. Er sah auf den Dolch und hob ihn voller Unsicherheit erneut. Im nächsten Moment stand Jegor neben mir. Schirmte mich vor Maxim ab. Diesmal hinderte mich der Schmerz nicht daran zu lachen.

Der zukünftige Dunkle Magier rettete den einen Lichten vor dem anderen!

»Ich lebe, weil deine Waffe nur für Dunkle gedacht ist«, erklärte ich. In meiner Brust gluckerte es verdächtig. Der Dolch war nicht bis zum Herz gedrungen, hatte aber die Lunge aufgerissen.»Ich weiß nicht, wer ihn dir gegeben hat. Doch das ist eine Waffe gegen das Dunkel. Gegen mich ist es nicht mehr als ein Span, der aber auch wehtut.«

»Du bist ein Lichter«, sagte Maxim.

»Ja.«

»Er ist ein Dunkler.«Der Dolch richtete sich langsam auf Jegor.

Ich nickte. Versuchte, den Jungen wegzuziehen; der schüttelte hartnäckig den Kopf und blieb stehen.

»Warum?«, fragte Maxim.»Warum nur? Du bist ein Lichter, er ist ein Dunkler…«

Zum ersten Mal in der ganzen Zeit lächelte er, wenn auch nicht fröhlich.

»Und wer bin dann ich? Kannst du mir das sagen?«

»Ich vermute, ein zukünftiger Inquisitor«, erklang es hinter mir.»Ich bin mir dessen fast sicher. Ein begabter, unbarmherziger, unbestechlicher Inquisitor.«

Ich schielte zu der Stimme hin.»Guten Abend, Ge-ser«, sagte ich.

Der Chef nickte mir mitfühlend zu. Swetlana stand hinter ihm, ihr Gesicht war kreideweiß.

»Hältst du noch fünf Minuten durch?«, fragte der Chef.»Dann schau ich mir deinen Kratzer mal an.«

»Natürlich halt ich noch durch«, versicherte ich.

Maxim sah den Chef mit starrem, halb wahnsinnigem Blick an.

»Ich glaube, du brauchst keine Angst zu haben«, wandte sich der Chef an ihn.»Sicher, ein gewöhnlicher Wilderer würde vom Tribunal hingerichtet. An deinen Händen klebt zu viel Dunkles Blut, und das Tribunal ist verpflichtet, das Gleichgewicht zu wahren. Doch du bist herausragend, Maxim. Auf jemanden wie dich verzichtet man nicht einfach. Du wirst dich über uns erheben, über Licht und Dunkel, und es spielt nicht einmal eine Rolle, von welcher Seite du kommst. Du darfst dir nur nichts vormachen - das ist keine Macht. Das ist Zwangsarbeit. Wirf den Dolch weg!«

Maxim schleuderte den Dolch zu Boden, als habe er sich die Finger daran verbrannt. Das vollbringt ein echter Magier. Für mich ist das eine Nummer zu groß.

»Swetlana, du hast es überstanden.«Der Chef sah die junge Frau an.»Was gibt das? Dritte Stufe in Selbstkontrolle und Beherrschung. Ohne jeden Zweifel.«

Ich stützte mich auf Jegor und versuchte aufzustehen. Wollte dem Chef unbedingt die Hand schütteln. Erneut hatte er sein eigenes Spiel gespielt. Hatte alle

benutzt, die ihm zur Verfügung standen. Hatte Sebu-lon geschlagen. Nur schade, dass der nicht hier war! Wie gern hätte ich sein Gesicht gesehen, das Gesicht jenes Dämons, der meinen ersten Frühlingstag in einen endlosen Albtraum verwandelt hatte.

»Aber…«Maxim wollte etwas sagen, verstummte jedoch. Auch auf ihn war zu viel eingestürzt. Seine Gefühle konnte ich nur zu gut verstehen.

»Ich war mir sicher, Anton, absolut sicher, dass ihr beide, du und Swetlana, mit dieser Sache fertig werden würdet«, meinte der Chef sanft.»Das Schrecklichste für eine Zauberin mit ihrer Kraft ist es, die Selbstkontrolle zu verlieren. Die Kriterien im Kampf gegen das Dunkel zu verlieren, überstürzt zu handeln oder - im Gegenteil - zu zaudern. Diese Phase in der Ausbildung sollte man auf gar keinen Fall auf die lange Bank schieben.«

Swetlana machte endlich einen Schritt auf mich zu. Behutsam hakte sie sich bei mir unter. Sah Geser an - und für einen Augenblick verzerrte Zorn ihre Miene.

»Nicht doch«, sagte ich.»Nicht doch, Sweta. Er hat ja Recht. Mir ist es erst heute klar geworden, zum ersten Mal. Wo die Grenze in unserem Kampf verläuft. Sei nicht wütend. Und das…«Ich nahm die Hand von der Brust.»… ist nur ein Kratzer. Wir sind keine Menschen, wir sind weitaus robuster.«

»Danke, Anton«, sagte der Chef. Dann richtete er den Blick auf Jegor.»Und auch dir, mein Junge. Vielen Dank. Wirklich schade, dass du auf der anderen Seite der Barrikade stehen wirst. Dennoch war ich mir sicher, dass du trotzdem für Anton eintrittst.«

Der Junge wollte einen Schritt auf den Chef zumachen, doch ich packte ihn bei der Schulter. Das fehlte noch, dass er jetzt etwas Unüberlegtes sagte. Noch verstand er nicht, wie kompliziert dieses Spiel war! Verstand nicht, dass alles, was Geser getan hatte, lediglich der Gegenzug war.

»Eins bedaure ich, Geser«, bemerkte ich.»Nur eine Sache. Dass Sebulon nicht hier ist. Dass ich sein Gesicht nicht gesehen habe, als sein ganzes Spiel zusammengebrochen ist.«

Der Chef antwortete nicht gleich.

Vielleicht, weil ihm die Worte schwer über die Lippen kamen. So, wie ich sie ja auch nicht gern hören wollte.

»Sebulon hat damit nichts zu tun, Anton. Du musst schon entschuldigen. Aber er hat damit wirklich nichts zu tun. Die ganze Operation geht auf das Konto der Nachtwache.«

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