Der Mann war klein, dunkelhäutig und hatte Schlitzaugen. Eine begehrte Beute für jeden Milizionär in Moskau. Ein schuldbewusstes, verwirrtes Lächeln. Ein naiver, ausweichender Blick. Trotz der sengenden Hitze trug er einen altmodischen dunklen Anzug, der jedoch fast neu wirkte. Die Krönung bildete eine Krawatte noch aus Sowjetzeiten. In der einen Hand hielt er eine riesige, abgeschabte Aktentasche, mit der in alten Filmen Agronomen und Vorsitzende von Vorzeigekolchosen ausgestattet werden, in der anderen ein Netz mit einer länglichen Zuckermelone.
Der kleine Mann stieg aus dem Schlafwagen, auf seinen Lippen das unweigerliche Lächeln. Das der Zugbegleiterin galt, den Reisegefährten, einem Kofferträger, der ihn anrempelte, einem jungen Burschen, der an einem Stand Limonade und Zigaretten verkaufte. Der kleine Mann hob den Blick und sah voller Begeisterung auf das Dach des Kasaner Bahnhofs. Trottete den Bahnsteig entlang und blieb immer wieder stehen, um das Netz mit der Melone bequemer zu packen. Er konnte dreißig Jahre alt sein, aber auch fünfzig. Für einen Europäer ist das schwer auszumachen.
Der junge Mann, der kurz darauf dem Waggon zweiter Klasse desselben Zugs Taschkent-Moskau entstieg - womöglich einer der dreckigsten und ramponiertesten Züge der Welt -, verkörperte das genaue Gegenteil. Auch er ein orientalischer Typ, am ehesten ein Usbeke. Allerdings eher nach Moskauer Art gekleidet: Shorts und ein T-Shirt, eine Sonnenbrille, am Gürtel eine lederne Tasche und ein Handy. Kein Gepäck.
Nicht die Spur von Provinzialität. Er blickte sich nicht um, suchte nicht das verheißungsvolle M. Ein kurzes Nicken zum Zugbegleiter, ein leichtes Kopfschütteln, um die Taxifahrer abzuwimmeln. Ein Schritt, noch einer - und schon war er in der Masse verschwunden, von wuselnden Ankömmlingen verschluckt, das Gesicht leicht in Widerwillen und Abneigung verzogen. Im Handumdrehen ging er als organischer Teil in die Menge ein, der sich nicht mehr ausmachen ließ. Wuchs ihr als neue, gesunde und lebensfähige Zelle zu, die weder bei den als Freßzellen wirkenden Milizionären noch bei den Nachbarzellen Irritation auslöste.
Der kleine Mann mit der Melone und der Aktentasche bahnte sich seinen Weg durch die Masse, unzählige Entschuldigungen in nicht sehr sauberem Russisch murmelnd, zog den Kopf ein und sah sich um. An einer Straßenunterführung lief er vorbei, zuckte mit dem Kopf mal in die eine, mal in die andere Richtung, steuerte dann auf eine andere Unterführung zu, blieb an einer Reklametafel stehen, an der es weniger Gedrängel gab, und zog, seine Sachen umständlich an die Brust pressend, einen zerknitterten Zettel heraus, den er sorgsam studierte. Auf dem Gesicht des Asiaten spiegelte sich nicht der Schatten eines Verdachts wider, dass man ihn verfolgen könnte.
Was den dreien, die an der Mauer des Bahnhofsgebäudes lehnten, nur zupass kam. Eine attraktive, auffällige Frau mit roten Haaren in einem eng anliegenden Seidenkleid, ein angepunkter Typ mit verblüffend gelangweilten und alten Augen, ein älterer Mann mit langem gegelten Haar und dem Gebaren eines Schwulen.
»Eher nicht«, sagte der Punk mit den alten Augen zweifelnd.»Glaub nicht, dass der das ist. Ist zwar schon lange her, dass ich ihn gesehen habe, und das auch nur kurz, aber…«
»Sollen wir etwa bei Dshoru nachfragen?«, fragte die Frau lachend.»Ich seh doch, dass er es ist.«
»Übernimmst du die Verantwortung?«Den Punk irritierte weder ihr Einwand, noch wollte er sich streiten. Sondern nur diese Frage klären.
»Ja.«Die Frau wandte den Blick nicht von dem Asiaten.»Gehen wir. Wir schnappen ihn uns in der Unterführung.«
Mit langsamen synchronen Schritten lösten sie sich von der Mauer. Dann trennten sie sich, die Frau ging weiter geradeaus, die beiden Männer nach links und rechts.
Der kleine Mann faltete den Zettel zusammen und lief unsicher auf die Unterführung zu.
Ein Moskauer oder ein häufiger Gast der Hauptstadt hätte sich über die plötzliche Menschenleere gewundert. Immerhin ist das hier der kürzeste und bequemste Weg von der Metro zum Bahnhof. Aber der kleine Mann achtete nicht darauf. Dass die Menschen hinter ihm stehen blieben, als seien sie gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen, und zu anderen Unterführungen gingen, bemerkte er nicht. Dass auf der anderen Seite der Unterführung im Bahnhof das Gleiche passierte, konnte er nicht sehen.
Ihm kam ein lächelnder Schnösel entgegen. Von hinten holten ihn eine sympathisch wirkende junge Frau und ein schlampig gekleideter Typ mit einem Ohrring und zerschlissenen Jeans ein.
Der Asiat ging weiter.
»Bleib doch stehen, Väterchen«, sagte der Schnösel friedfertig. Seine Stimme passte zu seinem Äußeren, klang zart und manieriert.»Renn doch nicht so.«
Der Asiat deutete lächelnd ein Nicken an, blieb aber nicht stehen.
Der Schnösel fuchtelte mit dem Arm, als zöge er einen Strich zwischen sich und dem kleinen Mann. Die Luft erbebte, der Atem des kalten Winds fegte durch die Unterführung. Irgendwo auf dem Bahnhof weinten Kinder, winselte ein Hund.
Der kleine Mann blieb stehen und blickte nachdenklich nach vorn. Er spitzte die Lippen, pustete und schenkte dem vor ihm stehenden Mann ein schlaues Lächeln. Es klirrte leise, als ginge unsichtbares Glas zu Bruch. Das Gesicht des Schnösels verzerrte sich unter Schmerzen, er wich einen Schritt zurück.
»Bravo, Devona«, sagte die Frau, die hinter dem Asiaten stehen geblieben war.»Aber jetzt solltest du wirklich nichts überstürzen.«
»Ich hab’s eilig, und wie«, haspelte der kleine Mann hervor. Er schielte über die Schulter.»Möchtest du eine Melone, meine Schöne?«
Die Frau lächelte und sah den Asiaten an.»Kommst du mit uns mit, Verehrtester?«, fragte sie.»Wir setzen uns irgendwo gemütlich hin. Essen deine Melone, trinken Tee. Wir haben so lange auf dich gewartet, da ist es nicht lieb, gleich wieder wegzurennen.«
Die Miene des kleinen Mannes spiegelte angespannte Gedankenarbeit wider.»Gehen wir, gehen wir«, nickte er schließlich.
Sein erster Schritt haute den Lackaffen um. Als ob der Asiat einen unsichtbaren Schild vor sich hertrüge, eine Mauer, keine materielle, sondern eher aus tosendem Wind. Der Schnösel wurde über den Boden geschleift, die langen Haare breiteten sich aus, die Augen verengten sich, seiner Kehle entrang sich ein lautloser Schrei.
Der Punk wedelte mit der Hand - und purpurrote Lichtreflexe schlugen auf den kleinen Mann ein. Blendend helle, die sich nur schwer vom Handteller lösten, auf halber Strecke verblassten und den Rücken des Asiaten als kaum noch zu erkennendes Leuchten erreichten.
»Ai-ai-ai«, sagte der kleine Mann, ohne stehen zu bleiben. Er zuckte ein paarmal mit den Schulterblättern, als habe sich eine lästige Fliege auf seinem Rücken niedergelassen.
»Alissa!«, schrie der Punk auf, ohne sein nutzloses Tun aufzugeben. Seine Finger bewegten sich, knüllten die Luft zusammen, entrissen ihr Klumpen des purpurroten Lichts und schleuderten sie gegen den Asiaten.»Alissa!«
Die Frau neigte den Kopf, sah dem fortgehenden Asiaten hinterher. Leise flüsterte sie etwas, während sie mit der Hand über das Kleid fuhr - und in ihrer Hand tauchte wer weiß woher ein dünnes durchscheinendes Prisma auf.
Der kleine Mann beschleunigte den Schritt, hastete von links nach rechts, bog auf komische Weise den Kopf. Der Schnösel vor ihm wälzte sich immer noch, unterließ mittlerweile aber jeden Versuch zu schreien. Sein Gesicht schwamm in Blut, Arme und Beine waren gebrochen und gehorchten nicht, als ob er nicht drei Meter über den glatten Boden gerollt wäre, sondern von einem wahnsinnigen Sturm oder einem galoppierenden Pferd drei Kilometer durch steinige Steppe geschleift worden sei.
Die Frau betrachtete den kleinen Mann durch das Prisma.
Erst verlangsamte der Asiat nur den Schritt. Dann ächzte er auf und spreizte die Hände - die Melone zerbarst auf dem Marmorfußboden, seine Aktentasche schlug dumpf und schwer auf.
»Och«, sagte der Asiat, den die Frau einen Devona genannt hatte.»Och, och.«
Der kleine Mann sank in sich zusammen, begann sich bereits im Moment des Sturzes zu krümmen. Die Wangen fielen ihm ein, die Wangenbeine spitzten sich, die nunmehr greisenhaft dünnen Hände umspannte ein Netz von Adern. Das schwarze Haar bleichte zwar nicht aus, überzog sich aber mit grauem Staub und lichtete sich. Die Luft um ihm herum erbebte - unsichtbare heiße Ströme flossen auf Alissa zu.
»Was ich nicht gegeben habe, wird fortan mein sein«, flüsterte die Frau.»Alles, was dein ist, ist mein.«
Die Röte floss ihr so schnell ins Gesicht, wie der kleine Mann austrocknete. Mit schmatzenden Lippen flüsterte sie tonlose, seltsam klingende Worte. Der Punk verzog das Gesicht, ließ die Hand sinken - der letzte purpurrote Strahl schlug in den Boden ein, brachte den Stein zum Glühen.
»Ziemlich einfach«, sagte er.»Echt.«
»Der Chef war gar nicht zufrieden«, sagte die Frau, während sie das Prisma in den Falten ihres Kleides versteckte. Lächelte. Ihr Gesicht verströmte die Kraft und Energie, die einige Frauen nach stürmischem Geschlechtsverkehr zeigen.»Leicht, aber unser Kolja hat Pech gehabt.«
Der Punk nickte und betrachtete den reglosen Körper des langhaarigen Mannes. Besonderes Mitleid lag nicht in seinem stumpfen Blick, übrigens auch keine besondere Feindseligkeit.
»Kannst du laut sagen«, kommentierte er. Sicheren Schrittes trat er an die vertrocknete Leiche heran. Machte mit der Hand eine Bewegung darüber, worauf der Körper zu Staub zerfiel. Mit der nächsten Geste verwandelte der Punk die zerplatzte Melone in klebrigen Brei.
»Die Aktentasche«, befahl die Frau.»Überprüf die Tasche.«
Der Punk wedelte mit der Hand - das abgegriffene Kunstleder barst, die Aktentasche sprang auf wie eine Muschel unter dem Messer eines kundigen Tauchers. Der Blick des Punks ließ jedoch darauf schließen, dass sie nicht die erhoffte Perle enthielt. Zwei Paar Garnituren verwaschener Unterwäsche, eine billige Trainingshose aus Baumwolle, ein weißes Hemd, eine Polyethy-lentüte mit Gummilatschen, ein Plastikbecher mit koreanischer Fertig-Nudelsuppe und ein Brillenetui.
Der Punk vollführte noch ein paar Passes, ließ den Plastikbecher aufplatzen, die Kleidung an den Nähten zerreißen, das Etui sich öffnen. Fluchte.
»Er ist leer, Alissa! Völlig leer.«
In die Züge der Hexe schlich sich nach und nach Erstaunen.»Aber das ist doch der Devona, Stassik. Der Kurier hätte die Fracht niemandem anvertrauen können.«
»Hat er anscheinend aber doch«, entgegnete der
Punk, während er mit dem Fuß durch die Asche des Asiaten fuhr.»Hab ich dich nicht gewarnt, Alissa? Bei den Lichten muss man mit allem rechnen. Du hast die Verantwortung übernommen. Vielleicht bin ich ja nur ein schwacher Magier. Aber ich habe ein halbes Jahrhundert mehr Erfahrung als du.«
Alissa nickte. Die Verwirrung war bereits aus ihren Augen verschwunden. Ihre Hand huschte abermals über ihr Kleid, suchte das Prisma.»Ja«, stimmte sie sanft zu.»Du hast Recht, Stassik. Aber in fünfzig Jahren habe ich genauso viel Erfahrung wie du.«
Der Punk lachte auf, hockte sich neben die Leiche des langhaarigen Mannes und durchstöberte rasch die Taschen.»Glaubst du?«
»Ich bin mir sicher. Du hättest nicht auf deinem Standpunkt bestehen sollen, Stassik. Schließlich hatte ich vorgeschlagen, auch die anderen Mitreisenden zu kontrollieren.«
Der junge Mann drehte sich zu spät um, als in einem Dutzend unsichtbarer heißer Fäden das Leben aus seinem Körper zu weichen begann.
Das Oldsmobil war alt, gefiel mir aber gerade deshalb. Nur gegen die Hitze, diese Wahnsinnshitze der Straße, die sich seit Tagen aufgeheizt hatte, halfen selbst die offenen Fenster nichts. Hier brauchte man eine Klimaanlage.
Ilja teilte diese Ansicht offenbar. Er saß am Steuer, lenkte mit einer Hand, sah sich alle naslang um und unterhielt sich mal mit diesem, mal mit jenem. Ein Magier seines Ranges sah natürlich alle Wahrscheinlichkeiten etwa zehn Minuten voraus, weshalb es zu keinem Unfall kommen würde. Dennoch war mir ziemlich mulmig zumute.
»Ich wollte eine Klimaanlage einbauen«, sagte er in schuldbewusstem Ton zu Julja. Das Mädchen litt mehr als alle andern unter der Hitze, auf ihrem Gesicht leuchteten hässliche rote Flecken, ihre Augen blickten trübe. Als müsse sie sich übergeben.»Aber das würde den Wagen total verunstalten. Der ist dafür einfach nicht gemacht! Keine Klimaanlage, keine Handys, keine Bordcomputer!«
»Hmmh«, sagte Julja. Sie rang sich ein Lächeln ab. Gestern hatten wir Überstunden geschoben, niemand war vor fünf Uhr morgens ins Bett gekommen, und geschlafen hatten wir gleich im Büro. Natürlich war es eine Schweinerei, ein dreizehnjähriges Mädchen wie eine Erwachsene zu behandeln. Allerdings wollte sie selbst es so, gezwungen hatte sie niemand.
Swetlana, die vorn saß, blickte Julja besorgt an. Dann schnellte ihr Blick voller Missbilligung zu Semjon hinüber. Fast hätte sich der unerschütterliche Magier daraufhin an seiner Jawa verschluckt. Er inhalierte, und der durch das Auto wallende Zigarettenqualm verschwand in seinen Lungen. Dann schnippte er die Kippe aus dem Fenster. Mit der Jawa zollte er der allgemeinen Meinung im Grunde bereits Tribut, denn seit kurzem bevorzugte er Poljot und andere grauenvolle Tabaksorten.
»Schließt die Fenster«, bat Semjon.
Kurz darauf fiel die Temperatur im Auto deutlich. Ein leichter Geruch nach salzigem Meer hing in der Luft. Ich merkte sogar, dass es ein Meer bei Nacht war und in nicht allzu weiter Ferne lag, ein Ufer irgendwo auf der Krim. Jod, Algen, ein Hauch von Beifuß. Das Schwarze Meer. Koktebel.
»Koktebel?«, fragte ich.
»Jalta«, erwiderte Semjon lakonisch.»10. September 1972, etwa drei Uhr nachts. Nach einem leichten Sturm.«
Ilja schnalzte neidisch mit der Zunge.
»Alle Achtung!«, sagte er.»Und dieses Bouquet hast du bis heute nicht verbraucht?«
Julja blickte Semjon mit schuldbewusster Miene an. Die Klimakonservierung bereitete allen Magiern Schwierigkeiten, und das jetzt von Semjon offerierte Bouquet an Empfindungen hätte jedes gesellige Beisammensein bereichert.
»Vielen Dank, Semjon Pawlowitsch.«Aus irgendeinem Grund schüchterte er das Mädchen genauso ein wie der Chef, weshalb sie ihn immer mit Vor- und Vatersnamen ansprach.
»Nicht der Rede wert«, erwiderte Semjon gelassen.»Ich habe noch einen Taigaregen von 1913 in meiner Sammlung oder einen Taifun von ‘40, einen Frühlingsmorgen in Jurmala von ‘56 und vermutlich auch noch einen Winterabend in Gagry.«
Ilja lachte.»Einen Winterabend in Gagry - vergiss es. Aber der Taigaregen…«
»Den tausch ich nicht«, erteilte Semjon ihm sofort einen Dämpfer.»Ich kenne deine Sammlung, du hast nichts, was sich mit ihm messen könnte.«
»Aber wenn ich dir dafür zwei, nein, drei…«
»Ich schenk ihn dir«, schlug Semjon vor.
»Kommt gar nicht in Frage«, gab sich Ilja gekränkt und zerrte am Lenkrad.»Was sollte ich dir denn dafür zurückschenken?«
»Dann entkonserviere ich ihn.«
»Na, vielen Dank auch.«
Natürlich, er schmollte. Meiner Ansicht nach ließen sich die Fähigkeiten der beiden gut vergleichen, vielleicht war Ilja sogar ein wenig stärker. Dafür besaß Semjon ein Gespür für den Moment, der es wert war, magisch bewahrt zu werden. Außerdem vergeudete er seine Sammlung nicht in banalen Situationen.
Gewiss, unter bestimmten Gesichtspunkten wirkte die gerade von ihm vollbrachte Tat verschwenderisch: die letzte halbe Stunde Fahrt in der Hitze mit einem derart wertvollen Gebinde an Gefühlen erträglicher zu machen.
»Ja, ein Abend, wo man Schaschlik grillt, diesen Nektar müsste man atmen«, sagte Ilja. Mitunter kann er seltsam dickfällig sein. Julja spannte ihre Kräfte an.
»Ich erinner mich noch, wie ich einmal im Orient war«, sagte Semjon plötzlich.»Unser Hubschrauber… Kurz gesagt, wir gingen zu Fuß. Die technischen Kommunikationsmittel hatten den Geist aufgegeben, magische anzuwenden, wäre in etwa so gewesen, als laufe jemand in Harlem mit dem Transparent Schlagt die Nigger! herum. Wir also zu Fuß durch die Wüste von Hadramaut. Bis zu unserm Mann vor Ort war es nicht mehr weit, hundert Kilometer, vielleicht hundertzwanzig. Aber wir waren am Ende unserer Kräfte. Hatten kein Wasser mehr. Plötzlich sagt Aljoschka, ein guter Junge, der jetzt im Baltikum arbeitet: Ich kann einfach nicht mehr, Semjon Pawlowitsch, ich habe eine Frau und zwei Kinder zu Hause, ich will zurück. Dann legt er sich in den Sand und entkonserviert seine geheimen Vorräte. Er hatte einen Platzregen. Etwa zwanzig Minuten kübelt es. Wir haben uns satt getrunken, die Flaschen gefüllt, uns wieder aufgerappelt. Am liebsten hätte ich ihm die Fresse poliert, dass er früher nichts davon gesagt hatte, aber er tat mir Leid.«
Nach dieser langen Rede breitete sich im Wagen minutenlanges Schweigen aus. Selten gab Semjon die Ereignisse seines stürmischen Lebens so beredt wider.
Als Erster sagte Ilja etwas.»Und warum hast du deinen Taigaregen nicht spendiert?«
»Vergleich die beiden doch mal«, schnaubte Semjon.»Mein Regen aus der Kollektion stammt von 1913, der Frühlingsschauer kommt aus Moskau, hat nichts Besonderes an sich und stinkt obendrein nach Benzin. Und?«
»Alles klar.«
»Eben. Alles hat seine Zeit und seinen Ort. Der Abend, an den ich mich erinnert habe, war angenehm. Aber nicht herausragend. Passt zu deinem Klapperkasten.«
Swetlana lachte leise. Die leichte Anspannung, die im Auto gehangen hatte, verflüchtigte sich.
Die ganze Woche war die Nachtwache wie elektrisiert gewesen. Irgendwie passierte in Moskau nichts Besonderes, nur ganz normale Routinearbeit. Über der Stadt lastete eine Hitze, wie es sie noch nie im Juni gegeben hatte, und irgendwelche Zwischenfälle wurden kaum gemeldet. Das schmeckte weder den Lichten noch den Dunklen.
Rund vierundzwanzig Stunden lang hatten unsere Analytiker an einer Version gebastelt, wonach die überraschende Hitze auf die Vorbereitungen einer Aktion zurückgehe, die die Dunklen planten. Vermutlich untersuchte man parallel dazu in der Tagwache, ob die Lichten Magier nicht auf das Wetter eingewirkt hätten. Nachdem jedoch beide Seiten die natürlichen Gründe der klimatischen Eskapaden eingestehen mussten, blieb ihnen überhaupt nichts mehr zu tun.
Die Dunklen verhielten sich so still wie vom Regen geplagte Fliegen. Entgegen allen Vorhersagen der Ärzte sank die Zahl der Unfälle und natürlichen Todesfälle in der Stadt. Den Lichten stand der Sinn ebenfalls nicht nach Arbeit, die Magier stritten sich wegen Kleinigkeiten, auf die simpelsten Dokumente aus den Archiven musste man einen halben Tag warten, und sobald man die Analytiker um eine Wettervorhersage bat, polterten sie böse los:»Reichen euch vierzig Tage?«Boris Ignatjewitsch stromerte wie von Sinnen durchs Büro. Ungeachtet seiner orientalischen Vergangenheit und seiner Herkunft machte selbst ihm die Moskauer Variante der Hitze zu schaffen. Gestern Morgen, am Donnerstag, hatte er dann alle Mitarbeiter zusammengerufen, gemäß einer Anordnung der Wache zwei Freiwillige zu seiner Unterstützung benannt und den anderen befohlen, die Hauptstadt zu verlassen. Sollten sie irgendwohin fahren, auf die Malediven, nach Griechenland, dem Teufel in der Hölle einen Besuch abstatten - selbst da dürfte es angenehmer sein - oder auf eine Datscha außerhalb der Stadt fliehen. Vor Montagmittag wollte er niemanden im Büro sehen.
Der Chef hielt genau eine Minute inne, bis auf allen Gesichtern ein glückliches Lächeln lag, um dann hinzuzufügen, dieses unerwartete Glück müsse gut verdient sein. Durch eine Sonderschicht. Damit wir uns hinterher nicht der müßig verbrachten Tage zu schämen brauchten. Damit es bei den Strugazkis nicht umsonst hieße: Der Montag fängt am Samstag an, sollten wir, um die drei Tage Urlaub zu bekommen, alle noch anstehende Routinearbeit in der verbleibenden Zeit erledigen.
Was wir auch taten. Einige arbeiteten fast die ganze Nacht durch. Wir überprüften die Dunklen, die in der Stadt geblieben waren und unter besonderer Kontrolle standen: Vampire, Tiermenschen, Inkubi und Sukkubi, aktive Hexen sowie andere ruhelose Zeitgenossen aus den niederen Rängen. Alles war in Ordnung. Die Vampire gierten momentan nicht nach heißem Blut, sondern kaltem Bier. Die Hexen plagten sich nicht damit, ihren Nachbarn Schaden zuzufügen, sondern einen leichten Regenschauer über Moskau herbeizuzaubern.
Dafür kamen wir jetzt aus Moskau raus. Natürlich nicht auf die Malediven, da hatte der Chef die Großzügigkeit unserer Buchhaltung etwas überschätzt. Aber auch zwei, drei Tage auf dem Lande haben ihren Reiz. Die armen Freiwilligen, die beim Chef in der Hauptstadt geblieben waren, um ihn zu hüten und zu bewachen.
»Ich muss zu Hause anrufen«, sagte Julja. Sie war sehr viel munterer geworden, seit Semjon die im Auto herrschende Hitze durch Meeresfrische ersetzt hatte.»Gib mir mal das Handy, Sweta.«
Ich genoss die Kühle ebenfalls. Schaute auf die Autos, die wir überholten: In der Regel waren die Fenster heruntergelassen, und man blickte voller Neid auf uns, in dem irrigen Glauben, das alte Automobil sei mit einer tüchtigen Klimaanlage ausgestattet.
»Wir müssen bald abbiegen«, sagte ich zu Ilja.
»Ich weiß. Ich kenn die Strecke.«
»Pst!«, flüsterte Julja mit furchteinflößender Stimme. Und dann flötete sie ins Telefon:»Mamotschka, ich bin’s! Ja, wir sind schon da. Natürlich ist es schön! Es gibt einen See, nein, einen flachen. Mamotschka, ich kann nur kurz sprechen, Swetas Vater hat mir sein Handy geliehen. Nein, sonst niemand. Sweta? Hier.«
Sweta seufzte und nahm dem Mädchen das Handy ab. Finster blickte sie mich an, während ich versuchte, ernst dreinzublicken.
»Guten Tag, Tante Natascha«, sagte Sweta mit zarter Kinderstimme.»Ja, wir freuen uns sehr. Ja. Nein, mit den Erwachsenen. Mama ist gerade nicht da, soll ich sie holen? Ja, das sag ich ihr. Ganz bestimmt. Auf Wiedersehen.«
Sie beendete das Gespräch.
»Und was, mein Mädchen, passiert, wenn deine Mutter die richtige Sweta fragt, wie euer Wochenende war?«, wollte Sweta wissen.
»Dann wird Sweta sagen, dass es schön war.«
Swetlana stieß scharf die Luft aus und sah Semjon an, als erhoffe sie sich von ihm Unterstützung.
»Der Einsatz magischer Fähigkeiten für persönliche Ziele kann unvorhersehbare Folgen haben«, dozierte Semjon in amtlichem Ton.»Ich kann mich noch erinnern, wie…«
»Was denn für magische Fähigkeiten?«, wunderte sich Julja aufrichtig.»Ich habe ihr gesagt, dass ich mit Freunden einen draufmachen möchte, und sie gebeten mitzuspielen. Erst hat Sweta zwar gestöhnt, dann aber natürlich zugestimmt.«
Hinterm Steuer kicherte Ilja.
»Das musste ich sagen«, empörte sich Julja, die nicht verstand, was daran so komisch sein sollte.»So machen die Menschenkinder das schließlich. Warum lacht ihr denn bloß alle so? Na?«
Bei jedem von uns Wächtern nimmt die Arbeit viel Platz im Leben ein. Nicht, weil wir begeisterte Arbeitstiere wären - welcher klar denkende Mensch zieht schon die Arbeit der Freizeit vor? Auch nicht, weil unsere Arbeit so außerordentlich interessant ist, größtenteils langweilen wir uns auf Streife oder sitzen uns im Büro den Hosenboden durch. Nein, es fehlt uns einfach an Leuten. Die Tagwache schließt die Lücken weitaus schneller, jeder Dunkle drängt sich nach der Möglichkeit, Macht auszuüben. Bei uns dagegen sieht die Situation ganz anders aus.
Trotzdem pflegt jeder von uns neben der Arbeit sein eigenes kleines Leben, das wir mit niemandem teilen: nicht mit dem Licht, nicht mit dem Dunkel. Das gehört nur uns. Dieses kleine bisschen Leben, das wir zwar nicht verstecken, aber auch nicht zur Schau stellen und das wir aus unserem früheren Menschendasein mitgebracht haben.
Der eine geht auf Reisen, sobald sich ihm nur die kleinste Gelegenheit dazu bietet. Ilja zum Beispiel bevorzugt normale Touren, während Semjon trampt. Er hat schon mal die ganze Strecke von Moskau nach Wladiwostok ohne eine Kopeke in Rekordzeit hinter sich gebracht, ließ sich danach aber dennoch nicht bei der Liga der Autostopper registrieren, weil er unterwegs zweimal auf seine magischen Fähigkeiten zurückgegriffen hatte.
Ignat - und nicht nur er allein - versteht unter Erholung nichts anderes als sexuelle Abenteuer. Diese Phase machen fast alle durch, denn das Leben bietet einem Anderen weit mehr als den Menschen. Dass die Menschen sich, wenn auch unbewusst, stark zu den Anderen hingezogen fühlen - selbst wenn diese darauf keinen Wert legen -, ist eine bekannte Tatsache.
Viele von uns sammeln etwas. Angefangen von harmlosen Sachen wie Taschenmessern, Schlüsselanhängern, Briefmarken und Feuerzeugen bis hin zu Wettern, Gerüchen, Auren und Zaubersprüchen ist bei uns alles vertreten. Ich selbst habe mal Modellautos gesammelt, ein Heidengeld für seltene Exemplare ausgegeben, die nur für ein paar Tausend Idioten überhaupt einen Wert darstellten. Jetzt fristet die ganze Kollektion ihr Dasein in zwei Pappkartons. Ich sollte mal mit ihnen zu einem Spielplatz gehen und sie dort im Sandkasten ausschütten, zur Freude der Kleinen.
Die Zahl von Jägern und Anglern ist ebenfalls hoch. Igor und Garik betreiben extremes Fallschirmspringen. Galja, ein sehr liebes Mädchen und unsere überflüssige Programmiererin, züchtet Bonsais. Kurzum, wir greifen auf das ganze reiche Angebot an Vergnügungen zurück, das die Menschheit entwickelt hat.
Nicht den blassesten Schimmer hatte ich jedoch, welchem Hobby Tigerjunges, zu der wir jetzt fuhren, nachging. Das interessierte mich fast genauso stark wie die Möglichkeit, aus dem Backofen der Stadt herauszukommen. Normalerweise kriegst du sofort mit, welchen kleinen Tick jemand hat, wenn du einmal bei ihm zu Hause gewesen bist.
»Dauert es noch lange?«, fragte Julja mit nörgelndem Unterton. Wir hatten die Hauptstraße bereits verlassen und zuckelten seit fünf Kilometern einen Feldweg entlang, vorbei an einer kleinen Datschensiedlung und einem Flüsschen.
»Wir sind fast da«, antwortete ich, nachdem ich einen Blick auf die Wegbeschreibung geworfen hatte, die uns Tigerjunges gegeben hatte.
»Genauer gesagt, wir sind da«, meinte Ilja, riss das Auto herum und fuhr direkt auf ein paar Bäume zu. Julja schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht. Swetlana reagierte gelassener, streckte aber trotzdem die Hände nach vorn, weil sie einen Aufprall erwartete.
Das Auto donnerte durch dichtes Gesträuch und undurchdringlichen Windbruch direkt auf die als dichte Mauer stehenden Bäume zu. Zu einem Zusammenstoß kam es natürlich nicht. Wir sprangen durch das Trugbild und fanden uns auf einer vorzüglichen asphaltierten Straße wieder. Vor uns funkelte die Spiegelfläche eines kleinen Sees, an dessen Ufer ein einstöckiges Ziegelhaus stand, von einem hohen Zaun umgeben.
»Was mich an Tiermenschen wundert«, sagte Swetlana,»ist ihr Bedürfnis, sich abzuschotten. Nicht nur, dass sie sich mit einem Trugbild tarnt, sie umgibt sich auch noch mit einem Zaun.«
»Tigerjunges ist keine Tierfrau!«, widersprach Julja.»Sie ist eine Verwandlungsmagierin!«
»Das ist dasselbe«, sagte Sweta sanft.
Julja sah Semjon an, von dem sie sich offenbar Hilfe erhoffte.
»Im Grunde hat Sweta Recht«, seufzte der Magier.»Die hochspezialisierten Kampfmagier sind eigentlich Tiermenschen. Nur mit einem anderen Vorzeichen. Wenn Tigerjunges in anderer Verfassung gewesen wäre, als sie zum ersten Mal ins Zwielicht eingetreten ist, wäre sie zu einer Dunklen, einer Tierfrau geworden. Es gibt nur sehr wenig Menschen, bei denen all das vorab festgelegt ist. In der Regel findet ein Kampf statt. Die Vorbereitung auf die Initiierung.«
»Und wie war es bei mir?«, fragte Julja.
»Das hab ich dir doch schon erzählt«, brummte Semjon.»Ziemlich einfach.«
»Eine leichte Remoralisation der Lehrkräfte und Eltern«, sagte Ilja aufgeräumt und parkte das Auto am Eingang.»Und schon begegnete das kleine Mädchen seiner Umgebung mit Liebe und Güte.«
»Ilja!«, wies Semjon ihn zurecht. Er war Juljas Mentor, der sich als solcher ziemlich träge im Hintergrund hielt und kaum in die Entwicklung der jungen Zauberin einmischte. Doch dieser überflüssige Kommentar Iljas missfiel ihm nun doch.
Julja war ein talentiertes Mädchen. Die Wache setzte ernstlich Hoffnung in sie. Das hieß aber längst nicht, dass man sie in dem Tempo durch das Labyrinth moralischer Kniffligkeiten jagte, wie das bei Swetlana geschah, der zukünftigen Großen Zauberin.
Vermutlich hatten Sweta und ich diesen Gedanken gleichzeitig gehabt - wir schauten einander an. Schauten uns an und wandten gleichzeitig den Blick ab.
Auf uns drückte eine unsichtbare Mauer, drängte uns in unterschiedliche Richtungen. Ich würde für alle Zeiten ein Magier dritten Grades sein. Swetlana würde über mich hinauswachsen, schon in kurzer - und nach den Plänen der Wache sehr kurzer - Zeit zu einer Zauberin außerhalb jeder Kategorie werden.
Dann blieben uns nur noch ein freundschaftlicher Händedruck, wenn wir uns begegneten, und Postkarten zum Geburtstag und zu Weihnachten.
»Schlafen die da alle, oder was?«, zeterte Ilja, der sich mit solchen Problemen nie lange aufhielt. Er lehnte sich aus dem Fenster - sofort wehte ins Auto heiße, wenn auch saubere Luft. Fuchtelte mit der Hand, blickte ins Objektiv der Kamera, die über dem Tor angebracht war. Hupte.
Langsam ging das Tor auf.
»Schon besser«, schnaubte der Magier, während er das Auto auf den Hof fuhr.
Das Grundstück war groß und dicht mit Bäumen bepflanzt. Erstaunlich, wie die Villa errichtet werden konnte, ohne die gewaltigen Kiefern und Fichten zu beschädigen. Abgesehen von ein paar Blumen um einen abgestellten Springbrunnen herum gab es hier natürlich keine Pflanzenbeete. Auf einem betonierten Parkplatz vor dem Haus standen fünf Autos. Ich erkannte den alten Niwa, den Danila aus Patriotismus fuhr, und Olgas Sportwagen - wo war sie mit dem langgekommen, über freies Feld? Zwischen den beiden stand ein schäbiger Lieferwagen, den Tolik benutzte, sowie zwei weitere Autos, die ich schon vor dem Büro gesehen hatte, von denen ich aber nicht wusste, wem sie gehörten.
»Die haben nicht auf uns gewartet«, empörte sich Ilja.»Hier geht’s schon heiß her, und alles amüsiert sich, während die besten Leute der Wache sich über die Dorfstraßen quälen.«
Er stellte den Motor ab, und im selben Augenblick rief Julja begeistert aus:»Tigerjunges!«
Indem sie ohne weiteres über mich hinübersprang, öffnete sie die Tür und hüpfte aus dem Auto.
Semjon fluchte kurz und folgte ihr mit einer unmerklichen Bewegung. Gerade noch rechtzeitig.
Wo sich die Hunde versteckt hatten, war mir ein Rätsel. Auf alle Fälle hatten sie sich nicht demaskiert, bis Julja das Auto verließ. Sobald ihre Beine den Boden berührten, stürmten jedoch von allen Seiten lautlos strohgelbe Schatten auf sie ein.
Das Mädchen heulte auf. Ihre Fähigkeiten hätten gereicht, um mit einem Wolfsrudel fertig zu werden, von fünf oder sechs Hunden ganz zu schweigen. Bisher hatte sie sich allerdings noch nie in einer richtigen Auseinandersetzung bewähren müssen, sodass sie jetzt völlig den Kopf verlor. Ehrlich gesagt, hatte auch ich diesen Überfall nicht erwartet. Nicht hier. Und schon gar nicht dieser Art. Hunde greifen normalerweise keine Anderen an. Vor den Dunklen haben sie Angst. Die Lichten lieben sie. Man muss Tiere wirklich gut dressieren, um in ihnen die angeborene Furcht vor den zweibeinigen Quellen von Magie zu ersticken.
Swetlana, Ilja und ich stürzten hinaus. Aber Semjon kam uns zuvor. Mit einer Hand packte er das Mädchen, mit der anderen zog er in der Luft einen Strich. Ich glaubte, er würde Abschreckungsmagie einsetzen, ins Zwielicht eintreten oder die Hunde zu Asche verbrennen. In der Regel verfällt man im Reflex auf die aller-einfachsten Zauber.
Doch Semjon wandte den»Freeze«an, das Einfrieren in der Zeit. Zwei Hunde traf es mitten in der Luft: Die in ein blaues Leuchten gehüllten Körper blieben über dem Boden hängen, die schmalen Schnauzen mit den gefletschten Zähnen vorgestreckt. Geifertropfen fielen als schimmernder hellblauer Eishagel von ihren Fangzähnen.
Die drei Hunde, die am Boden eingefroren waren, sahen nicht weniger beeindruckend aus.
Tigerjunges kam bereits auf uns zugerannt. Mit bleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen. Eine Sekunde lang sah sie Julja an: Das Mädchen kreischte immer noch, wenn auch schon etwas leiser, nur noch aus Beharrungsvermögen.
»Ist jemand verletzt?«, brachte sie schließlich hervor.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht«, grummelte Ilja und senkte den magischen Stab.»Warum züchtest du diese Biester?«
»Sie hätten niemandem etwas getan!«, sagte Tigerjunges schuldbewusst.
»Nicht?«Semjon setzte Julja, die er nach wie vor unterm Arm hielt, auf dem Boden ab. Nachdenklich fuhr er mit dem Finger über die gebleckten Zähne des
in der Luft hängenden Hundes. Das elastische Band des Gefrierzaubers federte unter seine Hand.
»Ich schwöre es!«Tigerjunges presste die Hand auf die Brust.»Jungs, Sweta, Julenka, es tut mir Leid. Ich konnte sie nicht mehr aufhalten. Die Hunde sind darauf abgerichtet, Unbekannte zu packen und festzuhalten.«
»Sogar Andere?«
»Ja.«
»Sogar Lichte?«In Semjons Stimme schwang ungekünstelter Respekt mit.
Tigerjunges schlug die Augen nieder und nickte.
Julja ging auf sie zu, um sie zu umarmen.»Ich hatte keine Angst«, sagte sie relativ ruhig.»Sie haben mich nur verwirrt.«
»Nur gut, dass es mir genauso ergangen ist«, bemerkte Ilja düster, während er die Waffe wegsteckte.»Gegrilltes Hundefleisch ist etwas zu exotisch. Tigger, deine Köter sollten mich doch kennen!«
»Dich hätten sie auch nicht angerührt.«
Langsam löste sich die Anspannung auf. Etwas Schlimmes wäre ohnehin nicht passiert, wir können einander schließlich heilen. Bloß das Picknick wäre dann im Eimer gewesen.
»Verzeiht mir«, sagte Tigerjunges noch einmal. Und bedachte uns alle mit einem bittenden Blick.
»Sag mal, wozu brauchst du die denn?«Sweta blickte auf die Hunde.»Erklär mir doch mal, wozu? Schließlich reichen deine Fähigkeiten, um mit einem Trupp Green Barets fertig zu werden. Wozu da diese Rottweiler?«
»Das sind keine Rottweiler, sondern Staffordshire-Terrier.«
»Was für ein Unterschied!«
»Sie haben schon mal Räuber gefasst. Ich bin ja nur zwei Tage pro Woche hier, bleibe häufig in der Stadt.«
Die Erklärung vermochte nicht recht zu überzeugen. Ein einfacher Abschreckungszauber - und kein Mensch käme dem Grundstück zu nahe. Aber noch bevor jemand das sagen konnte, entwaffnete Tigerjunges uns.»Das entspricht meiner Natur.«
»Bleiben die Hunde lange so hängen?«, fragte Julja, die sich noch immer an die junge Frau schmiegte.»Ich möchte mich mit ihnen anfreunden. Ansonsten behalte ich einen latenten psychischen Komplex zurück, der sich unweigerlich auf meine Persönlichkeit und meine sexuellen Vorlieben auswirken wird.«
Semjon schnaubte. Mit ihrer Äußerung - wobei interessant gewesen wäre, wie viel Aufrichtigkeit und wie viel Berechnung sie enthielt - hatte Julja den Konflikt beigelegt.
»Am Abend sind sie wieder munter. Bittest du uns herein, Hausherrin?«
Wir ließen die Hunde um das Auto herum stehen und hängen und gingen zum Haus.
»Du hast es aber schön, Tigerjunges!«, sagte Julja. Mittlerweile ignorierte sie uns schlichtweg und klebte nur noch an der jungen Frau. Die Zauberin schien ihr großes Idol zu sein, der sie alles nachsah, selbst die allzu eifrigen Hunde.
Warum idealisiert man immer die unerreichbaren Fähigkeiten?
Julja ist eine vorzügliche Analytikerin, die in der Lage ist, die Realitätsfäden zu entwirren, die verborgenen magischen Gründe von anscheinend ganz alltäglichen Ereignissen aufzudecken. Sie ist klug, ihre Abteilung vergöttert sie, liebt in ihr nicht nur das kleine Mädchen, sondern schätzt sie auch als Kampfgefährtin, als wertvolle und zuweilen unersetzliche Mitarbeiterin. Aber ihr Idol ist Tigerjunges, die Tierfrau, die Kampfmagierin. Weder eifert sie der guten alten Polina Wassiljewna nach, die in der analytischen Abteilung noch eine halbe Stelle hat, noch verliebt sie sich in den Abteilungsleiter Edik, einen imposanten älteren Schwerenöter.
Nein, sie wählt sich Tigerjunges zum Idol.
Ich pfiff irgendwas vor mich hin, während ich den Schluss der Prozession bildete. Fing Swetlanas Blick auf und schüttelte leicht den Kopf. Alles war in Ordnung. Vor uns lag ein Wochenende voller Müßiggang. Ohne Dunkle und Lichte, ohne Intrigen, ohne Konfrontationen. Nur im See baden, in der Sonne liegen, Schaschlik essen, Rotwein trinken. Und abends ins Dampfbad. So eine Villa dürfte ein schönes Dampfbad haben. Danach würden Semjon und ich uns das eine oder andere Fläschchen Wodka schnappen, ein Glas mit eingelegten Pilzen, uns ein wenig von den anderen absondern und uns bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, dabei die Sterne angucken und philosophische Gespräche über erhabene Themen führen.
Wunderbar.
Ich möchte ein Mensch sein. Wenigstens einen Tag.
Semjon blieb stehen und nickte mir zu.»Wir brauchen zwei Flaschen«, sagte er.»Oder drei. Falls noch jemand dazukommt.«
Nicht, dass mich das wunderte. Geschweige denn ärgerte. Er hatte nicht meine Gedanken gelesen, sondern besaß einfach eine weitaus größere Lebenserfahrung.
»Abgemacht«, stimmte ich zu. Swetlana schielte abermals misstrauisch zu mir herüber, schwieg aber.
»Für dich ist es einfacher«, fügte Semjon hinzu.»Mir gelingt es nur sehr selten, ein Mensch zu sein.«
»Ist das denn nötig?«, fragte Tigerjunges, die bereits an der Haustür stand.
Semjon zuckte mit den Achseln.»Nein, natürlich nicht. Aber ich würd’s gern.«
Wir betraten die Villa.
Zwanzig Gäste verkraftete selbst dieses Haus nicht. Wenn wir Menschen wären, sähe es anders aus. Aber so machten wir zu viel Lärm. Man nehme einmal zwei Dutzend Kinder, die zuvor ein paar Monate lang die reinsten Musterschüler abgegeben haben, stelle ihnen ein umfangreiches Arsenal an Spielsachen zur Verfügung und lasse sie alles tun, was sie wollen - dann betrachte man sich das Ergebnis. Wahrscheinlich hielten nur Sweta und ich uns etwas abseits der lärmenden Heiterkeit. Wir hatten uns von einem kleinen Buffet je ein Glas Wein genommen und uns dann auf das kleine Ledersofa in einer Ecke des Wohnzimmers gesetzt.
Semjon und Ilja beharkten sich bereits wieder in einem magischen Duell. Das sie sehr gepflegt, friedlich und für das Publikum in anfänglich sehr angenehmer Weise austrugen. Wahrscheinlich hatte Semjon seinen Freund im Auto bei der Ehre gepackt: Jetzt veränderten sie abwechselnd im Wohnzimmer das Wetter. Wir hatten bereits den Winter in einem Wald bei Moskau, einen Herbstnebel und den Sommer in Spanien hinter uns. Regen und Schauer hatte Tigerjunges strikt verboten, aber auch so hegten die beiden Magier nicht die Absicht, die Naturgewalten zu entfesseln. Offensichtlich hatten sie sich bei der Klimaveränderung gewisse Schranken auferlegt, eiferten nicht nur darum, wer die seltensten Naturmomente aufbewahrt hatte, sondern auch darum, wie angemessen sie der Situation waren.
Garik, Farid und Danila spielten Karten. Mit ganz normalen unmanipulierten Karten, nur die Luft über dem Tisch funkelte infolge der Magie auf. Sie nutzten alle zur Verfügung stehenden Formen der magischen Falschspielerei und des Schutzes gegen selbige. Insofern war gar nicht wichtig, welche Karten man bekam und welche man später dazunehmen durfte.
An der offenen Tür stand Ignat, umgeben von den Mädchen aus der wissenschaftlichen Abteilung, denen sich auch unsere erbärmlichen Programmiererinnen angeschlossen hatten. Anscheinend hatte unser Erotomane eine Niederlage an der Liebesfront hinnehmen müssen und leckte sich jetzt in kleinem Kreis die Wunden.
»Anton«, fragte Sweta halblaut,»was glaubst du, ist das alles echt?«
»Was genau?«
»Die Ausgelassenheit. Du weißt doch noch, was Semjon gesagt hat?«
Ich zuckte mit den Schultern.»Dass wir noch einmal über diese Fragen sprechen, wenn wir hundert Jahre alt sind? Mir geht es gut. Einfach gut. Weil ich nirgends hinlaufen, mir über nichts den Kopf zerbrechen muss, weil die Wachen die Zungen rausstrecken und sich in den Schatten gelegt haben.«
»Mir geht es auch gut«, stimmte Swetlana zu.»Aber wir sind nur zu viert, nur vier junge oder fast junge. Julja, Tigerjunges, du und ich. Was wird mit uns in hundert Jahren sein? In dreihundert?«
»Das sehen wir dann.«
»Anton, du musst das verstehen.«Sweta berührte sanft meine Hand.»Ich bin sehr stolz darauf, dass ich in die Wache eingetreten bin. Bin glücklich, dass meine Mutter wieder gesund ist. Mein Leben ist jetzt besser, es wäre idiotisch, das abzustreiten. Ich verstehe ja sogar, warum dich der Chef hat diese Erfahrung machen lassen…«
»Bitte nicht, Sweta.«Ich ergriff ihre Hand.»Sogar ich habe das begriffen, auch wenn es mir schwerer fiel. Wir müssen nicht mehr darüber reden.«
»Das will ich auch gar nicht.«Sweta trank ihren Wein und stellte das leere Glas ab.»Anton, was ich meine, ist, dass ich keine Freude sehe.«
»Wo?«Mitunter habe ich eine ziemlich lange Leitung.
»Hier. Bei der Nachtwache. In unserem Freundeskreis. Jeden Tag fechten wir irgendeine Schlacht aus. Mal eine große, mal eine kleine. Mit durchgedrehten Tiermenschen, mit Dunklen Magiern, mit allen Kräften des Dunkels zugleich. Wir spannen unsere Kräfte an, recken das Kinn vor, reißen die Augen auf, sind bereit, uns kopfüber in ein Feuergefecht zu stürzen oder uns mit dem nackten Hintern auf einen Igel zu setzen.«
Ich schnaubte vergnügt.»Was soll denn daran schlecht sein, Sweta? Ja, wir sind Soldaten. Alle bis auf den Letzten, von Julja bis zu Geser. Krieg ist keine lustige Sache, sicher. Aber wenn wir zurückweichen…«
»Was dann?«, antwortete Sweta mit einer Frage.»Kommt dann die Apokalypse? Seit Jahrtausenden kämpfen die Kräfte des Dunkels und des Lichts gegeneinander. Gehen sich an die Gurgel, hetzen ihre Menschenarmeen aufeinander, alles um der großen Ziele wegen. Sind die Menschen seitdem denn wirklich nicht besser geworden, Anton?«
»Doch, das sind sie.«
»Seit der Zeit, da die Wachen ihre Arbeit aufgenommen haben? Anton, mein Lieber, du hast mir vieles erzählt, und du bist nicht der Einzige gewesen. Dass der entscheidende Kampf um die Seelen der Menschen geführt wird, dass wir Gemetzel en masse verhindern. Vielleicht tun wir das ja. Die Menschen bringen sich selbst gegenseitig um. Viel stärker als vor zweihundert Jahren.«
»Willst du damit sagen, dass unsere Arbeit schadet?«
»Nein.«Müde schüttelte Sweta den Kopf.»Das will ich nicht. So arrogant bin ich nicht. Ich will nur sagen, dass wir vielleicht in der Tat… das Licht sind. Nur… In der Stadt gibt es jetzt nachgemachte Weihnachtsspielsachen. Sie sehen aus wie die echten, aber man hat keine Freude an ihnen.«
Sie brachte den kurzen Witz mit völlig ernster Stimme vor, ohne den Ton zu ändern. Sie sah mir in die Augen.»Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Sicherlich. Die Dunklen richten jetzt weniger Böses an«, fuhr Swetlana fort.»Das sind unsere Kompromisse, eine gute Handlung für eine böse Handlung, die Lizenzen zum Mord und zur Heilung lassen sich rechtfertigen, das glaube ich gern. Die Dunklen richten weniger Böses an als früher, und wir richten von unserer Bestimmung her nichts Böses an. Und die Menschen?«
»Was haben die Menschen damit zu tun?«
»Aber um sie geht es doch! Wir verteidigen sie. Uneigennützig und unermüdlich. Aber warum geht es ihnen dann nicht besser? Sie übernehmen von sich aus die Arbeit des Dunkels. Warum? Haben wir womöglich irgendwas verloren, Anton? Jenen Glauben, mit dem Lichte Magier Armeen in den Tod schickten, aber auch selbst in den vordersten Reihen kämpften? Die Fähigkeit, nicht nur zu verteidigen, sondern auch Freude zu spenden? Was nützen starke Mauern, wenn es die Mauern eines Gefängnisses sind? Die Menschen haben die richtige Magie vergessen, die Menschen glauben nicht an das Dunkel, aber auch nicht an das Licht! Anton, wir sind Soldaten. Richtig! Aber eine Armee liebt man nur, wenn Krieg herrscht.«
»Es herrscht Krieg.«
»Wer weiß denn das?«
»Wir sind vermutlich nicht ganz Soldaten«, räumte ich ein. Von der eigenen, lang gehegten Position abzulassen ist immer unangenehm, aber ein anderer Ausweg blieb mir nicht.»Sondern eher Husaren. Tram, pam, pam…«
»Die Husaren konnten lachen. Wir haben das schon fast verlernt.«
»Dann sag mir, was wir machen sollen.«Plötzlich begriff ich, dass der Tag, der so schön zu werden versprochen hatte, den Bach hinunterging, in eine dunkle, stinkende Schlucht fiel, in der sich alter Müll türmte.»Sag’s mir! Du bist eine Große Zauberin, wirst es zumindest bald sein. Der General in unserem Krieg. Während ich nur ein einfacher Leutnant bin. Gib mir einen Befehl, und zwar den richtigen. Sag, was soll ich tun?«
Erst in dem Moment fiel mir auf, dass sich im Wohnzimmer Stille herabgesenkt hatte, dass alle uns zuhörten. Aber das war mir schon völlig egal.
»Sagst du, ich soll hinausgehen und Dunkle umbringen? Dann geh ich. Das ist nicht meine Stärke, aber ich werde mir alle Mühe geben! Sagst du, ich soll lachen und den Menschen Gutes bringen? Dann tu ich das. Nur wer wird dann für das Böse einstehen, dem ich die Bahn breche? Gut und böse, Licht und Dunkel, ja, wir wiederholen diese Worte immer wieder, verwischen ihren Sinn, tragen sie wie Banner vor uns her und lassen sie dann in Wind und Regen verfaulen. Dann gib mir ein neues Wort! Gib mir ein neues Banner! Sag mir, wohin ich gehen und was ich tun soll!«
Ihre Lippen zitterten. Ich stockte, aber es war schon zu spät.
Swetlana weinte, die Hände vors Gesicht geschlagen.
Warum hatte ich das getan?
Oder hatten wir tatsächlich verlernt, einander anzulächeln?
Selbst wenn ich hundertmal Recht hatte, aber…
Was ist meine Wahrheit wert, wenn ich bereit bin,
die ganze Welt zu verteidigen, aber nicht diejenigen, die mir nahe stehen? Wenn ich den Hass bezwinge, aber die Liebe nicht mehr zulassen kann?
Ich sprang auf, umarmte Swetlana, zog sie aus dem Wohnzimmer. Die Magier blieben stehen, wandten den Blick ab. Vielleicht hatten sie eine solche Szene schon oft gesehen. Vielleicht verstanden sie auch alles.
»Anton.«Völlig lautlos war Tigerjunges aufgetaucht, stieß gegen irgendeine Tür, öffnete sie. Sah mich mit einer Mischung aus Vorwurf und unvermutetem Verständnis an. Und ließ uns beide allein.
Eine Weile standen wir reglos da. Swetlana weinte leise, vergrub den Kopf an meiner Schulter, während ich abwartete. Zu sagen gab es nichts mehr. Ich war schon mit allem herausgeplatzt, was mir in den Sinn gekommen war.
»Ich werde es versuchen.«
Das hatte ich nicht erwartet. Alles andere: Beleidigungen, einen Gegenausfall, Vorwürfe - aber nicht das.
Swetlana nahm die Hände vom tränenfeuchten Gesicht. Schüttelte lächelnd den Kopf.»Du hast Recht, Antoschka. Völlig Recht. Ich beklage und beschwere mich bisher nur. Jammere wie ein Kind, verstehe nichts. Dabei stupst man mich mit der Nase in den Grießbrei, erlaubt mir, mit Feuer zu spielen, und wartet ab, wartet, bis ich reifer bin. Dann muss das alles wohl so sein. Ich werde es versuchen. Ich gebe dir ein neues Banner.«
»Sweta…«
»Du hast Recht«, unterbrach sie mich.»Aber ein bisschen habe ich auch Recht. Nur nicht darin, dass ich
mich vor den anderen so habe gehen lassen. Sie amüsieren sich so gut sie können. Genauso wie sie sich so gut sie können schlagen. Wir haben jetzt ein paar freie Tage, die sollten wir den anderen nicht verderben. Abgemacht?«
Erneut spürte ich die Mauer. Die unsichtbare Mauer, die immer zwischen mir und Geser stehen wird, zwischen mir und den Leuten von der höchsten Führungsebene.
Jene Mauer, die die Zeit zwischen uns errichtet. Heute habe ich sie eigenhändig um ein paar Reihen kalter Kristallsteine weiter hochgezogen.
»Verzeih mir, Sweta«, flüsterte ich.»Verzeih mir.«
»Vergessen wir das«, sagte sie fest entschlossen.»Lass uns nicht mehr daran denken. Noch können wir es vergessen.«
Schließlich sahen wir uns um.
»Das Arbeitszimmer?«, vermutete Sweta.
Die Bücherschränke aus dunkler Eiche, die Bände hinter dunklem Glas. Ein beeindruckender Schreibtisch, auf dem ein Computer stand.
»Ja.«
»Aber Tigerjunges lebt doch allein, oder?«
»Ich weiß nicht.«Ich schüttelte den Kopf.»Wir fragen einander nicht aus.«
»Ich glaub schon, dass sie allein lebt. Zumindest jetzt.«Swetlana holte ein Taschentuch heraus und tupfte sich vorsichtig die Tränen weg.»Sie hat ein schönes Haus. Gehen wir, sonst machen sich die anderen noch Sorgen.«
Ich schüttelte den Kopf.»Sie werden sicherlich spü-
ren, dass wir uns nicht streiten.«
»Nein, das können sie nicht. Hier sind alle Zimmer abgeschirmt, sie werden nichts mitbekommen.«
Indem ich durchs Zwielicht spähte, bemerkte auch ich das in den Wänden verborgene Flimmern.»Jetzt sehe ich es. Du wirst mit jedem Tag stärker.«
Swetlana lächelte, ein wenig angespannt noch, aber stolz.»Komisch«, sagte sie.»Warum baut man Barrieren ein, wenn man allein lebt?«
»Aber warum sollte man sie aufstellen, wenn man nicht allein lebt?«, fragte ich. Halblaut, um keine Antwort herauszufordern. Und Swetlana gab auch keine.
Wir gingen aus dem Arbeitszimmer zurück ins Wohnzimmer.
Es herrschte zwar nicht gerade Friedhofsstimmung, aber viel fehlte nicht.
Wessen Werk das wohl war? Semjons oder Iljas? Im Zimmer hing eine nach Moor riechende Feuchtigkeit. Ignat hatte Lena im Arm und schaute sehnsüchtig auf die anderen. Er liebte Heiterkeit, in allen ihren Formen, jeder Streit und jede Anspannung trieben ihm ein Messer ins Herz. Die Kartenspieler starrten auf eine einzige Karte, die auf dem Tisch lag und unter ihren Blicken erbebte, sich krümmte, die Farbe und den Wert änderte. Die leicht eingeschnappte Julja stellte Olga leise eine Frage.
»Gießt ihr uns was ein?«, fragte Sweta, die meine Hand hielt.»Weiß denn niemand, was für hysterische Weiber die beste Medizin ist? Fünfzig Gramm Kognak.«
Tigerjunges, die mit unglücklicher Miene am Fenster stand, ging rasch zur Bar. Ob sie sich unseren Streit zuschrieb?
Sweta und ich nahmen beide ein Glas Kognak, stießen demonstrativ an und küssten uns. Ich fing Olgas Blick auf: Er war nicht erfreut, nicht betrübt, aber neugierig. Und ein wenig eifersüchtig. Wobei die Eifersucht nicht von dem Kuss herrührte.
Mit einem Mal fühlte ich mich unbehaglich.
Als ob ich aus einem Labyrinth herausgekommen sei, durch das ich lange Tage und Monate geirrt war. Herausgekommen - um den Eingang zu den nächsten Katakomben zu erblicken.
Erst zwei Stunden später konnte ich mit Olga unter vier Augen sprechen. Die Gesellschaft, deren Heiterkeit Swetlana so gewollt vorkam, hatte sich inzwischen nach draußen verlagert. Semjon schaltete und waltete am Grill seines Amtes und teilte an alle Hungrigen Schaschlik aus, das er mit einer Geschwindigkeit zubereitete, welche eindeutig auf die Zuhilfenahme von Magie hinwies. Neben ihm standen noch zwei Kästen mit trockenem Wein im Schatten.
Olga plauderte angeregt mit Ilja. Beide hielten einen Schaschlikspieß und ein Glas Wein in Händen. Es war schade, diese Idylle zu stören, aber…
»Olga, ich muss mit dir reden«, sagte ich, als ich an die beiden herantrat. Swetlana war völlig in ein Gespräch mit Tigerjunges vertieft - die beiden Frauen diskutierten voller Eifer den traditionellen Neujahrskarneval der Wache, wobei sie mit der verzwackten Logik von Frauen von der aktuellen Hitze zu diesem Thema sprangen. Ein günstiger Moment.
»Entschuldige, Ilja.«Die Zauberin breitete die Arme aus.»Wir kommen noch darauf zurück, ja? Mich interessiert sehr, welche Gründe du für den Zusammenbruch der Sowjetunion siehst. Auch wenn du Unrecht hast.«
Der Magier lächelte triumphierend und ging davon.
»Frag schon, Anton«, fuhr Olga im selben Ton fort.
»Du weißt, was ich will?«
»Ich vermute es.«
Ich blickte mich um. Niemand stand in unserer Nähe. Noch dauerte die kurze Phase eines Datschenpicknicks an, in der du nur essen und trinken willst, weder der Magen zu voll noch der Kopf zu schwer ist.
»Was kommt auf Swetlana zu?«
»Es ist schwer, die Zukunft vorherzusagen. Und erst recht, was die Zukunft von Großen Magiern und Zauberinnen…«
»Keine Ausflüchte, Partnerin.«Ich blickte ihr die Augen.»Das ist nicht nötig. Haben wir zusammen nicht schon einiges durchgestanden? Als Team gearbeitet? Vor gar nicht allzu langer Zeit standest du noch unter Strafe, und dir war alles entzogen, sogar dein Körper. Und deine Strafe war angemessen.«
Das Blut wich aus Olgas Gesicht.»Was weißt du von meiner Schuld?«
»Alles.«
»Woher?«
»Schließlich bearbeite ich Daten.«
»Zu meinen hast du keinen Zugang. Mein Fall ist nie in die digitalisierten Archive gelangt.«
»Es gibt indirekte Daten, Olga. Hast du schon mal die Kreise auf dem Wasser gesehen? Der Stein kann seit langem am Boden liegen, von Schlamm bedeckt sein, aber die Kreise breiten sich immer noch aus. Unterspülen die Böschung, tragen Müll und Gischt ans Ufer, lassen Boote kentern, wenn der Stein groß genug war. Und dieser war sehr groß. Geh davon aus, dass ich lange am Ufer gestanden habe, Olga. Dort gestanden und die Wellen betrachtet habe, die ans Ufer schlagen.«
»Du bluffst.«
»Nein. Olga, was steht Sweta bevor? Welche Phase der Ausbildung?«
Die Zauberin sah mich an, vergaß das kalt gewordene Schaschlik und das halb leere Glas. Ich schlug noch einmal zu.»Du hast diese Phase doch auch durchlaufen?«
»Ja.«Offensichtlich wollte sie nicht länger die Schweigende spielen.»Das habe ich. Aber für meine Vorbereitung stand mehr Zeit zur Verfügung.«
»Warum überstürzt man bei Sweta alles so?«
»Niemand hat damit gerechnet, dass in diesem Jahrhundert noch eine Große Zauberin geboren wird. Geser musste improvisieren, mitten im Spiel alles umorganisieren.«
»Hast du deshalb deine frühere Gestalt zurückbekommen? Nicht nur wegen deiner guten Arbeit?«
»Du weißt doch schon alles!«Olgas Augen funkelten hässlich.»Was quälst du mich da?«
»Beaufsichtigst du ihre Vorbereitung? Ausgehend von deinen Erfahrungen?«
»Ja. Bist du jetzt zufrieden?«
»Olga, wir stehen auf derselben Seite der Barrikade«, flüsterte ich.
»Dann setz gegen deine Gefährten nicht die Ellenbogen ein.«
»Welches Ziel hat das Ganze, Olga? Was hast du nicht fertig gebracht? Was muss Sweta tun?«
»Du…«Sie wirkte völlig aufgelöst.»Hast du also doch geblufft, Anton!«
Ich schwieg.
»Du weißt überhaupt nichts! Die Kreise im Wasser sagen dir nichts, du weißt gar nicht, wohin du schauen musst, um sie zu sehen!«
»Möglich. Aber im Großen und Ganzen liege ich richtig?«
Olga sah mich an, biss sich auf die Lippen.
»Ja«, meinte sie kopfschüttelnd.»Eine klare Frage, eine klare Antwort. Aber ich werde dir nichts erklären. Du darfst das nicht wissen. Das geht dich nichts an.«
»Da irrst du dich.«
»Niemand von uns will Sweta etwas Böses«, entgegnete Olga scharf.»Ist das klar?«
»Wir können sowieso niemandem etwas Böses wünschen. Nur unterscheidet sich unser Gutes manchmal in keiner Weise vom Bösen.«
»Beenden wir dieses Gespräch, Anton. Ich habe nicht das Recht, dir auf deine Fragen zu antworten. Und wir wollen den andern doch nicht diese unerwarteten freien Tage verderben.«
»Wie unerwartet sind die denn wirklich?«, fragte ich einschmeichelnd.»Olga?«
Sie hatte sich bereits wieder gefasst, ihre Miene war undurchdringlich. Zu undurchdringlich für solch eine Frage.
»Du hast auch so schon genug erfahren.«Ihre Stimme hob sich, gewann die frühere Entschlossenheit zurück.
»Man hat uns noch nie alle zusammen in Urlaub geschickt, Olga. Nicht mal auf einen Tagesausflug. Warum wollte Geser die Lichten aus der Stadt raushaben?«
»Nicht alle.«
»Polina Wassiljewna und Andrej zählen nicht. Du weißt ganz genau, dass sie das Büro nie verlassen. In Moskau ist kein einziger Wächter zurückgeblieben!«
»Die Dunklen verhalten sich doch auch ruhig.«
»Ja und?«
»Es reicht, Anton.«
Mir war klar, dass ich kein weiteres Wort aus ihr herausbekommen würde.»Gut, Olga«, lenkte ich ein.»Vor einem halben Jahr waren wir gleichberechtigt, wenn auch vielleicht nur zufällig. Das hat sich jetzt offenbar geändert. Entschuldige. Das sind nicht meine Probleme, fällt nicht in meine Zuständigkeit.«
Olga nickte. Das kam so überraschend, dass ich meinen Augen nicht traute.
»Endlich hast du’s kapiert.«
Machte sie sich über mich lustig? Oder glaubte sie wirklich, dass ich mich nicht weiter einmischen würde?
»Schließlich bin ich nicht auf den Kopf gefallen«, meinte ich. Ich sah zu Swetlana hinüber, die mit Tolik scherzte.
»Du nimmst mir das nicht übel?«, fragte Olga.
Ich berührte ihre Hand, lächelte und ging ins Haus zurück. Ich wollte etwas tun. Unbedingt. Als sei ich ein Dschinn, der nach tausendjähriger Gefangenschaft seiner Flasche entströmt. Irgendetwas: Paläste bauen, Städte zerstören, ein Programm in Basic schreiben oder eine Kreuzsticharbeit anfertigen.
Ich öffnete die Tür, ohne sie anzufassen, stieß sie durchs Zwielicht auf. Warum, weiß ich nicht. So was passiert mir selten, manchmal, wenn ich besoffen, manchmal, wenn ich stinkwütend bin. Der erste Grund
kam nicht in Frage.
Im Wohnzimmer war niemand. Warum sollte man auch drinnen sitzen, wenn draußen Schaschlik gegrillt wurde, es kalten Wein und genügend Liegestühle unter den Bäumen gab?
Ich ließ mich in einen Sessel fallen. Schnappte mir mein - oder Swetas - Glas vom Tisch und goss mir Kognak ein. Trank auf Ex, als sei das kein fünfzehn Jahre alter Prasdnitschny, sondern billiger Wodka. Schenkte mir nach.
In diesem Moment kam Tigerjunges herein.
»Du hast doch nichts dagegen?«, fragte ich.
»Nein, natürlich nicht.«
Die Zauberin setzte sich neben mich.»Was ist los mit dir, Anton?«
»Kümmer dich nicht um mich.«
»Hattet ihr Streit, Sweta und du?«
Ich schüttelte den Kopf.»Das ist es nicht.«
»Hab ich irgendwas falsch gemacht, Anton? Gefällt es euch nicht?«
Ich starrte sie mit echter Verblüffung an.»Wieso denn, Tigerjunges! Alles ist wunderbar. Allen gefällt es.«
»Und dir?«
Nie zuvor hatte ich die Tierfrau so verzagt erlebt. Was sollte das, ob es mir gefiel? Allen konnte sie es sowieso nicht recht machen.
»Swetlana wird weiter vorbereitet«, sagte ich.»Worauf?«
Die Frau runzelte leicht die Stirn.»Ich weiß es nicht. Auf etwas, das Olga nicht zustande brachte. Etwas, das gleichzeitig sehr gefährlich und ungeheuer wichtig ist.«
»Gut.«Sie langte nach einem Glas. Schenkte sich ein, nippte am Kognak.
»Gut?«
»Ja. Dass man sie vorbereitet, anleitet.«Tigerjunges sah sich suchend um, dann blickte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die Stereoanlage an der einen Wand.»Ständig verlege ich die Fernbedienung.«
Die Anlage schaltete sich ein, die Lämpchen leuchteten auf. Queen erklang, Kind of Magic. Mir gefiel die beiläufige Geste. Die Elektronik über eine Entfernung hinweg zu steuern - das ist etwas anderes, als mit dem Blick Löcher in die Wand zu bohren oder Mücken mit Feuerkugeln zu vertreiben.
»Wie lange hast du dich auf die Arbeit in der Wache vorbereitet?«, fragte ich.
»Seit ich sieben war. Mit sechzehn habe ich dann an den ersten Einsätzen teilgenommen.«
»Neun Jahre! Dabei hast du es leichter gehabt, deine Magie ist natürlich. Aber aus Swetlana will man in ein paar Monaten, in einem Jahr eine Große Zauberin zusammenschustern!«
»Das wird schwierig«, stimmte die Frau zu.»Glaubst du, der Chef macht einen Fehler?«
Ich zuckte mit den Achseln. Zu sagen, der Chef begehe einen Fehler, wäre genauso dumm wie zu behaupten, die Sonne gehe nicht im Osten auf. Hunderte - was heißt Hunderte: Tausende von Jahren hatte er gelernt, keine Fehler zu begehen. Geser konnte streng oder überstreng auftreten. Konnte die Dunklen provozieren und die Lichten opfern. Er konnte alles. Nur nicht sich irren.
»Ich glaube, er überschätzt Sweta.«
»Quatsch! Der Chef kalkuliert gut.«
»Und alles. Ich weiß. Er beherrscht dieses alte Spiel aus dem Effeff.«
»Und Sweta will er nur Gutes«, fügte die Zauberin stur hinzu.»Verstehst du? Vielleicht auf seine Art. Du würdest es anders machen, ich und Semjon ebenfalls. Oder Olga. Jeder von uns würde es anders machen. Aber die Wache leitet er. Und völlig zu Recht.«
»Weil er den besseren Überblick hat?«, fragte ich bissig.
»Ja.«
»Und was ist mit der Freiheit?«Ich goss mein Glas erneut voll. Was vielleicht nicht nötig war, denn in meinem Kopf tobte es bereits los.»Der Freiheit?«
»Du redest wie die Dunklen«, schnaubte die Frau.
»Ich ziehe es vor zu glauben, dass sie wie ich reden.«
»Das ist doch alles ganz einfach, Anton.«Tigerjunges beugte sich zu mir hinüber, sah mir in die Augen. Sie verströmte einen Geruch nach Kognak und einen leichten, blumigen Duft, der aber kaum von einem Parfüm stammen dürfte. So etwas mögen Tiermenschen nicht.»Du liebst sie.«
»Stimmt. Gibt es jemanden, der das noch nicht weiß?«
»Dir ist klar, dass ihre Kräfte die deinen bald übersteigen werden.«
»Wenn sie das nicht schon haben.«Ich wollte nicht weiter darauf eingehen, erinnerte mich aber, wie leicht Swetlana die magischen Schirme in den Wänden gespürt hatte.
»Sie werden sie richtig übersteigen. Eure Kräfte werden sich nicht mehr miteinander vergleichen lassen. Du wirst ihre Probleme nicht verstehen können, sie werden dir fremd sein. Wenn du an ihrer Seite bleibst, wirst du dich wie ein überflüssiges Anhängsel fühlen, wie ein Gigolo, und dich an die Vergangenheit klammern.«
»Ja.«Ich nickte und bemerkte voller Verwunderung, dass das Glas schon wieder leer war. Unter dem aufmerksamen Blick der Hausherrin goss ich mir erneut ein.»Dann sollte ich wohl nicht an ihrer Seite bleiben. Darauf kann ich verzichten.«
»Anders geht es nicht.«
Nie hätte ich vermutet, dass sie so hart sein kann. Oder dass sie sich nervös fragte, ob es auch allen schmecke und gefalle. Aber auch diese böse Wahrheit hätte ich nicht erwartet.
»Ich weiß.«
»Dann regst du dich nur aus einem einzigen Grund darüber auf, Anton, dass der Chef Sweta so entschlossen nach oben zieht.«
»Weil meine Zeit abläuft«, sagte ich.»Mir wie Sand durch die Finger rinnt, wie Regen vom Himmel strömt.«
»Deine Zeit? Eure, Anton.«
»Sie war nicht unsere, niemals.«
»Warum nicht?«
Tatsächlich, warum eigentlich nicht? Ich zuckte mit den Schultern.»Manche Tiere vermehren sich in der Gefangenschaft nicht.«
»Schon wieder!«, empörte sich die junge Frau.»Was für eine Gefangenschaft? Du solltest dich für sie freuen. Swetlana wird der Stolz der Lichten werden. Du hast sie entdeckt, nur du konntest sie retten.«
»Wozu? Für die nächste Schlacht mit den Dunklen? Eine überflüssige Schlacht?«
»Anton, du redest jetzt wirklich wie ein Dunkler. Du liebst sie doch! Dann fordere nichts, verlange keine Gegenleistung! Das ist der Weg des Lichts!«
»Da, wo die Liebe anfängt, enden Licht und Dunkel.«
Empört verstummte die Frau. Traurig schüttelte sie den Kopf. Widerwillig sagte sie:»Du könntest zumindest eins versprechen…«
»Kommt drauf an, was.«
»Dass du vernünftig bist. Den alten Gefährten vertraust.«
»Ich verspreche es zur Hälfte.«
Tigerjunges seufzte.»Hör mir mal zu, Anton«, presste sie widerstrebend hervor.»Wahrscheinlich glaubst du, ich würde dich überhaupt nicht verstehen. Das stimmt nicht. Ich wollte nämlich gar keine Tierfrau werden. Ich hatte Fähigkeiten als Heilerin, die nicht von der Hand zu weisen waren.«
»Wirklich?«Erstaunt sah ich sie an. Das hätte ich nie gedacht.
»Ja, tatsächlich«, bestätigte sie leichthin.»Doch als ich vor der Wahl stand, welche Seite der Kraft ich entwickeln sollte, hat der Chef mich zu sich gerufen. Wir haben zusammengesessen, Tee getrunken und Gebäck gegessen. Und uns sehr ernst unterhalten, wie Erwachsene, obwohl ich noch ein kleines Mädchen war, jünger als Julja jetzt. Darüber, was das Licht braucht, was für die Wache notwendig ist, was ich erreichen kann. Und wir beschlossen, dass ich die Fähigkeiten zur Kampftransformation entwickeln solle, auf Kosten aller anderen Anlagen. Anfangs hat mir das nicht so richtig gefallen. Hast du eine Ahnung, wie schmerzhaft es ist, sich zu verwandeln?«
»In einen Tiger?«
»Nein - in einen Tiger, das ist nichts. Zurück ist es schwer. Aber ich habe es ausgehalten. Weil ich dem Chef geglaubt habe, weil ich verstanden habe, dass es richtig ist.«
»Und jetzt?«
»Jetzt bin ich glücklich«, sagte die Frau eifrig.»Wenn ich mir vorstelle, was ich verlieren würde, womit ich mich befassen müsste. Die Kräuter, Zauber, die Scherereien mit einem verzerrten Psychofeld, der Kampf gegen schwarze Strudel und schwarze Magie…«
»Blut, Schmerzen, Angst, Tod«, brachte ich vielsagend hervor.»Ein Kampf, der gleichzeitig in zwei oder drei Schichten der Realität stattfindet. Das Feuer meiden, Blut trinken, alles durchmachen.«
»Das ist der Krieg.«
»Ja, vermutlich. Aber musst ausgerechnet du an vorderster Front kämpfen?«
»Aber irgendjemand muss es doch tun, oder? Und letzten Endes hätte ich sonst nicht dieses Haus.«Tiger machte eine Handbewegung, die das ganze Wohnzimmer einbezog.»Du weißt selbst, dass man als Heilerin nicht viel verdienen kann. Du kannst mit aller Kraft
heilen, aber dann mordet jemand ohne Ende.«
»Du hast ein schönes Haus«, versicherte ich.»Aber bist du denn oft hier?«
»Wie es sich ergibt.«
»Ich nehme an, nicht sehr oft. Du übernimmst eine Schicht nach der nächsten, drückst dich nie.«
»So bin ich halt.«
Ich nickte. Im Grunde war ich nicht anders.»Ja, du hast Recht. Ich bin vermutlich müde. Deshalb brabbel ich diesen Unsinn.«
Tigerjunges sah mich argwöhnisch an, offenbar verblüfft von dieser raschen Kapitulation.
»Ich will hier noch ein bisschen mit meinem Glas in der Hand sitzen«, fügte ich hinzu.»Mich allein so richtig schön betrinken, am Tisch einschlafen und mit Kopfschmerzen aufwachen. Dann geht es mir gleich besser.«
»Nur zu«, sagte die Zauberin mit einer Spur von Misstrauen.»Wozu sind wir denn hierher gekommen? Die Bar ist offen, nimm dir, wonach dir der Sinn steht. Wollen wir zu den andern? Oder soll ich bei dir bleiben?«
»Nein, lieber bin ich allein«, sagte ich, indem ich mit der Hand die bauchige Flasche tätschelte.»So richtig beschissen, ohne einen Happen dazu, ohne Freunde. Wenn ihr schwimmen geht, schau doch mal rein. Vielleicht kann ich mich dann noch rühren.«
»Abgemacht.«
Lächelnd ging sie aus dem Zimmer. Ich blieb einsam zurück, abgesehen natürlich von der Gesellschaft meiner Flasche armenischen Kognaks, an die man mitun-
ter glauben möchte.
Eine wirklich prachtvolle Frau. Sie sind alle prachtvoll und gut, meine Freunde und Kameraden von der Wache. Durch die Musik von Queen hindurch hörte ich ihre Stimmen, was angenehm war. Mit einigen hatte ich engere Beziehungen, mit anderen weniger. Aber Feinde gab es unter ihnen nicht. Würde es nie geben. Gemeinsam hatten wir bereits ein Stück Weges hinter uns gebracht und würden ihn auch in Zukunft gemeinsam beschreiten, und wir würden uns nur aus einem einzigen Grund verlieren.
Warum war ich dann unzufrieden mit der Entwicklung? Nur ich - sowohl Olga wie auch Tigerjunges billigten das Vorgehen des Chefs, die anderen würden sich ihnen, fragte man sie direkt, anschließen.
Konnte ich die Lage nicht mehr objektiv beurteilen?
Vermutlich.
Ich trank einen Schluck Kognak und schaute durchs Zwielicht, suchte nach den trüben Feuern eines fremden Lebens ohne Intelligenz.
Im Wohnzimmer entdeckte ich drei Mücken, zwei Fliegen und ganz hinten in der Ecke unter der Decke eine kleine Spinne.
Ich bewegte meine Finger und formte ein winziges Feuerkügelchen mit einem Durchmesser von nur zwei Millimetern. Zielte auf die Spinne - zum Aufwärmen taugt eine unbewegliche Zielscheibe eigentlich besser - und schickte die Feuerkugel auf den Weg.
Meinem Verhalten haftete nichts Verwerfliches an. Wir sind keine Buddhisten, zumindest die meisten der Anderen Russlands nicht. Wir essen Fleisch, schlagen Fliegen und Mücken, vergiften Kakerlaken; wenn wir mal zu faul sind, jeden Monat neue Abschreckungszauber zu erlernen, werden die Insekten rasch immun gegen die Magie.
Nichts Verwerfliches. Es ist einfach komisch, geradezu sprichwörtlich -»mit Feuerkugeln auf Mücken zu schießen«. Der liebste Spaß von Kindern jeden Alters, die in den Kursen der Wache sitzen. Ich glaube, auch die Dunklen vergnügen sich auf diese Weise, nur dass sie nicht zwischen einer Fliege und einem Spatz, einer Mücke und einem Hund unterscheiden.
Die Spinne verbrannte ich sofort. Auch die halb schlafenden Mücken stellten kein Problem dar.
Jeden Sieg begoss ich mit einem Glas Kognak, wobei ich vorab mit der dienstbaren Flasche anstieß. Dann zog ich gegen die Fliegen in den Kampf, doch entweder hatte ich mittlerweile zu viel Alkohol im Blut oder die Viecher spürten weitaus besser, wenn sich die flammenden Punkte näherten. Für die erste brauchte ich vier Ladungen, schaffte es aber wenigstens, die falsch gezielten rechtzeitig zu zerstreuen. Die zweite schoss ich mit der sechsten Feuerkugel ab, wobei ich zwei Minikugelblitze in die Glastür einer Vitrine an der Wand feuerte.
»Wie unschön«, sagte ich reuevoll und trank den Kognak aus. Ich stand auf - das Zimmer schwankte. Ich ging zu der Vitrine, in der auf schwarzem Samt Schwerter prangten. Auf den ersten Blick 15. - 16. Jahrhundert, Deutschland. Der Strahler war nicht angeschlossen, sodass ich das genaue Alter nicht zu schätzen vermochte. Im Glas entdeckte ich kleine Einbuchtungen, aber die Schwerter selbst hatte ich nicht erwischt.
Ein Weilchen dachte ich darüber nach, wie ich mein Verhalten wieder gutmachen könnte, mir fiel aber nichts Besseres ein, als das verdampfte und im Zimmer verwehte Glas wieder an Ort und Stelle zu bringen. Dafür musste ich weitaus mehr Kraft aufwenden, als wenn ich die ganze Scheibe zertrümmert und eine neue erschaffen hätte.
Dann schaute ich in die Hausbar. Aus irgendeinem Grund wollte ich keinen Kognak mehr. Die Flasche mit mexikanischem Kaffeelikör schien mir dagegen ein guter Kompromiss zwischen den Wünschen, mich zu betrinken und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Kaffee und Alkohol - beides in einer Flasche.
Ich drehte mich um und bemerkte in meinem Sessel Semjon.
»Die andern sind zum See gegangen«, teilte der Magier mit.
»Gleich«, versprach ich, als ich an ihn herantrat.»Ganz gleich.«
»Die Flasche stell lieber hin«, riet Semjon.
»Wozu?«, wollte ich wissen. Trotzdem stellte ich die Flasche hin.
Semjon sah mir unverwandt in die Augen. Die Barrieren funktionierten nicht, und die Falle erkannte ich zu spät. Ich versuchte, den Blick abzuwenden, konnte es aber nicht.
»Du Mistkerl«, presste ich hervor, während ich mich krümmte.
»Über den Korridor und rechts«, schrie Semjon mir hinterher. Sein Blick bohrte sich noch immer in meinen Rücken, schlängelte sich wie ein unsichtbarer Faden hinter mir her.
Zur Toilette schaffte ich es gerade noch. Fünf Minuten später kam auch mein Peiniger.
»Besser?«
»Ja«, entgegnete ich schwer atmend. Ich kam von den Knien hoch und hielt den Kopf ins Waschbecken. Schweigend drehte Semjon am Hahn und klopfte mir auf den Rücken.
»Entspann dich«, riet er.»Bisher waren das bloß Hausmittel, aber…«
Über meinen Körper lief eine heiße Welle. Ich stöhnte auf, wehrte mich aber nicht länger. Das dumpfe Gefühl war bereits von mir gewichen, jetzt verflüchtigte sich die letzte Trunkenheit aus meinem Körper.
»Was machst du?«, fragte ich bloß.
»Ich helfe deiner Leber. Ein paar Schluck Wasser, und dir geht’s besser.«
Was stimmte.
Nach fünf Minuten verließ ich aufrecht gehend die Toilette, in Schweiß gebadet, klatschnass, mit rotem Kopf, aber absolut nüchtern. Und versuchte sogar schon wieder, mich obenauf zu zeigen.»Warum hast du dich da eingemischt? Ich wollte mich betrinken - und ich habe mich betrunken.«
»Diese Jugend.«Semjon schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.»Betrinken wollte er sich! Wer betrinkt sich denn mit Kognak? Noch dazu auf Wein und in dem Tempo, einen halben Liter in einer halben Stunde. Als Saschka Kuprin und ich uns mal betrinken wollten…«
»Welcher Saschka?«
»Na, du weißt schon, der Schriftsteller. Nur dass er da noch nicht geschrieben hat. Wir haben uns tüchtig betrunken, wie Menschen, die etwas auf sich halten, es eben tun, bis zum Umfallen nämlich, während auf den Tischen getanzt und in die Decke geschossen wurde und allgemeine Ausschweifung herrschte.«
»Und er? War er ein Anderer?«
»Saschka? Nein, aber ein prima Kerl. Wir haben ein Viertel ausgetrunken und die Gymnasiastinnen mit Sekt abgefüllt.«
Schwer ließ ich mich auf das Sofa plumpsen. Ich schluckte, schaute auf die leere Flasche, und erneut kam es mir hoch.
»Und mit einem Viertel habt ihr euch betrunken?«
»Ein Vierteleimer, wie soll man da nicht betrunken sein?«, wunderte sich Semjon.»Betrinken kann man sich, Anton. Wenn’s sein muss. Aber dann mit Wodka. Kognak, Wein - das ist was fürs Herz.«
»Und wofür ist Wodka?«
»Für die Seele. Wenn sie richtig schmerzt.«
Mit leichtem Vorwurf im Blick sah er mich an, ein komischer kleiner Magier mit listigem Gesicht, mit seinen komischen kleinen Erinnerungen an große Menschen und große Schlachten.
»Ich habe einen Fehler gemacht«, gab ich zu.»Danke, dass du mir geholfen hast.«
»Quatsch, mein Alter. Zu meiner Zeit habe ich einen Namensvetter von dir dreimal pro Abend nüchtern gemacht. Damals war es nötig zu trinken, aber nicht betrunken zu werden, für die Sache.«
»Meinen Namensvetter? Tschechow?«, mutmaßte ich.
»Nein, wie kommst du denn darauf. Einen anderen Anton, einen von uns. Er ist gestorben, im Fernen Osten, als die Samurai…«Semjon winkte ab und verstummte. Nach einer Weile fuhr er fast zärtlich fort:»Du solltest nichts überstürzen. Heute Abend machen wir alles so, wie es sich gehört. Jetzt sollten wir zu den andern. Gehen wir, Anton.«
Gehorsam folgte ich Semjon aus dem Haus. Und sah Sweta. Sie saß in einem Liegestuhl, hatte sich bereits umgezogen und trug jetzt einen Badeanzug und einen bunten Rock - oder ein Stück Stoff um die Hüften.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie mich leicht verblüfft.
»Absolut. Hab das Schaschlik nicht ganz vertragen.«
Swetlana sah mich eindringlich an. Aber abgesehen von meinem geröteten Gesicht und den nassen Haaren ließ offenbar nichts mehr auf meine plötzliche Trunkenheit schließen.
»Du solltest dir mal die Bauchspeicheldrüse untersuchen lassen.«
»Ist schon wieder alles in Ordnung«, warf Semjon rasch ein.»Glaub mir, ich habe mich auch mit Heilung beschäftigt. Die Hitze, der saure Wein, das fettige Schaschlik - daran hat’s gelegen. Jetzt geht er baden, und heute Abend trinken wir eine Flasche im Schatten. Das reicht an Behandlung.«
Sweta stand auf, kam auf uns zu und sah mir mitleidsvoll in die Augen.
»Vielleicht setzen wir uns hier ein bisschen hin? Ich mache einen starken Tee.«
Ja, gewiss. Das wäre schön. Einfach dasitzen. Zu zweit. Tee trinken. Reden oder schweigen. Das spielt keine Rolle. Sie ab und an ansehen oder auch nicht. Ihren Atem hören - oder die Ohren verschließen. Hauptsache, dass wir zusammen sind. Wir zwei, und nicht das einträchtige Kollektiv der Nachwache. Und dass wir deshalb zusammen sind, weil wir es wollen, nicht weil es auf dem Programm steht, das Geser erarbeitet hat.
Ob ich wirklich verlernt hatte zu lächeln?
Ich schüttelte den Kopf. Und zerrte ein feiges, trotziges Lächeln auf mein Gesicht.»Gehen wir. Ich bin noch kein verdienter Klappergreis der magischen Kriege. Gehen wir, Sweta.«
Semjon war schon vorausgegangen, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass er mir zuzwinkerte. Billigend.
Der Abend brachte keine richtige Abkühlung, vertrieb aber die Schwüle. Bereits um sechs oder sieben hatten sich alle zu kleinen Grüppchen zusammengefunden. Am See blieben der unermüdliche Ignat, Lena und - seltsamerweise - auch Olga. Tigerjunges und Julja stromerten durch den Wald. Die übrigen hielten sich im Haus oder in seiner Nähe auf.
Semjon und ich hatten den großen Balkon im ersten Stock okkupiert. Hier war es gemütlich, kam das kleine Lüftchen besser zur Geltung und standen Korbmöbel, in dieser Hitze einfach unschätzbar.
»Nummer eins«, sagte Semjon und holte aus einer Plastiktüte mit einem Reklameaufdruck für Danone kids eine Flasche Wodka. »Smirnowka.«
»Hältst du was von dem?«, fragte ich zweifelnd. Ich hielt mich nicht für einen großen Wodkaexperten.
»Ich trink ihn seit über hundert Jahren. Und früher war er viel schlechter, das kannst du mir glauben.«
Nach der Flasche holte er zwei einfache Wassergläser aus der Tüte, ein Zweiliter-Einmachglas, unter dessen Blechdeckel kleine Gurken ihrer Bestimmung harrten, und eine große Tüte mit saurem Kohl.
»Und womit spülen wir nach?«
»Bei Wodka braucht man nicht nachzuspülen, mein Junge«, meinte Semjon kopfschüttelnd.»Das ist nur bei Surrogaten nötig.«
»Wirst alt wie ‘ne Kuh…«
»Das hättest du schon früher wissen müssen. Und was den Wodka angeht, brauchst du dir keine Gedanken zu machen, die Siedlung Tschernogolowka gehört zu meinem Kontrollgebiet. In der Fabrik arbeitet ein kleiner Hexenmeister, der nicht allzu garstig ist. Er liefert mir gute Ware.«
»Du verzettelst dich mit Kleinkram«, wagte ich zu bemerken.
»Tu ich nicht. Ich bezahle ihn mit Geld. Das läuft alles ganz ehrlich ab, ist unsere Privatsache, die Wachen haben damit nichts zu tun.«
Mit einer geschickten Bewegung drehte Semjon den Verschluss der Flasche ab und goss jedem ein halbes Glas voll. Obwohl die Tasche den ganzen Tag auf der Veranda gestanden hatte, war der Wodka kalt.
»Auf die Gesundheit?«, vermutete ich.
»Zu früh. Auf uns.«
Vorhin hatte er mich wirklich ausgenüchtert, und zwar richtig, mein Blut womöglich nicht vom Alkohol gereinigt, sondern auch von allen Stoffwechselprodukten. Ich trank das halbe Glas aus, ohne mich zu schütteln, und stellte verwundert fest, dass Wodka nicht nur im Winter bei Kälte wohl tut, sondern auch im Sommer nach einem heißen Tag.
»Also dann.«Semjon grunzte zufrieden und lümmelte sich bequem hin.»Man sollte Tigerjunges dezent darum bitten, hier Schaukelstühle aufzustellen.«
Er zog seine gräßlichen Jawas hervor und steckte sich eine an.
»Ich rauch sie sowieso«, meinte er, als er meinen missbilligenden Blick auffing.»Aus Liebe zu meinem Land.«
»Und ich liebe meine Gesundheit«, grummelte ich.
Semjon schnaubte.»Hat mich doch einmal ein befreundeter Ausländer zu sich zu Besuch eingeladen«, setzte er an.
»‘ne alte Sache?«, fragte ich, mich unwillkürlich seinem Stil anpassend.
»Nein, voriges Jahr. Er hat mich eingeladen, um zu lernen, wie man sich in Russland betrinkt. Er hat im Penta ein Zimmer gehabt. Ich habe eine Zufallsbekanntschaft mitgenommen und ihren Bruder - der gerade aus dem Lager entlassen worden war und nicht wusste, wohin. So sind wir dann losgezogen.«
Als ich mir die Gesellschaft vorstellte, schüttelte ich den Kopf.»Hat man euch denn reingelassen?«
»Ja.«
»Weil du Magie eingesetzt hast?«
»Nein, weil mein ausländischer Freund Geld eingesetzt hat. Für Wodka und die Zuspeisen hatte er reichlich gesorgt, wir haben am 30. April angefangen zu trinken und am 2. Mai aufgehört. Die Zimmermädchen haben wir nicht reingelassen, den Fernseher nicht ausgeschaltet.«
Ich sah Semjon an, der in einem zerknautschten karierten Hemd aus russischer Produktion, verwaschenen türkischen Jeans und ausgelatschten tschechischen Sandalen vor mir saß, und konnte mir ohne Probleme vorstellen, wie er frisch gezapftes Bier aus einem Dreiliterglas trank. Aber ins Penta passte er nur schwer.
»Ihr Monster«, sagte ich voller Mitleid.
»Nein, warum denn das? Meinem Freund hat es sehr gefallen. Er hat gesagt, dass er danach verstanden hat, was ein richtiges russisches Besäufnis ausmacht.«
»Und was ist das?«
»Das ist, wenn du morgens aufwachst und alles um dich herum grau ist. Der Himmel ist grau, die Sonne ist grau, die Stadt ist grau, die Menschen sind grau, deine Gedanken sind grau. Und der einzige Ausweg ist, weiterzutrinken. Dann geht es dir besser. Dann kommen die Farben zurück.«
»Muss ein interessanter Ausländer gewesen sein!«
»Kannst du sagen!«
Semjon schenkte erneut ein, diesmal aber weniger. Dann dachte er kurz nach und füllte die Gläser bis zum Rand.
»Trinken wir, mein Alter. Trinken wir darauf, dass wir nicht unbedingt trinken müssen, um einen blauen Himmel, eine gelbe Sonne und eine bunte Stadt zu sehen. Lass uns darauf trinken. Wir beide treten ins Zwielicht ein und sehen, dass die Welt von ihrer Kehrseite aus betrachtet nicht die ist, die jeder sonst dafür hält. Aber vermutlich gibt es nicht nur diese eine Kehrseite. Auf die leuchtenden Farben!«
Völlig verwirrt trank ich ein halbes Glas.
»Keine halben Sachen, Junge«, sagte Semjon im selben Ton wie zuvor.
Ich trank aus. Aß eine Hand voll von dem knackigen süßsauren Kohl.
»Warum führst du dich so auf, Semjon?«, fragte ich.»Wozu dieser übertriebene Aplomb, dieses Image?«
»Mächtig schlaue Wörter, so was verstehe ich nicht.«
»Komm schon!«
»Das macht es leichter, Antoschka. Jeder passt so auf sich auf, wie er kann. Ich halt auf diese Weise.«
»Was soll ich tun, Semjon?«, fragte ich. Ohne jede Erklärung.
»Das, was nötig ist.«
»Und wenn ich nicht das tun will, was nötig ist? Wenn unsere ach so lichte Wahrheit, unser Wächterehrenwort und unsere fabelhaft guten Absichten mir zum Hals raushängen?«
»Du musst eins verstehen, Anton.«Der Magier biss krachend in eine Gurke.»Du hättest es längst verstehen sollen, aber du hast ja ständig bloß deine Blechkisten im Kopf. Unsere Wahrheit, so groß und licht sie auch sein mag, besteht aus einer Unmenge kleiner Wahrheiten. Und Geser kann noch so klug sein und an Erfahrung haben, wovon wir bei Gott nur träumen können. Obendrein hat er aber auch magisch geheilte Hämorrhoiden, einen Ödipuskomplex und die Angewohnheit, immer wieder alte bewährte Muster auf neue Weise anzuwenden. Das nur als Beispiel, ich will bei ihm keine Erbsen zählen, schließlich ist er der Chef.«
Er angelte sich eine neue Zigarette, und diesmal wagte ich keinen Einspruch.
»Aber darum geht es gar nicht, Anton. Du bist noch jung, bist in die Wache eingetreten und hast dich gefreut. Hat sich am Ende doch die ganze Welt in Schwarz und Weiß geteilt! Ein Menschheitstraum war in Erfüllung gegangen, endlich war klar, wer gut und wer schlecht ist. Nur eins musst du begreifen. So ist es nicht. Nicht so. Irgendwann waren wir alle mal eins. Die Dunklen wie die Lichten. Haben in unserer Höhle am Lagerfeuer gesessen, durchs Zwielicht gespäht, auf welcher Weide das Mammut grast, haben beim Singen und beim Tanzen Funken aus den Fingern geschlagen und mit Feuerkugeln andere Stämme geröstet. Und lass uns, damit unser Beispiel möglichst anschaulich ist, zwei Brüder nehmen, zwei Andere. Der, der als Erster ins Zwielicht getreten ist, war in dem Moment vielleicht satt, vielleicht zum ersten Mal verliebt. Bei dem andern war das Gegenteil der Fall. Er hatte sich den Magen mit unreifem Bambus verdorben, die Frau hatte ihn zurückgewiesen, weil sie angeblich Kopfschmerzen hatte und vom Abschaben der Felle müde war. So ging es weiter. Der eine führt die anderen zum Mammut und ist zufrieden. Der andere verlangt ein Stück vom Rüssel und als Dreingabe noch die Häuptlingstochter. So teilten wir uns in Dunkle und Lichte, in Gute und Böse. Einfach, nicht wahr? So bringen wir es auch den kleinen Anderen bei. Und wer hat dir, mein Alter, denn gesagt, dass sich daran etwas geändert hat?«
Semjon beugte sich so heftig zu mir hinüber, dass der Sessel knirschte.»So war es, so ist es, so wird es sein. Für immer, Antoschka. Ein Ende gibt es nicht. Jetzt sind wir diejenigen, die den, der sich abseilt und in den Kampf zieht und ungefragt Gutes schafft, entkörpern. Und ab ins Zwielicht mit ihm, wenn er das Gleichgewicht stört, ab ins Zwielicht mit dem Psychopathen und Hysteriker. Und was wird morgen sein? In hundert Jahren? In tausend? Wer kann das voraussehen? Du? Ich? Geser?«
»Also was dann?«
»Gibt es deine Wahrheit, Anton? Sag’s mir, gibt es sie? Bist du von ihr überzeugt? Dann glaube auch an sie, und nicht an meine Wahrheit oder die von Geser. Glaube und kämpfe. Wenn du den Mut dazu hast. Wenn das Herz nicht stottert. Die Freiheit der Dunklen - die ist ja nicht schlecht, weil sie Freiheit von anderen bedeutet. Das ist auch nur die Erklärung für die Kinder. Die Freiheit der Dunklen ist in erster Linie Freiheit von dir selbst, von deinem Gewissen und deiner Seele. Wenn du spürst, dass in deiner Brust nichts mehr schmerzt, dann schlag Alarm. Obwohl es dann eigentlich schon zu spät ist.«
Er verstummte, seine Hand verschwand in der Tüte und brachte eine weitere Flasche Wodka hervor.
»Die zweite«, seufzte er.»Wir sind nämlich immer noch nicht betrunken, das spüre ich. Es wird uns nicht gelingen. Und was Olga und ihre Worte angeht…«
Wie schaffte er es, seine Ohren immer und überall zu haben?
»Sie ist nicht neidisch darauf, dass Swetlana vollenden kann, was sie nicht fertig gebracht hat. Nicht darauf, dass für Sweta noch alles offen ist, während der Zug für Olga, ehrlich gesagt, abgefahren ist. Sie ist neidisch, weil Sweta dich hat und du deine Liebste behalten möchtest. Auch wenn du nichts dafür tun kannst. Geser konnte, aber er wollte nicht. Du kannst es nicht, aber willst. Am Ende läuft das vielleicht aufs Gleiche hinaus. Aber irgendwas bleibt doch hängen. Es zerreißt einem die Seele, wie viel Jahre sie auch zählen mag.«
»Weißt du, worauf Sweta vorbereitet wird?«
»Ja.«Semjon goss die Gläser randvoll mit Wodka.
»Worauf?«
»Darf ich nicht sagen. Ich hab das unterschrieben. Was ich sagen konnte, hab ich gesagt.«
»Semjon…«
»Ich hab dir doch gesagt, ich hab’s unterschrieben. Soll ich mein Hemd ausziehen, damit du das Zeichen des Straffeuers auf meinem Rücken siehst? Ein Wort - und ich würde mit diesem Sessel hier verbrennen und du könntest meine Asche in die Zigarettenschachtel packen. Tut mir Leid, Anton. Versuch es nicht.«
»Danke«, sagte ich.»Lass uns trinken. Vielleicht schaffen wir es doch noch, uns zu besaufen? Ich brauch es.«
»Das seh ich«, pflichtete Semjon mir bei.»Also ran.«
Ich wachte sehr früh auf. Stille herrschte im Haus, die lebhafte Stille einer Datsche, mit dem Rauschen des Windes, der gegen Morgen endlich kühler ging. Nur, dass ich mich nicht darüber freute. Mein Bett war feucht von Schweiß, mein Kopf glühte. Im Nachbarbett - wir schliefen zu dritt in einem Zimmer - schnarchte Semjon monoton vor sich hin. Auf dem Fußboden schlief Tolik, eingehüllt in eine Decke. Die angebotene Hängematte hatte er mit den Worten abgelehnt, seit er ‘76 an irgendeiner Aktion teilgenommen habe, mache ihm sein Rücken zu schaffen, weshalb er am liebsten hart schlafe.
Die Hände im Nacken, damit ich bei einer zu raschen Bewegung nicht auseinander brach, setzte ich mich im Bett auf. Als mein Blick auf den Nachttisch fiel, entdeckte ich voller Verwunderung zwei Aspirin und eine Flasche Borshomi-Wasser. Welche gute Seele hatte das getan?
Gestern hatten wir zu zweit drei Flaschen Wodka getrunken. Dann war Tolik zu uns gekommen. Danach noch irgendwer, mit Wein. Den ich allerdings nicht trank. So weit reichte mein Verstand noch.
Nachdem ich die Aspirin mit einer halben Flasche Wasser heruntergespült hatte, blieb ich benebelt eine Weile sitzen, um auf die Wirkung der Tabletten zu warten. Der Schmerz ging nicht weg. Das würde ich nicht aushalten.
»Semjon«, rief ich heiser.»Semjon!«
Der Magier öffnete ein Auge. Er schien in prächtigem Zustand. Als ob er nicht weitaus mehr getrunken hätte als ich. Was hundert Jahre mehr Erfahrung doch ausmachen.
»Mein Kopf, befrei mich…«
»Hab kein Beil da«, grummelte der Magier.
»Dann hol eins«, stöhnte ich.»Kannst du mich von dem Schmerz befreien?«
»Haben wir uns freiwillig besoffen, Anton? Oder hat uns jemand gezwungen? Hat es uns Spaß gemacht?«
Er drehte sich auf die andere Seite um.
Ich begriff, dass ich von Semjon keine Hilfe erwarten durfte. Im Grunde hatte er ja Recht, trotzdem ertrug ich das Ganze nicht länger. Mit den Füßen tastete ich nach den Turnschuhen, stieg über den schlafenden Tolik hinweg und ging aus dem Zimmer.
Es gab zwei Gästezimmer, doch die Tür zum andern war verschlossen. Dafür stand am Ende des Korridors die Tür zum Schlafzimmer der Hausherrin offen. Tigerjunges’ Worte über ihre Fähigkeiten als Heilerin fielen mir ein, und ohne zu zögern stürmte ich los.
Anscheinend hatte sich heute alles gegen mich verschworen. Sie war nicht da. Ignat und Lena entgegen meiner Vermutung auch nicht. Bei Tigerjunges hatte Julenka übernachtet. Das Mädchen schlief noch, ein Arm und ein Bein hingen wie bei einem Kind aus dem Bett.
Mittlerweile war mir völlig egal, wen ich um Hilfe bat. Vorsichtig trat ich an das Riesenbett heran und hockte mich daneben hin.»Julja, Julenka…«, flüsterte ich.
Blinzelnd öffnete das Mädchen die Augen.
»Verkatert?«, fragte sie voller Mitleid.
»Ja.«Das Nicken sparte ich mir, denn in meinem Kopf hatte man eben eine kleine Granate gezündet.
»Schlimm?«
Sie schloss die Augen und döste meiner Meinung nach sogar wieder ein, die Arme um meinen Hals gelegt. Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts, dann ließ der Schmerz rasch nach. Als ob in meinem Nacken ein geheimer Hahn aufgedreht worden sei und das aufgestaute brodelnde Gift abflösse.
»Danke«, flüsterte ich nur.»Danke, Julenka.«
»Trink nicht so viel, du kannst das nicht«, brummelte das Mädchen und fing an zu schnaufen - so gleichmäßig, als ob sie von einem Augenblick auf den anderen von Arbeit auf Schlaf umgeschaltet hätte. Das können nur Kinder und Computer.
Ich stand auf und registrierte voller Begeisterung, dass die Welt ihre Farben zurückgewonnen hatte. Natürlich hatte Semjon Recht. Man muss die Verantwortung übernehmen. Nur manchmal reichen die Kräfte dafür nicht. Ganz und gar nicht. Ich schaute mich im Zimmer um. Das Schlafzimmer war in Beigetönen gehalten, selbst das schräge Fenster leicht getönt, die Stereoanlage golden, der flauschige Teppich hellbraun.
Nicht sehr nett von mir. Hier ungefragt einzudringen.
Leise ging ich zur Tür und hörte, als ich gerade hinausgehen wollte, Juljas Stimme.
»Du kaufst mir ein Snickers, ja?«
»Zwei«, versprach ich.
Ich hätte jetzt noch eine Runde schlafen können, aber mit dem Bett verbanden sich zu viele unangenehme Erinnerungen. Als ob ich mich nur hinzulegen bräuchte, und der im Kopfkissen versteckte Schmerz würde erneut über mich herfallen. Daher schlüpfte ich bloß ins Zimmer rein, um mir meine Jeans und mein Hemd zu schnappen, und zog mich an der Tür an.
Es schliefen doch nicht wirklich noch alle? Tigerjunges stromerte immerhin schon irgendwo draußen herum, irgendjemand würde sicher ins Gespräch vertieft bei einer Flasche bis zum Morgen dagesessen haben.
Im ersten Stock gab es noch einen kleinen Flur, in dem ich Danila und Nastja aus der wissenschaftlichen Abteilung vorfand, die friedlich auf einem kleinen Sofa schliefen. Rasch zog ich mich zurück. Schüttelte den Kopf. Danila hatte eine sehr liebe, sehr sympathische Frau, Nastja einen älteren Mann, der sie wahnsinnig liebte.
Sicher, das waren nur Menschen.
Wir dagegen sind die Anderen, die Kämpen des Lichts. Was will man machen, wir haben eine andere Moral. Wie an der Front mit den Kriegsromanzen und den kleinen Krankenschwestern, die Offiziere wie einfache Soldaten nicht nur am Krankenlager trösten. Zu scharf spürst du im Krieg den Geschmack des Lebens.
Dann gab es hier oben noch eine Bibliothek. Dort entdeckte ich Garik und Farid. Da waren sie, diejenigen, die die ganze Nacht durchgequatscht hatten, bei einem Fläschchen - wobei es bei einem nicht geblieben war. Sie waren in den Sesseln eingeschlafen, offenbar erst vor kurzem: Vor Farid rauchte auf dem Tisch noch ganz leicht die Pfeife. Am Boden lagen Stapel von Büchern, die sie aus den Regalen genommen hatten. Worüber sie wohl gestritten hatten, dabei Schriftsteller und Dichter, Philosophen und Historiker als Bundesgenossen zitierend?
Über eine hölzerne Wendeltreppe ging ich nach unten. Ob sich jemand finden würde, der diesen ruhigen friedlichen Morgen mit mir teilte?
Im Wohnzimmer schliefen ebenfalls noch alle. Als ich in die Küche schaute, entdeckte ich niemanden, sah man einmal von einem Hund ab, der sich in eine Ecke drückte.
»Wieder aufgetaut?«, fragte ich.
Der Terrier bleckte die Zähne und winselte kläglich.
»Wer hat dich denn gestern auch gebeten zu kämpfen?«Ich kniete mich vor den Hund. Nahm ein Stück Wurst vom Tisch, was das gut erzogene Tier sich selbst nicht traute.»Nimm.«
Die Schnauze schnappte über meiner Hand zusammen und verschlang das Stück Wurst.
»Wenn du gut bist, ist man auch gut zu dir!«, erklärte ich ihm.»Und drück dich nicht in den Ecken herum.«
Aber irgendjemand musste doch schon wach sein!
Ich nahm mir selbst ein Stück Wurst. Kauend ging ich durchs Wohnzimmer und schaute ins Arbeitszimmer.
Auch hier schliefen welche.
Das Ecksofa war sogar ausgeklappt schmal. Deshalb lagen sie eng beieinander. Ignat in der Mitte, die muskulösen Arme ausgebreitet und süß lächelnd. Lena schmiegte sich links an ihn an, eine Hand in seine
dichte blonde Mähne verflochten, die andere über seine Brust gestreckt, sodass sie die zweite Partnerin unseres Don Juans berührte. Swetlana hatte den Kopf irgendwo unter Ignats rasierter Achselhöhle vergraben, ihre Hände hielten die halb herabgerutschte Decke gepackt.
Leise und sehr sorgsam schloss ich die Tür.
Das kleine Restaurant wirkte gemütlich. Der Seewolf war, wie schon der Name sagte, für seine Fischgerichte und das freundliche»Schiffsinterieur«berühmt. Außerdem lag es in unmittelbarer Nähe der Metro. Für einen kleinen Mann aus dem Mittelstand, der hin und wieder im Restaurant schlemmen, dabei aber nicht auch noch Geld für ein Taxi ausgeben wollte, stellte das einen nicht unwesentlichen Faktor dar.
Dieser Gast kam mit dem Auto, einem alten, aber völlig intakten»Sechser«. Der geschulte Blick der Kellner buchte ihn übrigens als weitaus zahlungskräftiger ab, als sein Wagen vermuten ließ. Die Ruhe, mit der der Mann den teuren dänischen Wodka trank, sich weder um den Preis noch um eventuelle Probleme mit der Verkehrspolizei scherte, bekräftigte diesen Eindruck nur.
Als der Kellner den bestellten Stör brachte, hob der Mann kurz den Blick. Bisher hatte er nur dagesessen, war mit dem Zahnstocher über die Serviette gefahren und immer mal wieder erstarrt, den Blick auf die Flammen der gläsernen Petroleumlampen gerichtet. Jetzt sah er plötzlich den Kellner an.
Dieser würde niemandem sagen, was er in diesem kurzen Moment zu sehen glaubte. Ihm schien, als blicke er in zwei gleißende Brunnen. Blendend in einem Maße, da das Licht verbrennt und nicht mehr vom Dunkel zu unterscheiden ist.
»Danke«, sagte der Gast.
Der Kellner ging weg, kämpfte gegen den Wunsch an, den Schritt zu beschleunigen. Sagte sich immer wieder: Das war nur das Funkeln der Lampe im gemütlichen Halbdunkel des Restaurants. Nur das Funkeln des Lichts im Dunkel war ihm auf die Augen geschlagen.
Boris Ignatjewitsch saß noch ein Weilchen da und zerbrach Zahnstocher. Der Stör wurde kalt, der Wodka in der Kristallkaraffe warm. Hinter einer Absperrung aus dicken Seilen, nachgebildeten Steuerrädern und einem imitierten Segel feierte eine große Gesellschaft den Geburtstag von jemandem, warf mit Glückwünschen um sich, schimpfte über die Hitze, die Steuern und irgendwelche»falschen«Banditen.
Geser, der Chef der Moskauer Abteilung der Nachtwache, wartete.
Die Hunde, die draußen lagen, scheuten zurück, sobald ich auftauchte. Der»Freeze«hatte sie schwer mitgenommen. Der Körper gehorcht nicht, man kann nicht knurren und nicht bellen, der Geifer gefriert ihnen in der Schnauze, die Luft lastet wie die schwere Hand eines Fieberkranken.
Aber die Seele lebt.
Die Hunde hatte es schwer mitgenommen.
Das Tor stand halb offen, ich ging hinaus, blieb kurz stehen, wusste nicht genau, wohin ich gehen und was ich tun sollte.
Spielte das überhaupt noch eine Rolle?
Gekränkt war ich nicht. Es tat nicht einmal weh. Wir waren nie intim gewesen. Mehr noch, ich selbst hatte alles darangesetzt, diese Barriere zwischen uns aufzubauen. Schließlich lebe ich nicht für den Augenblick, sondern will alles, sofort und für immer.
Ich tastete nach dem MD-Player, schaltete die Zufallsauswahl ein. Damit habe ich stets Glück. Ob ich wohl wie Tigerjunges seit langer Zeit das simple elektronische System steuere, ohne es selbst zu bemerken?
Wen trifft die Schuld, dass deine Kraft,
Die dich gen Himmel trug, erschlafft,
Dass du nicht findest, was du suchst,
Und das Gefundene verfluchst?
Und wer ist schuld, dass Tag für Tag
Gelenkt von fremdem Stundenschlag
Das Leben fließt aus dir heraus
Und öd und einsam wird dein Haus?
Der Ton verstummt, das Licht wird fahl,
Und jedes Mal kommt neue Qual,
Und wenn dein Schmerz allmählich nachlässt -
Ist das nächste Unglück nicht mehr weit.
Ich hatte es selbst gewollt. Selbst darum gekämpft. Und durfte jetzt niemandem die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Statt gestern den ganzen Abend mit Semjon über die Schwierigkeiten der weltweiten Konfrontation zwischen Gut und Böse zu philosophieren, hätte ich bei Sweta bleiben sollen. Statt wie ein Wolf Geser und Olga samt ihrer hämischen Wahrheit im Auge zu behalten, hätte ich auf meiner bestehen sollen.
Und nie, niemals daran denken dürfen, dass ich nicht siegen kann.
Du brauchst diesen Gedanken nur aufkommen zu lassen - und schon hast du verloren.
Wen trifft die Schuld und woran liegt,
Dass der betrügt und der nichts kriegt?
Der ist verliebt und der betrübt,
Der ist ein Narr, der bringt Gefahr.
Und wer ist schuld, dass jedes Jahr
Dein Leben nichts als Warten war?
Der Tag ist schwer, die Nacht ist leer,
Und warme Plätzchen gibt’s nicht mehr…
Der Ton verstummt, das Licht wird fahl,
Und jedes Mal kommt neue Qual,
Und wenn dein Schmerz allmählich nachlässt -
Ist das nächste Unglück nicht mehr weit.
Wen trifft die Schuld, dass weit und breit
Kein Glück gedeiht und auch kein Leid,
Kein Sieg und keine Niederlage,
Erfolg und Scheitern sind in Waage,
Und wem ist wohl die Schuld zu geben,
Dass du allein bist und dein Leben
So trostlos ist und nur besteht
Aus Zeit - bis es zu Ende geht…
»Das nun nicht gerade«, flüsterte ich und zog die Kopfhörer heraus.»Darauf braucht ihr nicht zu warten.«
Man hatte uns so lange gelehrt zu geben, ohne im Gegenzug etwas zu nehmen. Sich um anderer willen zu opfern. Jeder Schritt wie ins Maschinengewehrfeuer, jeder Blick gütig und weise, kein einziger sinnloser Gedanke, keine einzige sündige Überlegung. Denn wir sind die Anderen. Wir haben uns über die Masse erhoben, haben unsere tadellos reinen Fahnen entfaltet, unsere Lackschuhe auf Hochglanz gewienert, weiße Handschuhe übergezogen. O ja, in unserer eigenen kleinen Welt erlauben wir uns alles Mögliche. Jede Tat findet ihre Rechtfertigung, ehrliche und erhabene. Eine einmalige Nummer: Zum ersten Mal stehen wir strahlend weiß da, während alles um uns herum in der Scheiße sitzt.
Genug!
Ein heißes Herz, saubere Hände, ein kühler Kopf… Es war doch wohl kein Zufall, dass sich die meisten Lichten während der Revolution und im Bürgerkrieg der Tscheka angedient hatten? Während diejenigen, die sich nicht andienten, zum größten Teil umkamen. Von den Dunklen, häufiger aber noch von den Händen derjenigen, die sie verteidigten. Von Menschenhänden. Von der Dummheit, Gemeinheit, Feigheit, Bigotterie und dem Neid der Menschen. Ein heißes Herz, saubere Hände. Der Kopf kann ruhig kühl bleiben. Anders geht es nicht. Mit den beiden anderen Sachen bin ich aber nicht einverstanden. Soll das Herz sauber sein und die Hände heiß. Das würde mir besser gefallen!
»Ich will euch nicht verteidigen!«, sagte ich in die Stille des Sommermorgens hinein.»Ich will es nicht! Weder Frauen noch Kinder, noch Alte und Bettler! Niemanden! Lebt, wie es euch gefällt. Bekommt das, was ihr wert seid! Rennt vor Vampiren davon, betet Dunkle Magier an, küsst den Bock unterm Schwanz! Was ihr verdient, bekommt ihr! Wenn meine Liebe weniger zählt als euer glückliches Leben, dann wünsche ich euch kein Glück!«
Sie können und sollen besser werden, sie sind unsere Wurzeln, unsere Zukunft, unsere Schutzbefohlenen. Die kleinen und die großen Menschen, die Hausmeister und Präsidenten, die Verbrecher und Polizisten. In ihnen glimmt das Licht, das sich zu lebensspendender Wärme entflammen oder zu todbringendem Feuer entfesseln kann.
Ich glaube das nicht!
Ich habe euch alle gesehen. Euch Hausmeister und Präsidenten, Banditen und Bullen. Habe gesehen, wie Mütter ihre Söhne verprügeln, Väter ihre Töchter missbrauchen. Habe gesehen, wie Söhne ihre Mütter aus dem Haus jagen, Töchter ihre Väter mit Arsen vergiften. Habe gesehen, wie ein Mann, kaum hatte er hinter seinen Gästen die Tür geschlossen, noch immer lächelnd seiner schwangeren Frau ins Gesicht schlägt. Habe gesehen, wie eine Frau, die die Tür hinter ihrem betrunkenen, sich Nachschub besorgenden Mann zuschlägt, ihn betrügt und leidenschaftlich seinen besten Freund küsst. Das ist sehr einfach - zu sehen. Man muss nur hinschauen können. Denn man lehrt uns etwas, noch bevor man uns beibringt, durchs Zwielicht zu spähen - man lehrt uns, nicht hinzuschauen.
Aber wir tun es trotzdem.
Sie sind schwach, haben ein kurzes Leben, haben vor allem Angst. Man darf sie nicht verachten, und es ist ein Verbrechen, sie zu hassen. Man kann sie nur lieben, bedauern und beschützen. Das ist unsere Arbeit und unsere Pflicht. Wir sind die Wache.
Ich glaube das nicht!
Du kannst niemanden zwingen, gemein zu sein. Brauchst niemanden in den Dreck zu stoßen, denn in den tritt jeder nur von allein. Wie auch immer das Leben ist, dafür gibt es keine Rechtfertigung, ist auch keine in Sicht. Trotzdem sucht und findet man sie, die Rechtfertigungen. Alle Menschen kriegen das beigebracht, und sie alle haben sich als gelehrige Schüler erwiesen.
Und wir sind gewiss nur die Besten der Besten.
Ja, gewiss, ja, natürlich, es gab, gibt und wird immer jemanden geben, der kein Anderer geworden ist, sondern es geschafft hat, ein Mensch zu bleiben. Nur sind es wenige, so wenig. Aber vielleicht haben wir nur Angst, sie genau anzusehen. Angst, das zu sehen, was wir dann entdecken könnten.
»Für euch leben?«, fragte ich. Der Wald schwieg, gab sich vorab mit allen meinen Worten einverstanden.
Warum müssen wir alles opfern? Uns selbst und alle, die wir lieben?
Für diejenigen, die das niemals erfahren und niemals schätzen werden?
Selbst wenn sie es erführen, brächte es uns nichts anderes ein als ein ungläubiges Kopfschütteln und den Ausruf:»Blödmänner! «
Vielleicht sollte man der Menschheit irgendwann mal klar machen, was es heißt, ein Anderer zu sein? Was ein einziger Anderer anrichten kann, wenn er nicht durch den Großen Vertrag gebunden ist, wenn er sich der Kontrolle durch die Wachen entzieht?
Ich musste sogar lächeln, als ich mir dieses Bild vorstellte. Das Bild allgemein, nicht mich darin: Mich würde man schnell stoppen. Wie auch jeden Großen Magier oder jede Große Zauberin, die den Vertrag bricht und beschließt, der Welt die Welt der Anderen zu offenbaren.
Was das für ein Spektakel gäbe!
Keine Außerirdischen, die gleichzeitig im Kreml und im Weißen Haus landeten, würden dergleichen fertig bringen.
Doch nein.
Das ist nicht mein Weg.
Und zwar in erster Linie deshalb nicht, weil mir nicht an der Weltherrschaft oder an allgemeinem Chaos gelegen ist.
Ich will nur eins: dass sich die Frau, die ich liebe, nicht opfern muss. Denn der Weg der Großen bedeutet immer ein Opfer. Die sagenhaften Kräfte, die sie erlangen, verändern sie radikal, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.
Wir alle sind keine hundertprozentigen Menschen. Aber zumindest erinnern wir uns noch daran, dass wir einmal Menschen waren. Und können uns noch freuen, können traurig sein, lieben und hassen. Die Großen Magier und Zauberinnen überschreiten die Grenze menschlicher Gefühle. Vermutlich empfinden sie ihre eigenen, die wir aber nicht nachvollziehen können. Selbst Geser, ein Magier außerhalb jeder Kategorie, ist kein Großer. Olga hat es nicht geschafft, eine Große zu werden.
Irgendwas haben sie in den Sand gesetzt. Haben eine grandiose Operation im Kampf gegen das Dunkel nicht fertig gebracht.
Und jetzt sind sie bereit, eine neue Kandidatin an die
Front zu werfen.
Um der Menschen willen, die auf Licht und Dunkel pfeifen.
Sie hetzen sie durch alle Kreise, die ein Anderer durchwandern muss. Haben sie bereits auf die dritte Kraftstufe hochgebracht, jetzt muss ihr Bewusstsein nachziehen. In absolut rasantem Tempo.
Wahrscheinlich habe auch ich meinen Platz in diesem Wahnsinnsrennen auf ein unbekanntes Ziel zu. Geser benutzt alles, was ihm gerade unterkommt, mich eingeschlossen. Was auch immer ich getan habe: Vampire gejagt, den Wilden verfolgt, in Olgas Körper mit Sweta gesprochen - ich habe nur nach der Pfeife des Chefs getanzt.
Was ich jetzt auch tue - es ist alles einkalkuliert.
Meine einzige Hoffnung ist, dass selbst Geser nicht alles voraussehen kann.
Dass ich die einzige Tat finde, die seinen Plan zerschlägt. Den großen Plan der Kräfte des Lichts.
Ohne dabei Böses anzurichten. Denn sonst würde mich das Zwielicht erwarten.
Und Swetlana müsste trotzdem den großen Dienst tun.
Ich ertappte mich dabei, dass ich dastand, mein Gesicht gegen den Stamm einer dürren Kiefer gepresst. Dastand und mit der Faust auf den Baum einhämmerte. Aus Wut oder aus Schmerz. Bis ich die Hand senkte, die schon blutete. Worauf der Laut jedoch nicht verstummte. Er kam aus dem Wald, fast von der Stelle her, wo die magische Barriere errichtet war. Ebenso rhythmische Schläge, ein nervöses Klopfen.
Gebückt wie ein Paintballer, der Krieg spielt, rannte ich zwischen den Bäumen hindurch. Ich hatte eine vage Ahnung, was ich sehen würde.
Auf einer kleinen Lichtung sprang ein Tiger. Genauer, eine Tigerin. Ein schwarz-orange gestreiftes Fell glänzte in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Die Tigerin sah mich nicht, sie bemerkte jetzt nichts und niemanden. Tollte zwischen den Bäumen herum, und die scharfen Dolche ihrer Krallen rissen die Rinde auf. Weiße Kratzer durchfurchten die Kiefern. Mitunter beruhigte sich die Tigerin etwas, stellte sich auf die Hinterpfoten und bearbeitete gezielt die Stämme mit ihren Krallen.
Ich zog mich langsam zurück.
Jeder von uns entspannt sich auf seine Weise. Jeder von uns trägt seinen Kampf nicht nur mit dem Dunkel aus, sondern auch mit dem Licht. Denn das blendet mitunter.
Man darf uns nur nicht bedauern: Wir sind sehr, sehr stolz. Soldaten im Weltkrieg zwischen Gut und Böse, ewige Freiwillige.
Der junge Mann betrat das Restaurant mit einer Sicherheit, als käme er jeden Tag zum Frühstück hierher. Aber das war nicht der Fall.
Auch auf den Tisch, an dem ein kleiner dunkelhäutiger Mann saß, steuerte er sofort zu, als würden die beiden sich seit langem kennen. Übrigens traf auch das nicht zu. Beim letzten Schritt ließ er sich langsam auf die Knie sinken. Brach nicht zusammen, warf sich nicht zu Boden, sondern ließ sich ruhig nieder, voller Würde und mit geradem Rücken.
Ein vorbeilaufender Kellner schluckte und machte kehrt. Er hatte schon viel erlebt, weit mehr als solche Banalitäten wie einen popeligen Mafioso, der vor seinem Boss katzbuckelt. Freilich, der jüngere Mann wirkte nicht wie ein kleiner Ganove, der ältere nicht wie ein Boss.
Und die Unannehmlichkeiten, deren Geruch er wahrnahm, drohten weitaus ernster zu werden als ein Bandenkrieg. Er wusste nicht, was genau hier vor sich ging, spürte aber etwas, denn er war ein Anderer, wenn auch kein initiierter.
Übrigens hatte er diese Szene schon im nächsten Moment völlig vergessen. Etwas hatte ihm auf seltsame Weise das Herz zusammengepresst, was genau, vermochte er jedoch nicht zu sagen.
»Steh auf, Alischer«, sagte Geser leise.»Steh auf. Bei uns ist das nicht üblich.«
Der Mann erhob sich und setzte sich dem Oberhaupt der Nachtwache gegenüber. Er nickte.»Bei uns auch nicht. Nicht mehr. Aber mein Vater hat mich darum gebeten, vor dir auf die Knie zu fallen, Geser. Er war noch von der alten Schule. Er hätte vor dir gekniet. Aber er kann es nicht mehr.«
»Du weißt, wie er gestorben ist?«
»Ja. Ich habe es mit seinen Augen gesehen, mit seinen Ohren gehört, habe seinen Schmerz gelitten.«
»Gib auch mir seinen Schmerz, Alischer, Sohn des Devona und einer Menschenfrau.«
»Nimm das, worum du bittest, Geser, Vernichter des Bösen, der du den Göttern gleichst, die es nicht gibt.«
Sie sahen einander in die Augen. Nach einer Weile nickte Geser.»Ich kenne die Mörder. Dein Vater wird gerächt werden.«
»Das muss ich tun.«
»Nein. Du kannst es nicht, und du hast nicht das Recht dazu. Ihr seid illegal nach Moskau gekommen.«
»Nimm mich in deine Wache auf, Geser.«
Der Chef der Nachtwache schüttelte den Kopf.
»Ich war der Beste in Samarkand, Geser.«Der junge Mann sah ihn eindringlich an.»Lach nicht, ich weiß, dass ich hier der Letzte sein werde. Nimm mich in die Wache auf. Als Geringsten unter den Schülern. Als Kettenhund. Beim Gedenken an meinen Vater bitte ich dich - nimm mich in die Wache auf.«
»Du bittest um zu viel, Alischer. Du bittest darum, dass ich dir deinen Tod schenke.«
»Ich bin bereits gestorben, Geser. Als man die Seele meines Vaters trank, bin ich mit ihm gestorben. Lächelnd bin ich fortgegangen, während er die Dunklen abgelenkt hat. Bin in die Metro eingestiegen, während man seine Asche mit Füßen getreten hat. Geser, ich habe das Recht, dich darum zu bitten.«
Geser nickte.»Dann soll es so sein. Du bist in meiner Wache, Alischer.«
Kein Gefühl spiegelte sich auf dem Gesicht des jungen Mannes wider. Er nickte und presste einen kurzen Moment lang die Hand auf die Brust.
»Wo ist das, was ihr mitgebracht habt, Alischer?«
»Ich habe es bei mir, Herr.«
Schweigend streckte Geser die Hand über den Tisch hinweg aus.
Alischer öffnete die Gürteltasche. Und holte sehr behutsam ein kleines rechteckiges Päckchen aus grobem Stoff heraus.»Nimm es, Geser, erlöse mich von dieser Pflicht.«
Gesers Hand bedeckte die seines Gegenübers, die Finger schlossen sich. Schon in der nächsten Sekunde, als Geser die Hand zurückzog, lag nichts mehr auf der des jungen Mannes.»Damit bist du deines Dienstes entbunden, Alischer. Jetzt können wir uns einfach entspannen. Essen, trinken und uns an deinen Vater erinnern. Ich werde dir alles erzählen, woran ich mich erinnern kann.«
Alischer nickte. Doch nichts ließ erkennen, ob ihn die Worte Gesers freuten oder ob er ihm einfach jeden Wunsch erfüllt hätte.
»Wir haben eine halbe Stunde«, meinte Geser beiläufig.»Dann tauchen die Dunklen hier auf. Sie haben deine Spur doch noch aufgenommen. Zu spät zwar, aber immerhin.«
»Wird es einen Kampf geben, Herr?«
»Ich weiß es nicht.«Geser zuckte mit den Achseln.»Was spielt das schon für eine Rolle? Sebulon ist weit weg. Vor den andern habe ich keine Angst.«
»Es wird einen Kampf geben«, meinte Alischer gedankenverloren. Und ließ den Blick durchs Restaurant wandern.
»Vertreibe die Gäste«, riet Geser.»Sanft, unaufdringlich. Ich will mir deine Technik anschauen. Dann werden wir uns entspannen und auf unsern Besuch warten.«
Gegen elf wachten die andern allmählich auf.
Ich wartete auf der Terrasse, in einem Liegestuhl, die Beine ausgestreckt und von Zeit zu Zeit an meinem Strohhalm nuckelnd, der in einem hohen Glas mit Gin Tonic steckte. Es ging mir gut, wie ein Masochist genoss ich den süßen Schmerz. Sobald jemand in der Tür erschien, winkte ich ihm einen freundlichen Gruß zu und schenkte ihm einen kleinen Regenbogen, der aus meinen gespreizten Fingern in den Himmel hinaufschoss. Ein Kinderspaß, über den alle lachen mussten. Als die gähnende Julja diesen Gruß sah, kreischte sie und schickte mir einen Regenbogen zurück. Zwei Minuten lang wetteiferten wir, dann bauten wir aus den beiden Bögen einen neuen, relativ großen, der bis in den Wald reichte. Julja teilte uns mit, sie werde jetzt den Topf mit dem Gold suchen, und schritt stolz unter dem bunten Gewölbe einher. Einer der Terrier rannte gehorsam neben ihr her.
Ich wartete.
Als Erste von denen, auf die ich wartete, tauchte Lena auf. Eine lustige, muntere Frau im Badeanzug. Als sie mich sah, schien sie einen Moment lang peinlich berührt, nickte dann aber und lief zum Tor. Was für eine Freude, zu sehen, wie sie sich bewegte, diese schlanke, wohlgeformte Frau voller Leben. Jetzt würde sie ins kalte Wasser springen, sich allein austoben und mit frischem Appetit zum Frühstück kommen.
Als Nächstes erschien Ignat auf der Bildfläche. In Badehosen und Gummilatschen.»Hallo, Anton!«, rief er fröhlich. Er kam auf mich zu, zog einen Liegestuhl heran und ließ sich auf ihn plumpsen.»Wie ist die Stimmung?«
»Kämpferisch!«, teilte ich mit und hob das Glas an.
»Tüchtig.«Ignat blickte sich suchend nach der Flasche um, fand sie aber nicht, steckte sich den Strohhalm zwischen die Lippen und trank völlig unbekümmert aus meinem Glas.»Zu schlaff, du verdünnst ja.«
»Ich hab gestern Abend mehr als genug gehabt.«
»Stimmt, du solltest dich schonen«, riet Ignat.»Wir haben gestern den ganzen Abend bloß Sekt getrunken. In der Nacht haben wir dann mit Kognak angefangen. Ich hatte schon Angst, der Kopf würde mir heute platzen, ist aber nicht der Fall. Glück gehabt.«
Man konnte ihm nicht einmal böse sein.
»Was wolltest du als kleiner Junge werden, Ignat?«, fragte ich.
»Krankenpfleger.«
»Was?«
»Na ja, es hieß, dass Jungs nicht Krankenschwester werden können, und ich wollte Menschen gesund machen. Deshalb beschloss ich, Krankenpfleger zu werden, wenn ich groß bin.«
»Klasse«, begeisterte ich mich.»Und warum nicht Arzt?«
»Die Verantwortung war mir zu groß«, gestand Ignat selbstkritisch ein.»Außerdem hätte ich zu lange studieren müssen.«
»Und? Bist du Krankenpfleger geworden?«
»Ja. Ich bin im Notarztwagen mitgefahren, für die Psychiatrie. Alle Ärzte haben gern mit mir zusammengearbeitet.«
»Warum?«
»Erstens weil ich sehr charmant bin«, lobte sich Ignat treuherzig selbst.»Ich konnte sowohl mit Frauen wie auch mit Männern auf eine Weise reden, dass sie sich beruhigten und einer Einlieferung ins Krankenhaus zustimmten. Zweitens sah ich, wann ein Mensch wirklich krank war und wann er das Unsichtbare sah. Manchmal konnte ich jemanden beiseite ziehen, ihm klar machen, dass alles in Ordnung sei und wir auf eine Spritze verzichten könnten.«
»Der Medizin ist einiges entgangen.«
»Ja.«Ignat seufzte.»Aber der Chef hat mich überzeugt, dass ich der Wache von größerem Nutzen sein würde. Und das stimmt doch auch, oder?«
»Sicherlich.«
»Ich langweile mich hier schon«, meinte Ignat nachdenklich.»Du nicht? Ich sehne mich bereits nach der Arbeit.«
»Ich wahrscheinlich auch. Hast du ein Hobby, Ignat? Neben der Arbeit?«
»Was fragst du mich denn so aus?«, wunderte sich der Magier.
»Ich bin einfach neugierig. Oder ist das ein Geheimnis?«
»Was haben wir schon für Geheimnisse?«Ignat zuckte mit den Schultern.»Ich sammel Schmetterlinge. Habe eine der besten Kollektionen weltweit. Die nimmt zwei Zimmer ein.«
»Alle Achtung«, meinte ich.
»Besuch mich doch mal und schau sie dir an«, schlug Ignat vor.»Mit Sweta, sie sagt, Schmetterlinge würden ihr auch gefallen.«
Ich lachte so lange, dass sogar Ignat es kapierte. Er stand auf und lächelte unsicher.
»Ich helf den andern mal beim Frühstück«, murmelte er.
»Viel Erfolg«, entgegnete ich bloß. Konnte mir dann aber nicht verkneifen, unserm lichtbringenden Casanova, sobald er die Tür erreicht hatte, hinterherzurufen:»Hör mal, der Chef macht sich doch umsonst Sorgen um Sweta, oder?«
Ignat fasste sich mit beredter Geste ans Kinn.»Du weißt doch, dass er sich nicht umsonst Sorgen macht«, sagte er.»Sie ist wirklich nervös, kann sich einfach nicht entspannen. Dabei warten große Aufgaben auf sie, was man von uns ja nicht gerade behaupten kann.«
»Aber du hast dir alle Mühe gegeben?«
»Was für eine Frage!«Ignat war gekränkt.»Kommt mich mal besuchen, ehrlich, ich würd mich freuen!«
Inzwischen war der Gin warm, schmolz das Eis im Glas. Am Strohhalm prangte ein leichter Abdruck von Lippenstift. Ich schüttelte den Kopf und stellte das
Glas hin.
Geser, du kannst nicht alles voraussehen.
Aber um mich mit dir nicht auf ein magisches Duell einzulassen - allein der Gedanke daran ist absurd -, sondern um auf dem einzigen Gebiet zu kämpfen, das mir zugänglich ist, auf dem Feld aus Wörtern und Taten, muss ich wissen, was du vorhast. Muss wissen, wie die Karten im Stapel liegen und welche du in der Hand hältst.
Wer spielt alles mit?
Geser - der Organisator und Inspirator. Olga - seine Geliebte, die bestrafte Zauberin und Ratgeberin. Swetlana - die eifrig gehegte Vollstreckerin. Ich - eines der Werkzeuge zu ihrer Erziehung. Ignat, Tigerjunges, Semjon und alle anderen Lichten können vernachlässigt werden. Sie sind ebenfalls Werkzeuge, wenn auch von geringerer Bedeutung. Auf sie kann ich nicht zählen.
Die Dunklen?
Natürlich spielen sie eine Rolle, aber keine offensichtliche. Sowohl Sebulon wie auch all seine Handlanger sind durch das Auftauchen von Swetlana in unserem Lager beunruhigt. Können aber nichts direkt dagegen tun. Entweder müssen sie klammheimlich eine Intrige spinnen oder einen derart vernichtenden Schlag vorbereiten, dass er die Wachen an den Rand des Krieges bringt.
Was noch?
Die Inquisition?
Ich trommelte mit den Fingern auf die Armlehne des Liegestuhls.
Die Inquisition. Die Struktur über den Wachen. Sie betrachtet alle Streitfälle, bestraft Gestrauchelte - auf beiden Seiten. Sie wacht. Sammelt Informationen über jeden von uns. Interveniert aber nur in seltenen Fällen, ihre Kraft liegt wohl eher in der Geheimhaltung als in der Kampfstärke. Wenn die Inquisition den Fall eines ziemlich mächtigen Magiers betrachtet, zieht sie Kämpfer von den Wachen hinzu.
Trotzdem - die Inquisition ist involviert. Ich kenne den Chef. Er schlägt aus allem mindestens zwei, drei Vorteile für sich heraus. Vor kurzem diese Geschichte mit Maxim, dem wilden Anderen, dem Lichten, der nun für die Inquisition arbeitet, ist nur ein Beispiel. Der Chef hat Swetlana in diese Sache verwickelt, um ihr eine Lektion in Selbstkontrolle und Intrigenspiel zu erteilen, nebenbei aber auch einen neuen Inquisitor entdeckt.
Wenn ich nur wüsste, worauf Swetlana vorbereitet wird!
Noch versinkt alles um mich herum in Dunkelheit. Und was das Schlimmste ist - ich entferne mich vom Licht. Ich stöpselte die Kopfhörer ein, schloss die Augen.
Heute Nacht, wenn so wunderbunt der Farn sich entrollt,
Heute Nacht, wenn der Hausgeist nach Hause sich trollt,
Nördlich Sturm geballt, Wind von Westen kalt,
Also winkt mit der Hand mir die Zauberin bald.
Wie die Mauser in der Tasche wart ich auf ein Wunder,
Wie im Netz die Spinne lauert,
Wie ein Baum in Ödnis kauert,
Wie der schwarze Fuchs im Bau darunter.
Das ist riskant. Sehr riskant. Die Großen Zauberinnen gehen über die eigenen Leute hinweg, aber selbst sie würden es nicht wagen, gegen die eigenen Leute anzugehen. Einzelgänger überleben nicht.
Durchs Fernrohr bin ich geflohen vor ängstlichen Kinderaugen,
Mit der Nixe wollte ich schlafen - nun ja, das konnte nichts taugen.
Ich wollt in dein Fenster fahren verwandelt als Straßenbahn.
Vom Stadtrand her weht der Wind - egal, was liegt daran?
Vom Stadtrand her weht der Wind - egal, was liegt daran?
Sei mir Schattenkontur, knarr wie Dielen im Flur,
Bunter Sonntag, mein sprühender Regen.
Sei mein Gottesbild, Birkensaft, der quillt,
Klingel, die da schrillt, mein verbogener Degen.
Ich lache und weiß ja, du bist der Wind,
Der mir entgegenweht;
Ich kämpfe um dich, solang ich es noch bin,
Der durch die Träume dir geht.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter.
»Guten Morgen, Sweta«, sagte ich und öffnete die Augen.
Sie trug Shorts und einen Badeanzug. Das Haar war feucht und ordentlich gekämmt. Vermutlich hatte sie geduscht. Woran ich Schwein nicht mal gedacht hatte.
»Hast du den gestrigen Abend gut überstanden?«, wollte sie wissen.
»Ja. Und du?«
»Ich auch.«Sie wandte sich ab.
Ich wartete. Aus meinen Kopfhörern erklang Splin.
»Was hast du von mir erwartet?«, fragte Sweta
scharf.»Ich bin eine normale, gesunde junge Frau. Seit dem Winter habe ich mit keinem Mann mehr geschlafen. Ich verstehe ja, dass du dir einbildest, Geser habe mich zu dir gebracht wie ein Pferd zum Beschälen, und dich deshalb so komisch aufführst.«
»Ich habe gar nichts erwartet.«
»Dann entschuldige die böse Überraschung!«
»Hast du meine Spur im Zimmer gespürt? Beim Aufwachen?«
»Ja.«Umständlich zog Swetlana aus der schmalen Hosentasche ein Päckchen Zigaretten hervor und zündete sich eine an.»Ich bin müde. Selbst wenn ich jetzt nur lerne und nicht arbeite, bin ich müde. Und bin hierher gekommen, um mich zu erholen.«
»Du hast doch selbst gesagt, dass dir die Fröhlichkeit hier aufgesetzt vorkommt…«
»Und du hast dich dem nur zu begeistert angeschlossen!«
»Stimmt«, gab ich zu.
»Und dann bist du weggegangen, um Wodka zu saufen und Verschwörungen aufzuziehen.«
»Verschwörungen gegen wen?«
»Gegen Geser. Und gegen mich, nebenbei bemerkt. Wirklich komisch! Selbst ich habe das gespürt! Du solltest dich nicht für einen so großen Magier halten, der…«
Sie stockte. Aber zu spät.
»Ich bin kein großer Magier«, sagte ich.»Dritter Grad. Vielleicht auch zweiter. Mehr nicht. Jeder hat eben seine Grenzen, die er nicht überschreiten kann, selbst wenn er tausend Jahre lebt.«
»Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen«, meinte Sweta verstört. Sie ließ die Hand mit der Zigarette sinken.
»Vergiss es. Ich nehme so was nicht krumm. Weißt du eigentlich, warum die Dunklen so oft untereinander Familien gründen, während wir uns lieber eine Frau oder einen Mann unter den Menschen suchen? Die Dunklen ertragen Ungleichheit und permanente Konkurrenz besser.«
»Ein Mensch und ein Anderer - das ist noch größere Ungleichheit.«
»Das zählt nicht. Wir gehören zwei unterschiedlichen Arten an. Das kannst du nicht vergleichen.«
»Ich möchte, dass du eins weißt.«Swetlana nahm einen tiefen Zug.»Ich wollte es nicht so weit kommen lassen. Ich habe darauf gewartet, dass du herunterkommst, alles siehst und eifersüchtig wirst.«
»Tut mir Leid, aber ich habe nicht gewusst, dass ich eifersüchtig werden soll«, gab ich ehrlich zu.
»Aber dann ist alles irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Ich konnte nichts mehr dagegen tun.«
»Das verstehe ich doch, Sweta. Das ist in Ordnung.«
Verwirrt sah sie mich an.»In Ordnung?«
»Natürlich. Wem würde das nicht mal passieren. Die Wache ist eine große und starke Familie. Mit allen daraus resultierenden Folgen.«
»Was du für ein Vieh bist«, presste sie hervor.»Du solltest dich jetzt mal sehen, Anton! Wie kannst du es wagen, dich noch als einer von uns zu bezeichnen!«
»Sweta, bist du nicht gekommen, um dich zu vertragen?«, fragte ich verwundert.»Also, ich vertrage
mich. Alles ist in Ordnung. Was passiert ist, zählt nicht. Das ist das Leben, da muss man mit allem Möglichen rechnen.«
Sie fuhr hoch und durchbohrte mich kurz mit eisigem Blick. Ich blinzelte rasch und verwirrt.
»Idiot«, knallte sie mir an den Kopf und ging ins Haus.
Was hatte sie denn erwartet? Dass ich beleidigt bin, ihr Vorwürfe mache, traure?
Aber das spielte keine Rolle. Was hatte Geser erwartet? Was würde sich ändern, wenn ich die Rolle des unglücklich in Sweta Verliebten aufgeben würde? Würde diesen Platz jemand anders einnehmen? Oder war es für sie schon an der Zeit, allein zu bleiben - allein mit ihrem großen Schicksal?
Das Ziel. Ich musste Gesers Ziel in Erfahrung bringen.
Mit einem Ruck erhob ich mich vom Liegestuhl und ging ins Haus. Wo ich sofort auf Olga stieß. Sie war allein im Wohnzimmer. Stand vor der offenen Vitrine mit den Schwertern, hielt eine lange schmale Klinge in den ausgestreckten Händen. Sah sie an - nein, so betrachtet man kein antiquarisches Spielzeug. Tigerjunges sah vermutlich mit einem ähnlichen Blick auf ihre Schwerter. Bloß dass für sie die Liebe zu alten Waffen etwas Abstraktes war. Für Olga nicht.
Als Geser nach Russland gekommen war, um hier zu leben und zu arbeiten - übrigens ihretwegen -, mochten solche Schwerter noch in Gebrauch gewesen sein.
Vor achtzig Jahren, als Olga alle Rechte entzogen wurden, kämpfte man schon anders.
Die ehemalige Große Zauberin. Das einstige Große Ziel. Vor achtzig Jahren.
»Was für ein schöner Plan«, sagte ich.
Olga erzitterte und drehte sich um.
»Allein besiegst du das Dunkel nicht. Man muss warten, bis die Menschen aufgeklärter sind. Besser und zärtlicher sind, arbeitsamer und weiser sind. Man muss warten, bis jeder Andere nichts mehr sieht außer dem Licht. Was für ein Ziel! Wie lange die Kreise auseinander laufen mussten, während es im Blut versank.«
»Hast du es also doch herausbekommen?«, sagte Olga.»Oder erraten?«
»Erraten.«
»Gut. Und weiter?«
»Was hast du falsch gemacht, Olga?«
»Ich habe mich auf einen Kompromiss eingelassen. Einen kleinen Kompromiss mit dem Dunkel. Mit dem Ergebnis, dass wir verloren haben.«
»Wir? Wir werden immer mit heiler Haut davonkommen. Uns anpassen, einordnen, einleben. Und den alten Kampf wieder aufnehmen. Verloren haben nur die Menschen.«
»Ab und zu muss man zurückweichen.«Locker umfasste Olga das zweihändige Schwert mit einer Hand und schwang es über dem Kopf.»Seh ich aus wie ein Hubschrauber im Leerlauf?«
»Du siehst aus wie eine Frau, die mit einem Schwert fuchtelt. Haben wir denn wirklich nichts gelernt, Olga?«
»Doch, und wie. Diesmal wird alles anders, Anton.«
»Eine neue Revolution?«
»Wir wollten schon die erste nicht. Alles muss ohne Blutvergießen geschehen. Du verstehst doch: Wir siegen nur durch die Menschen. Indem wir sie aufklären, ihren Geist emporheben. Der Kommunismus war ein hervorragend ausgetüfteltes System, und es ist nur meine Schuld, dass er nicht verwirklicht wurde.«
»Oho! Warum bist du dann noch nicht im Zwielicht, wenn es deine Schuld war?«
»Weil alles abgestimmt war. Jeder Schritt zuvor abgesegnet worden ist. Selbst dieser unglückselige Kompromiss, selbst der schien möglich.«
»Und jetzt startet ein neuer Versuch, die Menschen zu ändern?«
»Der nächste.«
»Warum hier?«, fragte ich.»Warum schon wieder bei uns?«
»Was heißt, bei uns?«
»In Russland. Wie viel soll dieses Land denn noch ertragen?«
»So viel, wie nötig ist.«
»Also warum wieder bei uns?«
Sie seufzte und steckte das Schwert mit leichter Geste in die Scheide. Legte es in die Vitrine zurück.»Weil, mein lieber Junge, es auf diesem Feld noch möglich ist, etwas zu erreichen. Europa, Nordamerika - diese Länder sind bereits abgearbeitet. Was möglich war, wurde ausprobiert. Sicher, einiges versucht man auch heute noch. Aber sie dösen schon vor sich hin, schlafen. Der kräftige Rentner in Shorts mit seiner Videokamera - das sind die wohlhabenden westlichen Länder. Aber experimentieren muss man mit den Jungen. Russland, Asien, die arabische Welt - da muss man heute ansetzen. Und mach nicht so ein empörtes Gesicht, ich liebe meine Heimat nicht weniger als du! Ich habe für sie schon mehr Blut vergossen, als in deinen Adern fließt. Eins musst du verstehen, Antoschka - das Schlachtfeld ist die ganze Welt. Das weißt du schließlich genauso gut wie ich.«
»Wir kämpfen gegen das Dunkel, nicht gegen die Menschen!«
»Ja, gegen das Dunkel. Aber siegen können wir nur, wenn wir eine ideale Gesellschaft aufbauen. Eine Welt, in der Liebe, Güte und Gerechtigkeit herrschen. Die Arbeit der Wachen besteht schließlich nicht darin, psychopathische Magier auf den Straßen einzufangen und Lizenzen an Vampire auszugeben! All diese Kleinigkeiten kosten uns Zeit und Kraft, sind aber zweitrangig, wie die Wärme bei Glühbirnen. Lampen sollen für Helligkeit sorgen, nicht für Wärme. Wir müssen die Menschenwelt ändern, nicht die kleineren Ausgeburten des Dunkels liquidieren. Das ist das Ziel. Das ist der Weg zum Sieg!«
»Das verstehe ich doch, Olga.«
»Gut. Dann solltest du auch begreifen, worüber man nicht offen spricht. Wir kämpfen seit Jahrtausenden. Und die ganze Zeit über versuchen wir, den Lauf der Geschichte in eine völlig neue Bahn zu lenken. Eine neue Welt zu erschaffen.«
»Eine schöne neue Welt.«
»Du brauchst dich nicht darüber lustig zu machen. Einiges haben wir immerhin erreicht. Durch Blut und durch Leid ist die Welt doch humaner geworden. Notwendig ist aber ein richtiger, ein echter Umsturz.«
»Der Kommunismus war unsere Idee?«
»Nicht unsere, aber wir haben sie unterstützt. Sie schien uns einigermaßen attraktiv.«
»Und jetzt?«
»Das wirst du sehen.«Olga lächelte. Freundlich, aufrichtig.»Alles wird gut, Anton. Vertraue mir.«
»Ich muss es wissen.«
»Nein. Genau das ist nicht nötig. Du brauchst dich nicht aufzuregen, eine Revolution ist nicht geplant. Keine Lager, Erschießungen, Schauprozesse. Wir wiederholen die alten Fehler nicht.«
»Dafür werden wir neue machen.«
»Anton!«Sie hob die Stimme.»Was erlaubst du dir eigentlich? Wir haben hervorragende Chancen zu siegen. Für unser Land Frieden, Ruhe, Aufklärung zu erlangen! Uns an die Spitze der Menschheit zu stellen. Das Dunkel zu überwinden. Zwölf Jahre Vorbereitung, Anton. Und nicht nur Geser hat daran gearbeitet, die gesamte obere Führung.«
»Wie bitte?«
»Ja. Hast du denn geglaubt, wir würden einfach drauflos handeln?«
Ich konnte es nicht fassen.»Ihr seid Swetlana seit zwölf Jahren auf der Spur?«
»Natürlich nicht! Wir haben ein neues Gesellschaftsmodell ausgearbeitet. Bestimmte Elemente des Plans erprobt. Selbst ich kenne nicht alle Details. Seit dieser Zeit wartet Geser, dass die Teilnehmer des Plans in Raum und Zeit zusammenkommen.«
»Wer genau? Swetlana und der Inquisitor?«
Kurz verengten sich ihre Pupillen, und ich wusste, dass ich richtig geraten hatte. Teilweise.
»Wer noch? Welche Rolle spiele ich dabei? Und was wirst du tun?«
»Du wirst es zu gegebener Zeit erfahren.«
»Olga, es hat noch nie zu etwas Gutem geführt, wenn man das Leben der Menschen mit Magie verändern wollte.«
»Spar dir deine Axiome aus der Schule.«Sie war wirklich aufgebracht.»Glaub nicht, dass du klüger bist als andere. Wir haben nicht vor, Magie anzuwenden. Du kannst dich also beruhigen und entspannen.«
Ich nickte.»Gut. Du hast mir deine Position dargelegt, ich kann mich ihr nicht anschließen.«
»Offiziell?«
»Nein. Im privaten Rahmen. Und als Privatperson habe ich das Recht, Widerstand zu leisten.«
»Gegen wen? Gegen Geser?«Olga riss die Augen auf, verzog die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln.»Anton!«
Ich drehte mich um und ging.
Ja, es war komisch.
Ja, es war absurd.
Nicht nur einfach eine konfuse Aktion, die Geser und Olga da durchführten. Nicht nur der Versuch, das gescheiterte Gesellschaftsexperiment zu wiederholen. Diese seit langem geplante, gut vorbereitete Operation, in die ich unglücklicherweise hineingeraten war.
Gebilligt von der obersten Führung.
Gebilligt vom Licht.
Warum regte ich mich da auf? Dazu hatte ich einfach kein Recht. Nicht das geringste. Und keine Aussichten. Absolut keine. Man könnte sich mit der Weisheit vom
Sandkorn in einem Uhrwerk trösten, aber im Moment war ich eher ein Sandkorn zwischen zwei Mühlsteinen.
Und, was das Traurigste ist, zwischen freundlichen und sorgsamen Mühlsteinen. Niemand wird mich verfolgen. Niemand wird gegen mich kämpfen. Sondern mich bloß daran hindern, Dummheiten zu machen, aus denen ohnehin nichts Gescheites erwachsen würde. Niemals.
Warum tut es dann so weh, warum sitzt in meiner Brust dieser unerträgliche Schmerz?
Ich stand auf der Terrasse, presste in hilflosem Zorn die Fäuste zusammen, als sich mir eine Hand auf die Schulter legte.
»Offenbar hast du etwas herausgekriegt, Anton?«
Ich sah Semjon an und nickte.
»Schlimm?«
»Ja«, gestand ich.
»Bitte verstehe eins. Du bist kein Sandkorn. Kein Mensch ist ein Sandkorn. Und erst recht kein Anderer.«
»Wie lange muss man leben, um die Gedanken so genau erraten zu können?«
»An die hundert Jahre, Anton.«
»Dann kann Geser die Gedanken von jedem von uns lesen wie ein offenes Buch.«
»Natürlich.«
»Dann muss ich wohl das Denken verlernen«, sagte ich.
»Zunächst mal muss man es lernen. Du weißt, dass es in der Stadt einen Zwischenfall gegeben hat?«
»Wann?«
»Vor einer Viertelstunde. Es ist schon alles wieder vorbei.«
»Was ist passiert?«
»Der Chef hat einen Kurier empfangen, einen aus dem Orient. Die Dunklen haben versucht, ihn aufzuspüren und zu vernichten. Unter den Augen des Chefs.«Semjon grinste.
»Das bedeutet Krieg!«
»Nein, sie hatten das Recht dazu. Der Kurier ist illegal eingereist.«
Ich schaute mich um. Niemand rannte herum. Niemand ließ ein Auto an, niemand raffte seine Sachen zusammen. Ignat und Ilja heizten den Grill schon wieder an.
»Müssen wir denn nicht zurück?«
»Nein. Der Chef ist allein damit fertig geworden. Es gab einen kleinen Kampf, jedoch ohne Opfer. Der Kurier wurde in die Wache aufgenommen, und die Dunklen waren gezwungen, wieder abzuziehen. Nur das Restaurant hat ein wenig gelitten.«
»Was für ein Restaurant?«
»In dem sich der Chef mit dem Kurier getroffen hat«, erklärte Semjon geduldig.»Wir brauchen unsern Urlaub nicht abzubrechen.«
Ich sah in den Himmel - er war blendend blau, von Hitze satt.
»Eigentlich will ich nicht länger ausspannen. Ich fahre nach Moskau zurück. Ich glaube nicht, dass mir das jemand übel nimmt.«
»Natürlich nicht.«
Semjon holte seine Zigaretten heraus und zündete sich eine an.»An deiner Stelle würde ich versuchen herauszufinden«, bemerkte er beiläufig,»was genau der Kurier aus dem Orient mitgebracht hat. Vielleicht ist das deine Chance.«
Ich lachte bitter auf.»Die Dunklen konnten das nicht in Erfahrung bringen, und du schlägst mir vor, den Safe vom Chef zu knacken?«
»Die Dunklen konnten es nicht an sich bringen. Was auch immer es ist. Du hast natürlich kein Recht, die Ware an dich zu nehmen oder auch nur anzufassen. Aber herauszubekommen…«
»Danke. Ganz ehrlich, danke.«
Semjon nickte, nahm ohne falsche Bescheidenheit meinen Dank an.»Im Zwielicht werden wir quitt. Ja, weißt du, mir reicht es auch. Nach dem Essen leihe ich mir das Motorrad von Tigerjunges und fahre in die Stadt. Kommst du mit?«
»Hm.«
Es war mir peinlich. Wahrscheinlich kann diese Art von Scham nur ein Anderer in vollem Ausmaß empfinden. Wir begreifen stets, wenn man uns entgegenkommt, wenn man uns unverdiente Geschenke macht, die zurückzuweisen es uns an Kraft mangelt.
Ich konnte nicht länger hier bleiben. Auf gar keinen Fall. Sweta sehen, Olga, Ignat. Ihre Wahrheit hören.
Meine Wahrheit würde ich niemals aufgeben.
»Kannst du Motorrad fahren?«, fragte ich, das Gespräch ungeschickt in eine andere Richtung lenkend.
»Ich habe an der ersten Rallye Paris-Dakar teilgenommen. Jetzt lass uns den Jungs helfen.«
Finster sah ich Ignat an, der Brennholz schlug. Das Beil handhabte er virtuos. Nach jedem Schlag verharrte er einen Moment, bedachte die Umstehenden mit einem flüchtigen Blick und ließ die Muskeln spielen.
Er liebte sich sehr. Die ganze übrige Welt übrigens nicht weniger. Aber sich selbst in erster Linie.
»Helfen wir ihnen«, stimmte ich zu. Ich holte weit aus und warf durch das Zwielicht das Zeichen der Dreifachschneide. Einige Kloben zerfielen zu akkuraten Scheiten. Ignat, der das Beil gerade zum nächsten Schlag hob, verlor das Gleichgewicht und wäre beinah gefallen. Er riss den Kopf herum.
Natürlich hatte mein Schlag eine Spur im Raum hinterlassen. Das Zwielicht klirrte, sog die Energie gierig auf.
»Was soll denn das, Antoscha?«, fragte Ignat leicht gekränkt.»Warum hast du das gemacht? Das ist nicht sportlich!«
»Dafür aber effektiv«, entgegnete ich und verließ die Terrasse.»Gibt es noch mehr zu hacken?«
»Du hast Ideen.«Ignat bückte sich und sammelte die Scheite auf.»Es kommt noch so weit, dass wir das Schaschlik mit Feuerkugeln grillen.«
Ich fühlte mich nicht schuldig, half ihm aber trotzdem. Das Brennholz war sauber gehackt, die Stücke blitzten saftig bernsteingelb. Schade eigentlich - solche Schönheit zu verfeuern.
Nach einer Weile sah ich zum Haus hinüber und bemerkte in einem Fenster im ersten Stock Olga.
Mit sehr ernster Miene beobachtete sie meine Eskapaden. Mit allzu ernster Miene.
Ich winkte ihr zu.
Tigerjunges besaß ein prima Motorrad, falls man dieses Allerweltswort überhaupt auf eine Harley anwenden kann. Selbst wenn es das einfachste Modell ist - es gibt eben Harley Davidsons, und es gibt andere Motorräder.
Wozu Tigerjunges das Ding brauchte, wusste ich nicht, konnte sie doch höchstens ein- oder zweimal pro Jahr damit fahren. Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie die riesige Villa, wo die Zauberin bloß die Wochenenden verbrachte. Immerhin erreichten wir die Stadt dadurch noch vor zwei Uhr mittags.
Semjon ging virtuos mit dem schweren Zweirad um. Ich hätte das niemals gekonnt, selbst wenn ich die in meinem Gedächtnis gespeicherten»extremen Fähigkeiten«aktiviert und die Realitätslinien überprüft hätte. Zwar könnte ich fast genauso schnell fahren, indem ich eine ordentliche Portion meines Kraftvorrats verbrauchte. Aber Semjon fuhr einfach - menschlichen Fahrern gegenüber allein aufgrund seiner weit größeren Erfahrung im Vorteil.
Selbst bei einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern blieb die Luft heiß. Der Wind peitschte uns wie ein raues sengendes Handtuch gegen die Wangen. Als ob wir durch ein Ofenrohr rasten - einen endlosen Asphaltschlauch voller sich ächzend dahin-schleppender, bereits in der Sonne gegrillter Autos entlang.
Dreimal hatte ich den Eindruck, dass wir in irgendeinen Wagen knallten oder in einen plötzlich voller Diensteifer auftauchenden Kilometerstein. Natürlich würden wir kaum tödlich verunglücken, die andern würden etwas spüren, kommen, unsere Einzelteile einsammeln - aber angenehm wäre das nicht.
Wir gelangten ohne Zwischenfälle an unser Ziel. Nach der Ringautobahn setzte Semjon fünfmal Magie ein, allerdings nur, um den Blick der Verkehrspolizisten in eine andere Richtung zu lenken.
Nach meiner Adresse fragte Semjon nicht, obwohl er noch nie bei mir gewesen war. Er hielt am Hauseingang an und stellte den Motor aus. Die Jugendlichen, die auf dem Kinderspielplatz billiges Bier in sich hineinkippten, verstummten augenblicklich und starrten auf das Motorrad. Wie schön, wenn man im Leben noch solch einfache und klare Träume hat: Bier, Ecstasy in der Disco, eine tolle Freundin und eine Harley unterm Hintern.
»Hast du es schon lange vorausgesehen?«, fragte Semjon.
Ich erschauerte. Eigentlich hatte ich mich nicht darüber ausgelassen, dass ich das überhaupt konnte.»Seit einiger Zeit.«
Semjon nickte. Sah nach oben, zu meinen Fenstern hin. Was ihn auf diese Frage gebracht hatte, sagte er nicht.»Soll ich mit raufkommen?«
»Hör mal, ich bin kein Mädchen, dass du mich bis vor die Tür bringen musst.«
»Verwechsel mich nicht mit Ignat«, lachte der Magier.»Gut, Spaß beiseite. Sei vorsichtig.«
»Wobei?«
»Bei allem, nehme ich an.«
Der Motor der Harley heulte auf. Der Magier schüt-
telte den Kopf.»Irgendwas ist im Gange, Anton. Zieht herauf. Sei vorsichtig.«
Er schoss los, unter Beifallsrufen der Jugend, fädelte sich geschickt in den schmalen Spalt zwischen einem geparkten Wolga und einem gemächlich dahintuckernden Shiguli ein. Kopfschüttelnd schaute ich ihm nach. Auch ohne jede Sehergabe wusste ich, dass Semjon den ganzen Tag durch Moskau brettern und sich dann irgendwelchen Rockern anschließen würde, die ihn binnen einer Viertelstunde als einen der ihren akzeptieren würden, und dabei entstünden allerlei Legenden über den verrückten alten Motorradfahrer.
Sei vorsichtig…
Wobei?
Und vor allem, wozu?
Ich ging zur Haustür, hämmerte automatisch den Code ins Schloss ein und rief den Fahrstuhl. Am Morgen hatte ich noch die Datsche genossen, meine Freunde, alles war in Butter gewesen.
Nichts hatte sich geändert, nur dass ich nicht mehr dort war.
Es heißt, wenn ein Lichter Magier durchdreht, gehen dem immer»Blitze«voraus, wie bei einem Kranken vor einem epileptischen Anfall. Eine sinnlose Anwendung der Kraft, zum Beispiel Fliegen mit Feuerkugeln zu beschießen oder Feuerholz mit Kampfzaubern zu zerhacken. Ein Streit mit der Liebsten. Unerwartete Entfremdung von den einen Freunden und eine ebenso überraschende Annäherung an die anderen. All das ist bekannt, und wir alle wissen, womit ein solcher Ausbruch der Lichten endet.
Sei vorsichtig…
Ich ging zur Wohnungstür und langte nach den Schlüsseln.
Nur dass die Tür offen stand.
Meine Eltern hatten Schlüssel. Aber sie wären nie aus Saratow angereist, ohne mir vorher Bescheid zu geben. Außerdem hätte ich ihre Nähe gespürt.
Ein einfacher menschlicher Bandit könnte nie in meine Wohnung einbrechen, ihn würde das simple Zeichen an der Schwelle aufhalten. Für Andere gibt es ebenfalls einige Hindernisse. Deren Überwindung natürlich nur eine Frage der Kraft ist. Trotzdem hätten die Alarmanlagen funktionieren müssen!
Ich blieb an der Tür stehen, linste durch den schmalen Spalt zwischen der Tür und dem Pfosten, durch jenen Spalt, der nicht hätte da sein dürfen. Spähte durchs Zwielicht - sah aber nichts.
Waffen hatte ich keine bei mir. Meine Pistole lag in der Wohnung. Ein Dutzend Kampfamulette ebenfalls.
Ich könnte jetzt ganz nach Anweisung vorgehen. Ein Wächter der Nacht, der das Eindringen eines Fremden in einer magisch geschützten Wohnung feststellt, ist verpflichtet, den Dienst habenden Fahnder und seinen Betreuer zu informieren, worauf…
Allein bei der Vorstellung, jetzt Geser anzurufen, zwei Stunden nachdem er mal eben die gesamte Tagwache aufgemischt hatte, verflüchtigte sich jeder Wunsch, die Anweisungen zu befolgen. Ich krümmte die Finger, um den schnellen Gefrierzauber einzuleiten. Vielleicht erinnerte ich mich noch an die wirkungsvolle Geste von Semjon.
Sei vorsichtig?
Ich stieß die Tür auf und trat in meine Wohnung, die
augenblicklich zu einer fremden geworden war.
Noch beim Hineingehen wurde mir klar, wessen Kräfte ausreichen, wer die Macht sowie schlicht und ergreifend die Chuzpe haben würde, uneingeladen bei mir einzudringen.
»Guten Tag, Chef!«, sagte ich und schaute ins Arbeitszimmer.
In einem Punkte immerhin lag ich richtig.
Sebulon saß in einem Sessel am Fenster und zog verwundert die Augenbrauen hoch. Er legte die Zeitung Argumente und Fakten beiseite, die er gerade gelesen hatte. Nahm mit einer akkuraten Geste die Brille mit dem schmalen Goldrahmen ab. Und erst dann bequemte er sich zu einer Antwort.
»Guten Tag, Anton. Weißt du, ich wäre froh, wenn ich dein Chef wäre.«
Er lächelte, der Dunkle Magier außerhalb jeder Kategorie, das Oberhaupt der Tagwache Moskaus. Wie immer trug er einen tadellos sitzenden schwarzen Anzug und ein hellgraues Hemd. Dieser magere, kurzhaarige Andere unbestimmbaren Alters.
»Ich habe mich halt geirrt«, sagte ich.»Was machst du hier?«
Sebulon zuckte mit den Schultern.»Nimm das Amulett. Es liegt irgendwo im Schreibtisch, das spüre ich.«
Ich ging zum Schreibtisch, zog die Schublade auf und holte das beinerne Amulett an der Kupferkette heraus. Sobald ich meine Faust darum ballte, spürte ich, wie das Amulett sich erwärmte.
»Sebulon, du hast keine Macht über mich.«
»Gut«, meinte der Dunkle Magier nickend.»Ich will
nicht, dass du Zweifel an deiner eigenen Sicherheit hegst.«
»Was machst du im Haus eines Lichten, Sebulon? Das gibt mir das Recht, dich vor das Tribunal zu bringen.«
»Ich weiß.«Sebulon breitete die Arme aus.»Ich weiß das alles. Ich bin nicht im Recht. Bin dumm. Reite mich und die Tagwache in sonst was rein. Aber ich bin nicht als Feind zu dir gekommen.«
Ich hüllte mich in Schweigen.
»Ja, wegen der Überwachungsanlagen brauchst du dir keine Gedanken machen«, meinte Sebulon lässig.»Weder um eure noch um die der Inquisition. Ich habe mir erlaubt, sie, sagen wir, ruhig zu stellen. Alles, was wir miteinander besprechen, bleibt für immer unter uns.«
»Trau einem Menschen zur Hälfte, einem Lichten zu einem Viertel und einem Dunklen überhaupt nicht«, knurrte ich.
»Natürlich. Du hast Recht, mir nicht zu trauen. Musst das sogar! Aber ich bitte dich, mich anzuhören.«Unversehens lächelte Sebulon, und zwar erstaunlich offen und friedfertig.»Du bist doch ein Lichter. Du bist verpflichtet zu helfen. Allen, die dich darum bitten, selbst mir. Und ich bitte dich darum.«
Zögernd ging ich zu dem kleinen Sofa und setzte mich. Ohne mir die Schuhe auszuziehen, ohne den in der Schwebe befindlichen»Freeze«auszuheben - als sei die Vorstellung, mit Sebulon zu kämpfen, nicht absolut lächerlich.
Ein Fremder in der eigenen Wohnung. My home is my castle - in den Jahren meiner Arbeit für die Wache hatte ich fast begonnen, an diese Worte zu glauben.
»Als Erstes - wie bist du hier hereingekommen?«, fragte ich.
»Als Erstes habe ich einen ganz gewöhnlichen Dietrich genommen, aber…«
»Sebulon, du weißt ganz genau, was ich meine. Die Signalbarriere kann man zerstören, aber nicht täuschen. Sie hätte losgehen müssen, sobald jemand Fremdes eindringt.«
Der Dunkle Magier seufzte.»Kostja hat mir geholfen, hier reinzukommen. Du hast ihm doch die Erlaubnis erteilt, deine Wohnung zu betreten.«
»Ich hatte gedacht, er sei mein Freund. Auch wenn er ein Vampir ist.«
»Aber er ist dein Freund.«Sebulon lächelte.»Und will dir helfen.«
»Auf seine Art.«
»Auf unsere Art. Anton, ich bin in deine Wohnung gekommen, aber ich will dir keinen Schaden zufügen. Ich habe mir keine Arbeitsunterlagen angeschaut, die du hier aufbewahrst. Habe keine Zeichen hinterlassen, um hier etwas zu observieren. Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.«
»Dann sprich.«
»Wir beide haben ein Problem, Anton. Dasselbe Problem. Und heute hat es kritische Ausmaße angenommen.«
Schon als ich Sebulon erblickt hatte, war mir klar gewesen, worauf unser Gespräch hinauslaufen würde. Darum nickte ich nur.
»Gut, du verstehst das.«Der Dunkle Magier rückte ein wenig vor, seufzte.»Ich mache mir keine falschen Hoffnungen, Anton. Wir sehen die Welt auf unterschiedliche Weise. Und verstehen unter der eigenen Pflicht nicht dasselbe. Doch selbst in einer solchen Situation kann es Schnittpunkte geben. Uns, den Dunklen, kann man aus eurer Sicht einiges vorwerfen. Wir verhalten uns nicht immer ganz eindeutig. Den Menschen begegnen wir, wenn auch gezwungenermaßen, aufgrund unserer Natur, weniger aufmerksam. Ja, all das stimmt. Aber niemand, merk dir das, niemand hat uns jemals vorgeworfen, wir würden versuchen, das Schicksal der Menschheit durch eine globale Intervention zu verändern! Nach Abschluss des Großen Vertrages haben wir unser Leben gelebt und wollten, dass ihr es genauso handhabt.«
»Niemand wirft euch das vor«, gab ich zu.»Denn die Zeit, so merkwürdig das auch anmutet, arbeitet für euch.«
Sebulon nickte.»Und was heißt das? Vielleicht, dass wir den Menschen näher sind? Vielleicht, dass wir Recht haben? Doch lassen wir diesen Streit, der nimmt nie ein Ende. Ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: Wir achten den Vertrag. Und halten uns teilweise weit genauer an ihn als die Kräfte des Lichts.«
Die übliche Taktik bei einem Streit. Zunächst erkennt man irgendeine allgemeine Schuld an. Dann wirft man dem Gegenüber andeutungsweise eine ähnlich allgemeine Sünde vor. Liest ihm die Leviten und winkt gleich ab - vergessen wir das.
Und erst danach wechselt man zum eigentlichen Anliegen über.
»Lass uns jetzt aber zum Wesentlichen kommen.«Sebulon wurde ernst.»Was sollen wir lange drum herumreden. Im letzten Jahrhundert haben die Kräfte des Lichts drei globale Experimente durchgeführt. Die Revolution in Russland. Den Zweiten Weltkrieg. Und jetzt wieder. Immer nach dem gleichen Szenario.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich. In der Brust meldete sich ein wehmütiger Schmerz.
»Wirklich nicht? Ich werde es dir erklären. Es sind Modelle ausgearbeitet worden, die - wenn auch nur durch außergewöhnliche Erschütterungen und enormes Blutvergießen - die Menschheit oder einen beachtlichen Teil von ihr zu einer idealen Gesellschaft führen sollten. Ideal aus eurer Sicht, aber dagegen sage ich ja gar nichts! Bestimmt nicht. Jeder hat sein Recht auf seinen Traum. Aber euer Weg ist sehr grausam…«Erneut dieses traurige Lächeln.»Ihr werft uns Grausamkeit vor, und zu Recht. Aber was ist ein bei einer schwarzen Messe geopfertes Kind im Vergleich zu einem ganz gewöhnlichen faschistischen Konzentrationslager für Kinder? Und der Faschismus ist schließlich ebenfalls euer Werk. Das euch außer Kontrolle geraten ist. Erst der Internationalismus und der Kommunismus - die nicht funktioniert haben. Dann der Nationalsozialismus. Auch ein Fehler? Ihr habt das alles zusammengemixt und dann geschaut, was dabei herauskommt. Habt geseufzt, alles weggewischt und euch jetzt an ein neues Experiment gewagt.«
»Die Fehler gehen auf eure Anstrengungen zurück.«
»Natürlich! Schließlich funktioniert unser Selbsterhaltungsinstinkt! Wir entwickeln keine Gesellschaftsmodelle auf der Grundlage unserer Ethik. Warum sollten wir da also eure Projekte zulassen?«
Ich hüllte mich in Schweigen.
Sebulon nickte, offenkundig zufrieden.»So sieht’s aus, Anton. Wir könnten Feinde sein. Wir sind es sogar. Im Winter bist du uns in die Quere gekommen, und zwar gewaltig. Im Frühling hast du dich mir abermals entgegengestellt. Zwei Mitarbeiter der Tagwache vernichtet. Gewiss, die Inquisition hat anerkannt, dass du aus Notwehr gehandelt hast, dass du das tun musstest, aber glaube mir - mich hat das nicht gut aussehen lassen. Was ist das für ein Oberhaupt, wenn er die eigenen Mitarbeiter nicht schützen kann? Daher sind wir Feinde. Doch jetzt stehen wir vor einer einmaligen Situation. Ein neues Experiment. Und du bist darin indirekt involviert.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Sebulon lachte auf. Hob die Hand.»Anton, ich will dich nicht austricksen. Stelle dir keine Fragen. Werde dich auch um nichts bitten. Hör dir einfach meine Geschichte an. Dann gehe ich.«
Und plötzlich fiel mir ein, wie Alissa im Winter auf dem Dach des Hochhauses ihr Recht auf eine Intervention genutzt hatte. Eine kleine nur, mit der sie mir nur erlaubt hatte, die Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit hat den Jungen Jegor auf die Seite des Dunkels getrieben.
Warum funktioniert das?
Warum handelt das Licht durch die Lüge und das Dunkel durch die Wahrheit? Warum ist unsere Wahrheit hilflos, während die Lüge sich als effektiv erweist? Und warum kann das Dunkel sich die Wahrheit so hervorragend zunutze machen, um Böses zu schaffen? An wessen Natur liegt das, an der menschlichen oder an
unserer?
»Swetlana ist eine vorzügliche Zauberin«, sagte Se-bulon.»Aber ihre Zukunft liegt nicht in der Leitung der Nachtwache. Sie brauchen sie nur für ein einziges Ziel. Für die Mission, die Olga nicht erfolgreich abgeschlossen hat. Du weißt, dass heute Morgen ein Kurier aus Samarkand in Moskau aufgetaucht ist?«
»Ich weiß«, gab ich aus irgendeinem Grund zu.
»Ich kann dir sagen, was er gebracht hat. Das möchtest du doch wissen?«
Ich presste die Zähne aufeinander.
»Das willst du.«Sebulon nickte.»Der Kurier hat ein Stück Kreide gebracht.«
Einem Dunklen darf man niemals glauben. Dennoch hatte ich nicht den Eindruck, dass er log.
»Ein kleines Stück Kreide.«Der Dunkle Magier lächelte.»Mit dem man etwas auf eine Tafel in der Schule schreiben kann. Oder Himmel-und-Hölle auf den Asphalt malen. Oder die Queues beim Billard einreiben. Das alles geht so leicht, wie mit dem großen königlichen Siegel Nüsse zu knacken. Wenn jedoch eine Große Zauberin dieses Stück Kreide in die Hand nimmt… Und zwar unbedingt eine Große, bei einer einfachen reichen die Kräfte nicht. Und unbedingt eine Zauberin, in männlichen Händen bleibt die Kreide bloß ein einfaches Stück Kreide. Außerdem muss diese Zauberin eine Lichte sein. Für das Dunkel ist dieses Artefakt nutzlos.«
Täuschte ich mich oder seufzte er? Ich schwieg weiter.
»Ein kleines Stück Kreide.«Sebulon lehnte sich im Sessel nach hinten, wiegte sich vor und zurück.»Es ist schon abgenutzt, denn es lag mehr als einmal in den zarten Fingern von schönen Frauen, in deren Augen ein lichtes Feuer brannte. Sie haben es benutzt, und die Erde erbebte, Staatsgrenzen verschwanden, Imperien stiegen auf, Hirten wurden zu Propheten, Zimmerleute zu Göttern, Findelkinder als Könige anerkannt, Sergeanten schwangen sich zu Imperatoren auf, gescheiterte Seminaristen und talentlose Künstler zu Tyrannen. Ein kleiner Stummel Kreide. Mehr nicht.«
Sebulon erhob sich. Breitete die Arme aus.»Das ist alles, mein teurer Feind, was ich sagen wollte. Den Rest kannst du dir selbst denken, natürlich nur, sofern du willst.«
»Sebulon.«Ich öffnete die Faust und schaute auf das Amulett.»Du bist eine Ausgeburt des Dunkels.«
»Gewiss. Aber immerhin von jenem Dunkel, das in mir war. Von jenem, das ich selbst gewählt habe.«
»Selbst deine Wahrheit bringt das Böse mit sich.«
»Für wen? Für die Nachtwache? Mit Sicherheit. Für die Menschen? Da gestatte mir, Widerspruch anzumelden.«
Er ging zur Tür.
»Sebulon«, sprach ich ihn noch einmal an.»Ich habe deine wahre Gestalt gesehen. Ich weiß, wer und was du bist.«
Der Dunkle Magier blieb wie angewurzelt stehen. Dann drehte er sich langsam um, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht - einen Moment lang verzerrte es sich, schimmerten anstelle der Haut trübe Schuppen, verengten sich die Augen zu schmalen Schlitzen.
Der Dunst verzog sich.
»Ja, natürlich. Du hast es gesehen.«Sebulon hatte sein menschliches Äußeres zurückerlangt.»Und ich habe dich gesehen. Und auch du, wenn ich das bemerken darf, warst kein weißer Engel mit funkelndem Schwert. Alles hängt davon ab, von wo aus man blickt. Lebe wohl, Anton. Glaube mir, irgendwann wird es mir ein Vergnügen sein, dich zu vernichten. Aber jetzt wünsche ich dir Glück. Von ganzer Seele, die ich selbstverständlich nicht habe.«
Die Tür fiel hinter ihm zu.
Genau in diesem Moment, gleichsam als erwachte es plötzlich, heulte aus dem Zwielicht das Alarmzeichen auf. Die Maske des Choyong an der Wand verzog den Mund, in den Holzritzen der Augen blitzte Zorn auf, er bleckte die Zähne.
Diese kleinen Wachposten…
Mit zwei Handbewegungen brachte ich das Zeichen zum Schweigen, während ich auf die Maske den aufgesparten»Freeze«abfeuerte. Konnte ich den Zauber also doch noch gebrauchen.
»Ein Stück Kreide«, sagte ich.
Irgendetwas hatte ich darüber gehört. Allerdings vor langer Zeit, nur mit halbem Ohr. Vielleicht ein paar Sätze, von einem Lehrer im Unterricht fallen gelassen, irgendein Gequatsche von Freunden oder ein Märchen, aufgeschnappt in einem der Kurse. Eben über ein Stück Kreide…
Ich stand vom Sofa auf und hob die Hand. Warf das Amulett auf den Boden.
»Geser!«, schrie ich durchs Zwielicht. »Geser, antworte mir!«
Der Schatten hechtete vom Boden auf mich zu,
klammerte sich an meinen Körper, saugte ihn auf. Das Licht trübte sich, das Zimmer verschwamm, die Konturen der Möbel zerflossen. Es wurde unerträglich leise. Die Hitze wich. Ich stand da, breitete die Arme aus, und das gierige Zwielicht trank meine Kräfte.
»Geser, ich rufe dich bei deinem Namen!«
Graue Nebelfäden waberten durch den Raum. Ich scherte mich einen Dreck darum, wer meinen Schrei womöglich noch hörte.
»Geser, mein Mentor, ich rufe dich - antworte!«
In weiter Ferne seufzte ein unsichtbarer Schatten.»Ich höre dich, Anton.«
»Antworte!«
»Worauf möchtest du eine Antwort?«
»Sebulon hat nicht gelogen, oder?«
»Nein.«
»Geser, halte ein!«
»Es ist zu spät, Anton. Alles läuft bereits so, wie es laufen muss. Vertrau mir.«
»Geser, halte ein!«
»Du hast kein Recht, irgendetwas zu fordern.«
»Doch! Wenn wir ein Teil des Lichts sind, wenn wir Gutes bringen, dann habe ich das Recht.«
Er verstummte. Ich überlegte schon, ob der Chef überhaupt noch einmal mit mir sprechen würde.
»Gut. Ich erwarte dich in einer Stunde in der Springerbar.«
»Wo? Wo bitte?«
»In der Bar der Fallschirmspringer. Metro Turgenjewskaja. Hinter der ehemaligen Hauptpost.«
Stille senkte sich herab.
Ich trat einen Schritt zurück, tauchte dann aus dem Zwielicht auf. Ein origineller Ort für ein Treffen. Hatte Geser dort die Tagwache fertig gemacht? Nein, das war ja irgendein Restaurant.
Egal, die Springerbar, die Rose oder das Chance. Was spielte das für eine Rolle? Ob nun Fallschirmspringer, Yuppies oder Schwule.
Eine andere Sache musste ich vor dem Treffen mit Geser aber unbedingt noch herausbekommen.
Ich langte nach meinem Handy und wählte Swetla-nas Nummer. Sie ging sofort ran.
»Hallo«, sagte ich bloß.»Bist du immer noch auf der Datsche?«
»Nein.«Anscheinend irritierte sie der geschäftliche Ton.»Ich fahre in die Stadt zurück.«
»Mit wem?«
Sie zögerte.»Mit Ignat.«
»Gut«, sagte ich aufrichtig.»Hör mal, weißt du irgendwas über Kreide?«
»Worüber?«Jetzt war ihre Verwirrung offenkundig.
»Über die magischen Eigenschaften von Kreide. Hat dir niemand beigebracht, wie man sie in der Magie anwendet?«
»Nein. Ist mit dir alles in Ordnung, Anton?«
»Mehr als das.«
»Dir ist nichts passiert?«
Typisch Frau: Jede Frage stellen sie in zwei, drei Varianten.
»Nichts Besonderes.«
»Willst du…«Sie stockte.»Willst du, dass ich Olga danach frage?«
»Ist sie auch bei euch?«
»Ja, wir fahren zu dritt in die Stadt.«
»Das ist wohl nicht nötig. Danke.«
»Anton…«
»Was ist, Sweta?«
Ich ging zum Schreibtisch, zog die Schublade mit allerlei magischem Plunder heraus. Betrachtete trübe Kristalle, einen ungeschickt geschnitzten Zauberstab - damals wollte ich noch Kampfmagier werden. Dann schob ich die Lade wieder zu.
»Verzeih mir.«
»Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste.«
»Kann ich vielleicht zu dir kommen?«
»Seit ihr noch weit weg?«
»Auf halber Strecke.«
Ich schüttelte den Kopf.»Das klappt nicht«, meinte ich.»Ich habe einen wichtigen Termin. Ich ruf dich später noch mal an.«
Ich beendete das Gespräch und lächelte. Die Wahrheit kann in vielen Fällen böse und verlogen sein. Zum Beispiel, wenn man nur die halbe Wahrheit sagt. Sagt, dass man nicht reden möchte, und nicht erklärt, warum.
Möge es mir gelingen, Gutes durch das Böse zu schaffen. Denn etwas anderes steht mir momentan nicht zu Gebote.
Vorsichtshalber inspizierte ich noch die Wohnung, sah ins Schlafzimmer, in die Toilette, ins Bad und in
die Küche hinein. Soweit ich spüren konnte, hatte mir Sebulon in der Tat keine»Geschenke«dagelassen.
Wieder im Arbeitszimmer, schloss ich den Laptop an und legte eine Diskette mit einer Datenbank zur Magie ein. Ich gab das Passwort ein. Und klickte das Wort»Kreide«an.
Ich rechnete eigentlich nicht damit, dass das etwas brachte. Das, was ich wissen wollte, dürfte so schwer zugänglich sein, dass es niemals in einer einfachen Datei auftauchte.
Es gab drei Einträge zu»Kreide«.
Im ersten Fall ging es um eine Kreidegrube, in der im 15. Jahrhundert ein Duell zwischen einem Lichten und einem Dunklen Magier ersten Grades stattfand. Beide kamen um, starben schlicht an Kräfteverschleiß, da sie es am Ende des Kampfes nicht mehr aus dem Zwielicht herausschafften. In den nächsten fünfhundert Jahren starben in diesem Gebiet an die dreitausend Menschen.
Der zweite Fall betraf die Verwendung von Kreide beim Erstellen von magischen Zeichen und Verteidigungskreisen. Hier fanden sich ausführlichere Informationen, die ich rasch überflog. Nichts Besonderes. Die Verwendung von Kreide bietet keine nennenswerten Vorteile gegenüber Kohle, Bleistift, Blut oder Ölfarbe. Höchstens, dass sie sich am leichtesten wegwischen lässt.
Die dritte Erwähnung fand sich im Abschnitt über»Mythen und unbestätigte Fakten«. Hier gab es natürlich allerlei Unsinn, wie beispielsweise die Anwendung von Silber und Knoblauch im Kampf gegen Vampire oder die Beschreibung nicht existierender Bräuche und Rituale.
Aber ich hatte es schon erlebt, dass ich unter»Mythen«auf authentische, aber längst vergessene Ereignisse stieß.
Die Kreide wurde im Artikel über die»Schicksalsbücher«erwähnt.
Nachdem ich die Hälfte gelesen hatte, begriff ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Die Informationen wurden ganz offen gegeben, klar präsentiert, waren jedem beginnenden Magier zugänglich und fanden sich möglicherweise sogar in Quellen, die Menschen konsultieren konnten.
Die Schicksalsbücher. Kreide.
Alles passte.
Ich schloss die Datei, schaltete das Notebook aus. Blieb sitzen und biss mir auf die Lippen. Schaute auf die Uhr.
Allmählich musste ich mich für mein seltsames Rendezvous fertig machen.
Ich duschte und zog mir frische Sachen an. Von den Amuletten nahm ich nur das Medaillon Sebulons mit, das Zeichen der Nachtwache und eine Kampfscheibe, die mir Ilja irgendwann mal geschenkt hatte - ein altes Bronzeplättchen, nicht viel größer als eine Fünfrubelmünze. Die Scheibe hatte ich noch nie verwendet. Wie der Magier gesagt hatte, war im Amulett noch eine Ladung, wenn es hochkam, zwei.
Aus dem Versteck holte ich die Pistole. Überprüfte das Magazin. Dumdumgeschosse aus Silber. Gut gegen Tiermenschen, zweifelhaft gegen Vampire, durchaus wirksam gegen Dunkle Magier.
Als ob ich in den Kampf ziehen würde, nicht aber zu einem Gespräch mit dem Vorgesetzten.
Ich stand schon an der Tür, als das Handy in meiner Tasche klingelte.
»Anton?«
»Sweta?«
»Olga möchte mit dir reden, ich gebe sie dir.«
»Ja«, sagte ich und schloss auf.
»Anton, ich liebe dich sehr. Mach bitte keine Dummheiten.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Olga nahm das Handy.
»Anton. Ich möchte, dass du eins weißt: Alles ist bereits entschieden. Und alles wird sehr bald passieren.«
»Heute Nacht«, vermutete ich.
»Woher weißt du das?«
»Ich spüre es. Ich spüre es einfach. Deshalb ist die Wache auch aus der Stadt geschickt worden, nicht wahr? Und bei Swetlana habt ihr für die nötige Gemütsverfassung gesorgt.«
»Was du alles weißt.«
»Das Schicksalsbuch. Die Kreide. Ich habe alles durchschaut.«
»Zu spät«, antwortete Olga knapp.»Anton, du musst…«
»Ich muss überhaupt nichts. Ich schulde niemandem etwas. Außer dem Licht in mir.«
Ich beendete das Gespräch, schaltete das Mobiltelefon aus. Es reichte. Geser konnte sich auch so mit mir in Verbindung setzen, ohne jedes technische Mittel. Olga würde weiter versuchen, mich zu überreden. Swetlana verstand sowieso nicht, was ich warum tat.
Wenn du beschlossen hast, den Weg bis zu Ende zu gehen, dann geh allein. Und verlange von niemandem, dich zu begleiten.
»Setz dich, Anton«, sagte Geser.
Die Bar hatte sich als winzig erwiesen. Sechs, sieben Tische, voneinander abgetrennt. Ein Bartresen. Alles voller Rauch. Der Fernseher lief ohne Ton, zeigte in einem fort Sprünge. Bei den Fotos an den Wänden das Gleiche - im Flug ausgestreckte Körper in grellen Overalls. Wenig Besucher, was möglicherweise an der Zeit lag: zu spät fürs Mittagessen, viel zu früh für den Abendbetrieb. Ich hatte meinen Blick über die Tische wandern lassen und in einer Ecke Boris Ignatjewitsch entdeckt.
Der Chef war nicht allein. Er saß vor einer Schale mit Obst und riss träge von einer Traube Beeren ab. Etwas abseits von ihm saß ein groß gewachsener dunkelhäutiger Mann mit verschränkten Armen. Unsere Blicke begegneten sich, und ich spürte einen sanften, aber deutlichen Druck.
Ebenfalls ein Anderer.
Etwa fünf Sekunden lang sahen wir einander an, wobei wir den Druck nach und nach verstärkten. Fähigkeiten hatte er, ordentliche Fähigkeiten, aber zu wenig Erfahrung. Irgendwann nahm ich den Widerstand etwas zurück und entzog mich seiner Sondierung, um - noch bevor der junge Mann seine Verteidigung aufbauen konnte - ihn zu scannen.
Ein Anderer. Ein Lichter. Vierter Grad.
Das Gesicht des Mannes verzerrte sich, als durchschössen ihn Schmerzen. Sah Geser mit dem Blick eines geschlagenen Hundes an.
»Wenn ich euch vorstellen darf«, meinte Geser.»Anton Gorodezki, Anderer, von der Nachtwache Moskaus. Alischer Ganijew, Anderer, seit kurzem bei der Nachtwache Moskaus.«
Der Kurier.
Ich streckte ihm die Hand entgegen und ließ meine Verteidigung fallen.
»Ein Lichter, zweiter Grad«, konstatierte Alischer, während er mir in die Augen sah. Sich verbeugte.
Ich schüttelte den Kopf.»Dritter«, korrigierte ich.
Der Mann blickte abermals zu Geser. Diesmal nicht schuldbewusst, sondern verwundert.
»Zweiter«, bekräftigte der Chef.»Du bist in Hochform, Anton. Das freut mich sehr für dich. Setz dich, reden wir. Alischer, pass auf.«
Ich setzte mich dem Chef gegenüber.
»Weißt du, warum ich mich unbedingt hier mit dir treffen wollte?«, fragte der Chef.»Nimm dir von den Weintrauben, sie sind lecker.«
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht weil es hier die leckersten Weintrauben in Moskau gibt.«
Geser lachte.»Bravo. Wenn es auch nicht das Wichtigste ist. Die Trauben haben wir auf dem Markt gekauft.«
»Dann wohl, weil es hier nett ist.«
Der Chef zuckte mit den Schultern.»Es ist nichts Besonderes. Ein kleiner Raum, wenn du durch die Tür gehst, kommst du zu einem Billardpool und zu noch
ein paar anderen Tischen.«
»Sie sind ein heimlicher Fallschirmspringer, Chef.«
»Ich bin seit zwanzig Jahren nicht gesprungen«, gab Geser gelassen zurück.»Anton, mein Lieber, ich bin hierher gekommen, habe Kartoffeln mit Bœuf Stroganoff gegessen und zum Nachtisch Weintrauben verputzt, nur damit ich dir ein Mikromilieu zeigen kann. Eine kleine, eine winzige Gesellschaft. Jetzt entspann dich, setz dich! Alischer, ein Bier für Anton! Schau dich um, Soldat. Sieh dir die Gesichter an. Hör dir das Palaver an. Atme ihre Luft ein.«
Ich wandte mich vom Chef ab. Rückte an den Rand der Holzbank, um wenigstens ein bisschen was von meiner Umgebung mitzubekommen. Alischer stand bereits an der Bar und wartete auf mein Bier.
Sie hatten seltsame Gesichter, die Stammkunden der Springerbar. Etwas Unbestimmtes schienen sie alle gemeinsam zu haben. Besondere Augen oder besondere Gesten. Nein, nichts Besonderes, nur schien jeder einen unsichtbaren Stempel zu tragen.
»Ein Kollektiv«, sagte der Chef.»Ein Mikromilieu. Ich hätte dieses Gespräch auch im Schwulenclub Chance, im Restaurant im Zentralen Haus der Literaturschaffenden oder in irgendeinem Imbiss mit Weinverkauf direkt neben einem Betrieb ansetzen können. Das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sich dort ein kleines, nach außen abgeschottetes Kollektiv trifft. Das sich mehr oder weniger stark von der Gesellschaft isoliert. Kein McDonald’s, kein elegantes Restaurant, sondern ein offener oder intimer Club. Weißt du, warum? Das sind wir. Es ist ein Modell unserer Wache.«
Ich schwieg. Beobachtete, wie ein junger Mann auf Krücken an den Nachbartisch ging, auf den angebotenen Platz verzichtete und, gegen die Zwischenwand gelehnt, anfing, etwas zu erzählen. Die Musik übertönte seine Worte, aber den groben Sinn konnte ich durchs Zwielicht herausfiltern. Der Fallschirm, der sich nicht öffnete und den er abwerfen musste. Die Landung mit dem Reserveschirm. Ein Bruch. Und, was für ein Mist, ein halbes Jahr keine Sprünge!
»Die Gesellschaft hier ist sehr charakteristisch«, fuhr der Chef ruhig fort.»Das Risiko. Die starken Eindrücke. Die Umwelt, die mit Unverständnis reagiert. Der Slang. Probleme, die normale Menschen absolut nicht verstehen. Und, nebenbei bemerkt, regelmäßige Verletzungen und Todesfälle. Gefällt es dir hier?«
Ich dachte kurz nach, dann antwortete ich:»Nein. Hier muss man dazugehören. Oder wegbleiben.«
»Natürlich. Bei jedem Mikromilieu ist es nur beim ersten Mal spannend hineinzugucken. Danach musst du entweder seine Gesetze übernehmen und in die kleine Gemeinschaft eingehen oder dich von ihr distanzieren. In diesem Punkt unterscheiden wir uns absolut nicht von ihnen. Was an unserm Wesen liegt. Jeder Andere, den wir finden und der seine Anlagen erkennt, steht vor der Wahl. Entweder tritt er in die Wache seiner Seite ein, wird ein Soldat, ein Kämpfer, und wird unweigerlich ein Todeskandidat. Oder er führt sein nahezu menschliches Leben weitgehend fort, entwickelt seine magischen Fähigkeiten nicht wirklich, nutzt ab und an den Vorteil eines Anderen, bekommt aber auch die Nachteile eines solchen Lebens in vollem Maße zu spüren. Das Unangenehmste ist, wenn er bei der ursprünglichen Wahl eine falsche Entscheidung getroffen hat. Ein Anderer will aus diesem oder jenem Grund die Gesetze der Wache nicht annehmen. Aber es ist fast unmöglich, aus unseren Strukturen auszusteigen. Sag mir mal, Anton, könntest du außerhalb der Wache existieren?«
Selbstverständlich stellt der Chef nie theoretische Fragen.
»Vermutlich nicht«, räumte ich ein.»Es würde mir schwer fallen, wäre praktisch unmöglich, mich innerhalb der Grenzen zu bewegen, die einem einfachen Lichten Magier gesetzt sind.«
»Denn wenn du nicht in die Wache kommst, kannst du deine magischen Manipulationen nicht mit dem Kampf gegen das Dunkel rechtfertigen. So ist es doch?«
»Ja.«
»Das macht die Sache derart kompliziert, Anton, darin liegt das ganze Unglück.«Der Chef seufzte.»Alischer, steh nicht wie angewurzelt da.«
Er behandelte den Burschen wirklich mies. Doch die Gründe dafür schienen mir auf der Hand zu liegen: Der Kurier hatte auf Biegen und Brechen einen Platz in der Moskauer Wache haben wollen und erlebte nun die unvermeidlichen Folgen.
»Ihr Bier, Lichter Anton.«Mit einem angedeuteten Nicken stellte der Mann das Glas vor mich hin.
Schweigend langte ich danach. Ihn traf keine Schuld, diesen jungen und talentierten Magier. Sicherlich könnten wir Freunde werden. Aber momentan grollte ich selbst ihm: Alischer hatte nach Moskau gebracht, was Swetlana und mich für immer trennen würde.
»Was sollen wir machen, Anton?«, fragte der Chef.
»Worin besteht denn eigentlich das Problem?«, fragte ich und sah ihn mit dem ergebenen Blick eines alten Bernhardiners an.
»Swetlana. Du bist gegen ihre Mission.«
»Natürlich.«
»Das sind doch Schulweisheiten, Anton. Axiome. Du hast nicht das Recht, gegen die Politik der Wache Einwände zu erheben, wenn diese einzig auf deinen persönlichen Interessen basieren.«
»Was haben meine persönlichen Interessen damit zu tun?«, wunderte ich mich aufrichtig.»Ich glaube, dass die ganze Operation, die hier vorbereitet wird, amoralisch ist. Sie wird den Menschen keinen Nutzen bringen. So oder so sind alle Versuche, die Gesellschaft der Menschen grundlegend zu verändern, fulminant gescheitert.«
»Früher oder später werden wir es schaffen. Dabei behaupte ich ja gar nicht, dass es dieses Mal sein wird. Aber unsere Chancen stehen so gut wie nie.«
»Das glaube ich nicht.«
»Du kannst eine Beschwerde bei der obersten Leitung einreichen.«
»Schaffen sie es denn, die bis zu dem Tag zu bearbeiten, an dem Swetlana die Kreide in die Hand nimmt und das Schicksalsbuch öffnet?«
Der Chef schloss die Augen bis auf einen Spalt. Seufzte.»Nein. Das schaffen sie nicht. Alles wird heute Nacht passieren, sobald unsere Zeit heran ist. Zufrieden? Dass du jetzt auch die Zeit unserer Aktion kennst?«
»Boris Ignatjewitsch.«Ich sprach ihn absichtlich mit dem Namen an, unter dem ich ihn kennen gelernt hatte.»Hören Sie mir zu. Ich bitte Sie. Irgendwann einmal haben Sie Ihre Heimat verlassen und sind nach Russland gekommen. Nicht, weil es im Interesse des Lichts war, nicht, weil es Ihrer Karriere diente. Sondern wegen Olga. Ich weiß ein wenig, was Sie hinter sich haben. Wie viel Hass und Liebe, Verrat und Großmut Sie schon erfahren haben. Aber Sie müssen auch mich verstehen. Sie können das.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Welche Antwort. Ob einen abgewandten Blick oder ein zwischen den Zähnen hervorgepresstes Versprechen, die Aktion abzublasen.
»Ich verstehe dich gut, Anton.«Der Chef nickte.»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut. Gerade deshalb wird die Aktion weitergehen.«
»Aber warum?«
»Ja weil es so etwas wie das Schicksal gibt, mein Junge. Und nichts stärker ist als das Schicksal. Dem einen ist es vorherbestimmt, die Welt zu verändern. Dem andern ist das nicht gegeben. Dem einen ist es vorherbestimmt, einen Staat ins Wanken zu bringen, dem andern, hinter den Kulissen zu stehen, die Fäden der Marionetten in den von Kreide weißen Händen. Anton, glaube mir, ich weiß, was ich tue. Glaube mir.«
»Nein.«
Ich stand auf, ließ das unberührte Bier mit der bereits eingesunkenen Schaumkrone stehen. Alischer sah den Chef fragend an, als sei er bereit, mich aufzuhalten.
»Du hast das Recht, alles zu tun, was du möchtest«, sagte der Chef.»Das Licht ist in dir, aber hinter dir lauert das Zwielicht. Du weißt, was ein unsicherer Schritt bedeutet. Und du weißt, dass ich bereit bin und die Pflicht habe, dir zu Hilfe zu kommen.«
»Geser, mein Mentor, vielen Dank für alles, was du mir beigebracht hast.«Ich verneigte mich, zog die neugierigen Blicke der Fallschirmspringer auf mich.»Ich glaube nicht, dass ich das Recht habe, weiter auf deine Hilfe zu rechnen. Nimm meine Dankbarkeit entgegen.«
»Du bist von allen Verpflichtungen mir gegenüber entbunden«, entgegnete Geser gelassen.»Tu, was dein Schicksal dir gebietet.«
Aus. Wie leicht er auf seinen einstigen Schüler verzichtet! Wie viele Schüler er wohl schon hatte, die die höchsten Ziele und heiligen Ideale nicht anerkannten?
Hunderte, Tausende.
»Lebe wohl, Geser«, sagte ich. Dann blickte ich Alischer an.»Viel Glück, neuer Wächter der Nacht.«
Der Kurier sah mich tadelnd an.»Wenn mir die Bemerkung erlaubt ist…«
»Sprich«, forderte ich ihn auf.
»An deiner Stelle würde ich nichts überstürzen, Lichter Anton.«
»Ich habe bereits zu lange gezögert, Lichter Alischer.«Ich lächelte. In der Wache hatte ich mich daran gewöhnt, mich als einen der kleinsten Magier zu sehen, aber das war vorbei. Für diesen Neuling stellte ich bereits eine Autorität dar. Noch.»Irgendwann einmal wirst du hören, wie die Zeit rauscht, der Sand durch die Finger rinnt. Dann erinner dich an mich. Viel Glück.«
Diese Hitze.
Ich ging den Alten Arbat hinunter. Die Maler, die ihre banalen Porträts zeichneten, die Musiker, die ihre stereotype Musik spielten, die Händler, die ihre ewig gleichen Souvenirs verkauften, die Ausländer mit dem Standardinteresse in den Augen, die Moskauer, die mit der üblichen Verärgerung an den Matrjoschka-Imitaten vorbeiliefen…
Euch sollte man aufrütteln?
Eine kleine Vorstellung bieten?
Mit Blitzen jonglieren? Richtiges Feuer schlucken? Das Pflaster zum Bersten bringen und dem Springbrunnen Mineralwasser entlocken? Ein Dutzend arme Krüppel heilen? Durch die Gegend wuselnde Straßenkinder mit dem aus der Luft gezauberten Kuchen füttern?
Wozu?
Eine Hand voll Kleingeld würden sie mir für Feuerkugeln zuwerfen, mit denen man einen Teufel schlagen könnte. Der Mineralwasserbrunnen stellte sich als geplatzte Wasserleitung heraus. Die armen Krüppel sind sowieso gesünder und reicher als die meisten anderen, die hier vorbeilaufen. Die Straßenkinder rennen weg, weil sie schon seit langem wissen: Kuchen gibt’s nicht umsonst.
Ja, ich verstehe Geser, verstehe alle hohen Magier, die seit tausend Jahren gegen das Dunkel kämpfen. Man kann nicht ewig mit dem Gefühl der Machtlosigkeit leben. Man kann nicht ewig im Schützengraben sitzen: Damit tötet man eine Armee eher als mit den Kugeln der Feinde.
Aber was habe ich mit alldem zu tun?
Muss das Banner des Sieges unbedingt aus meiner Liebe genäht werden?
Und was haben die Menschen damit zu tun?
Die Welt lässt sich leicht umwerfen und wieder auf die Beine stellen, doch wer hilft den Menschen, nicht hinzufallen?
Sollten wir wirklich nicht in der Lage sein, etwas zu lernen?
Ich wusste, was Geser vorhatte, genauer, was Swetlana auf seinen Befehl hin tun würde. Verstand, wohin das führen könnte, konnte mir sogar vorstellen, welche Schlupflöcher im Großen Vertrag zur Rechtfertigung dieser Manipulation des Schicksalsbuches herhalten mussten. Verfügte über die Information, wann die Aktion stattfinden sollte. Zum Gesamtbild fehlten mir bloß noch der Ort und das Objekt der Operation.
Und eben das war fatal.
Es war Zeit, vor Sebulon zu Kreuze zu kriechen.
Und danach gleich ab ins Zwielicht.
Ich hatte die Mitte des Arbats erreicht, als ich eine leichte, kaum wahrnehmbare Bewegung der Kraft spürte. Ganz in meiner Nähe kam es gerade zu einer magischen Manipulation, keiner starken, aber…
Beim Dunkel!
Was auch immer ich über Geser gedacht haben, wie sehr ich auch mit ihm gestritten haben mochte - ich blieb ein Soldat der Nachtwache.
Mit einer Hand griff ich nach dem Amulett in meiner Tasche, rief meinen Schatten und trat ins Zwielicht ein.
Wie verdammt heruntergekommen alles aussah!
Schon seit langem war ich nicht mehr im Zwielicht durch Moskaus Zentrum geschlendert.
Das blaue Moos legte sich wie ein dicker Teppich über alles. Träge waberten die Fäden und schufen die Illusion wogenden Wassers. Von mir strömten Kreise aus - das Moos trank meine Emotionen und versuchte gleichzeitig, von mir wegzukriechen. Doch die kleinen Scherze des Zwielichts interessierten mich im Moment nicht.
Im grauen Raum unter dem sonnenlosen Himmel war ich nicht allein.
Eine Sekunde lang sah ich die junge Frau an, die mit dem Rücken zu mir stand. Sah sie an und spürte, wie sich ein böses Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ein Lächeln, das eines Lichten Magiers nicht würdig ist. Von wegen»keine starke Manipulation«!
Eine magische Intervention dritten Grades?
Oi-oi-oj!
Das ist sehr ernst, mein Mädchen. Das ist so ernst, dass du vermutlich verrückt geworden bist. Dritter Grad - das geht doch eigentlich über deine Kräfte, du benutzt ein fremdes Amulett.
Aber ich werde versuchen, es mit meinen Kräften gegen dich aufzunehmen.
Als ich an sie herantrat, hörte sie meine Schritte auf dem weichen blauen Teppich nicht einmal. Die diffusen Schatten der Menschen huschten hin und her, und sie war einfach zu abgelenkt.
»Anton Gorodezki, Nachtwache«, sagte ich.»Alissa Donnikowa, Sie sind verhaftet.«
Das Hexlein kreischte auf, wirbelte herum. In der Hand hielt Alissa ein Amulett, ein Kristallprisma, durch das sie gerade die Passanten betrachtet hatte. Im ersten Moment versuchte sie es mit einer instinktiven Geste vor mir zu verstecken, im nächsten, mich durch das Prisma anzusehen.
Ich packte ihre Hand und zwang sie, damit aufzuhören. Eine Sekunde lang standen wir nebeneinander, und ich verstärkte allmählich den Druck, drehte der Hexe die Hand um. Zwischen einem Mann und einer Frau hätte eine solche Szene recht peinlich gewirkt. Bei uns Anderen liegt die Quelle der Körperkraft jedoch nicht in der Geschlechtszugehörigkeit und noch nicht mal in der aufgebauten Muskulatur. Die Kraft kommt von der Umgebung, vom Zwielicht, von den Menschen um uns herum. Ich wusste nicht, wie viel Alissa aus der sie umgebenden Welt ziehen konnte, vielleicht sogar mehr als ich.
Doch ich hatte sie auf frischer Tat ertappt. Weitere Wächter konnten in der Nähe sein. Und Widerstand gegen einen Mitarbeiter der anderen Wache, der eine offizielle Verhaftung vornimmt, ist ein Grund für eine Vernichtung an Ort und Stelle.
»Ich leiste keinen Widerstand«, sagte Alissa und öffnete ihre Hand. Das Prisma fiel sanft ins Moos - das aufköchelte, brodelte, das Kristallamulett einhüllte.
»Ein Kraftprisma?«, stellte ich eine rhetorische Frage.»Alissa Donnikowa, Sie haben eine magische Intervention dritten Grades vorgenommen.«
»Vierten«, entgegnete sie rasch.
Ich gestattete mir ein Schulterzucken.»Dritten Grades, vierten - das ist prinzipiell das Gleiche. Das bedeutet das Tribunal, Alissa. Du sitzt ziemlich in der Klemme.«
»Ich habe nichts getan.«Die Hexe versuchte vergeblich, gelassen zu wirken.»Ich habe eine persönliche Erlaubnis, das Prisma zu tragen. Ich habe es nicht angewendet.«
»Alissa, jeder hohe Magier kann diesem Stück sämtliche Informationen entnehmen.«
Ich senkte die Hand, zwang das blaue Moos zur Seite, während das Prisma mir gehorsam in die Hand sprang. Es war kalt, sehr kalt.
»Selbst ich kann seine Geschichte lesen«, sagte ich.»Alissa Donnikowa, Andere, Dunkle, Hexe der Tagwache, vierte Kraftstufe, ich klage Sie offiziell der Verletzung des Großen Vertrages an. Sollten Sie Widerstand leisten, wäre ich gezwungen, Sie zu töten. Hände auf den Rücken.«
Sie gehorchte. Dann fing sie an, schnell und überzeugend zu sprechen, legte alles in ihre Stimme, was ihr zu Gebote stand.»Anton, warte doch, ich bitte dich, hör mich an. Ja, ich habe das Prisma ausprobiert, aber versteh doch, mir wurde zum ersten Mal ein Amulett von solcher Kraft anvertraut! Anton, ich bin doch keine Idiotin, dass ich mitten in Moskau Leute überfalle. Was sollte mir das denn bringen? Anton, wir sind doch beide Andere! Lass uns das alles friedlich regeln, ja? Anton!«
»Was heißt hier friedlich?«, fragte ich, während ich das Prisma in die Tasche steckte.»Gehen wir.«
»Du kriegst eine Intervention vierten oder dritten Grades, Anton! Eine x-beliebige Intervention dritten Grades zugunsten des Lichts! Nicht so was wie mein dummes Spiel mit dem Prisma, sondern eine richtige Intervention!«
Den Grund für ihre Panik konnte ich verstehen. Die Sache sah miserabel für sie aus. Eine Mitarbeiterin der Tagwache saugt zu persönlichen Zwecken Leben aus den Menschen - das gäbe einen gewaltigen Skandal! Alissa würde ohne zu zögern ausgeliefert werden.
»Du bist nicht befugt, solche Kompromisse auszuhandeln. Die Leitung der Tagwache würde dein Versprechen nicht billigen.«
»Sebulon wird es bekräftigen!«
»Ja?«Der überzeugte Ton irritierte mich. War sie also tatsächlich die Geliebte Sebulons? Selbst dann blieb es merkwürdig.»Alissa, ich habe schon einmal ein Friedensabkommen mit dir geschlossen…«
»Sicher, und damals habe ich sogar vorgeschlagen, dir deine Intervention nachzusehen.«
»Und wozu hat das geführt?«Ich lächelte.»Erinnerst du dich noch daran?«
»Jetzt haben wir eine andere Situation, denn ich habe das Gesetz übertreten.«Alissa senkte den Blick.»Du hast jetzt das Recht zum Gegenschlag. Brauchst du wirklich keine Erlaubnis, Lichte Magie dritten Grades anzuwenden? Jede denkbare Lichte Magie? Du könntest zwei Dutzend Schufte remoralisieren und wieder zu rechtschaffenen Menschen machen! Auf der Stelle ein Dutzend Mörder zu Asche verbrennen! Eine Katastrophe verhindern, lokal eine Veränderung der Zeit vornehmen! Wiegt das meinen dummen Fehler nicht auf, Anton? Sieh dich doch um, niemand ist zu
Schaden gekommen! Ich habe nichts anrichten können, habe gerade erst angefangen…«
»Alles, was du sagst, kann gegen dich verwandt werden.«
»Das weiß ich doch!«
In ihren Augen schimmerten Tränen. Und die dürften sogar echt gewesen sein. Unter der Oberfläche der Hexe verbarg sich immer noch das ganz normale Mädchen. Das sympathische erschrockene Mädchen, das eine Dummheit begangen hatte. War es denn ihre Schuld, dass sie den Weg des Dunkels eingeschlagen hatte?
Ich spürte, wie mein emotionaler Schild sich durchbog, und schüttelte den Kopf.»Es bringt nichts, mich unter Druck zu setzen.«
»Anton, ich bitte dich, lass uns das friedlich regeln!«
Brauchte ich das Recht auf eine Intervention dritten Grades?
Na und wie. Jeder Lichte Magier träumt von einer solchen Carte blanche! Sich wenigstens einen Augenblick lang wie ein tapferer Soldat zu fühlen und nicht wie ein lausiger Grabenkämpfer, der verzagt auf die weiße Friedensflagge blickt.
»Du hast nicht das Recht, mir solche Vorschläge zu machen«, meinte ich mit fester Stimme.
»Ich bekomme es!«Alissa schüttelte den Kopf und atmete tief ein.»Sebulon!«
Ich presste die Hand um die kleine Scheibe des Kampfamuletts und wartete.
»Sebulon, ich rufe dich!«Ihre Stimme ging in ein Jammern über. Mir fiel auf, dass sich die Schatten der Menschen um uns herum etwas schneller bewegten: Die Menschen spürten eine unverständliche Unruhe und beschleunigten den Schritt.
Konnte sie erneut den Chef der Dunklen anrufen?
Wie damals, im Restaurant Maharadscha, als Sebulon mich fast mit der»Schaab-Geißel«getötet hätte?
Aber er hatte es nicht geschafft. Hatte mich nicht erwischt.
Obwohl diese Intrige damals auf Gesers Konto ging, konnte Sebulon mir ohne weiteres den Tod der Dunklen zur Last legen.
Plante er mich also noch ein in seinem Spiel?
Oder hatte sich insgeheim, unbemerkt Geser eingemischt, der den Schlag von mir ablenkte?
Ich wusste es nicht. Wie immer reichten die Fakten nicht für eine Analyse. Man könnte sich dreiunddreißig Versionen ausdenken, und alle würden sich untereinander widersprechen.
Mir wäre es lieber gewesen, wenn Sebulon nicht antwortete. Dann würde ich Alissa aus dem Zwielicht ziehen, den Chef oder irgendeinen Fahnder rufen, das dumme Ding übergeben und am Ende des Monats eine Prämie bekommen. Aber was sollte ich mich jetzt um Prämien kümmern?
»Sebulon!«In ihrer Stimme lag ein echtes Flehen.»Sebulon!«
Sie weinte bereits, ohne es zu merken. Die Schminke unter ihren Augen verlief.
»Zwecklos«, sagte ich.»Gehen wir.«
In dem Moment öffnete sich zwei Meter vor uns das Dunkle Portal.
Zunächst packte uns Kälte, bis auf die Knochen durchdringende Kälte. Sodass wir schon die in der Menschenwelt herrschende Hitze herbeisehnten. Das Moos loderte auf, die ganze Straße stand in Flammen. Natürlich hatte Sebulon es nicht absichtlich verbrannt, aber als er das Portal geöffnet hatte, verströmte es einfach so viel Kraft, dass das Moos sie nicht mehr verarbeiten konnte.
»Sebulon«, flüsterte Alissa.
Fünf Meter von uns entfernt schoss aus dem Pflaster ein violetter Strahl hoch in den Himmel. Der Blitz blendete so, dass ich unwillkürlich die Augen zusammenkniff. Als ich wieder in die Richtung sah, hing im grauen Nebel eine rabenschwarze Blase. Ihr entstieg langsam ein borstiges, beschupptes Etwas, das vage an einen Menschen erinnerte. Sebulon kam durch die zweite oder dritte Schicht des Zwielichts auf den Ruf herbei, wobei im Vergleich zu diesen Schichten die Zeit hier genauso langsam verging wie für uns die Zeit in der Menschwelt.
Mit einem Mal empfand ich eine Hilflosigkeit, mit der ich mich eigentlich seit langem abgefunden hatte. Die Möglichkeiten, die Sebulon oder Geser so leicht nutzten, waren mir nicht nur verschlossen, sondern gingen weit über meinen Horizont.
»Sebulon!«Alissa hielt die Hände nach wie vor auf dem Rücken, stürzte dem grauenvollen Monster jetzt aber entgegen. Schmiegte sich an ihn, vergrub das Gesicht in die stacheligen Schuppen.»Hilf mir, hilf mir bitte!«
Selbstverständlich war Sebulon nicht in Dämonengestalt aufgetaucht, um mich zu beeindrucken. In Menschengestalt hätte er jedoch nicht eine Minute in den tiefen Schichten des Zwielichts überstanden. Und er dürfte mehrere Stunden oder gar Tage dort durchgewandert sein.
Das Monster bedachte mich mit einem Blick aus seinen schmalen Augen. Aus dem Maul glitt eine lange gespaltene Zunge, die Alissa über den Kopf fuhr und in ihrem Haar Tropfen weißen Geifers hinterließ. Die bekrallte Pfote fasste Alissa unters Kinn und drückte ihren Kopf behutsam nach oben - ihre Blicke trafen sich. Im Nu hatten sie die Informationen ausgetauscht.
»Idiotin!«, erboste sich der Dämon. Die Zunge schlüpfte zwischen den zuklappenden Fangzähnen hindurch ins Maul zurück, dass er beinahe darauf gebissen hätte.»Du gierige Idiotin!«
Aha. So viel zu meiner Intervention dritten Grades.
Der kurze Schwanz des Dämons peitschte gegen A-lissas Beine, zerriss ihr das Seidenkleid, warf sie zu Boden. Die Augen des Monsters loderten, ein hellblaues Leuchten hüllte die Hexe ein, und sie versteinerte.
Und so viel zur Hilfe für Alissa.
»Kann ich die Verhaftete abführen, Sebulon?«, fragte ich.
Das Monster stand da und wippte ganz leicht auf den krummen Pfoten. Die Krallen an den Fingern waren bald eingezogen, bald ausgefahren. Dann machte er einen Schritt und stellte sich zwischen mich und die unbewegliche Frau.
»Ich bitte darum, die Rechtmäßigkeit der Verhaftung zu bestätigen«, sagte ich.»Ansonsten müsste ich Hilfe hinzuziehen.«
Der Dämon fing an, sich zu transformieren. Die Pro-
portionen seines Körpers veränderten sich, die Schuppen wuchsen zurück, der Schwanz schrumpfte, der Penis erinnerte nicht länger an einen mit Nägeln besetzten Knüppel. Danach bildete sich die Kleidung Sebulons heraus.
»Warte, Anton.«
»Worauf?«
Das Gesicht des Dunklen Magiers blieb undurchdringlich. Wahrscheinlich hatte er in der Gestalt des Dämons weit mehr Emotionen gehabt. Oder es zumindest für nicht erforderlich gehalten, sie zu verbergen.
»Ich bekräftige das Versprechen, das Alissa dir gegeben hat.«
»Was?!«
»Wenn die Sache nicht offiziell wird. Die Tagwache nimmt irgendeine Intervention bis zum dritten Grad einschließlich von dir in Kauf.«
Er wirkte absolut ernst.
Ich schluckte. Ein solches Versprechen vom Oberhaupt der Tagwache zu bekommen…
»Glaube niemals einem Dunklen!«
»Jede Intervention bis zum zweiten Grad inklusive.«
»Hast du solche Angst vor einem Skandal?«, fragte ich.»Oder brauchst du sie für irgendwas?«
Sebulons Gesicht verkrampfte sich kurz.
»Ich brauche sie. Ich liebe sie.«
»Das glaube ich nicht.«
»Als Oberhaupt der Tagwache Moskaus bitte ich Sie, Wächter Anton, die Angelegenheit friedlich beizulegen. Das ist möglich, denn meine Schutzbefohlene Alissa Donnikowa hat den Menschen keinen nennenswerten Schaden zugefügt. Zum Ausgleich für ihren Versuch«- Sebulon hob das letzte Wort besonders hervor -,»eine Dunkle magische Manipulation dritten Grades vorzunehmen, wird die Tagwache jede Lichte Manipulation bis zum zweiten Grad einschließlich hinnehmen, die du vollziehst. Ich bitte nicht um Geheimhaltung dieses Abkommens. Ich schränke deine Handlungen in keiner Weise ein. Ich unterstreiche, dass die von der Wächterin Alissa begangene Tat streng bestraft werden wird. Möge das Dunkel Zeuge meiner Worte sein.«
Ein feines, zartes Zittern. Ein unterirdisches Tosen, das Heulen eines heraufziehenden Hurrikans. In der Hand Sebulons erschien eine winzige schwarze Kugel, die sich drehte.
»Du hast das Wort«, sagte Sebulon.
Ich leckte mir über die Lippen, sah auf die durch einen Zauber gebannte Alissa. Ein Luder, ganz bestimmt. Mit der ich noch eine Rechnung offen hatte.
Ob ich deshalb die Angelegenheit nicht mit einem Kompromiss regeln wollte? Und keinesfalls deshalb, weil es gefährlich war, sich mit dem Dunkel auf ein Abkommen einzulassen? Alissa hatte versucht, das Kraftprisma zu benutzen, um etwas von der Lebensenergie der Menschen zu trinken. Das ist Magie dritten oder vierten Grades. Ich dürfte eine Manipulation zweiten Grades vornehmen. Was viel ist, sehr viel. Faktisch heißt das eine globale Manipulation! Eine Stadt, in der 24 Stunden lang kein einziges Verbrechen begangen wird. Eine geniale und eindeutig gute Idee. Wie oft in der Geschichte der Nachtwache hätten wir das Recht auf eine Intervention dritten oder vierten Grades gebraucht, es aber nicht gehabt, sodass
wir unüberlegt handeln mussten und voller Panik auf den Gegenzug warteten!
Und nun bot sich die Möglichkeit einer Intervention zweiten Grades, praktisch umsonst.
»Möge das Licht Zeuge deiner Worte sein«, sagte ich. Und streckte Sebulon die Hand entgegen.
Noch nie musste ich die Urkräfte als Zeugen anrufen. Ich wusste nur, dass dies keiner besonderen Zauberformeln bedarf. Doch eine Garantie, dass sich das Licht zu uns herabbequemt, gab es kaum.
In meiner Hand loderte ein Blütenblatt aus weißem Feuer auf.
Sebulon runzelte die Stirn, zog den Arm jedoch nicht weg. Als wir den Vertrag mit einem Handschlag besiegelten, trafen sich Dunkel und Licht zwischen unseren Handtellern. Ich spürte einen stechenden Schmerz, als ob jemand eine stumpfe Nadel durch mein Fleisch triebe.
»Der Vertrag ist geschlossen«, sagte der Dunkle Magier.
Er verzog ebenfalls das Gesicht. Der Schmerz traf auch ihn.
»Versprichst du dir selbst hiervon einen Vorteil?«, fragte ich.
»Natürlich. Ich hoffe stets, aus allem einen Vorteil zu ziehen. Meistens gelingt mir das auch.«
Doch zumindest empfand Sebulon keine pure Freude über das zustande gekommene Abkommen. Was auch immer er sich von unserem Handel versprach, von seinem Erfolg war er nicht vollends überzeugt.
»Ich habe erfahren, was der Kurier aus dem Orient
nach Moskau gebracht hat und wozu.«
Sebulon deutete ein Lächeln an.»Hervorragend. Die Situation macht mich nervös, und es ist ausgesprochen angenehm zu wissen, dass ich diese Unruhe jetzt mit anderen teile.«
»Sebulon! Haben die Nacht- und die Tagwache schon jemals zusammengearbeitet? Richtig kooperiert, nicht nur gemeinsam Verbrecher und Psychopathen gefasst?«
»Nein. Jede Zusammenarbeit bedeutet eine Niederlage für eine der beiden Seiten.«
»Das werde ich berücksichtigen.«
»Tu das.«
Wir verbeugten uns sogar höflich voreinander. Als ob sich hier nicht zwei Magier von gegeneinander kämpfenden Kräften gegenüberstünden, ein Adept des Lichts und ein Diener des Dunkels, sondern zwei Bekannte, die einander durchaus friedlich gesonnen sind.
Dann trat Sebulon an den unbeweglichen Körper A-lissas heran, hob ihn leicht hoch und warf ihn sich über die Schulter. Ich erwartete, dass sie das Zwielicht verlassen würden, doch stattdessen trat das Oberhaupt der Dunklen, mir ein herablassendes Lächeln schenkend, ins Portal.
Einen Moment lang zitterte es noch, dann verschwand es. Ich ging in die andere Richtung.
Erst jetzt wurde mir klar, wie müde ich war. Das Zwielicht liebt es, wenn man in es hineinkommt, aber noch mehr, wenn man dabei die Nerven verliert. Das Zwielicht ist eine unersättliche Schlampe, die sich über jeden freut.
Ich wählte einen Ort, an dem weniger Menschen waren, und sprang mit einem Ruck aus meinem Schatten.
Die Augen der vorübergehenden Menschen wandten sich wie üblich zur Seite. Wie oft pro Tag begegnet ihr uns, ihr Menschen… Den Lichten und Dunklen, den Magiern und Tiermenschen, den Hexen und Heilerinnen. Ihr schaut uns an - habt aber kein Recht uns zu sehen. Möge es auch fortan so sein.
Wir können hundert und tausend Jahre leben. Es ist sehr schwer, uns zu töten. Und die Probleme, die das menschliche Leben bestimmen, sind für uns wie der Missmut, den ein Erstklässler über einen schief in sein Heft gemalten Strich empfindet.
Alles hat jedoch seine Kehrseite. Ich würde mit euch tauschen, ihr Menschen. Nehmt das Können, Schatten zu sehen und ins Zwielicht einzutreten. Nehmt die Verteidigung der Wache und die Fähigkeit, das Bewusstsein anderer zu verändern.
Gebt mir die Ruhe, die ich für immer verloren habe!
Jemand rempelte mich an, schob mich beiseite. Ein kräftiger junger Mann mit Glatze, einem Handy am Gürtel und einer Goldkette um den Hals maß mich mit einem durchdringenden Blick, presste etwas zwischen den Zähnen hervor und trottete die Straße hinunter. Seine Freundin, die an seiner Hand klebte, imitierte nicht sonderlich erfolgreich jenen Blick von ihm, den kleine Banditen für»süße Blödmänner«reserviert haben.
Ich prustete aus vollem Halse los.
Ja, vermutlich gab ich wirklich ein tolles Bild ab!
Wie ich da mitten auf der Straße erstarrt war, wobei
es auf den ersten Blick noch so wirkte, als gingen mir an einem Stand mit billigen, bronzefarbenen Figuren, Matrjoschkas mit den Gesichtern von Politikern und nachgemachten Holzgegenständen à la Chochloma die Augen über.
Wenn ich wollte, dürfte ich die ganze Straße aufrütteln. Eine globale Remoralisation durchführen - und der Glatzkopf würde als Pfleger in einem Krankenhaus für geistig Behinderte arbeiten gehen, seine Freundin zum Bahnhof stürzen und zu ihrer längst vergessenen alten Mutter fahren, die irgendwo in der Provinz dahinvegetierte.
Man möchte Gutes tun, es juckt einem nur so in den Fingern!
Gerade weil es verboten ist.
Selbst wenn das Herz rein ist und die Hände heiß, der Kopf muss trotzdem kühl sein.
Ich bin ein einfacher, gewöhnlicher Anderer. Ich habe nicht die Kraft, die Geser oder Sebulon gegeben ist, werde sie nie haben. Vielleicht, weil ich meinen eigenen Blick auf die Ereignisse habe. Und selbst ein unerwartetes Geschenk - das Recht auf Lichte Magie - kann ich nicht nutzen. Das würde zu dem Spiel gehören, das über meinen Kopf hinweg gespielt wird.
Und meine Chance liegt darin, aus diesem Spiel auszusteigen.
Und Swetlana herauszuholen.
Ja, und damit die lange vorbereitete Operation der Nachtwache platzen lassen! Ja, kein Fahnder mehr sein! Mich in einen einfachen Lichten Magier verwandeln, der nur Krümel seiner Kraft nutzt. Und auch das nur im Glücksfall, im schlimmsten Fall wartet das ewige Zwielicht auf mich.
Heute, heute um Mitternacht.
Wo? Und wer? Wessen Schicksalsbuch wird die Zauberin aufschlagen? Was hatte Olga gesagt? Seit zwölf Jahren bereiten sie diese Operation vor. Zwölf Jahre suchen sie schon eine Große Zauberin, die in der Lage ist, die bis heute aufgesparte Kreide in die Hand zu nehmen. Stopp!
Fast hätte ich auf den ganzen Arbat hinausgeschrien, was für ein Idiot ich war. Doch mein Gesicht dürfte auch so beredt genug gewesen sein.
Wozu auch noch in Worte fassen, was mir ohnehin ins Gesicht geschrieben steht.
Die hohen Magier planen viele Züge voraus. In ihrem Spiel gibt es keinen Zufall. Es gibt Damen und es gibt Bauern. Aber keine überflüssigen Figuren!
Jegor!
Der Junge, der beinah das Opfer einer nicht lizenzierten Jagd geworden wäre. Der deshalb ins Zwielicht eingetreten ist, in einer Gemütsverfassung, die ihn auf die Seite der Dunklen getrieben hat. Der Junge, dessen Schicksal nicht bestimmt ist, dessen Aura noch jetzt die Buntheit des Kleinkinds aufweist. Ja, ein einmaliger Fall, darüber habe ich schon gestaunt, als ich es das erste Mal gesehen habe.
Gestaunt - und es vergessen. Kaum hatte ich erfahren, dass seine potenziellen Fähigkeiten vom Chef künstlich heraufgesetzt worden waren, sowohl um die Dunklen abzulenken als auch um Jegor die Chance zu geben, den Vampiren wenigstens etwas Widerstand zu leisten.
Das war er für mich geblieben: sowohl eine persönliche Niederlage, denn ich hatte als Erster den Anderen in ihm erkannt, als auch - zumindest noch - ein guter Mensch, als auch in Zukunft ein Gegner in der ewigen Schlacht zwischen Gut und Böse. Nur im hintersten Winkel hatte sich die Erinnerung an sein unbesiegeltes Schicksal gehalten.
Er kann noch alles Mögliche werden. Ein unbestimmtes Zukunftspotenzial. Ein offenes Buch. Das Buch des Schicksals.
Er wird vor Swetlana stehen, wenn sie die Kreide in die Hand nimmt. Gern wird er da stehen - wenn Geser ihm erst einmal alles vernünftig und ernsthaft erklärt hat. Und erklären kann er, der Chef der Nachtwache, das Oberhaupt der Lichten Moskaus, der große uralte Magier. Geser wird über die Korrektur von Fehlern sprechen. Wahrheitsgemäß. Geser wird Jegor die große Zukunft ausmalen, die vor ihm liegt. Und das, denn eben darum geht es, wird auch der Wahrheit entsprechen! Die Dunklen können tausendmal Protest einreichen - die Inquisition wird ohne Zweifel den Umstand berücksichtigen, dass der Junge anfangs unter ihren Taten zu leiden hatte.
Und Swetlana wird man vermutlich sagen, dass der Misserfolg mit Jegor mich bedrückt. Dass der Junge viel leiden musste, weil die Wache damit beschäftigt war, sie, Swetlana, zu retten.
Sie wird nicht einmal zögern.
Wird alles tun, was man von ihr verlangt.
Die Kreide in die Hand nehmen, ganz gewöhnliche Kreide, mit der man Himmel-und-Hölle auf den Asphalt malt oder»2 + 2 = 4«an die Tafel schreibt.
Und sie wird das Schicksal zuschneiden, das noch
nicht besiegelt ist.
Was wollen sie aus dem Jungen machen?
Wen?
Einen Initiator, Führer, Befehlshaber neuer Parteien und Revolutionen?
Den Propheten einer Religion, die noch nicht erdacht ist?
Einen Denker, der eine neue Gesellschaftslehre begründet? Einen Musiker, Dichter oder Schriftsteller, dessen Werk das Bewusstsein von Millionen verändert?
Wie viele Jahre reicht der bedächtige Plan der Kräfte des Lichts in die Zukunft hinein?
Gewiss, das Wesen, das einem Anderen von Natur aus gegeben ist, ändert man nicht von Grund auf. Je-gor wird ein äußerst schwacher Magier sein. Dank der Intervention der Wache aber immerhin ein Lichter Magier.
Doch um das Schicksal der Menschenwelt zu verändern, muss man nicht unbedingt ein Anderer sein. Es ist sogar hinderlich. Weit vorteilhafter ist es, auf die Unterstützung der Wache zurückzugreifen und die Menschenmassen hinter sich herzuziehen, die das von uns erfundene Glück so nötig haben.
Und er wird sie führen. Ich weiß nicht, wie, weiß nicht, wohin, aber er wird es. Nur, dass dann die Dunklen ihrerseits einen Zug machen. Für jeden Präsidenten findet sich ein Killer. Auf jeden Propheten kommen tausend Exegeten, die das Wesen der Religion verdrehen, das lichte Feuer durch die Hitze der Scheiterhaufen der Inquisition ersetzen. Jedes Buch wird irgendwann in die Flammen geworfen, aus Symphonien werden Schlager, die in Kneipen dudeln. Jede
Gemeinheit lässt sich auf eine solide philosophische Grundlage stellen.
Ja, wir haben nichts gelernt. Wahrscheinlich wollten wir das gar nicht.
Aber wenigstens bleibt mir noch etwas Zeit. Und das Recht auf meinen Zug. Einen einzigen.
Wenn ich nur wüsste, welchen.
Swetlana auffordern, Geser zu widersprechen, sich nicht der höchsten Magie zu verschreiben, ein fremdes Schicksal nicht zu korrigieren?
Warum eigentlich nicht? Im Grunde ist es doch richtig. Die gemachten Fehler korrigieren, einem einzelnen Menschen und der Menschheit insgesamt eine glückliche Zukunft ermöglichen. Von mir würde die Last der begangenen Fehler genommen. Von Swetlana das Bewusstsein, dass ihr Erfolg mit fremdem Leid bezahlt ist. Sie reiht sich unter die Großen Zauberinnen ein. Welchen Preis bin ich bereit, für meine diffusen Zweifel zu zahlen? Und was an ihnen ist echte Sorge, was mein kleiner persönlicher Egoismus? Was ist das Licht, was das Dunkel?
»He, Freund!«
Der Händler, neben dessen Tisch ich stand, sah mich an. Nicht sehr böse, aber verärgert.»Willst du was kaufen?«
»Seh ich wie ein Idiot aus?«, erkundigte ich mich.
»Total. Entweder kaufst du was, oder du gehst weiter.«
Irgendwie hatte er Recht. Aber ich hatte Lust, ihm Kontra zu geben.»Du verstehst ja nicht, was du für Glück hast. Ich bilde für dich die Masse, locke Käufer an.«
Der Händler war ein Original. Dick, mit einem roten Gesicht, gewaltigen Armen, in denen Fett und Muskeln den gleichen Anteil hatten. Er taxierte mich mit festem Blick, fand offenkundig nichts Bedrohliches und wollte schon lospoltern.
Und lächelte plötzlich.
»Na, dann bilde mal. Aber ein bisschen aktiver. Tu so, als ob du was kaufen willst. Du kannst mir sogar zum Spaß Geld geben.«
Das war so seltsam, so unerwartet.
Ich lächelte zurück.»Möchtest du, dass ich wirklich was kaufe?«
»Wozu brauchst du das denn, ist doch Touri-quatsch.«Der Verkäufer hörte auf zu lächeln, die bisherige angespannte Aggressivität war jedoch ebenfalls aus seinem Gesicht verschwunden.»Eine Teufelshitze, die macht uns alle noch verrückt. Wenn es endlich regnen würde.«
Ich schaute zum Himmel rauf und zuckte mit den Achseln. Offenbar hatte sich etwas verändert. Etwas hatte sich in dem durchscheinenden Blau des himmlischen Backofens bewegt.
»Ich glaube, das wird es«, erklärte ich.
»Wär schön.«
Wir nickten einander zu, und ich ging weiter, tauchte in den Strom der Menschen ein.
Auch wenn ich noch nicht wusste, was ich tun sollte, wusste ich doch, wohin ich gehen musste. Und das war immerhin etwas.
Unsere Kräfte sind zum größten Teil geliehen. Die Dunklen schöpfen sie aus fremdem Leid. Sie haben es entschieden einfacher. Müssen den Menschen noch nicht mal unbedingt ein Leid zufügen. Brauchen nur lange genug zu warten. Brauchen sich nur aufmerksam umzuschauen und dann zu saugen, an dem fremden Leid zu saugen, als saugten sie einen Cocktail durch einen Strohhalm.
Uns steht dieser Weg auch offen. Nur sieht er ein wenig anders aus. Wir müssen die Kraft nehmen, wenn es den Menschen gut geht, wenn sie glücklich sind.
Allerdings gibt es ein Detail, das den Prozess für die Dunklen möglich macht, während es ihn für uns praktisch verbietet. Glück und Leid - das sind keinesfalls zwei Extreme auf der Skala menschlicher Gefühle. Sonst gäbe es weder lichte Traurigkeit noch bitterböse Freude. Es sind zwei parallele Prozesse, zwei gleichberechtigte Ströme der Kraft, die die Anderen spüren und nutzen können.
Wenn ein Dunkler Magier fremden Schmerz trinkt, wächst dieser noch an.
Wenn sich ein Lichter Magier fremde Freude einverleibt, schmilzt sie.
Wir können die Kraft in jedem Moment aufnehmen. Doch nur sehr selten erlauben wir uns das.
Heute beschloss ich, es zu tun.
Ich nahm ein wenig von einem Pärchen, das sich gerade umarmte und am Eingang zur Metro festgewachsen schien. Sie waren glücklich, im Moment sogar sehr glücklich. Und trotzdem spürte ich, dass ihnen eine Trennung bevorstand, zudem auf lange Zeit, und Traurigkeit unweigerlich die Verliebten streifen würde. Ich beschloss, dass mein Tun berechtigt war. Ihre Freude leuchtete grell und prunkvoll, wie ein Bouquet purpurroter Rosen, zarter und arroganter Rosen.
Ich berührte einen vorbeilaufenden Jungen - ihm ging es gut, er spürte die drückende, schwere Hitze nicht, sondern rannte, um sich ein Eis zu kaufen. Er würde sich schnell regenerieren. Seine Kraft war einfach und rein wie eine Wiesenblume. Ein Strauß Kamillen, gepflückt von meiner Hand, die nicht zitterte.
Ich sah eine alte Frau im Fenster. Der Schatten des Todes lauerte bereits so nahe, dass sie es vermutlich selbst spürte. Dennoch lächelte die Alte. Heute war ihr Enkel zu ihr gekommen. Wahrscheinlich, um zu sehen, ob das alte Weib immer noch lebte oder ob die teure Wohnung im Moskauer Zentrum nicht inzwischen frei geworden war. Sie wusste das. Und trotzdem war sie glücklich. Mir war es peinlich, unerträglich peinlich, doch ich berührte sie und nahm ihr ein wenig von ihrer Kraft. Ein verwelkendes gelb-orangefarbenes Gebinde aus Astern und Herbstblättern…
Ich ging weiter, wie ich mitunter nachts in einem Albtraum herumstreife, Glück nach links und rechts verteile. An alle, dass keiner gekränkt von hier gehe. Jetzt aber zog ich eine ganz andere Spur. Hier und da ein leicht ersterbendes Lächeln, Falten auf der Stirn, eine Lippe, die kurz gebissen wurde.
Überhaupt sah man, wo ich langgekommen war.
Eine Streife der Tagwache würde mich nicht anhalten, selbst wenn sie meinen Weg kreuzte.
Und auch die Lichten, sollten sie mich beobachten, würden schweigen.
Ich tat, was ich für notwendig hielt. Etwas, wozu ich mich berechtigt sah. Borgte. Stahl. Und wie ich mit der erhaltenen Kraft umging, würde mein Schicksal bestimmen.
Entweder würde ich alles in voller Höhe zurückzahlen.
Oder das Zwielicht würde sich vor mir auftun.
Ein Lichter Magier, der aus Menschen Kraft schöpft, setzt alles auf eine Karte. Das rechnen die Wachen nicht so auf wie sonst unsere Handlungen. Das Ausmaß des bewirkten Guten muss nämlich nicht nur einfach das von mir geschaffene Böse übersteigen.
Ich darf noch nicht einmal einen Anflug von Zweifel haben, dass ich alles in voller Höhe zurückgezahlt hatte.
Verliebte, Kinder, Alte. Eine Gruppe, die an einem Denkmal Bier trank. Ich befürchtete zwar, ihre Freude sei nur gespielt, doch sie stellte sich als echt heraus, und ich nahm ihre Kraft.
Verzeiht mir.
Ich könnte mich x-mal bei jedem Einzelnen entschuldigen. Ich kann für alles bezahlen, was ich mir genommen habe. Nur wäre das verlogen.
Ich kämpfe nämlich bloß für meine Liebe. In erster Linie. Erst dann für euch, für die ein neues, unerhörtes Glück vorbereitet wird.
Aber vielleicht kann auch das gelten?
Dass ich, sobald ich für meine Liebe kämpfe, auch für die ganze Welt kämpfe?
Für die ganze Welt - und nicht mit aller Welt.
Kraft!
Kraft.
Kraft?
Ich klaubte mir ihre Körnchen zusammen, manchmal sorgsam und vorsichtig, manchmal grob und heftig, damit meine Hand nicht zitterte, damit ich nicht die Augen vor Scham abwandte, während ich fast das Letzte sammelte.
Vielleicht war für diesen Jungen Glück ohnehin ein seltener Gast?
Ich wusste es nicht.
Kraft!
Vielleicht würde die Frau, nachdem sie dieses Lächeln eingebüßt hatte, auch die Liebe von jemandem verlieren?
Kraft.
Vielleicht würde dieser kräftige, ironisch lächelnde Mann morgen sterben?
Kraft.
Die Amulette in den Taschen würden mir nicht helfen. Es würde keinen Kampf geben. Mir würde meine»Hochform«nicht helfen, die der Chef erwähnt hatte. Sie war sowieso nicht der Rede wert. Und das Recht auf eine ungehinderte Intervention zweiten Grades, das mir Sebulon so großzügig eingeräumt hatte, war eine Falle. Daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Er hatte seine Freundin als Köder gebraucht, die Wahrscheinlichkeitslinien so zusammengeführt, dass wir uns treffen mussten, und mir mit gramverzerrtem Gesicht das tödliche Geschenk ausgehändigt. Ich kann nicht so weit in die Zukunft sehen, als dass sich mein Gutes niemals in Böses verkehren würde.
Aber wenn du keine Waffen hast - nimm sie aus den Händen des Feindes.
Kraft!
Kraft.
Kraft!
Wenn es den dünnen Verbindungsfaden zu Geser noch gäbe, der sich zwischen einem jungen Magier und seinem Mentor spannt, müsste er längst gespürt haben, was hier vor sich ging. Müsste bemerkt haben, wie ich mich mit Energie voll pumpe, mit ungeheuerlicher Energie, die unüberlegt abgezogen wurde und für ein bislang noch unbekanntes Ziel eingesetzt werden sollte.
Was würde er tun?
Einen Magier aufhalten zu wollen, der diesen Weg eingeschlagen hat, ist sinnlos.
Ich ging zu Fuß zur Ausstellung der Errungenschaften. Ich wusste, wo alles passieren würde. Es gibt keinen Zufall, wenn hohe Magier ihn lenken. Das plumpe»Haus auf Beinen«, diese aufrecht hingestellte Streichholzschachtel - dort hatte Sebulon seinen Kampf um Swetlana ausgetragen, dort hatte Geser seinen Schützling entdeckt, der Inquisition zugeführt und nebenbei Swetlana geschult.
Das Zentrum der Kraft für die ganze Kombination.
Zum dritten Mal.
Ich wollte weder essen noch trinken. Trotzdem hielt ich einmal an, kaufte mir einen Becher Kaffee, trank ihn. Er schmeckte nach nichts, als sei kein Koffein darin. Die Menschen wichen mir aus, obwohl ich mich in der normalen Welt bewegte. Die Konzentration der Magie um mich herum wuchs.
Ich konnte meine Ankunft nicht verbergen.
Aber ich wollte mich auch gar nicht aus dem Hinterhalt anschleichen.
Eine junge schwangere Frau setzte vorsichtig, voller Bedacht einen Fuß vor den anderen. Ich erschauerte, als ich sah, dass sie lächelte. Und hätte mich beinah abgewandt, als mir aufging, dass auch das ungeborene Kind in seiner winzigen und sicheren Welt lächelte.
Ihre Kraft glich einer hellen rosafarbenen Pfingstrose - eine große Blume, deren kugelige Knospe sich noch nicht geöffnet hatte.
Ich musste alles nehmen, was mir über den Weg lief.
Ohne Zögern, ohne Mitleid.
Irgendetwas passierte in der mich umgebenden Welt.
Die Hitze schien noch stärker zu werden. Und zwar mit einem verzweifelten, krampfhaften Ruck.
Gewiss nicht zufällig. Die Dunklen und die Lichten Magier hatten in den letzten Tagen immer wieder versucht, die Schwüle zu vertreiben. Irgendwas tat sich. Ich blieb stehen, hob den Kopf und sah durchs Zwielicht zum Himmel.
Ein kaum merkliches Kreisen.
Funken am Horizont.
Dunst im Südosten.
Aureolen um die Spitze des Fernsehturms in Ostan-kino.
Es würde eine seltsame Nacht werden.
Ich berührte ein vorbeilaufendes Mädchen und nahm mir ihre naive Freude: Ihr Vater war nüchtern nach Hause gekommen.
Wie der abgebrochene Zweig einer Heckenrose, stachelig und porös.
Verzeiht mir.
Als ich zu dem»Haus auf Beinen«kam, war es fast elf Uhr abends.
Als Letzten berührte ich einen betrunkenen Schwerarbeiter, der an der Wand eines Tordurchgangs lehnte - jenes Durchgangs, in dem ich zum ersten Mal einen Dunklen getötet hatte. Er war fast unzurechnungsfähig. Und glücklich.
Ich nahm mir auch noch seine Kraft. Die lodernde, bespuckte Blüte eines Wegerich, ein hässliches, schmutzig braunes Stummelchen.
Auch das ist Kraft.
Als ich die Straße überquerte, gewahrte ich, dass ich nicht allein hier war. Ich rief meinen Schatten herbei und trat in die Zwielicht-Welt ein.
Um das Gebäude herum hatten sie eine Kette gebildet.
Die merkwürdigste Kette, die ich je gesehen hatte. Dunkle und Lichte abwechselnd. Ich entdeckte Semjon, nickte ihm zu und erntete als Antwort einen ruhigen, leicht vorwurfsvollen Blick. Tigerjunges, Bär, Ilja, Ignat…
Wann waren sie alle herbeigerufen worden? Während ich durch die Stadt gestrichen war und Kraft gesammelt hatte? War wohl nichts mit Urlaub, was, Jungs?
Und die Dunklen. Selbst Alissa fehlte nicht. Es war schrecklich sie anzusehen: Das Gesicht der Hexe ähnelte einer zerknitterten und wieder geglätteten Papiermaske. Offenbar hatte Sebulon nicht gelogen, als er ihre Bestrafung angekündigt hatte. Neben Alissa stand Alischer, und als ich seinen Blick auffing, begriff ich, dass die beiden einen tödliche Kampf austragen würden. Vielleicht nicht jetzt. Aber irgendwann auf alle Fälle.
Ich ging durch den Ring.
»Sperrgebiet«, sagte Alischer.
»Sperrgebiet«, echote Alissa.
»Ich bin berechtigt.«
In mir trug ich genug Kraft, um auch ohne Erlaubnis durchzugehen. Nur Große Magier könnten mich jetzt aufhalten, doch die waren nicht hier.
Aber niemand hielt mich auf. Also hatte jemand, Geser oder Sebulon, möglicherweise aber auch beide Chefs der Wachen, den Befehl gegeben, mich nur zu warnen.
»Viel Glück«, hörte ich es hinter mir flüstern. Ich drehte mich um und fing den Blick von Tigerjunges auf. Nickte.
Der Hauseingang war leer. Auch im Haus war alles ruhig, wie damals, als über Swetlana der Höllenwirbel von beispiellosen Ausmaßen kreiste. Das Böse, das sie selbst über sich heraufbeschworen hatte.
Ich ging durch grauen Dunst. Unter meinen Füßen erbebte es dumpf: Hier, in der Zwielicht-Welt, reagierte selbst der Boden auf Magie, selbst die Schatten menschlicher Häuser.
Die Luke in der Decke stand offen. Niemand legte mir auch nur das geringste Hindernis in den Weg. Das Traurigste war, dass ich nicht wusste, ob ich mich darüber freuen oder betrübt sein sollte.
Ich trat aus dem Zwielicht. Es nützte wohl nichts, dort zu bleiben. Jetzt nicht.
Ich stieg die Leiter zum Dach hoch.
Als Ersten sah ich Maxim.
Nichts an ihm erinnerte noch an den Mann von einst, diesen spontanen Lichten Magier, den Wilden, der ein paar Jahre lang die Adepten des Dunkels ermordet hatte. Vielleicht hatte man irgendwas mit ihm gemacht. Vielleicht hatte er sich auch von sich aus geändert. Manche Menschen geben ideale Henker ab.
Maxim hatte es geschafft. Er war ein Henker geworden. Ein Inquisitor. Einer, der über dem Licht und dem Dunkel steht, allen dient - und niemandem. Die Hände hatte er vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht gesenkt. Etwas an ihm gemahnte an Sebulon, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Und etwas an Geser.
Bei meinem Auftauchen hob Maxim ein wenig den Kopf. Sein klarer Blick huschte über mich hinweg. Dann schaute er zu Boden.
Also durfte ich in der Tat an dem, was hier geschah, teilhaben.
An einer Seite stand Sebulon stocksteif da. Er hatte sich in einen leichten Umhang gehüllt und schenkte mir nicht die geringste Aufmerksamkeit. Dass ich kommen würde, hatte er ohnehin gewusst.
Geser, Swetlana und Jegor standen beisammen. Sie reagierten weitaus lebhafter auf mein Erscheinen.
»Bist du also doch gekommen?«, fragte der Chef.
Ich nickte. Sah Swetlana an. Sie trug ein langes weißes Gewand, das Haar fiel ihr offen über die Schultern. In ihrer Hand flimmerte mit gespenstischem Licht ein Futteral - ein kleines Futteral aus weißem Saffianleder für eine Brosche oder ein Medaillon.
»Anton, du weißt es, ja?«, schrie Jegor.
Wenn jemand der Anwesenden glücklich war, dann er. Völlig.
»Ich weiß es«, antwortete ich. Und ging auf ihn zu. Zerstrubbelte ihm mit der Hand die Haare.
Seine Kraft glich der sattgelben Blüte des Löwenzahns.
Jetzt hatte ich eingesammelt, was ich kriegen konnte.
»Restlos alles?«, fragte Geser.»Anton, was hast du vor?«
Ich antwortete ihm nicht. Etwas warnte mich. Etwas stimmte hier nicht.
Aber ja! Olga fehlte, warum auch immer.
Hatte sie die Anweisungen schon gegeben? Wusste Swetlana, was ihr bevorstand?
»Die Kreide«, sagte ich.»Das kleine Kreidestück, das von beiden Seiten abgenutzt ist. Mit ihm kann man überall etwas schreiben. Zum Beispiel auch im Schicksalsbuch. Die alten Zeilen durchstreichen und neue einfügen.«
»Anton, du sagst niemandem der hier Anwesenden etwas Neues«, bemerkte der Chef gelassen.
»Ist die Erlaubnis bereits erteilt?«
Geser sah Maxim an. Als spüre er den Blick, hob der Inquisitor den Kopf.
»Die Erlaubnis liegt vor«, bestätigte er mit dumpfer Stimme.
»Einspruch von Seiten der Tagwache«, brachte Sebulon gelangweilt hervor.
»Abgelehnt«, erwiderte Maxim gleichmütig. Abermals ließ er den Kopf auf die Brust sinken.
»Die Große Zauberin kann die Kreide jetzt in die Hand nehmen«, meinte ich.»Jede Zeile im Schicksalsbuch wird einen Teil ihrer Seele löschen. Löschen - und durch einen geänderten ersetzen. Das Schicksal eines Menschen kann man nur ändern, wenn man die eigene Seele drangibt.«
»Ich weiß«, sagte Swetlana. Sie lächelte.»Anton, du musst entschuldigen. Ich halte das für richtig. Es wird von Nutzen sein - für alle.«
In Jegors Augen blitzte Beunruhigung auf. Er spürte, dass etwas nicht stimmte.
»Anton, du bist ein Kämpfer der Wache«, meinte Geser.»Wenn du Einwände hast, kannst du sie jetzt vortragen.«
Einwände? Wogegen denn? Dass Jegor nicht ein Dunkler, sondern ein Lichter Magier wird? Dass er versucht, selbst wenn es noch so oft nicht geklappt hat, den Menschen Gutes zu bringen? Dass Swetlana eine Große Zauberin wird?
Wenn sie dabei auch alles Menschliche opfert, das noch in ihr ist.
»Ich habe nichts zu sagen«, erklärte ich.
Kam es mir nur so vor, oder funkelte in Gesers Augen Erstaunen auf?
Es war schwer zu ergründen, woran der Große Magier jetzt eigentlich dachte.
»Fangen wir an«, sagte er.»Swetlana, du weißt, was du zu tun hast.«
»Ja.«Sie sah mich an. Ich trat ein paar Schritte zurück. Geser ebenfalls. Jetzt standen sie zu zweit da, Swetlana und Jegor. Beide gleichermaßen verwirrt. Gleichermaßen angespannt. Ich beugte mich zu Sebulon hinüber. Der wartete. Swetlana öffnete das Futteral - das Knirschen der Schließen klang wie ein Schuss - und nahm langsam, als müsse sie einen Widerstand überwinden, die Kreide heraus. Ein winziges Stück. Ob es sich wirklich über die Jahrtausende, in denen das Licht versuchte, das Schicksal der Welt zu ändern, so abgenutzt hatte?
Geser seufzte.
Swetlana ging in die Hocke und begann einen Kreis zu zeichnen, der sie und den Jungen umschloss.
Mir blieb nichts zu sagen. Nichts zu tun.
Ich hatte so viel Kraft gesammelt, dass sie am Rand überschwappte.
Ich habe das Recht, Gutes zu tun.
Doch eine Kleinigkeit fehlte mir: das Verständnis.
Wind wehte. Ein zarter, vorsichtiger Wind. Legte sich.
Ich sah hoch und erschauerte. Etwas tat sich. Hier, in der Menschenwelt, hatte sich der Himmel mit Wolken bedeckt. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie sie
aufgezogen waren.
Swetlana hatte den Kreis fertig gezeichnet. Erhob sich.
Ich versuchte, sie durchs Zwielicht anzusehen, und wandte mich sofort ab. In ihrer Hand loderte ein Stück glühende Kohle. Fühlte sie den Schmerz?
»Ein Unwetter zieht auf«, sagte Sebulon aus der Ferne.»Ein richtiger Sturm, wie wir ihn lange nicht hatten.«Er lachte höhnisch auf.
Niemand schenkte seinen Worten Beachtung. Höchstens der Wind - er begann stetiger zu wehen, immer stärker. Ich sah nach unten - dort war alles ruhig. Swetlana fuhr mit der Kreide durch die Luft, als zeichne sie etwas, das nur sie sehen konnte. Eine rechteckige Kontur. Ein Muster darin. Jegor stöhnte leise. Warf den Kopf in den Nacken. Ich wollte schon einen Schritt nach vorn machen, hielt aber inne. Durch die Barriere kam ich nicht. Und wozu auch?
Darum ging es nicht.
Wenn du nicht weißt, was du machen sollst, darfst du auf nichts vertrauen. Weder auf den kühlen Kopf, noch auf das reine Herz, noch auf die heißen Hände.
»Anton!«
Ich sah Geser an. Der Chef wirkte irgendwie besorgt.
»Das ist nicht nur ein Sturm, Anton. Das ist ein Orkan. Es wird Opfer geben.«
»Die Dunklen?«, fragte ich bloß.
»Nein. Die Naturgewalten.«
»Haben wir es mit der Konzentration der Kraft etwas übertrieben?«, fragte ich. Der Chef ging nicht auf meinen spöttischen Ton ein.
»Anton, bis zu welchem Grad darfst du Magie einsetzen?«
Natürlich wusste er von dem Handel mit Sebulon.
»Bis zum zweiten.«
»Du kannst den Orkan aufhalten«, sagte Geser. Konstatierte einfach den Fakt.»Es wird bei einem Wolkenbruch bleiben. Du hast genug Kraft gesammelt.«
Der Wind fegte erneut los. Er hatte nicht mehr vor abzuflauen. Der Wind riss und drückte, als sei er entschlossen, uns vom Dach zu wischen. Regen peitschte.
»Das ist vermutlich die letzte Chance«, fuhr der Chef fort.»Aber es ist deine Entscheidung.«
Mit gläsernem Klirren entstand um Geser herum ein Kraftschild, gleichsam als habe er sich eine Tüte aus zerknittertem Zellophan übergestülpt. Noch nie hatte ich gesehen, dass ein Magier sich mit solchen Maßnahmen gegen das gewöhnliche Tosen der Naturgewalten schützte.
Swetlana fuhr in flatterndem Kleid fort, das Schicksalsbuch zu zeichnen. Jegor rührte sich nicht, sondern stand da, als sei er an ein unsichtbares Kreuz geschlagen. Vielleicht nahm er bereits nichts mehr wahr. Was passiert mit einem Menschen, wenn er sein altes Schicksal verliert und das neue noch nicht erlangt hat?
»Geser, du bereitest einen Taifun vor - im Vergleich dazu ist dieser Sturm überhaupt nichts!«, schrie ich.
Der Wind erstickte bereits unsere Worte.
»Das ist unvermeidlich«, erwiderte Geser. Er schien zu flüstern, doch jedes Wort klang völlig klar.»Das vollzieht sich bereits.«
Das Schicksalsbuch wurde sogar in der Menschenwelt sichtbar. Natürlich hatte Swetlana es nicht im eigentlichen Sinne gezeichnet, sondern es aus den tiefsten Schichten des Zwielichts herausgezogen. Eine Kopie angefertigt, und jede Veränderung der Kopie würde sich im Original wiederfinden. Das Schicksalsbuch erschien als Modell, eine Nachbildung aus lodernden Feuerfäden, die unbeweglich in der Luft hingen. Regentropfen flammten auf, sobald sie auf das Buch fielen.
Jetzt würde Swetlana anfangen, Jegors Schicksal zu ändern.
Und später, Jahrzehnte später würde Jegor das Schicksal der Welt ändern.
Wie immer zum Guten.
Wie üblich erfolglos.
Ich geriet ins Taumeln. Von einer Sekunde zur andern hatte sich der starke Wind völlig überraschend zu einem Orkan ausgewachsen. Um uns herum geschah etwas Unvorstellbares. Ich sah, wie die Autos auf der Straße anhielten, an den Straßenrand drängten - möglichst weit weg von den Bäumen. Völlig lautlos - das Heulen des Windes erstickte jeden Lärm - krachte eine riesige Reklamewand auf die Kreuzung. Spätheimkehrer rannten auf die Häuser zu, als hofften sie, die Mauern böten ihnen Schutz.
Swetlana hielt inne. Der glühende Punkt leuchtete in ihrer Hand.»Anton!«
Ich konnte ihre Stimme kaum hören.
»Anton, was soll ich tun? Sag’s mir! Soll ich das tun, Anton?«
Der Kreidekreis schützte sie, jedoch nicht vollständig: Beinahe hätte der Orkan ihr die Kleidung vom Leib gerissen; trotzdem erlaubte er ihr, das Gleichgewicht zu bewahren.
Alles schien zu verschwinden. Ich sah sie an, sah die lodernde Kreide, die bereit war, ein fremdes Schicksal zu ändern. Swetlana wartete auf eine Antwort - nur hatte ich nichts zu sagen. Nichts, weil ich die Antwort selbst nicht kannte.
Ich hob die Hand zum tosenden Himmel. Und sah die durchsichtigen Blumen der Kraft in meinen Händen.
»Schaffst du es?«, fragte Sebulon mitleidig.»Der Sturm legt richtig los.«
Seine Stimme war durch das Gedonner des Orkans ebenso klar zu hören wie die Stimme des Chefs.
Geser seufzte.
Ich öffnete die Hände, drehte sie zum Himmel - an dem keine Sterne mehr standen, wo nur das Geflacker von Wolken, Regengüssen und Blitzen geblieben war.
Es war einer der einfachsten Zauber. Man kriegt ihn fast als Erstes beigebracht.
Eine Remoralisation.
Ohne jede Präzisierung.
»Tu das nicht!«, schrie Geser.»Wag es ja nicht!«
Mit einer einzigen Bewegung wechselte er den Standort, schirmte Swetlana und Jegor von mir ab. Als ob das den Zauber beeinträchtigen würde. Nein, nichts würde ihn jetzt noch aufhalten.
Ein Lichtstrahl, unsichtbar für Menschen, schoss aus meinen Handtellern. Alle Körnchen, die ich unter ihnen gesammelt hatte, erbarmungslos und unerbittlich. Die purpurrote Flamme der Rosen, die hellen rosafarbenen
Pfingstrosen, das Gelb der Astern, die weißen Kamillen, die nahezu schwarzen Orchideen.
Sebulon lachte leise hinter mir.
Swetlana stand mit der Kreide in der Hand über dem Schicksalsbuch.
Jegor war vor ihr mit ausgebreiteten Armen erstarrt.
Die Figuren auf dem Spielbrett. Die Kraft in meinen Händen. Noch nie hatte ich über so viel Kraft geboten, so unkontrollierte, am Rande überströmende Kraft, die sich über wen auch immer ergießen würde.
Ich lächelte Swetlana an. Und hob ganz langsam die Hände mit dem aus ihnen herausschießenden Springbrunnen aus regenbogenfarbenem Licht an mein Gesicht.
»Nein!«
Der Schrei Sebulons durchdrang nicht nur den Orkan - er erstickte ihn. Ein Blitz zerschnitt den Himmel. Das Oberhaupt der Dunklen wollte sich auf mich werfen, doch Geser trat ihm entgegen, sodass der Dunkle Magier stehen blieb. Ich sah das nicht - spürte es nur. Ein farbiges Leuchten überflutete mein Gesicht. Mir schwindelte. Den Wind nahm ich nicht mehr wahr.
Es blieb nur der Regenbogen, dieser endlose Regenbogen, in dem ich ertrank.
Der Wind tobte um mich herum, berührte mich aber nicht. Ich sah Swetlana an und hörte, wie die unsichtbare Mauer aufbrach, die immer zwischen uns gestanden hatte. Aufbrach - und uns beide in die Barriere einschloss. Die wehenden Haare wogten in einer sanften Welle um Swetas Gesicht.
»Du hast alles für dich ausgegeben?«
»Ja«, sagte ich.
»Alles, was du gesammelt hast?«
Sie glaubte es nicht. Konnte es immer noch nicht glauben. Swetlana wusste, welchen Preis geborgte Kraft hat.
»Bis auf den letzten Tropfen!«, erwiderte ich. Mir war leicht zumute, erstaunlich leicht.
»Warum?«Die Zauberin streckte die Hand aus.»Warum, Anton? Du hättest diesen Sturm aufhalten können. Hättest tausend Menschen glücklich machen können. Wie konntest du alles für dich ausgeben?«
»Um keinen Fehler zu machen«, erklärte ich. Irgendwie war es peinlich, dass sie, eine zukünftige Große, diese Kleinigkeit nicht begriff.
Einen Moment lang schwieg Swetlana. Dann sah sie auf die flammende Kreide in ihrer Hand.
»Was soll ich tun, Anton?«
»Du hast das Schicksalsbuch bereits geöffnet.«
»Anton! Wer hat Recht? Geser oder du?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das musst du selbst entscheiden.«
Swetlana zog die Augenbrauen zusammen.
»Und das ist alles, Anton? Dafür hast du so viel fremdes Licht vergeudet? Dafür hast du Magie zweiten Grades eingesetzt?«
»Du wirst es verstehen.«Ich wusste nicht, wie viel Glaube in meiner Stimme lag. Selbst jetzt reichte er mir selbst nicht.»Manchmal ist das Wichtigste nicht die Tat. Manchmal ist das Wichtigste, nichts zu tun. Es gibt etwas, das du allein entscheiden musst. Ohne Ratschläge. Weder von mir noch von Geser, Sebulon, dem Licht oder dem Dunkel. Nur du allein.«
Sie schüttelte den Kopf.»Nein!«
»Doch. Du selbst triffst die Entscheidung. Diese Verantwortung nimmt dir niemand ab. Doch was auch immer du tust - du wirst auf jeden Fall bedauern, das andere nicht getan zu haben.«
»Anton, ich liebe dich!«
»Ich weiß. Und ich liebe dich. Darum sage ich auch nichts.«
»Ist das deine Liebe?«
»Nur das ist überhaupt Liebe.«
»Ich brauche einen Rat!«, schrie sie.»Anton, ich brauche deinen Rat!«
»Jeder schafft sein eigenes Schicksal«, sagte ich. Das war sogar etwas mehr, als ich sagen durfte.»Entscheide.«
Die Kreide in ihrer Hand glühte wie eine dünne flammende Nadel, als sie sich zum Schicksalsbuch umdrehte. Ein Strich - ich hörte, wie die Seiten unter dem blendenden Radiergummi knisterten.
Licht und Dunkel sind nur Flecken auf den Seiten des Schicksals. Ein Strich. Ein Schnörkel.
Ein rascher Lauf der Feuerzeilen.
Swetlana öffnete die Finger, die Schicksalskreide fiel zu Boden. Schwer wie eine Bleikugel. Sie wäre trotzdem vom Hurrikan fortgerissen worden, doch ich schaffte es, mich zu bücken und die Kreide in der Hand zu verstecken.
Das Schicksalsbuch begann zu schmelzen.
Jegor wankte, krümmte sich, fiel auf die Seite und presste die Knie an die Brust. Rollte sich zu einem kleinen bedauernswerten Bündel ein.
Der weiße Kreis um die beiden war bereits vom Regen verwischt, und ich konnte zu ihnen gehen. Hockte mich hin und hielt den Jungen bei den Schultern.
»Du hast nichts hineingeschrieben!«, schrie Geser.»Swetlana, du hast nur etwas gelöscht!«
Die Zauberin zuckte mit den Achseln. Sie sah mich von oben bis unten an. Der Regen, der nun durch die sich auflösende Barriere brach, hatte ihr weißes Kleid schon durchtränkt und in feinen Mull verwandelt, der ihren Körper nicht mehr verbergen konnte.
Eben noch war Swetlana eine Opferpriesterin im schneeweißen Gewand, jetzt stand eine klatschnasse junge Frau vor mir, mit hängenden Armen, inmitten eines Sturms.
»Das war dein Examen«, sagte Geser halblaut.»Du hast deine Chance verpasst.«
»Lichter Geser, ich will nicht in der Wache dienen«, erwiderte die junge Frau.»Verzeihen Sie mir, Lichter Geser. Aber das ist nicht mein Weg. Nicht mein Schicksal.«
Geser schüttelte traurig den Kopf. Er sah nicht mehr zu Sebulon hinüber, der ein paar Schritt entfernt neben uns stand.
»Und das war alles?«, fragte der Dunkle Magier. Sah mich an, Sweta, Jegor.»Ihr habt nichts fertig gebracht?«
Er ließ den Blick zum Inquisitor wandern - der den Kopf hob und nickte.
Sonst ging niemand auf ihn ein.
Ein schiefes Lächeln breitete sich auf Sebulons Gesicht aus.
»Was für Kräfte, und dann endet alles mit einer Farce. Nur weil eine hysterische junge Frau ihren unentschlossenen Verehrer nicht aufgeben möchte. Anton, du hast mich enttäuscht. Swetlana, du hast mir eine Freude bereitet. Geser…«Der Dunkle sah den Chef an.»… meinen Glückwunsch zu solchen Mitarbeitern.«
Hinter Sebulon öffnete sich das Portal. Leise lachend trat er in die schwarze Wolke ein.
Von der Straße drang ein schwerer Seufzer zu mir herauf. Ich sah nichts, wusste aber, was dort geschah. Einer nach dem andern traten die Dunklen Wächter aus dem Zwielicht. Stürzten zu den in der Nähe des Hauses geparkten Autos, um sie so schnell wie möglich von den Bäumen wegzufahren. Liefen gekrümmt zu den Nachbarhäusern.
Dann verließen die Lichten Magier die Kette. Einige, um denselben einfachen und verständlichen menschlichen Handlungen nachzugehen. Doch die meisten, das wusste ich, würden bleiben und aufmerksam nach oben sehen, hinauf zum Dach des Hauses. Tigerjunges für alle Fälle mit schuldbewusster Miene. Semjon mit dem finsteren Lächeln eines Anderen, der schon ganz andere Stürme erlebt hatte, Ignat mit dem unweigerlichen aufrichtigen Mitgefühl.
»Ich konnte das nicht tun«, sagte Swetlana.»Es tut mir Leid, Geser. Ich konnte es nicht.«
»Du konntest es nicht«, bemerkte ich.»Und brauchtest es auch gar nicht…«
Ich öffnete die Hand. Sah auf das kleine Kreidestück, das in meinen Händen einfach nur ein feuchtes und klebriges Stück Kreide war. An einer Seite zugespitzt. An der anderen ungleichmäßig abgebrochen.
»Hast du es schon lange begriffen?«, fragte Geser. Er trat an mich heran, setzte sich zu mir. Sein Schild spannte sich über uns, das Heulen des Orkans verstummte.
»Nein. Eben erst.«
»Was geht hier vor?«, schrie Swetlana.»Anton, was passiert hier?«
»Jeder hat sein Schicksal, mein Mädchen«, antwortete Geser ihr.»Der eine muss fremde Leben lenken oder Imperien zerschlagen. Der andere einfach leben.«
»Während die Tagwache darauf gewartet hat, dass du den Eintrag vornimmst«, erklärte ich,»hat Olga sich die andere Hälfte der Kreide genommen und das Schicksal von jemandem umgeschrieben. So, wie das Licht es wollte.«
Geser seufzte. Streckte die Hand aus, berührte Jegor. Der Junge bewegte sich, versuchte aufzustehen.
»Gleich, gleich«, sagte der Chef zärtlich.»Alles ist vorbei, gleich ist alles aus.«
Ich nahm den Jungen in den Arm, bettete seinen Kopf auf meine Knie. Er beruhigte sich wieder.
»Sag, wozu?«, fragte ich.»Wenn du sowieso gewusst hast, was kommt?«
»Selbst ich kann nicht alles wissen.«
»Wozu?«
»Weil alles natürlich wirken musste«, erwiderte Geser leicht gereizt.»Nur so hat Sebulon an den Vorgang geglaubt. Sowohl an unsere Pläne wie auch an unsere Niederlage.«
»Das ist nicht die ganze Antwort, Geser.«Ich sah ihm in die Augen.»Bei weitem nicht!«
Der Chef seufzte.»Gut. Ja, ich hätte es auch anders machen können. Swetlana hätte eine Große Zauberin werden können. Entgegen ihrem eigenen Wunsch. Jegor wäre, obwohl die Wache auch so schon in seiner Schuld steht, zu unserem Instrument geworden.«
Ich wartete. Wollte unbedingt wissen, ob Geser die ganze Wahrheit sagen würde. Wenigstens einmal.
»Ja, ich hätte es auch so machen können.«Geser seufzte.»Nur, mein Junge… Alles, was ich neben dem großen Kampf zwischen dem Licht und dem Dunkel getan habe, alles, was ich im zwanzigsten Jahrhundert getan habe, war einem einzigen Ziel untergeordnet, selbstverständlich ohne dabei der Sache zu schaden…«
Mit einem Mal tat er mir Leid. Unerträglich Leid. Vielleicht, weil der Große Magier, der Helllichte Geser, der Vernichter der Ungeheuer und Hüter der Staaten, zum ersten Mal seit tausend Jahren gezwungen war, die volle Wahrheit auszusprechen. Die nicht so beredt und erhaben klang wie die, die er gewöhnlich vertrat.
»Schon gut, ich weiß es!«, schrie ich.
Doch der Große Magier schüttelte den Kopf.»Alles, was ich getan habe«, betonte Geser Silbe um Silbe,»war noch einem anderen Ziel untergeordnet. Nämlich die Leitung zu zwingen, Olgas Strafe vollständig aufzuheben. Ihr alle Kräfte zurückzugeben und ihr zu erlauben, die Schicksalskreide erneut in die Hände zu nehmen. Sie muss mir ebenbürtig sein. Sonst ist unsere Liebe zum Tode verdammt. Und ich liebe sie, Anton.«
Swetlana lachte los. Leise, sehr leise. Ich dachte, sie
würde dem Chef eine Ohrfeige verpassen, aber ich begriff sie wohl noch immer nicht vollends. Swetlana sank vor Geser auf die Knie und küsste ihm die rechte Hand.
Der Magier erschauerte. Als habe er seine grenzenlosen Kräfte verloren: Die Schutzkuppel erzitterte und schmolz. Wieder erstickte das Heulen des Orkans unsere Stimmen.
»Und das Schicksal der Welt werden wir abermals ändern?«, fragte ich.»Neben unseren kleinen persönlichen Angelegenheiten?«
Er nickte. Und fragte:»Freust du dich nicht darüber?«
»Nein.«
»Nun ja, Anton, man kann schließlich nicht immer gewinnen. Auch mir ist das nicht geglückt. Und dir wird es ebenso wenig gelingen.«
»Ich weiß«, erwiderte ich.»Natürlich weiß ich das, Geser. Aber trotzdem wäre es einfach zu schön.«