11 Verloren. Der Plan. Verrat

Tolpan konnte sich später nicht mehr genau an jene letzten panischen Momente im Kettenraum erinnern. Er wußte nur noch, daß er gefragt hatte: »Eine verrückte Elfe? Wo?« und sich auf die Zehenspitzen gestellt und versucht hatte, etwas zu erkennen, als plötzlich der leuchtende Stab auf den Boden fiel. Er hörte Tanis schreien und dann ein klagendes Geräusch, das den Kender jedes Gefühl dafür verlieren ließ, wo er war und was er machte. Dann griffen kräftige Hände um seine Hüften und hoben ihn in die Luft.

»Kletter hoch!« rief ihm eine Stimme zu.

Tolpan streckte seine Hände aus, fühlte das kalte Metall der Kette und begann zu klettern. Er hörte eine Tür zuschlagen und dann wieder das eisige Klagen der bösen Elfe. Diesmal klang es nicht tödlich, sondern eher wie ein Aufschrei der Wut. Tolpan hoffte, daß seine Freunde hatten fliehen können.

»Ich frage mich, wie ich sie wiederfinden soll«, sprach er leise zu sich und fühlte sich einen Moment lang entmutigt. Dann hörte er Fizban murmeln und wurde wieder munter. Er war nicht allein.

Dichte, schwarze Dunkelheit hüllte den Kender ein. Er kletterte allein mit Hilfe seines Tastsinnes und wurde sehr müde, als kalte Luft seine rechte Wange berührte. Er spürte, daß sie den Mechanismus erreicht hatten. Wenn er doch nur sehen könnte! Dann fiel ihm ein, daß er mit einem Magier zusammen war.

»Wir könnten Licht gebrauchen!« rief Tolpan.

»Ein Kampf? Wo?« Fizban ließ fast die Kette los.

»Kein Kampf! Licht!« sagte Tolpan und hielt sich an einem Kettenglied fest. »Ich glaube, wir sind jetzt fast oben und sollten uns wirklich einmal umschauen.«

»Ja, natürlich. Laß mich sehen, Licht…« Tolpan hörte den Magier in seinen Beuteln wühlen. Anscheinend hatte er gefunden, was er suchte, denn er stieß einen kleinen Triumphschrei aus, sprach ein paar Worte, und eine kleine blaugelbe Wölkchenflamme erschien, die dicht am Hut des Magiers schwebte.

Das glühende Wölkchen zischte hoch, tanzte um Tolpan, wie um den Kender zu beschauen, dann kehrte es zum stolzen Magier zurück. Tolpan war entzückt. Er hatte jede Menge Fragen über dieses wunderbare Wölkchen, aber seine Arme wurden lahm, und auch der alte Magier war am Ende seiner Kräfte. Er wußte, sie sollten lieber einen Weg finden, um von der Kette wegzukommen.

Er sah hoch. Wie er vermutet hatte, befanden sie sich im oberen Teil der Festung. Die Kette lief über ein riesiges hölzernes Zahnrad, das mit einer Eisenachse verbunden war, und verschwand in einem Tunnel rechts vom Kender.

»Wir könnten über das Zahnrad klettern und an der Kette in den Tunnel kriechen«, schlug der Kender vor. »Kannst du das Licht hierher schicken?«

»Licht – zum Rad«, befahl Fizban.

Das Licht schwankte einen Moment in der Luft, dann tanzte es in einer entschieden verneinenden Weise hin und her.

Fizban runzelte die Stirn. »Licht – zum Rad!« wiederholte er streng.

Die Wölkchenflamme wirbelte herum und versteckte sich hinter dem Hut des Magiers. Fizban, der eine heftige Bewegung machte, um sie zu fassen, wäre beinahe gestürzt und konnte gerade noch rechtzeitig beide Arme um die Kette schlingen. Das Wölkchenlicht tanzte hinter ihm in der Luft.

»Uh, ich glaube, wir haben genug Licht«, sagte Tolpan.

»Keine Disziplin bei den Jungen«, murrte Fizban. »Sein Vater – nun, es gab einmal eine Wolke…« Die Stimme des alten Magiers brach ab, als er wieder zu klettern begann; die Flamme schwebte an der Spitze seines zerbeulten Hutes.

Tolpan erreichte bald den ersten Zahn des Rades und kroch weiter hoch. Fizban folgte ihm mit erstaunlicher Behendigkeit.

»Könntest du das Licht bitten, in den Tunnel zu leuchten?« fragte Tolpan.

»Licht – in den Tunnel«, befahl Fizban, seine mageren Beine waren um ein Kettenglied geschlungen.

Das Wölkchen schien sich den Befehl zu überlegen. Langsam tanzte es zum Rand des Tunnels, dann hielt es inne.

»In den Tunnel!« bestimmte der Magier.

Das Wölkchen gehorchte nicht.

»Ich glaube, es fürchtet sich vor der Dunkelheit«, erklärte Fizban entschuldigend.

»Meine Güte, wie bemerkenswert!« sagte der Kender erstaunt. »Nun«, dachte er einen Moment laut nach, »wenn es da bleibt, wo es ist, dann kann ich genug sehen, um über die Kette zu kommen. Es sind wohl nur fünf oder sechs Meter bis zum Tunnel.« Abgesehen von der Kleinigkeit, daß um uns herum mehr als hundert Meter Dunkelheit und Luft liegen, ganz zu schweigen vom Steinboden da unten, dachte er leise.

»Jemand sollte mal dieses Ding ölen«, sagte Fizban und untersuchte kritisch die Radachse. »Heutzutage sieht man nur noch schlampige Arbeit.«

»Ich bin wirklich froh, daß sie nicht geschmiert ist«, sagte Tolpan besänftigend und kroch weiter. Als er den halben Weg geschafft hatte, überlegte der Kender, wie es wohl wäre, von dieser Höhe zu stürzen, immer tiefer und tiefer und dann auf den Steinboden aufzuschlagen. Er fragte sich, was das wohl für ein Gefühl wäre, auf dem Boden aufzuklatschen…

»Beweg dich schon!« rief Fizban, der hinter dem Kender kroch.

Tolpan kroch schnell zum Tunneleingang weiter, wo die Wölkchenflamme wartete, dann sprang er von der Kette auf den Tunnelboden. Die Flamme tanzte hinter ihm her, und endlich erreichte auch Fizban den Tunneleingang. Im letzten Moment taumelte er, aber Tolpan erwischte sein Gewand und zog den alten Mann in Sicherheit.

Sie setzten sich hin, um auszuruhen, als der alte Mann plötzlich den Kopf hochwarf.

»Mein Stab«, sagte er.

»Was ist damit?« Tolpan gähnte und fragte sich, wie spät es wohl wäre.

Der alte Magier richtete sich schwankend auf. »Hab’ ihn unten vergessen«, murmelte er und ging auf die Kette zu.

»Warte! Du kannst nicht zurück!« Tolpan sprang auf.

»Wer sagt das?« fragte der alte Mann gereizt.

»Ich inmeine…«, stotterte Tolpan, »es wäre zu gefährlich. Aber ich weiß, wie du dich fühlst – mein Hupak ist auch unten.«

»Hmmmm«, machte Fizban und setzte sich traurig wieder hin.

»War er magisch?« fragte Tolpan nach einem Moment.

»Ich war mir nie ganz sicher«, antwortete Fizban versonnen.

»Nun«, meinte Tolpan praktisch denkend, »vielleicht können wir zurückgehen und ihn holen, wenn wir dieses Abenteuer hinter uns gebracht haben. Jetzt laß uns einen Platz finden, an dem wir uns ausruhen können.«

Er blickte sich im Tunnel um. Er war etwa drei Meter hoch. Die riesige Kette verlief mit vielen kleineren Ketten weiter in ein dunkles Loch. Tolpan starrte hinunter und konnte vage den Umriß gigantischer Steinblöcke erkennen.

»Wie spät ist es wohl?« fragte Tolpan.

»Essenszeit«, sagte der alte Mann. »Und wir können auch hier ausruhen. Dieser Platz ist so sicher wie jeder andere.« Er legte sich hin. Dann zog er eine Handvoll Quithpa hervor und begann geräuschvoll zu essen. Die Wölkchenflamme huschte zu ihm hinüber und ließ sich auf der Hutkrempe des Magiers nieder.

Tolpan setzte sich neben den Magier und begann an seinem Trockenobst zu knabbern. Dann schnüffelte er. Es roch merkwürdig, als ob jemand alte Socken verbrennen würde. Er sah hoch, seufzte und zog am Gewand des Magiers.

»Uh, Fizban«, sagte er. »Dein Hut brennt.«

»Flint«, sagte Tanis ernst, »zum letzten Mal – ich bin genauso traurig wie du, Tolpan verloren zu haben, aber wir können nicht zurück! Er ist mit Fizban zusammen, und wie ich die beiden kenne, werden sie es schaffen, aus jeder Gefahr herauszukommen.«

»Wenn sie nicht dabei die ganze Festung auf uns aufmerksam machen«, murrte Sturm.

Der Zwerg wischte sich über die Augen und sah Tanis wütend an, dann drehte er sich auf dem Absatz um und stapfte in eine Ecke zurück, wo er sich auf den Boden schmiß und schmollte.

Tanis setzte sich wieder. Er wußte, wie Flint zumute war. Es war merkwürdig – es gab so viele Situationen, in denen er den Kender am liebsten erwürgt hätte, aber jetzt, wo er verschwunden war, vermißte Tanis ihn – und genau aus diesen Gründen. Tolpan umgab eine angeborene, nie versiegende Fröhlichkeit, die ihn zu einem wertvollen Gefährten machte. Keine Gefahr konnte den Kender abschrecken, und darum gab er auch niemals auf. Selbst im Notfall war er nie um einen Ausweg verlegen. Er tat zwar nicht immer das Richtige, aber zumindest war er immer zum Handeln bereit. Tanis lächelte traurig. Ich kann nur hoffen, daß dieser Notfall nicht sein letzter sein wird, dachte er.

Die Gefährten ruhten sich eine Stunde lang aus, aßen Quithpa und tranken aus einer Quelle, die sie entdeckt hatten. Raistlin war wieder zu Bewußtsein gekommen, konnte aber nichts essen. Er nippte etwas vom Wasser, dann legte er sich wieder hin. Caramon teilte ihm die Nachricht über Fizbans Verschwinden zögernd mit, da er fürchtete, sein Bruder könnte sich den Verlust zu sehr zu Herzen nehmen. Aber Raistlin zuckte nur die Achseln, schloß die Augen und sank in einen tiefen Schlaf.

Als Tanis sich erholt hatte, ging er zu Gilthanas hinüber, der aufmerksam eine Karte studierte. Er kam an Laurana vorbei, die allein saß, und lächelte sie an. Sie sah weg. Tanis seufzte. Er bereute bereits, so grob mit ihr geredet zu haben. Er mußte zugeben, daß sie sich unter den entsetzlichen Umständen bemerkenswert gut zurechtfand. Sie hatte alles schnell und ohne Fragen getan, was man ihr gesagt hatte. Tanis nahm sich vor, sich bei ihr zu entschuldigen, aber zuerst mußte er mit Gilthanas sprechen.

»Wie sieht’s aus?« fragte er und setzte sich auf eine Kiste.

»Ja, wo sind wir?« fragte Sturm. Bald hatten sich alle um die Karte versammelt, außer Raistlin, der anscheinend schlief. Tanis glaubte jedoch, einen Goldschlitz in den angeblich geschlossenen Lidern des Magiers zu erkennen.

Gilthanas breitete die Karte aus.

»Hier ist die Festung von Pax Tarkas und die umliegenden Erzminen«, sagte er. »Wir sind in den Kellern auf der untersten Ebene. Durch diesen Flur, ungefähr zwanzig Meter von hier entfernt, kommt man in die Räume, in denen die Frauen eingeschlossen sind. Gegenüber liegt ein Wachraum, und hier« – er tippte vorsichtig auf die Karte – »ist die Höhle eines der roten Drachen, den Lord Verminaard Ember nennt. Der Drache ist so groß, daß sich die Höhle über die Bodenebene erstreckt, mit den Gemächern von Lord Verminaard im ersten Stockwerk verbunden ist und weiter bis zum zweiten Stockwerk reicht und dann nach draußen führt.«

Gilthanas lächelte bitter. »Auf der ersten Etage hinter Verminaards Räumen befindet sich das Gefängnis, in dem die Kinder festgehalten werden. Der Drachenfürst ist klug. Er hält die Geiseln getrennt, da er weiß, daß die Frauen niemals ohne ihre Kinder gehen würden, so wie die Männer niemals ohne ihre Familien. Die Kinder werden von einem zweiten roten Drachen bewacht. Die Männer – ungefähr dreihundert – arbeiten draußen in den Minen. Außerdem sind noch einige hundert Gossenzwerge in den Minen beschäftigt.«

»Du scheinst eine Menge über Pax Tarkas zu wissen«, sagte Eben.

Gilthanas blickte schnell hoch. »Was willst du damit andeuten?«

»Ich deute nichts an«, antwortete Eben. »Es ist nur, daß du eine Menge über diesen Ort weißt, wenn man bedenkt, daß du noch nie hier warst! Und war es nicht interessant, daß wir immer auf Kreaturen stießen, die uns fast getötet hätten?«

»Eben.« Tanis sprach sehr ruhig. »Wir haben genug von deinen Verdächtigungen. Ich glaube nicht, daß einer von uns ein Verräter ist. Wie Raistlin sagte, hätte der Verräter uns schon längst verraten können. Was ist denn unser Ziel?«

»Mich und die Scheiben zu Lord Verminaard zu bringen«, sagte Goldmond leise. »Er weiß, daß ich hier bin, Tanis. Er und ich sind durch unser Schicksal verbunden.«

»Das ist lächerlich!« knurrte Sturm.

»Nein, das ist es nicht«, widersprach Goldmond. »Erinnere dich an die zwei Konstellationen. Eine war die Königin der Finsternis. Aus dem wenigen, was ich in den Scheiben von Mishakal verstanden habe, war die Königin auch eine der uralten Götter. Den guten Göttern stehen die bösen Götter gegenüber, und die neutralen Götter streben danach, das Gleichgewicht zu halten. Verminaard verehrte die Königin der Finsternis, so wie ich Mishakal verehre: Das meint Mishakal, wenn sie sagt, daß wir das Gleichgewicht wiederherstellen müssen. Er fürchtet sich vor dem Versprechen des Guten, das ich bringe, und er setzt seinen ganzen Willen daran, mich zu finden. Je länger ich hier bleibe…« Ihre Stimme erstarb.

»Ein Grund mehr, mit den Streitereien aufzuhören«, sagte Tanis und blickte Eben an.

Der Krieger zuckte die Achseln. »Genug geredet. Ich bin dabei.«

»Wie sieht dein Plan aus, Gilthanas?« fragte Tanis und bemerkte verärgert, wie Sturm, Caramon und Eben Blicke austauschten – drei Menschen gegen die Elfen, dachte er. Aber vielleicht liege ich genauso falsch, Gilthanas nur deshalb schon zu glauben, weil er ein Elf ist.

Gilthanas bemerkte die Blicke auch. Einen Moment starrte er die Männer an, dann begann er zu sprechen, seine Worte abwägend, als ob er widerwillig nicht mehr als absolut notwendig mitteilen wollte.

»Jeden Abend dürfen zehn bis zwölf Frauen ihre Zellen verlassen und den Männern in den Minen das Essen bringen. Auf diese Weise zeigt der Fürst den Männern, daß er seinen Teil des Abkommens erfüllt. Aus dem gleichen Grund dürfen die Frauen einmal täglich ihre Kinder sehen. Meine Krieger und ich hatten geplant, uns als Frauen zu verkleiden, zu den Männern in die Minen zu gehen, um ihnen unser Vorhaben, die Geiseln zu befreien, zu erläutern und sie aufzufordern, sich für den Aufstand bereitzuhalten. Darüber hinaus hatten wir uns keine Gedanken gemacht, insbesondere nicht über die Kinder. Unsere Spione deuteten an, daß mit dem Drachen, der die Kinder bewacht, etwas Merkwürdiges ist, wir konnten aber nicht genau verstehen, was er meinte.«

»Was für Sp…?« wollte Caramon fragte, aber auf Tanis’ Blick hin ließ er es sein. Statt dessen fragte er: »Wann werden wir angreifen? Und was ist mit dem Drachen Ember?«

»Wir greifen morgen früh an. Lord Verminaard und Ember werden morgen sicher zu der Armee stoßen, sobald sie die Umgebung von Qualinost erreicht hat. Er hat diese Invasion seit langer Zeit vorbereitet. Ich glaube nicht, daß er sie verpassen will.«

Die Gruppe diskutierte den Plan eine Zeitlang, fügte da etwas hinzu, verbesserte hier etwas; im allgemeinen waren sie jedoch einverstanden. Dann verstauten sie ihr Gepäck, während Caramon seinen Bruder weckte. Sturm und Eben stießen die Tür auf, die in den Korridor führte. Er schien leer zu sein, obwohl sie schwach betrunkenes Gelächter aus einem Zimmer direkt ihnen gegenüber hören konnten. Drakonier. Lautlos glitten die Gefährten in den dunklen, schäbigen Flur.

Tolpan stand mitten in dem Zimmer, das er Mechanismuszimmer nannte, und sah in den Tunnel, der von dem Wölkchen schwach beleuchtet wurde. Der Kender begann sich entmutigt zu fühlen. Dieses Gefühl hatte er nicht oft, und es erinnerte ihn an jene Zeit, als er einen ganzen Kuchen mit grünen Tomaten, den er von einem Nachbarn geschenkt bekommen hatte, gegessen hatte. Seit jenem Tag ließen Entmutigung und grüner Tomatenkuchen in ihm den Wunsch entstehen, sich zu erbrechen.

»Irgendwie muß es einen Weg geben, um herauszukommen«, sagte der Kender. »Sicherlich untersuchen sie gelegentlich den Mechanismus oder kommen hoch, um ihn zu bewundern, oder machen Besichtigungen!«

Er und Fizban waren eine Stunde im Tunnel hin- und hergelaufen und hatten nichts gefunden.

»Um auf das Licht zurückzukommen«, sagte der alte Magier plötzlich, obwohl sie nicht darüber geredet hatten, »sieh mal.«

Tolpan sah hin. Durch einen Spalt in der Wand, nahe am Eingang zum engen Tunnel, war ein schmaler Lichtschein sichtbar. Sie konnten Stimmen hören, und das Licht wurde heller, als ob Fackeln in einem Raum unter ihnen angezündet worden wären.

»Vielleicht ist das ein Ausgang«, sagte der alte Mann.

Tolpan kniete sich nieder und lugte durch den Spalt. »Komm her!«

Die beiden sahen hinunter in einen großen Raum, der mit allem Luxus ausgestattet war. Alles, was schön und kostbar war, in den Ländern, die Verminaard in seiner Gewalt hatte, war hierher gebracht worden, um die privaten Gemächer des Drachenfürsten zu schmücken. Ein reich verzierter Thron stand an einem Ende des Zimmers. Seltene und kostbare Silberspiegel hingen an den Wänden, die so raffiniert angebracht waren, daß ein Gefangener immer nur auf den grotesken gehörnten Helm des Drachenfürsten blickte, gleichgültig, wohin er sich wandte. »Das muß er sein!« flüsterte Tolpan Fizban zu. »Das muß Lord Verminaard sein!« Dem Kender stockte der Atem. »Und das muß sein Drache sein – Ember. Von dem Gilthanas uns erzählte, daß er alle Elfen in Solace getötet hat.«

Ember, oder Pyros (sein wahrer Name war geheim und nur den Drakoniern oder anderen Drachen bekannt – niemals jedoch Normalsterblichen), war ein uralter roter Drache. Pyros war Lord Verminaard von der Königin der Finsternis vorgeblich als Belohnung übergeben worden. In Wirklichkeit sollte Pyros ein wachsames Auge auf Verminaard haben, der eine seltsame paranoide Furcht in bezug auf die Entdeckung der wahren Götter entwickelt hatte. Jedoch besaßen alle Drachenfürsten auf Krynn Drachen – obwohl diese nicht so stark und intelligent waren. Denn Pyros hatte eine weitere, wichtigere Mission zu erfüllen, die selbst dem Drachenfürsten nicht bekannt war eine Mission, die die Königin der Finsternis ihm anvertraut hatte und von der nur sie und ihre bösartigen Drachen wußten.

Pyros’ Mission bestand darin, in diesem Teil von Ansalon nach einem Mann zu suchen, einem Mann mit vielen Namen. Die Königin der Finsternis nannte ihn Ewigan. Die Drachen nannten ihn den Hüter des grünen Juwels. Sein menschlicher Name war Berem. Und diese unablässige Suche nach dem Mann Berem war der Grund für Pyros’ nachmittäglichen Aufenthalt in Verminaards Gemach, obwohl er viel lieber in seiner Höhle ein Nickerchen gehalten hätte.

Pyros hatte die Nachricht erhalten, daß Truppführer Toede zwei Gefangene zum Verhör vorführen wollte. Es bestand immer die Möglichkeit, daß Berem dabei war. Darum war der Drache bei den Verhören immer anwesend, obwohl er sich meistens äußerst langweilte. Die einzige Zeit, in der Verhöre interessant wurden – soweit es Pyros anging -, war, wenn Verminaard einem Gefangenen befahl, »den Drachen zu füttern.«

Pyros hatte sich an einer Seite des riesigen Thronsaals ausgestreckt. Seine Flügel waren seitlich an den Körper angelegt, seine Klauen hoben sich mit jedem Atemzug wie eine gnomenhafte Maschine. Er döste und schnarchte leise vor sich hin. Eine seltene und kostbare Vase fiel krachend zu Boden. Verminaard sah von seinem Schreibtisch hoch, an dem er eine Karte von Qualinost studierte.

»Verwandel dich, bevor du dieses Zimmer zerstörst«, knurrte er.

Pyros öffnete ein Auge, betrachtete Verminaard einen Moment kühl, dann murmelte er ein magisches Wort.

Der riesenhafte rote Drache begann, wie ein Trugbild zu schimmern, die Drachenform löste sich in den Umriß eines Mannes auf, einer schlanken Figur mit tiefschwarzen Haaren, schmalem Gesicht und schrägen roten Augen. In feuerrote Gewänder gekleidet, schritt Pyros zu einem Schreibtisch in der Nähe von Verminaards Thron. Er nahm Platz, faltete seine Hände und starrte mit unverhohlener Abscheu auf Verminaards breiten, muskulösen Rücken.

An der Tür kratzte es.

»Herein«, befahl Verminaard geistesabwesend.

Eine Drakonierwache warf die Tür auf und ließ Truppführer Toede und seine zwei Gefangenen eintreten, dann zog sie sich zurück und schloß die große goldbronzene Tür. Verminaard ließ den Truppführer mehrere lange Minuten warten, während er weiter seinen Schlachtplan studierte. Dann bedachte er Toede mit einem herablassenden Blick und ging die Stufen zu seinem Thron hoch. Dieser war kunstvoll geschnitzt und dem aufgerissenen Maul eines Drachen nachgebildet.

Verminaard war eine imposante Erscheinung. Groß und kräftig gebaut, trug er eine dunkle nachtblaue Rüstung aus Drachenschuppen mit goldenen Verzierungen. Die entsetzliche Maske des Drachenfürsten verbarg sein Gesicht. Er bewegte sich mit einer Anmut, die für einen solch großen Mann bemerkenswert war. Verminaard lehnte sich behaglich zurück, seine in Leder gehüllte Hand spielte geistesabwesend mit einem schwarzen, goldverzierten Amtsstab.

Verminaard musterte Toede und seine zwei Gefangenen gereizt, da er sehr wohl wußte, daß Toede sich die beiden in der Absicht gefischt hatte, sich von dem verhängnisvollen Verlust der Klerikerin freizukaufen. Als Verminaard von seinen Drakoniern erfahren hatte, daß eine Frau, auf die die Beschreibung der Klerikerin paßte, unter den Gefangenen war und entkommen konnte, war seine Wut furchtbar gewesen. Toede hätte für seinen Fehler fast mit dem Leben bezahlt, aber der Hobgoblin war im Winseln und Kriechen außerordentlich geübt. Verminaard hatte erwogen, Toede an diesem Tag überhaupt nicht zu empfangen, aber in ihm war das seltsame, nagende Gefühl, daß in seinem Reich nicht alles zum besten stand.

Es liegt an dieser verfluchten Klerikerin! dachte Verminaard. Er spürte ihre Macht näher kommen, und das machte ihn nervös. Er musterte aufmerksam die beiden Gefangenen. Als er dann sah, daß auf keinen die Beschreibung derjenigen, die Xak Tsaroth überfallen hatten, paßte, knurrte Verminaard hinter seiner Maske.

Pyros reagierte beim Anblick der Gefangenen anders. Der verwandelte Drache erhob sich halb, während seine mageren Hände den Schreibtisch mit solcher Heftigkeit umklammerten, daß seine Finger Spuren im Holz hinterließen. Er zitterte vor Aufregung und mußte sich bemühen, sich wieder zu setzen und nach außen hin ruhig und gelassen zu erscheinen. Nur seine Augen, die wie Flammen brannten, gaben einen Hinweis auf seine innere Unruhe, als er auf die Gefangenen starrte.

Einer der Gefangenen war der Gossenzwerg Sestun. An seinen Händen und Füßen waren Ketten angelegt (Toede wollte kein Risiko eingehen), und so konnte Sestun kaum laufen. Er stolperte nach vorn und fiel völlig verängstigt vor dem Drachenfürsten auf die Knie. Der andere Gefangene, den Pyros beobachtete, war ein in Lumpen gekleideter Mensch, der auf den Boden starrte.

»Warum belästigst du mich mit diesen erbärmlichen Teufeln Truppführer?« knurrte Verminaard.

Toede, nur noch zitternde Fettmasse, schluckte und fing unverzüglich zu sprechen an. »Dieser Gefangene« – der Hobgoblin versetzte Sestun einen Tritt – »war es, der die Sklaven von Solace befreit hatte, und der andere« – er zeigte auf den Mann, der seinen Kopf hob; nun sah man seinen völlig verwirrten Gesichtsausdruck – »wurde in der Nähe der Stadt Torweg gefunden, zu der, wie Dir wißt, zivile Personen keinen Zugang haben.«

»Und warum bringst du sie zu mir?« fragte Lord Verminaard gereizt. »Wirf sie in die Minen zum restlichen Abschaum.«

Toede stammelte. »Ich dachte, der Mensch ckkönnte ein Ssspion ssein…«

Der Drachenfürst musterte den Menschen aufmerksam. Er war groß gewachsen und gewiß über fünfzig Menschenjahre alt. Sein Haar war weiß und sein glattrasiertes Gesicht braun und wettergegerbt. Er war wie ein Bettler gekleidet, was er womöglich auch war, dachte Verminaard mit Abscheu. Sicher gab es nichts Ungewöhnliches an ihm, außer seinen Augen, die hell und jung wirkten. Auch die Hände wirkten nicht so alt. Vielleicht Elfenblut…

»Der Mann ist geistesschwach«, sagte er schließlich. »Sieh ihn dir an – er glotzt wie ein Fisch auf dem Trockenen.«

»Iich ggglaube, eeer ist, äh, stumm und taub, mein Lord«, sagte Toede schwitzend.

Verminaard zog die Nase kraus. Nicht einmal der Drachenhelm konnte den fauligen Gestank von schwitzenden Hobgoblins abhalten.

»Du hast also einen Gossenzwerg und einen Spion, der weder hören noch sprechen kann, gefangengenommen«, sagte Verminaard sarkastisch. »Gut gemacht, Toede. Vielleicht kannst du jetzt rausgehen und mir einen Blumenstrauß pflücken.«

»Wenn es Euer Lordschaft erfreut«, erwiderte Toede feierlich und verbeugte sich.

Verminaard begann unter seinem Helm zu lachen. Toede war wirklich ein unterhaltsames kleines Ding – ein Jammer, daß er so schwitzte. Verminaard hob seine Hand. »Bring sie weg.«

»Was soll mit den Gefangenen geschehen, mein Lord?«

»Der Gossenzwerg wird heute abend an Ember verfüttert. Und deinen Spion steck in die Minen. Und behalte ihn im Auge – er sieht gefährlich aus!« Der Drachenfürst lachte.

Pyros fletschte die Zähne und verfluchte Verminaard.

Toede verbeugte sich wieder. »Komm her«, knurrte er und zog an den Handfesseln, und der Mann stolperte ihm nach. »Du auch!« Wieder trat er Sestun. Es war sinnlos. Der Gossenzwerg war ohnmächtig geworden, als er gehört hatte, daß er als Drachenfutter dienen sollte. Ein Drakonier wurde gerufen, der ihn wegschleifte.

Verminaard stieg vom Thron und ging zu seinem Schreibtisch. Er verstaute seine Karten in einer Rolle. »Laß dem geflügelten Drachen Botschaften zukommen!« befahl er Pyros. »Morgen früh fliegen wir nach Qualinost und zerstören es. Sei bereit, wenn ich dich rufe.«

Als sich die goldbronzene Tür hinter dem Drachenfürsten schloß, erhob sich Pyros, immer noch in menschlicher Gestalt, vom Schreibtisch und begann, unruhig im Raum auf und ab zu schreiten. Wieder kratzte es an der Tür.

»Lord Verminaard ist in seine Gemächer gegangen!« rief Pyros, über die Störung verärgert.

Die Tür öffnete sich einen Spalt.

»Ihr seid es, den ich zu sprechen wünsche, Majestät«, flüsterte ein Drakonier.

»Tritt ein«, sagte Pyros. »Aber beeil dich.«

»Der Verräter ist erfolgreich, Majestät«, sagte der Drakonier leise. »Er konnte einen Moment wegschlüpfen, ohne Verdacht zu erregen. Aber die Klerikerin ist bei ihm…«

»Zum Abgrund mit der Klerikerin!« schnaubte Pyros.

»Diese Nachricht ist nur für Verminaard interessant. Teile ihm das mit! Nein, warte.« Der Drache hielt inne.

»Wie du angeordnet hast, bin ich erst zu dir gekommen«, sagte der Drakonier entschuldigend und wollte schnell wieder gehen.

»Bleib«, befahl der Drache und hob eine Hand. »Diese Nachricht ist trotz allem wertvoll für mich. Nicht die Klerikerin. Es steht viel mehr auf dem Spiel… Ich muß mich mit unserem verräterischen Freund treffen. Bringe ihn heute nacht zu mir in meine Höhle. Informiere nicht Lord Verminaard – noch nicht. Er könnte alles verderben. Er soll sich lieber mit Qualinost beschäftigen.«

Als der Drakonier sich verbeugte und den Thronsaal verließ, begann Pyros wieder auf und ab zu schreiten und rieb sich lächelnd die Hände.

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