3 Die Sklavenkarawane. Ein seltsamer alter Magier

Die Gefährten verbrachten eine eiskalte, schlaflose Nacht, eingepfercht in einen mit Eisenstangen versehenen Käfigwagen auf dem Marktplatz von Solace. Jeweils drei Käfige waren an einem Pfosten zusammengekettet. Die Holzpfosten waren vom Feuer und der Hitze schwarz. Auf dem Platz wuchs nichts mehr, selbst die Steine waren schwarz und teilweise geschmolzen.

Als die Morgendämmerung anbrach, konnten sie andere Gefangene in den anderen Käfigen sehen. Es war die letzte Sklavenkarawane von Solace nach Pax Tarkas. Der Truppführer persönlich wollte sie führen. Toede hatte sich entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und Lord Verminaard zu beeindrucken, der sich zur Zeit in Pax Tarkas aufhielt.

Caramon hatte in der Nacht einmal versucht, die Stangen auseinanderzubiegen, und hatte aufgeben müssen.

Ein kalter Nebel zog in den frühen Morgenstunden auf und verhüllte die verwüstete Stadt vor den Gefährten. Tanis blickte zu Goldmond und Flußwind hinüber. Jetzt verstehe ich sie, dachte Tanis. Jetzt verstehe ich die eisige Leere im Herzen, die mehr verletzt als jeder Schwertstoß. Auch ich habe kein Zuhause mehr.

Er blickte zu Gilthanas, der in einer Ecke kauerte. Der Elf hatte in der Nacht mit niemandem ein Wort gesprochen und sich damit entschuldigt, daß sein Kopf schmerzen würde und er müde sei. Aber Tanis, der die ganze Nacht Wache gehalten hatte, hatte gesehen, daß Gilthanas weder geschlafen noch den Versuch dazu unternommen hatte. Er hatte an seiner Unterlippe gekaut und in die Dunkelheit hinausgestarrt. Sein Anblick erinnerte Tanis daran, daß er – falls er es beanspruchen würde – noch einen anderen Ort als sein Zuhause bezeichnen konnte: Qualinesti.

Nein, dachte Tanis und lehnte sich gegen die Stangen, Qualinesti war niemals mein Zuhause. Es war einfach nur ein Ort, an dem ich gelebt habe…

Truppführer Toede tauchte aus dem Nebel auf, rieb sich die fetten Hände und grinste breit, als er die Sklavenkarawane stolz betrachtete. Vielleicht würde er befördert werden. Lord Verminaard würde erfreut sein, besonders über seine letzte Beute. Dieser große Krieger war ein ganz besonderes Exemplar. Der konnte in den Minen wahrscheinlich für drei arbeiten. Der hochgewachsene Barbar würde sich auch gut machen. Der Ritter müßte wohl getötet werden – die Solamnias waren für ihr uneinsichtiges Verhalten bekannt. An den beiden Frauen wird Lord Verminaard sicher Vergnügen finden – sehr verschieden, aber beide liebenswert. Toede hatte sich selbst immer zu dem rothaarigen Barmädchen hingezogen gefühlt, mit ihren verführerischen grünen Augen, der hochgeschlossenen weißen Bluse, die voller Absicht gerade nur soviel von ihrer sommersprossigen Haut enthüllte, um einen Mann verrückt zu machen…

Die Träumereien des Truppführers wurden jäh durch das Gerassel von Eisen und heisere Rufe unterbrochen. Die Rufe wurden immer lauter. Bald waren alle in der Sklavenkarawane wach und spähten durch den Nebel, versuchten, etwas zu erkennen.

Toede warf den Gefangenen einen unruhigen Blick zu und wünschte sich, mehr Wachen zu haben. Die Goblins, die die Gefangenen sich rühren sahen, sprangen auf die Füße und richteten ihre Bogenwaffen auf die Wagen.

»Was ist los?« murrte Toede laut. »Können diese Idioten einen Gefangenen nicht ohne diesen Aufruhr festnehmen?«

Plötzlich übertönte ein Schrei den Lärm. Es war der Schrei eines Mannes, voller Qual und Schmerz, aber auch voller Zorn.

Gilthanas erhob sich mit blassem Gesicht.

»Ich kenne diese Stimme«, sagte er. »Theros Eisenfeld. Das habe ich befürchtet. Seit dieses Abschlachten begann, hilft er Elfen zu entkommen. Dieser Lord Verminaard hat geschworen, die Elfen auszulöschen« – Gilthanas beobachtete Tanis’ Reaktion -, »hast du das nicht gewußt?«

»Nein!« antwortete Tanis schockiert. »Ich wußte es nicht. Woher auch?«

Gilthanas schwieg und musterte Tanis lange Zeit. »Vergib mir«, sagte er schließlich. »Ich habe dich wohl falsch beurteilt. Ich dachte, daß du dir vielleicht darum den Bart hast wachsen lassen.«

»Niemals!« Tanis sprang auf. »Wie kannst du es wagen, mich zu beschuldigen…«

»Tanis«, warnte Sturm.

Der Halb-Elf drehte sich um: Goblinwachen hatten sich vor ihrem Käfig aufgestellt, ihre Pfeile zielten auf sein Herz. Er hob seine Hände und trat zurück. Eine Gruppe von Hobgoblins zog einen großen, kräftig gebauten Mann in Sichtweite.

»Ich hörte, daß Theros verraten wurde«, sagte Gilthanas leise. »Ich war zurückgekehrt, um ihn zu warnen. Denn ohne seine Hilfe wäre ich niemals lebend aus Solace entkommen. Ich sollte ihn gestern abend im Wirtshaus treffen. Als er nicht kam, fürchtete ich…«

Truppführer Toede öffnete den Käfig der Gefährten, schrie den Hobgoblins zu, sich mit dem Gefangenen zu beeilen. Die Goblins behielten die anderen Gefangenen im Auge, während die Hobgoblins Theros in den Käfig warfen.

Truppführer Toede schlug schnell die Tür zu und verriegelte sie. »Das war’s dann«, gellte er. »Spannt die Tiere an. Wir fahren los.«

Die Goblins zogen riesige Pferdehirsche auf den Platz und spannten sie vor die Wagen. Ihr Kreischen und ihre Verwirrung registrierte Tanis nur am Rande. Seine bestürzte Aufmerksamkeit galt jetzt nur dem Schmied.

Theros Eisenfeld lag bewußtlos auf dem strohbedeckten Boden des Käfigs. Wo sein starker rechter Arm hätte sein sollen, hing ein zerfetzter Stumpf. Man hatte seinen Arm offensichtlich mit einer stumpfen Waffe abgehackt, genau unterhalb der Schulter. Blut strömte aus der furchtbaren Wunde und bildete eine Lache unter seinem Körper.

»Das soll eine Lektion für alle sein, die den Elfen helfen!« Der Truppführer lugte mit seinen roten Schweinsäuglein in den Käfig. »Und er wird nie mehr schmieden können – außer, ihm wächst ein neuer Arm nach! Ich, äh…« Ein riesiger Pferdehirsch lief schwerfällig auf den Truppführer zu, so daß dieser um sein Leben kriechen mußte.

Toede wandte sich der Kreatur zu, die den Pferdehirsch führte. »Sestun! Du Hornochse!« Toede schlug die kleinere Kreatur zu Boden.

Tolpan starrte auf die für einen Goblin sehr kleine Gestalt… Dann erkannte er, daß es ein Gossenzwerg in einer Goblinrüstung war. Der Gossenzwerg erhob sich, schob seinen übergroßen Helm zurück und sah dem Truppführer nach, der zur Spitze der Karawane watschelte. Grollend begann der Gossenzwerg Schlamm in seine Richtung zu werfen. Dies erleichterte offenbar seine Seele, denn er hörte bald auf und führte den Pferdehirsch langsam weiter.

»Mein treuer Freund«, murmelte Gilthanas, während er sich über Theros beugte und die gesunde starke Hand des Schmiedes ergriff. »Du hast für deine Treue mit dem Leben bezahlt.«

Theros sah ihn mit leeren Augen an, offensichtlich konnte er die Stimme des Elfen nicht hören. Gilthanas versuchte, die Blutung zu stillen, aber die Wunde war zu groß. Der Schmied schien vor ihren Augen sein Leben auszuhauchen.

»Nein«, sagte Goldmond und kniete sich neben den Schmied. »Er braucht nicht zu sterben. Ich bin eine Heilerin.«

»Meine Dame«, sagte Gilthanas ungeduldig, »auf Krynn gibt es keinen Heiler, der diesem Mann helfen könnte. Er hat soviel Blut verloren, wie ein Zwerg in seinem ganzen Körper hat! Sein Puls ist so schwach, daß ich ihn kaum spüre. Das einzige, was man für ihn tun kann, ist, ihn in Frieden sterben zu lassen – ohne deine barbarischen Rituale!«

Goldmond ignorierte ihn. Sie legte ihre Hand auf Theros’ Stirn und schloß ihre Augen.

»Mishakal«, betete sie, »Göttin der Heilkunst, ehre diesen Mann mit deinem Segen. Wenn sein Schicksal noch nicht erfüllt ist, heile ihn, damit er leben und der Wahrheit dienen kann.«

Gilthanas wollte gerade wieder protestieren und Goldmond wegziehen. Dann hielt er inne und erstarrte vor Erstaunen. Das Blut hörte auf zu fließen, und der Elf konnte zusehen, wie sich die Wunde schloß. Die Blässe im Gesicht des Schmiedes verschwand, sein Atem wurde friedlich und leicht, und er schien in einen gesunden, entspannten Schlaf zu sinken. Die anderen Gefangenen in den Nachbarkäfigen gaben Laute des Erstaunens von sich. Tanis blickte sich unruhig um, ob ein Goblin oder ein Drakonier auch etwas bemerkt hätte, aber anscheinend waren alle mit dem Anspannen der Pferdehirsche beschäftigt. Gilthanas ließ sich wieder in seine Ecke fallen, seine Augen hingen an Goldmond, seine Miene war nachdenklich.

»Tolpan, trag ein wenig Stroh zusammen«, ordnete Tanis an. »Caramon und Sturm, helft mir, ihn in eine Ecke zu bringen.«

»Hier.« Flußwind bot seinen Mantel an. »Deck ihn zu.«

Goldmond sah noch einmal nach Theros, dann setzte sie sich wieder zu Flußwind. Ihr Gesicht strahlte Frieden und ruhige Gelassenheit aus, so daß es schien, als wären die Kreaturen außerhalb des Käfigs die eigentlichen Gefangenen.

Es war schon fast Mittag, als es wieder loszugehen schien. Goblins kamen vorbei und warfen Fleischstücke und Brot in die Käfige. Doch niemand, nicht einmal Caramon, wollte das widerlich stinkende Fleisch essen. Aber das Brot verschlangen sie hungrig, da sie seit dem Abend vorher nichts mehr gegessen hatten. Bald hatte Toede alles unter Kontrolle, und auf seinem schäbigen Pony reitend, gab er den Befehl aufzubrechen. Der Gossenzwerg Sestun trottete hinter Toede. Als er das Fleisch im Schlamm und Dreck vor dem Käfig liegen sah, blieb er stehen, grapschte danach und verschlang es gierig.

Jeder Wagen wurde von vier Pferdehirschen gezogen. Zwei Hobgoblins saßen hoch auf groben hölzernen Plattformen, einer hielt die Zügel, der andere eine Peitsche und ein Schwert. Toede ritt an der Spitze der Karawane, gefolgt von über fünfzig schwerbewaffneten Drakoniern. Ein weiterer Trupp mit doppelt so vielen Hobgoblins marschierte hinter den Käfigen.

Nach viel Verwirrung und vielen Flüchen setzte sich die Karawane schließlich in Bewegung. Einige übriggebliebene Bewohner von Solace sahen zu. Sie ließen es sich nicht anmerken, wenn sie jemanden unter den Gefangenen erkannten. Die Gesichter in den Straßen und in den Käfigen waren Gesichter jener, die keinen Schmerz mehr empfinden. Wie Tika hatten sie geschworen, nie wieder zu weinen.

Die Karawane reiste südlich von Solace auf der alten Straße durch den Torweg-Paß. Die Hobgoblins und Drakonier murrten über das warme Wetter, aber als sie im Schatten der hohen Winde des Passes marschierten, jubelten sie und bewegten sich schneller. Obwohl die Gefangenen froren, hatten sie ihre eigenen Gründe, dankbar zu sein – sie brauchten nicht mehr auf ihre zerstörte Heimat zu sehen.

Am Abend erreichten sie Torweg. Die Gefangenen preßten sich gegen die Stangen, um einen Blick auf die lebhafte Handelsstadt zu werfen. Doch jetzt zeigten nur noch zwei niedrige geschwärzte und geschmolzene Steinmauern, wo die Stadt einst gewesen sein könnte. Kein Lebewesen weit und breit. Die Gefangenen sanken in ihr Elend zurück.

Wieder im freien Gelände, kündigten die Drakonier ihre Vorliebe an, nachts zu reisen. Folgerichtig machte die Karawane bis zur Morgendämmerung nur kurze Pausen. An Schlaf war nicht zu denken in den schmutzigen Käfigen, die über jede Furche in der Straße holperten und rüttelten. Die Gefangenen litten Durst und Hunger. Jene, die das Essen der Drakonier hinunterwürgten, brachen es wieder aus. Nur zwei- oder dreimal am Tag erhielten sie einen kleinen Becher Wasser.

Goldmond kümmerte sich weiter um den verwundeten Schmied. Obwohl Theros Eisenfeld nicht mehr im Sterben lag, war er doch immer noch sehr krank. Hohes Fieber schüttelte ihn, und im Delirium erlebte er die Plünderung von Solace noch einmal. Theros sprach von Drakoniern, deren Körper sich nach ihrem Tod in Säurepfützen verwandelten und das Fleisch ihrer Opfer verbrannten, von Drakoniern, deren Knochen nach ihrem Tod explodierten und alles in weitem Umkreis zerstörten. Tanis hörte dem Schmied zu, der das ganze Entsetzen noch einmal durchlebte, bis ihm übel wurde. Zum ersten Mal wurde ihm das Ausmaß der Ereignisse bewußt. Wie konnten sie hoffen, Drachen zu besiegen, deren Atem töten konnte, deren Magie die der mächtigsten Magier bei weitem übertraf? Wie konnten sie riesige Drakonierarmeen besiegen, wenn sogar die Leichen dieser Kreaturen die Kraft zum Töten hatten?

Alles, was wir haben, dachte Tanis bitter, sind die Scheiben von Mishakal – und was können wir damit anfangen? Er hatte die Scheiben während ihrer Reise von Xak Tsaroth nach Solace genau angeschaut. Er hatte jedoch nur wenig von dem entziffern können, was auf ihnen geschrieben stand. Goldmond hatte zwar jene Worte, die sich auf die Heilkünste bezogen, verstanden, mehr konnte sie jedoch auch nicht entziffern.

»Dem Führer des Volkes wird alles klar sein«, sagte sie in ihrem unerschütterlichen Glauben. »Meine Mission ist es nun, ihn zu finden.«

Tanis wünschte sich, ihre Überzeugung teilen zu können, aber er begann zu bezweifeln, daß überhaupt ein Führer diesen mächtigen Lord Verminaard besiegen könnte.

Diese Zweifel verschlimmerten nur die anderen Probleme des Halb-Elfs. Raistlin, seiner Medizin beraubt, hustete so lange, bis er sich in einem fast so schlimmen Zustand wie Theros befand; und Goldmond hatte zwei Patienten zu versorgen. Glücklicherweise half Tika der Barbarin.

Tika, deren Vater auch Magier gewesen war, flößte jeder, der mit Magie umgehen konnte, Ehrfurcht ein.

In der Tat war es Tikas Vater gewesen, der unabsichtlich Raistlin seine Berufung gewiesen hatte. Raistlins Vater hatte die Zwillinge und seine Stieftochter Kitiara zum örtlichen Sommerfest mitgenommen, wo die Kinder den hübschen Waylan bei der Vorführung seiner Illusionen beobachteten. Der achtjährige Caramon langweilte sich bald und war schnell bereit, seine Halbschwester zu der Vorführung zu begleiten, die sie anzog – das Schwertspiel. Raistlin, schon damals mager und zerbrechlich, hatte für diese aktiven Sportarten nichts übrig. Er verbrachte den ganzen Tag damit, Waylan dem Illusionisten zuzusehen. Als die Familie am Abend nach Hause zurückkehrte, erstaunte Raistlin sie damit, daß er in der Lage war, jeden Trick einwandfrei nachzuahmen. An einem der folgenden Tage gab der Vater den Jungen in die Lehre bei einem der großen Meister der magischen Künste.

Tika hatte Raistlin schon immer bewundert, und sie war von den Geschichten, die sie über seine geheimnisvolle Reise zu den legendären Türmen der Erzmagier gehört hatte, beeindruckt gewesen. Nun pflegte sie den Magier aus Respekt und ihrem angeborenen Bedürfnis, den Schwächeren zu helfen. Sie pflegte ihn auch (das gab sie sich insgeheim zu), weil dies ihr ein dankbares und anerkennendes Lächeln von Raistlins gutaussehendem Zwillingsbruder einbrachte.

Tanis war sich nicht sicher, worüber er sich mehr Sorgen machen sollte – über den sich verschlechternden Zustand des Magiers oder über die sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen dem älteren, erfahrenen Krieger und dem jungen und – wie Tanis trotz der Gerüchte glaubte – unerfahrenen, verletzbaren Mädchen.

Dann gab es noch ein weiteres Problem. Sturm, durch die Gefangennahme gedemütigt und durch das Land gezogen wie ein Tier zum Schlachter, fiel in eine tiefe Depression, von der Tanis glaubte, daß er niemals aus ihr herauskommen würde. Entweder saß Sturm den ganzen Tag herum und starrte durch die Stangen nach draußen, oder, was noch schlimmer war, er sank in Perioden tiefen Schlafs, aus denen er nur schwer geweckt werden konnte.

Schließlich hatte Tanis mit seinem eigenen inneren Aufruhr zu kämpfen, der sich körperlich durch den in der Ecke des Käfigs sitzenden Elfen manifestierte. Jedesmal, wenn er Gilthanas ansah, wurde Tanis von Erinnerungen an seine Heimat Qualinesti verfolgt. Als sie sich seiner Heimat näherten, waren die Erinnerungen, die er tot und vergessen wähnte, in seinen Geist geschlichen. Ihre Berührung war genauso eisig wie die Berührung der Untoten im Düsterwald.

Gilthanas, Freund aus der Kindheit – mehr als ein Freund, ein Bruder. Aufgewachsen im selben Haus und fast gleichaltrig, spielten, kämpften und vergnügten sich die beiden gemeinsam. Als Gilthanas’ kleine Schwester alt genug wurde, erlaubten die Jungen dem anziehenden blonden Mädchen, mit ihnen zu spielen. Eines der Lieblingsspiele der drei war es, den älteren Bruder Porthios zu necken. Porthios war ein starker und ernsthafter junger Mann, der im frühen Alter die Verantwortung über sein Volk übernahm. Gilthanas, Laurana und Porthios waren die Kinder der Stimme der Sonnen, des Herrschers der Elfen in Qualinesti, eine Position, die Porthios nach dem Tod seines Vaters einnehmen würde.

Einige im Elfenkönigreich fanden es merkwürdig, daß die Stimme der Sonnen den Bastardsohn der Gattin seines toten Bruders aufgenommen hatte, das Produkt der Vergewaltigung durch einen menschlichen Krieger. Sie war nur Monate nach der Geburt ihres Mischlingskindes an Kummer gestorben. Aber die Stimme der Sonnen, feste Ansichten über Verantwortlichkeit hegend, nahm den Jungen ohne zu zögern auf. Erst viele Jahre später, als er mit wachsendem Unbehagen die sich entwickelnde Beziehung zwischen seiner geliebten Tochter und dem Halb-Elf beobachtete, begann er seinen Entschluß zu bedauern. Die Situation verwirrte auch Tanis. Da er zur Hälfte Mensch war, erwarb der junge Mann eine Reife, die das sich langsamer entwickelnde Elfenmädchen nicht verstand. Tanis sah, daß ihre Vereinigung die Familie, die er liebte, ins Unglück stürzen würde. Zudem war er von einem inneren Konflikt zerrissen, der ihn auch im späteren Leben immer wieder quälen würde: der ständige Kampf zwischen der elfischen und der menschlichen Seite in ihm. Im Alter von achtzig – was ungefähr zwanzig Menschenjahren entspricht – verließ Tanis Qualinost. Die Stimme der Sonnen war darüber nicht traurig gewesen. Er versuchte, seine Gefühle gegenüber dem jungen Halb-Elf zu verbergen, aber beide wußten Bescheid.

Gilthanas war nicht so taktvoll gewesen. Er und Tanis hatten bittere Worte wegen Laurana gewechselt. Es hatte Jahre gedauert, bis der Stachel jener Worte nicht mehr schmerzte, aber Tanis fragte sich, ob er jemals wirklich vergessen oder vergeben hatte. Gilthanas hatte eindeutig beides nicht.

Die Reise war für beide sehr lang. Tanis unternahm einige Versuche, eine oberflächliche Unterhaltung zu führen. Ihm war sehr schnell bewußt geworden, daß Gilthanas sich verändert hatte. Der junge Elfenlord war immer offen, ehrlich und vergnügt gewesen. Seinen älteren Bruder hatte er nie um die Verantwortung beneidet, die mit seiner Rolle als Thronfolger verbunden war. Gilthanas war ein Gelehrter, ein Amateur in den magischen Künsten und niemals so ernsthaft wie Raistlin. Er war ein hervorragender Krieger, obwohl ihm das Kämpfen, wie allen Elfen, mißfiel. Er war mit seiner Familie eng verbunden, insbesondere mit seiner Schwester. Aber jetzt saß er still und niedergeschlagen da, für einen Elfen ein ungewöhnliches Bild abgebend. Das einzige Mal, daß er Interesse zeigte, war, als Caramon begann, einen Ausbruch zu planen. Gilthanas entgegnete ihm hitzig, er solle es vergessen, er würde nur alles verderben. Als er zur Zusammenarbeit gedrängt wurde, fiel der Elf in Schweigen und murmelte nur noch etwas wie: »Wirklich überwältigende Chancen.«

Bei Sonnenaufgang des dritten Tages war die drakonische Armee vom nächtlichen Marsch erschöpft und freute sich auf eine Rast. Die Gefährten hatten eine weitere schlaflose Nacht verbracht und konnten sich nur auf einen weiteren kühlen und trostlosen Tag freuen. Aber plötzlich hielten die Käfigwagen. Tanis, über die Änderung der Routine verwundert, sah auf. Die anderen Gefangenen erhoben sich und blickten durch die Käfigstangen. Sie erblickten einen alten Mann, in ein langes Gewand gekleidet, das einst weiß gewesen sein mußte, und mit einem zerbeulten, spitz zulaufenden Hut auf dem Kopf. Er schien sich mit einem Baum zu unterhalten.

»Ich sage… hörst du mich?« Der alte Mann schüttelte seinen abgenutzten Wanderstab gegen die Eiche. »Ich sagte, beweg dich, und das ist mein Ernst! Ich habe auf diesem Stein gesessen« – er zeigte auf einen Findling – »und den Sonnenaufgang genossen, als du die Unverschämtheit besessen hast, einen Schatten zu werfen und mich zu kühlen! Bewege dich sofort, sage ich!«

Weder antwortete der Baum, noch bewegte er sich.

»Ich werde mich nicht mit deiner Frechheit abfinden!« Der alte Mann begann mit dem Stock auf den Baum einzuschlagen. »Bewege dich oder ich… ich…«

»Sperrt diesen Verrückten in einen Käfig!« rief Truppführer Toede, der von der Spitze der Karawane herangaloppiert kam.

»Hände weg!« kreischte der alte Mann die Drakonier an, die zu ihm rannten. Er schlug nun schwach mit seinem Stock auf sie ein, bis sie ihn ihm abnahmen. »Verhaftet den Baum!« drängte er. »Verhinderung von Sonnenlicht! Das ist die Anklage!«

Die Drakonier warfen den alten Mann in den Käfig der Gefährten. Er stolperte über seine Robe und fiel hin.

»Ist alles in Ordnung, Alter?« fragte Flußwind, als er dem alten Mann beim Aufsitzen half.

Goldmond ging von Theros’ Seite. »Ja, Alter«, sagte sie leise. »Bist du verletzt? Ich bin eine Klerikerin von…«

»Mishakal!« sagte er und blickte auf das Amulett um ihren Hals. »Wie interessant.« Er starrte sie erstaunt an. »Du siehst aber nicht wie dreihundert Jahre aus!«

Goldmond blinzelte, unsicher, wie sie reagieren sollte. »Woher weißt du? Hast du es wiedererkannt…? Ich bin nicht dreihundert Jahre alt…« Sie wurde immer verwirrter.

»Natürlich, du nicht. Tut mir leid, meine Liebe.« Der alte Mann tätschelte ihre Hand. »Man sollte niemals das Alter einer Dame in der Öffentlichkeit besprechen. Vergib mir. Es wird nie wieder passieren. Unser kleines Geheimnis«, sagte er mit durchdringendem Flüsterton. Tolpan und Tika fingen zu kichern an. Der alte Mann sah sich um. »Nett von euch, anzuhalten und mich ein Stück mitzunehmen. Die Straße nach Qualinost ist lang.«

»Wir fahren nicht nach Qualinost«, sagte Gilthanas scharf. »Wir sind Gefangene und auf dem Weg zu den Sklavenminen von Pax Tarkas.«

»Oh? Sollte da nicht noch eine andere Gruppe vorbeikommen? Ich hätte schwören können, es wäre diese.«

»Wie heißt du, Alter«, fragte Tika.

»Mein Name?« Der alte Mann zögerte und runzelte die Stirn. »Fizban? Ja, genau, Fizban.«

»Fizban!« wiederholte Tolpan, als der Käfig sich wieder in Bewegung setzte. »Das ist kein Name!«

»Ist es nicht?« fragte der alte Mann versonnen. »Das ist aber schade. Mir gefiel er ganz gut.«

»Ich finde, es ist ein schöner Name«, sagte Tika und blickte kurz zu Tolpan. Der Kender verkroch sich in eine Ecke, seine Augen hingen an den Beuteln, die über der Schulter des alten Mannes baumelten.

Plötzlich begann Raistlin zu husten, und alle wandten ihre Aufmerksamkeit ihm zu. Seine Hustenanfälle waren zusehends schlimmer geworden. Er war erschöpft und hatte Schmerzen. Goldmond konnte ihm nicht helfen. Was auch immer den Magier im Innern verbrannte, die Klerikerin vermochte nicht, ihn zu heilen. Caramon kniete neben ihm und wischte ihm das Blut weg, das er aushustete.

»Er muß seinen Kräutertrank haben!« Caramon blickte voller Angst auf. »Ich habe ihn noch nie so leiden gesehen. Wenn sie nicht darauf eingehen« – der große Mann knurrte – »werde ich ihre Köpfe brechen! Es ist mir egal, wie viele es sind!«

»Wir werden heute abend mit ihnen reden«, versprach Tanis, obwohl er sich die Antwort des Truppführers schon denken konnte.

»Entschuldigt mich«, sagte der alte Mann. »Darf ich?« Fizban setzte sich zu Raistlin. Er legte seine Hand auf den Kopf des Magiers und sprach ein paar Worte. Caramon konnte »Fistandan…« und »nicht die Zeit…« verstehen. Sicherlich war das kein Heilgebet, wie es Goldmond machte, aber der große Mann sah, daß sein Bruder darauf ansprach! Raistlins Augenlider zitterten und öffneten sich. Er sah auf den alten Mann mit einem wilden Ausdruck der Angst und ergriff Fizbans Handgelenk mit seiner dünnen, zerbrechlichen Hand. Einen Moment schien es, daß Raistlin den alten Mann kannte, dann strich Fizban mit seiner Hand über die Augen des Magiers. Der ängstliche Blick verschwand und wurde durch Verwirrung ersetzt.

»Hallo«, strahlte Fizban ihn an. »Mein Name ist – uh – Fizban.« Er warf Tolpan einen strengen Blick zu und brachte den Kender zum Lachen.

»Du bist… Magier!« wisperte Raistlin. Sein Husten war verschwunden.

»Ja, ich glaube ja.«

»Ich auch!« sagte Raistlin und setzte sich mühsam auf.

»Im Ernst!« Fizban schien äußerst amüsiert. »Kleine Welt Krynn. Ich muß dir einige meiner Zaubereien beibringen. Ich habe einen… eine Feuerkugel… mal sehen, wie ging das nochmal?«

Der alte Mann redete lange Zeit drauflos und redete immer noch, als die Karawane bei Sonnenuntergang anhielt.

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