15 Der Drachenfürst. Matafleurs Kinder

Verminaard musterte die vier Männer. Das waren keine Sklaven. Dann erkannte er sie als jene, die mit der Klerikerin zusammen reisten. Dann waren sie es also, die Onyx in Xak Tsaroth besiegt hatten, aus der Sklavenkarawane entkommen und in Pax Tarkas eingebrochen waren. Er hatte das Gefühl, als ob er sie kennen würde – den Ritter, dessen zerstörtes Land einst in vollem Glanze stand; den Halb-Elf, der versuchte, als Mensch zu leben; den kranken Magier und den Zwillingsbruder des Magiers – ein menschlicher Riese, dessen Gehirn wahrscheinlich so dick wie seine Arme war.

Das wird eine interessanter Kampf, dachte er. Er freute sich fast darauf – es war schon so lange her. Es wurde allmählich langweilig, vom Rücken eines Drachen aus Armeen zu kommandieren. Er dachte an Ember, sah kurz zum Himmel und fragte sich, ob er ihn wohl zu Hilfe rufen konnte.

Aber der rote Drache schien seine eigenen Probleme zu haben. Matafleur hatte schon gekämpft, als Pyros noch gar nicht gelebt hatte: Was ihr an Kraft fehlte, machte sie durch List und Tücke wett. Die Luft knisterte vor Flammen, Drachenblut floß wie roter Regen vom Himmel.

Verminaard zuckte zusammen und sah wieder auf die vier, die vorsichtig näherkamen. Er hörte, wie der Magier seine Gefährten daran erinnerte, daß Verminaard ein Kleriker der Dunklen Königin war und folglich ihre Hilfe herbeirufen konnte. Verminaard wußte von seinen Spionen, daß dieser noch sehr junge Magier über eine seltsame Macht verfügte und als sehr gefährlich galt.

Die vier sprachen nicht. Es bestand weder eine Notwendigkeit, sich untereinander zu unterhalten, noch mit Feinden zu sprechen. Man respektierte den Gegner, wenngleich auch widerwillig.

Und so traten die vier vor, breiteten sich zu beiden Seiten von ihm aus, da er keine Rückendeckung hatte. Verminaard duckte sich tief und schwang Nachtschläger in einem weiten Bogen und hielt so die Gegner auf Abstand, während er sich einen Plan überlegte. Mit Nachtschläger in der rechten Hand sprang er aus seiner geduckten Stellung mit der ganzen Kraft seiner Beine hoch. Seine plötzliche Bewegung überraschte seine Gegner. Er hob seine Keule nicht. Ihre tödliche Berührung reichte aus. Er landete vor Raistlin und packte den Magier an der Schulter und flüsterte ein schnelles Gebet an seine Dunkle Königin.

Raistlin schrie auf. Sein Körper wurde von unsichtbaren unheiligen Waffen durchstoßen, und er sank schmerzgepeinigt zu Boden. Caramon brüllte auf und sprang zu Verminaard, aber der Kleriker war vorbereitet. Er schwang Nachtschläger und streifte den Krieger mit einem Schlag. »Mitternacht«, flüsterte Verminaard, und Caramons Gebrüll verwandelte sich in einen Schrei der Qual, als die verzauberte Keule ihn erblinden ließ.

»Ich kann nicht sehen! Tanis, hilf mir!« wimmerte der Krieger und stolperte umher. Verminaard lachte grimmig und schlug ihn auf den Kopf. Caramon ging wie ein niedergestreckter Ochse zu Boden.

Aus den Augenwinkeln sah Verminaard den Halb-Elf auf sich zuspringen, in seinen Händen ein uraltes zweihändiges Elfenschwert. Verminaard wirbelte herum und blockierte Tanis’ Schwert mit Nachtschlägers massivem Eichengriff. Einen Augenblick lang waren die beiden Gegner ineinander verkeilt, aber Verminaard gewann die Oberhand und schleuderte Tanis zu Boden.

Sturm, der solamnische Ritter, hob grüßend sein Schwert – ein tödlicher Fehler. So blieb Verminaard Zeit, eine kleine Eisennadel aus einer versteckten Tasche hervorzuziehen. Er hob sie hoch und rief noch einmal die Dunkle Königin an, ihrem Kleriker zu helfen. Der Ritter, der vorwärtsstürmte, spürte plötzlich seinen Körper immer schwerer werden, bis er nicht mehr laufen konnte.

Tanis, der auf dem Boden lag, wurde von einer unsichtbaren Hand nach unten gedrückt. Er konnte sich nicht bewegen. Er konnte nicht einmal den Kopf drehen. Seine Zunge war zu dick, um zu sprechen. Er konnte Raistlins Schmerzensschreie hören. Er konnte Verminaard lachen und Lobesworte auf die Dunkle Königin rufen hören. Und er konnte nur verzweifelt zusehen, wie der Drachenfürst mit erhobener Keule auf Sturm zuschritt, um dem Leben des Ritters ein Ende zu bereiten.

»Baravais, Kharas!« sagte Verminaard auf Solamnisch. Er hob die Keule in einer gräßlichen Nachäffung des Rittergrußes, dann zielte er auf den Kopf des Ritters. Er wußte, daß dieser Tod das Schlimmste für einen Ritter war – dem Feind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Plötzlich faßte eine Hand Verminaards Handgelenk. Erstaunt starrte er auf die Hand. Es war die einer Frau. Er spürte eine Macht, die seiner entsprach, eine Heiligkeit, die seiner Verruchtheit entsprach. Bei ihrer Berührung schwankte Verminaards Konzentration, seine Anrufung der Dunklen Königin versagte.

Und da geschah es, daß die Dunkle Königin aufsah und ein strahlender Gott, in eine weiße, glänzende Rüstung gekleidet, auf der Bildfläche ihrer Pläne erschien. Sie war nicht in der Lage, diesen Gott zu bekämpfen, sie hatte seine Wiederkehr nicht erwartet, und so floh sie, um ihre Möglichkeiten neu zu überdenken und ihren Schlachtplan zu ändern, da sie zum ersten Mal Aussicht auf eine Niederlage hatte. Die Königin der Finsternis verschwand und überließ ihren Kleriker seinem Schicksal.

Sturm spürte, wie der Zauber ihn verließ; seine Muskeln gehorchten ihm wieder. Er sah Verminaard seine Wut auf Goldmond richten – er war im Begriff, auf sie einzuschlagen. Der Ritter stürmte nach vorn, sah auch Tanis sich erheben, das Elfenschwert blitzte im Sonnenlicht.

Beide Männer rannten auf Goldmond zu, aber Flußwind war schon bei ihr. Der Barbar schob sie aus dem Weg, und auf seinen Schwertarm traf die Keule des Klerikers, die Goldmonds Kopf zerschmettern sollte. Flußwind hörte den Kleriker: »Mitternacht!« rufen, und seine Sicht wurde von der gleichen unheilvollen Schwärze verdunkelt, die auch Caramon überrascht hatte.

Aber der Que-Shu-Krieger, der damit gerechnet hatte, geriet nicht in Panik. Flußwind konnte immer noch seinen Feind hören. Er ignorierte den Schmerz seiner Verletzung und nahm das Schwert in die linke Hand und stach in die Richtung des lauten Atmens seines Feindes. Die Klinge traf auf die mächtige Waffe des Drachenfürsten und wurde ihm aus der Hand gerissen. Flußwind tastete nach seinem Dolch, obwohl er wußte, daß es sinnlos war, daß der Tod sicher war.

In diesem Moment merkte Verminaard, daß er allein war, seiner geistigen Unterstützung beraubt. Er spürte, wie die kalte Knochenhand der Verzweiflung ihn umklammerte, und er rief zu seiner Dunklen Königin. Aber sie hatte sich von ihm abgewandt, in ihren eigenen Kampf vertieft.

Verminaard begann, hinter seiner Drachenmaske zu schwitzen. Er verfluchte sie, da der Helm ihn zu ersticken schien; er konnte kaum noch atmen. Zu spät erkannte er, daß sie für den Nahkampf ungeeignet war – die Maske schränkte sein Gesichtsfeld ein. Er sah den Barbaren blind und verletzt vor sich – er konnte ihn töten. Aber in der Nähe waren noch zwei andere Krieger. Der Ritter und der Halb-Elf hatten sich aus seinem Zauber befreit und rückten näher. Er konnte sie hören. Er drehte sich um und sah den Halb-Elf auf sich zulaufen, die Elfenklinge glänzte. Aber wo war der Ritter? Verminaard drehte sich um, wich zurück und schwang die Keule, um sie fernzuhalten, während er mit der anderen Hand versuchte, den Drachenhelm vom Kopf zu reißen.

Zu spät. Gerade als sich Verminaards Hand um das Visier schloß, durchbohrte die magische Klinge Kith-Kanans seine Rüstung und glitt durch seinen Rücken. Der Drachenfürst schrie auf und wirbelte zornerfüllt herum – nur um in das Schwert des solamnischen Ritters zu laufen. Die uralte Klinge von Sturms Vater drang in seine Eingeweide. Verminaard fiel auf die Knie. Immer noch versuchte er, seinen Helm zu lösen – er konnte nicht atmen, er konnte nichts sehen. Dann spürte er ein anderes Schwert – und es wurde dunkel um ihn.

Hoch über Verminaard hörte die sterbende Matafleur, geschwächt vom starken Blutverlust und den vielen Wunden, die Stimmen ihrer Kinder, die zu ihr riefen. Sie war verwirrt und desorientiert: Pyros schien von allen Seiten gleichzeitig anzugreifen. Dann war der rote Drache vor ihr an einer Gebirgswand. Matafleur sah ihre Chance. Sie würde ihre Kinder retten.

Pyros blies einen tiefen, flammenden Atemstoß direkt in das Gesicht des uralten roten Drachen. Er sah befriedigt zu, wie dessen Kopf einfiel und die Augen schmolzen.

Aber Matafleur ignorierte die Flammen, die ihre Augen verbrannten, und flog direkt auf Pyros zu.

Der große, männliche Drache, sein Geist von Wut und Schmerz umwölkt und im Glauben, er hätte seinen Feind besiegt, wurde völlig überrascht. Als er wieder seinen tödlichen Atem ausblies, wurde ihm mit Entsetzen seine Position klar – er hatte zugelassen, daß Matafleur ihn zwischen sich und das Gebirge manövriert hatte. Er konnte nicht mehr ausweichen.

Matafleur stürzte sich auf ihn mit all der Kraft ihres einst mächtigen Körpers und prallte wie ein Speer gegen Pyros. Beide Drachen schlugen gegen den Berg. Der Gipfel erbebte und brach auseinander, als die Gebirgswand in Flammen explodierte.

Jahre später, als der Tod von Flammenschlag schon eine Legende war, gab es welche, die behaupteten, die Stimme eines Drachen gehört zu haben, die, wie Rauch im Herbstwind verwehend, flüsterte:

»Meine Kinder…«

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